Am 3. Oktober 2022 starteten wir den ersten Durchlauf unseres Wettbewerbs mit dem Thema “Meinungsfreiheit”. Über 600 Texte wurden eingereicht! 43 der Texte haben es auf die Shortlist der Jury geschafft. Am 28.04.23 wurden die Sieger*innen auf der Leipziger Buchmesse verkündet.
Die 43 bewegenden Shortlist-Texte zur Meinungsfreiheit sind als Buch oder E-Book exklusiv bei Tredition.com erhältlich! Das perfekte Geschenk für literarisch interessierte Freunde, Kolleg*innen oder Verwandte und natürlich auch für euer Bücherregal!
Mit mehr als 15% der Stimmen hat Christopher Schulz Kruckow mit seinem Text “An einem schöneren Ort” den Publikumspreis gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!
Danke, dass ihr beim Voting mitgemacht habt! Es sind über 800 Stimmen eingegangen. Der oder die Gewinner*in wird am 21.3.2024 auf unserer Preisverleihung bekannt gegeben.
Weil wir begeistert von der Vielzahl an beeindruckenden Texten sind, wollen wir euch die Möglichkeit geben, einen Publikumsliebling zu küren. Ihr dürft über das untere Formular eure Stimme abgeben – nur einmal pro Text, aber gerne für mehrere Texte. Die Angabe eurer Emailadresse dient nur der Stimmerfassung und wird nach dem Voting nicht weiter verwendet oder weitergegeben, außer ihr möchtet gerne den Newsletter erhalten.
(Die Abstimmung ist bis zum 18. März möglich.
Doppelte Stimmen werden nicht gezählt.)
1. Platz in der Kategorie 16-26 Jahre mit “Der 5. August”
"Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer Religion ist in Deutschland allgegenwärtig. Neben der unabdingbaren Pflicht, diese anzukreiden, ist es auch wichtig, jene Menschen hervorzuheben, die sich dagegen aktiv einsetzen. Janusz Korczak hat mit seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska am 5. August 1942 genau das getan und unschuldige Kinder freiwillig in einen brutalen Tod im Vernichtungslager Treblinka begleitet. Aufgrund seines Mutes und seiner Zivilcourage verdient Janusz Korczak es, dass seine oft unbekannte Geschichte gehört, gelesen und sich daran erinnert wird. Als demokratische Gesellschaft haben wir die Möglichkeit, Hass zu überwinden und diese dürfen wir uns nie wieder nehmen lassen."
2. Platz der Kategorie 16-26 Jahre mit “Standardvortrag”
"Ich danke der Jury des Schreibwettbewerbs 3. Oktober für die Würdigung meines Beitrags. Unser aller Gewissen muss sich regen, wenn Diskriminierung gegen Geflüchtete Platz in Parteiprogrammen, vor Gericht und am Familientisch findet. In diesem Wahljahr gilt es, sein Kreuz im Sinne der Menschenrechte zu setzen und sich Hass und Hetze entschieden entgegenzustellen."
3. Platz in der Kategorie 16-26 Jahre mit “Ein dunkles Becken”
"Mein Text beschreibt einen Moment deutscher Geschichte, in dem Gewissen durch Debatte Gesetz wurde. Unsere Demokratie lebt, weil sie Meinungen hört, Meinungen aushält und dabei auf Menschlichkeit vertraut – dieses Vertrauen spiegelt das Grundgesetz mit seinen besonderen Freiheiten wider. Ich bedanke mich bei der Initiative 3. Oktober – Deutschland singt und klingt für die Auszeichnung und freue mich insbesondere über die Menge an Teilnehmer:innen, denn Demokratie ist Teilhabe."
Gewinner des Publikumspreises mit “An einem schöneren Ort”
"Mein Name ist Christopher Schulz und lange Zeit hätte ich nie gedacht, dass ich einmal schreiben würde. Als ich schließlich doch damit begann, eröffnete sich eine ganz neue Welt, die Welt der Kindheitsgeschichten von Walter Moers und die meiner späteren Lieblingsbücher, egal ob von Dostojewski oder Ernest Hemingway. In ihren Geschichten fand ich, was ich die letzten Jahre so oft selbst gefühlt hatte, selbst zu schreiben mit dem Gefühl, ein Stück von meinem Leben und der Art wie ich denke, auf Papier festzuhalten. Von dieser Sucht komme ich nicht mehr los."
1. Platz in der Kategorie Schüler*innen der Sekundarstufe aus Sachsen mit “Der Kriegsdienstverweigerer”
"„Die Freiheit, die ich meine“ ist sehr viel mehr als ein Wettbewerb. Allein das Auseinandersetzen mit unseren verschiedenen Grundfreiheiten ist ein großer Gewinn für das persönliche Verständnis von Demokratie und Gesellschaft. Dass ich in diesem Wettbewerb gewonnen habe, zeigt mir, dass meine Vorstellungen von einer demokratischen Gesellschaft nicht falsch sind, sondern noch immer auf Akzeptanz stoßen."
1. Platz in der Kategorie Über 26 Jahre mit “Der allerletzte Schwur”
"Über die Entscheidung der Jury freue ich mich sehr und fühle mich sehr geehrt. Projekte wie dieses sind ein Grund, warum ich schreibe – umso mehr in Zeiten, in denen unsere Demokratie und der empathische und diskursive Umgang miteinander bedroht sind. Dabei ist mir bewusst, dass meine Perspektive die einer Privilegierten ist."
2. Platz in der Kategorie Über 26 Jahre mit “Schlachten in der Schleife”
"Vom Thema der Ausschreibung tiefgreifend inspiriert, von der Muse gewissenhaft geküsst, von der Prämierung freilich überwältigt!"
3. Platz in der Kategorie Über 26 Jahre mit “Gewissen, Wert und Normalisierung”
"Dieser Preis motiviert mich, denn er versichert mir, keinen kompletten Unsinn zu verzapfen. Er gibt mir Mut auf streitbare Texte und hoffentlich Antworten darauf."
Dr. Stephanie Jacobs
Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek
Robert Dobschütz
Journalist und Herausgeber der Leipziger Internetzeitung
Dr. Jacqueline Roussety
Regisseurin, Dozentin und Autorin (in Deutschland, Tokyo und Neu-Delhi), Gewinnerin einer Sonderehrung mit ihrem Text zu Meinungsfreiheit im Vorjahr
Thomas Bärsch
Journalist (ZDF) und Autor
Martina Stemann
Leitung des Ressort Nachhaltigkeit des Börsenvereins des deutschen Buchhandels
Dr. Stephan N. Barthelmess
Kommissarischer Leiter der Stiftung Forum Recht
Susanne Tenzler-Heusler
Inhaberin der Agentur brandvorwerk-pr und Projektleitung des Schreibwettbewerbs
Bernd Oettinghaus
Autor und Vorsitzender von 3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V.
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„Musik allein ist die Weltsprache und braucht nicht übersetzt zu werden.“
Diese zeitlose Beobachtung des jüdischen Schriftstellers Berthold Auerbach drückt nicht nur aus, dass Musik und ihre Botschaft überall verstanden werden, sondern sie ist zugleich Verheißung und Einladung zu aktiver Teilhabe.
Auch in diesem Jahr lädt der Verein „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“ republikweit die Menschen unseres Landes dazu ein, in über 300 Städten gemeinsam mit Chören und Instrumentalisten vor Ort zu musizieren. Vielen wird die bewegende und bewegte Zeit der friedlichen Revolution in der DDR, die schließlich in der Wiedervereinigung unseres Landes gipfelte, gewiss noch in persönlicher und lebhafter Erinnerung sein. Im Gedenken an diese Zeit stiftet das gemeinsame Singen mit Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft ein ähnliches Gemeinschaftsgefühl, wie es in jenen Jahren des Aufbruchs schon einmal fühlbar war. Von dieser Veranstaltung als einem Stück gelebter Demokratie heute geht somit auch ein starkes Signal gegen rassistische und soziale Ausgrenzung in unserer Gesellschaft aus.
Der Freistaat Thüringen hat in diesem Jahr die Bundesratspräsidentschaft inne. Am 3. Oktober findet in Erfurt die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit statt. Sie steht wie die Bundesratspräsidentschaft unter dem Motto „zusammen wachsen“. Auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist die Annäherung zwischen den Alten und Neuen Bundesländern noch immer ein Prozess. Die Überwindung gegenseitiger Ressentiments sowie gefühlter und tatsächlicher Ungleichheit bedarf in Ost wie West weiterer Anstrengungen und Bemühungen auf dem Weg zu einem echten Zusammenwachsen. Erst durch eine wirklich gelebte Einheit ergibt sich die Chance zu weiterem Wachstum und Fortschritt in Deutschland.
Die Erfahrung des gemeinsamen Singens von Liedern aus ganz unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen gibt ein lebendiges Beispiel vom Ideal der Einheit in Vielfalt. Die hier abgedruckten Lieder vermitteln uns einen Begriff von den Werten und Vorstellungen, auf die wir uns besinnen sollten und denen wir uns verpflichtet sehen, angefangen von Westernhagens „Freiheit“ über das bekannte israelische Friedenslied „Hevenu Shalom Alechem“ bis hin zu Bonhoeffers „Von guten Mächten“, das Hoffnung und Trost in schwieriger Zeit spendet.
Ich danke allen Mitwirkenden und sage mit Beethoven: „Von Herzen – möge es zu Herzen gehen!“
Ihr
Präsident des Bundesrates, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen
Diese Anmeldung ist zunächst ein Ausdruck deiner/eurer Bereitschaft ein Offenen Singen bei dir vor Ort zu planen oder eine bereits angemeldeten Gruppe zu unterstützen. Es besteht jederzeit die Möglichkeit abzusagen. Nach der Anmeldung erhältst du von uns alle Infos zum weiteren Vorgehen per Email.
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Ein Ausländer ist Flüchtling, (…) wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet (…).
– § 3 Abs.1 AsylG
Bei der Berücksichtigung der Verfolgungsgründe nach § 3 Abs.1 Nr.1 ist Folgendes zu berücksichtigen: (…) eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (…).
– § 3b Abs.1 4. AsylG
Verwaltungsgericht Schwarzbach, achter Juli 2023.
„Test, Test.“ Der Richter klopfte mit den Fingern auf sein Diktiergerät, sah auf die Wand hinter sich. „Beginn der mündlichen Verhandlung um dreizehn Uhr zehn.“ Er schnippte einen Fussel vom Ärmel seiner Robe. „Wichtigste Frage zuerst: Können Sie die Dolmetscherin verstehen?“ Tatjana sah nach links. Die Übersetzerin trug ein zu enges Kostüm und scharrte mit den Nägeln auf dem Tisch. Sie wartete nicht, bis der Richter seine Frage beendet hatte, übersetzte so schnell, dass die beiden zeitgleich zu sprechen aufhörten. Tatjana nickte. Der Richter las vom Blätterstapel vor ihm ab.
„Frau Kashibadze. Sie sind gebürtige Georgierin, kamen Ende Juli 2022 mit dem Flugzeug nach Deutschland und haben am zwölften August einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt. Mit Bescheid vom dreißigsten August hat das Bundesamt Ihren Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt.“ Tatjana schob den Stuhl näher an das Pult, versuchte, aus dem Sprachgemisch die Dolmetscherin herauszuhören. Sie stieß mit dem Fuß gegen ihre Handtasche auf dem Boden, verpasste einen Halbsatz. „In seiner Begründung führte das Bundesamt unter anderem aus, der Wechsel der Erzählung von der politischen Verfolgung Ihres Mannes zur Ihrer eigenen Gefahrensituation sei wenig plausibel. Darüber hinaus hätten Sie Ihre Furcht vor Verfolgung durch Ihren Ehemann nicht glaubhaft deutlich gemacht. Er habe Sie nach Ihrer Trennung nicht erneut bei Ihnen zuhause aufgesucht. Außerdem gäbe es keinen Grund zur Annahme, dass Sie in Georgien keinen Schutz finden könnten, sollte Ihr Ehemann seine Drohungen durchsetzen wollen.“ Der Richter überschlug ein paar Seiten. „Sie haben zuletzt in Ku…, er blätterte zurück, … Ku…taissi gelebt, ja?“ – „Ku-tai-ssi. Es heißt Kutaissi.“ Tatjana zog die Luft ein, blickte zur Dolmetscherin, die ihre Korrektur nicht übersetzt hatte. Der Richter schien sie nicht gehört zu haben. „Das ist doch eine große Stadt in Georgien, richtig?“ – „Ja. Die drittgrößte. Glaube ich.“ Tatjana verschränkte die Hände, drückte ihre Handflächen gegeneinander. „Und da wären Sie Ihrem Ehemann schutzlos ausgeliefert gewesen? Ein Happen auf dem Silbertablett?“ – „Wie bitte? Was meinen Sie mit Happen?“ – „Eine Redewendung. Das sagt man hier so. Er hätte Sie überall finden können. Das meint der Richter. Also, er glaubt es nicht.“ Die Dolmetscherin zog die Nase hoch. Tatjana sah auf ihre Hände, auf den Handrücken perlte der Schweiß. „Ich habe mich nirgendwo sicher gefühlt. Er kannte überall Leute, auch in der Stadt. Deswegen bin ich nicht dortgeblieben.“ Der Richter nahm eine Seite, spähte darunter, als hätte er dort schon ein paar Mal nachgesehen. „Nachdem Sie also das Dorf verlassen haben, in dem Sie bis dahin gemeinsam gelebt hatten und in die Großstadt fuhren“ er formte einen großen Kreis mit den Händen – hätte Ihr Mann Sie ohne Weiteres aufspüren können? Haben Sie eine Brotkrumenspur zu Ihrer Wohnungstür gelegt?“ – „Ich musste doch den Busfahrer bezahlen, meinen Ausweis zeigen! Tatjana riss die Hände auseinander, schüttelte den Schweiß ab. „Der fährt die Strecke jede Woche, meinen Sie, er
hätte sich nicht an mich erinnert? Mein Mann hat ihm vielleicht Geld gegeben – wenn überhaupt! Dort laufen die Dinge so, du zahlst und die Leute sagen dir, was sie wissen. Wo ich wohne, hätte er einfach herausbekommen. Er hätte mich überall gefunden.“ Tatjana sank in ihren Stuhl zurück, sie war laut geworden.
„Ja…, sehen Sie“ – der Richter sah an Tatjana vorbei in den hinteren Teil des Saals – für die Praktikanten, die wir heute dahaben: Das ist jetzt hier ein Standardvortrag.“ Der Richter hob den Papierstapel vor sich an einer Ecke hoch, schüttelte ihn leicht. „Verfolgung durch den Ehemann und so weiter, ja…“ Tatjana drehte den Kopf. An der Rückwand des Raumes stand eine Reihe Kunststoffstühle, einige Jugendliche rutschen auf den Sitzen herum, kratzten sich im Gesicht oder schoben die Hände in die Taschen. „Fangen wir noch einmal von vorne an. Also, wie ich bereits sagte, Sie können sich das Ganze so vorstellen: Die Familie – Mutter, Vater und Ehemann, zwei bis fünf Kinder – kommt nach Deutschland und stellt einen Asylantrag, weil der Vater um sein Leben fürchten muss, denn ihm droht unter allen Umständen Verfolgung wegen seiner politischen Tätigkeit, Opposition. Gerade sei er noch untergetaucht und käme so schnell wie möglich nach Deutschland nach. So.“ Er holte Luft. „Dann, nämlich wenn der Antrag abgelehnt wird, wechselt auf einmal die Erzählung. Aha!“ Der Richter schwenkte das Diktiergerät vor seinem Gesicht. Die Praktikanten sahen zur Uhr, zur Tür. „Jetzt stellt sich heraus, dass die Frau und die Kinder eigentlich vom Ehemann verfolgt werden und deshalb in Deutschland Schutz suchen wollen. Das wird dann eingeklagt, wie Sie heute hören.“
– „Er hat uns geschlagen! Zuerst bloß mich, aber dann auch die Kinder, wenn ich nicht zuhause war, hat er die Kinder geschlagen.“ Die Dolmetscherin lehnte sich nach vorne, ein Knopf an Ihrer Bluse rutsche aus dem Loch. „Frau Kashibadze, bitte sprechen Sie nur, wenn Sie dazu aufgefordert werden.“ Der Richter winkte ab. „Wieso sind Sie nicht zur Polizei gegangen? Die Polizei muss auch in Georgien Straftäter verfolgen.“ – „Ich hatte Angst. Mein Ma…“ – sie sah im Raum herum – er hatte alles, also ich meine… das Haus war seins, ich hatte keine Kreditkarte, die Autoschlüssel… Wenn er gewusst hätte, dass ich ihn angezeigt habe – “ Tatjana unterbrach sich, sah zur Dolmetscherin, die blinzelte, das nächste Wort erwartend wie ein blinkender Cursor in einer leeren Datei. „Warum sind Sie nicht bei Verwandten untergekommen?“ – „Mit meinen Eltern habe ich seit Jahren nicht gesprochen, sie kamen nicht zur Hochzeit. Die Verwandtschaft meines M…, seine Verwandtschaft, hat sich nicht für mich interessiert. Niemand hätte mir geholfen.“ Der Richter machte sich eine Notiz. Hinten im Raum piepste ein Handy. „Auch für Sie nochmal von vorne, Frau Kashibadze. Wieso haben Sie in Ihrer Anhörung beim Bundesamt die Geschichte über die politische Verfolgung Ihres Ehemannes erfunden? Wenn Sie doch eigentlich vor seinen – er kreiste mit dem Zeigefinger – Gewalthandlungen geflohen sind?“ Tatjana folgte dem Finger mit den Augen. „Ich…, wir – die Kinder. Ich hatte Angst um meine Kinder. Dass mir niemand glaubt. Auf der Polizeiwache haben sie meiner Nachbarin gesagt, sie soll Gebäck vorbereiten und Tee, wenn ihr Mann von der Arbeit kommt, soll sie sich zu ihm aufs Sofa setzen. Dann würde er aufhören. Hat er aber nicht, meiner auch nicht. In Kutaissi hätte mir keiner geglaubt. In den Nachrichten sagen sie, dass politisch Verfolgte Asyl in der EU bekommen. Ich wusste nicht… ich wusste nicht, dass ich und die Kinder einen eigenen Schutzstatus haben. Haben könnten.“
Der Richter lehnte sich über sein Pult nach vorne. „Ja, … die Kinder. Hier haben wir ein Problem, Frau Kashibadze. Wenn doch die Situation mit Ihrem Mann so schlimm war, wieso haben Sie dann drei gemeinsame Kinder mit ihm?“ – „Können Sie sich das nicht denken?“ Tatjana schaute dem Richter ins Gesicht, in beide Augen. Er lächelte, legte die Hände übereinander. „Die Situation erschließt sich mir nicht. Bitte schildern Sie das etwas genauer.“ Tatjana langte nach ihrer Handtasche, griff ins Leere. „Bitte erklären Sie uns, wie es denn sein kann, dass Sie und Ihr Mann drei Kinder haben, wenn das Zusammenleben für Sie auch davor schon unerträglich war.“ Tatjana zog die Tasche an die Brust. „Das kann ich nicht erzählen. Nicht hier – “ „Natürlich…“ der Richter senkte den Blick, drehte an seinem Ehering, zog die Worte in die Länge. „Natürlich könnten wir die anwesenden Besucher bitten, den Raum zu verlassen. Wenn Sie das möchten.“ Die Praktikanten waren bereits halb
aufgestanden, als sie das „Nein“ hörten. Tatjana begann zu weinen. Sie setzten sich wieder, die Jacken halb angezogen, die Rucksackgurte auf den Schultern. „Gut.“ Der Richter machte sich eine weitere Notiz. „Natürlich kann ich nur das ins Protokoll aufnehmen, was Sie gesagt haben, Frau Kashibadze.“ Ein Blick zur Dolmetscherin. „Auf die Frage, warum die Klägerin drei gemeinsame Kinder mit ihrem Ehemann habe, wenn sie das Zusammenleben als untragbar empfunden habe, gibt die Klägerin keine Auskunft.“ Er sah zurück zu Tatjana. „Auch auf Nachfrage lehnt die Klägerin es ab, dem Gericht die Situation genauer zu erläutern.“ Er legte das Diktiergerät zur Seite. „Das war so weit alles, was ich wissen wollte. Haben Sie sonst noch Fragen? Soll Frau Tsulaia Ihnen das Protokoll noch einmal übersetzen?“ Tatjana machte ein nasses Geräusch. Die Dolmetscherin wiederholte die Frage. Tatjana hob die Schultern. „Die Antragstellerin verzichtet auf eine Rückübersetzung des Protokolls.“ Der Richter lockerte den Kragen seiner Robe. „Ende der mündlichen Verhandlung um dreizehn Uhr fünfundfünfzig.“ Binnen einer Minute hatten die Praktikanten den Gerichtssaal verlassen. Tatjana blieb sitzen, nahm ein Taschentuch, dass ihr die Dolmetscherin hinhielt. Der Richter belud einen Aktenwagen und schob ihn zum Ausgang. „Das Urteil wird Ihnen in etwa zwei Wochen zugestellt werden. Es gibt heute keine weiteren Verhandlungen, der Raum wird in einer halben Stunde geschlossen.“
…
„He, Sie, kommen Sie einmal her. Gucken Sie, die Blätter ganz oben – nein, anderer Stapel – das ist das Urteil aus der Kashibadze-Sache. Da müssten Sie doch in der mündlichen Verhandlung dabei gewesen sein.“ Der Praktikant nahm die drei mit einer Büroklammer zusammengehefteten Seiten vom Schreibtisch. Die letzte war nur im oberen Drittel beschrieben, darunter hatte der Richter seine Unterschrift gesetzt. „Also, der Form halber sollte ich sagen, das vorläufige Urteil. Da gibt es Textbausteine, je nach Fall natürlich andere – jedenfalls wird sich eigentlich nichts mehr ändern.“ Der Praktikant hielt die Papiere ein Stück von sich weg. „Natürlich müssen Sie mit dem Datum kulant sein. Sie können schlecht noch am Tag der Verhandlung entscheiden, wie sähe das denn aus?“ Der Richter schmunzelte. „Ich lasse normalerweise mindestens eine Woche vergehen. In Anführungszeichen.“ Er lachte. „Sie können gehen, machen Sie den Nachmittag frei. Und schauen Sie dann mal morgen auf der Website vom Gericht, so bis um elf sollte das Urteil dann auch digital verfügbar sein. Falls Sie noch ein bisschen schmökern wollen.“
…
Tatjana sah den Umschlag in dem Moment, als sie aus der Haustür trat. Er ragte aus dem Briefkastenschlitz, gelb wie ein Warnschild. „Warten Sie mit dem Öffnen bitte, bis ich da bin, sonst machen Sie sich nur unnötig verrückt. Behördendeutsch. Ich komme mittags und dann besprechen wir gemeinsam, wie es weiter geht.“ Tatjana konnte sich nicht an den Namen der Sozialarbeiterin erinnern. Auf Ihrem Schreibtisch hatte ein Foto gestanden, eine Familie in Angelausrüstung. Noch im Treppenhaus riss sie den Umschlag auf.
Der Antrag wird abgelehnt. (…) Gewalt gegen Frauen ist in Georgien nach wie vor ein Problem. Fälle häuslicher Gewalt werden gesellschaftlich und behördlich meist als interne Familienangelegenheit betrachtet. Allerdings gibt es mittlerweile Möglichkeiten, Schutz vor Gewalt durch Familienangehörige zu finden. Insbesondere in Großstädten existieren zahlreiche Anlaufstellen für Frauen, Kinder und andere Betroffene. Der georgische Staat ist demnach willens und in der Lage, der Klägerin ausreichenden Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu gewähren.
Gezeichnet, Richter J.
– VG Schwarzbach, Beschluss vom 11.08.2023
…
Schwarzbach. Am Dienstag, den 14. November ist das Disziplinarverfahren gegen den am Verwaltungsgericht Schwarzbach tätigen Richter J. eingestellt worden. Dies gab das Gericht in einer Pressemeldung bekannt. Zuvor hatte sich der Richter schweren Vorwürfen
ausgesetzt gesehen, welche namentlich durch einen Praktikanten erhoben worden waren. Der siebzehnjährige Abiturient F., der im Rahmen seines Berufspraktikums die mündlichen Verhandlungen am Amtsgericht besuchte, hatte J. beschuldigt, sich gegenüber einer Klägerin respektlos und diskriminierend verhalten zu haben. F. sei sich sicher, dass die Klägerin, eine georgische Staatsbürgerin, die gegen einen abgelehnten Asylantrag für sich und ihre Kinder vorgegangen war, in ihren subjektiven Rechten verletzt wurde. Außerdem habe der Richter J. ihm in seinem Büro anvertraut, dass er sich mit dem Fall der Klägerin nicht näher beschäftigen, sondern lediglich ein vorgefasstes Urteil verkünden würde. Besonders habe F. schockiert, dass J. in Gegenwart der Klägerin von einem „Standardvortrag“ gesprochen habe, bei dem aufgrund der häufig vorkommenden Fallkonstellation kein besonders sorgfältiges Vorgehen notwendig sei. F. machte seine Kritik auf den sozialen Medien publik und startete die online-Petition „rechte Richter raus“, die bis zur Bekanntgabe der Gerichtsentscheidung am vergangenen Dienstag von 2500 Menschen unterzeichnet wurde. Auf Nachfrage der Redaktion zeigt F. Bedauern über den Ausgang des Verfahrens. Er selbst wolle nach dem Abitur Jura studieren und Anwalt werden. „Für mich war das ganz klar eine Gewissensentscheidung“, so F. „Ich werde nicht wegschauen, wenn ein Richter offensichtlich anhand seiner politischen Überzeugung entscheidet, anstatt sich auf Fakten zu stützen. Wenn er sich dabei auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen will – auf das er übrigens einen Eid geleistet hat – dann sollte er sich innerlich verpflichtet fühlen, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden.“ Richter J. äußerte sich zu den Vorwürfen nicht. Die Klägerin und ihre zwei Kinder erwarten derweil ihre baldige Abschiebung nach Georgien.
– Schwarzbacher Tageszeitung, Lokalteil.
Und vielleicht war sie einfach zu jung. Zu jung, um zu verstehen. Zu naiv, um zu glauben. Zu klein, um zu begreifen. All das war sie frei. Frei von Liebe, gelöst von Sorge. Verliebt in das Leben, verloren in Gefühlen. Was bedeutet Gewissen, wenn wir nicht wissen, was Liebe ist? Wenn wir nicht fühlen, wie verletzt wir sind? Wer beantwortet uns die Frage der Schuld, wenn alles zu brechen scheint? Sie schaute aus dem Fenster. Vor ihr lag eine Tür, eine verschlossene, die sie selbst bastelte. Die Tür war braun, sie sah alt aus, rostig. Wie eine Tür eben aussah. Das Schlüsselloch war klein, der Schlüssel fehlte. Aber die Tür war nicht echt. Hinter ihr verborg sich ein Bild. Ein Foto der Unendlichkeit, der Zeit ohne Gewissen. Sie spielte auf den Wiesen, wie ein kleines Kind es auch sollte, fröhlich und gelassen. Auf dem Stück Papier fragte sie niemand, wer sie sei, wieso ihr Haar so dunkel war, und ob Deutschland wirklich ihre Heimat sei. Das Blatt konnte man schnell zerreißen, entsorgen, zerknüllen. Sie hielt es aber gegen das Fenster, Licht durchflutete die Zeichnung. Plötzlich verlor die Tür an Farbe, alles erhellte. Hinter ihr schien nur noch die Sonne, der dunkle Schatten des Tischs verschwand. Keiner begegnete ihr mehr, die Fragen stellte sie sich plötzlich nur noch selbst. Wer bin ich, flüsterte sie, ohne all das? Ohne die Antworten anderer, ohne jegliche Anforderungen? Wer war sie, wenn alle Lichter ausgingen und nur noch das Rauschen des undichten Fensters zu hören war? Sie wusste nicht, was Gewissen war. Gewiss spielte sie mit ihren Gedanken, ob auf Wiesen, Feldern oder im Regen.
Doch irgendwann verstand sie. Sie verstand die Liebe, die Freiheit und die Schuld. Sie spürte zum ersten Mal das Gefühl der Schuld, als sie erfuhr, was Unschuld bedeutet. Unschuldig verließen neun Menschen die Welt. Ohne zu wissen, welche Leben nun auf dem Gewissen des Täters liegen. Ermordet. Sie wurden getötet. Am 19. Februar 2020 wurden sie getötet. Weil sie dunkle Haare hatten, wie sie. Weil sie in einer Bar saßen, die einem Besitzer gehörte, der aussah wie sie. Ermordet, weil sie anders beteten. Weil der Notausgang verschlossen war, hier war es eine echte Tür. Eine Tür, die man nicht einfach zerreißen konnte wie das Bild, was sie einst malte. Eine Tür, die Freiheit gewähren sollte, aber das Ende symbolisierte. Weil sie durch Menschen verschlossen wurde, die diese neun Menschen anders sahen, als sich selbst. Und der Richter liest vor, Artikel vier des Grundgesetzes. Er sagt laut und deutlich, die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Der Richter erhebt seine Stimme, die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Niemand, sagt er, darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Sie hebt ihre Hand. Aber wer, fragt sie leise, tötete Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin und Kaloyan Velkov, mit einer Waffe und reinem Gewissen, Herr Staatsanwalt? Auch ohne Krieg und in der Freiheit, Herr Staatsanwalt, tötete er sie. Wer bestraft diejenigen, die das Gewissen anderer für immer einsperren und festhalten, egal wie freiheitsliebend diese Menschen sind?
Sie weinte,
„Ich wünsche mir Frieden.“
Oft hatte ich das Gefühl, dass das, was wir taten, falsch war, doch mindestens genauso oft fühlte es sich wunderbar an. Das jetzt zu sagen, hätte nichts gebracht. Wozu auch? Es war dumm, so etwas zu sagen, denn es hatte keinerlei Aussage, weder dafür noch dagegen.
Eine ganze Weile saßen wir uns schweigend gegenüber. Die Lampe über dem Küchentisch, schien mir in letzter Zeit greller als sonst, und das obwohl sie stufenlos verstellbar war. Sie kaute an ihren Fingernägeln. Ich spielte mit einem Kuli, dessen Miene klickend ein- und ausfuhr. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Verrückt, wie unbedeutend einem die Zeit vorkommt, bis man sie aufgebraucht hat.
„Und, was machen wir jetzt?“ Ihre blonden Haare fielen auf die Schulter, als sie den Kopf hob und mir fragend in die Augen blickte. Sie hatte aschgraue Augen, genau wie ich.
„Johan, ich habe dich etwas gefragt.“
„Ich denke nach.“
„Das sagst du seit Wochen.“
Ich hatte Kopfschmerzen und fühlte mich seltsam. Seitdem sie ihre Haare kurz geschnitten hatte, wirkte sie erwachsener und seitdem drängte sie auch auf eine Entscheidung. Ich fühlte mich kein Stück erwachsener und wollte auch nicht entscheiden.
„Ich weiß nur, dass es so nicht weitergeht, ich habe dieses ständige Versteckspiel satt.“
Ich musste schlucken, als sie das sagte. Die Uhr an der Wand tickte nicht.
Ich konnte sie trotzdem hören.
„Ich auch, trotzdem willst du nicht, dass wir es einfach behalten.“
Sie schwieg. Jetzt lag Wut in ihren Augen.
„Es einfach behalten, wie sollen wir es denn bitte einfach behalten, wenn du nicht einmal weißt, was du willst?“
Wieder begann ich meine Stirn zu kneten, es ist unvorstellbar wie nervig sie sein konnte, wenn sie etwas wollte, dann spielte sie sich immer so auf als wäre sie älter, reifer und wüsste generell, was man im Leben zu tun und zu lassen hatte.
„Johan?”
Schon wieder dieser vorwurfsvolle Ton, schon wieder dieselbe Diskussion. Dabei hatte doch alles so gut, so einfach begonnen. Damals stellten wir uns nicht diese Fragen, damals stellte sie mir nicht diese Fragen. Ein regnerischer Abend, sie die unbedingt noch joggen wollte und dann durchgefroren vor unserer Wohnungstür stand, weil sie den Schlüssel vergessen hatte. Damals hatte sie noch lange Haare, daran erinnerte ich mich genau, wundervolle lange Haare, die vom Regen durchnässt an ihrem Sport-BH klebten. Ich hatte ihr geöffnet, sie hatte sich geduscht. Als ich hörte, dass sie unter der Dusche weinte, kam ich zu ihr und tröstete sie.
Wir gingen in mein Bett und irgendwann hörte sie auf, zu weinen.
Die Stadt war neu und wir brauchten uns einfach gegenseitig. Ist das denn so seltsam?
„Johan…“
Es reichte mir, jetzt hatte ich die Schnauze voll.
„Du erwartest von mir eine Lösung und weißt doch selbst nicht, was du willst, aber so läuft das nicht. Wenn wir die Entscheidung nicht zusammen treffen, werden wir unglücklich.“
Einen Moment lang wirkte sie verdattert, so einen Tonfall war sie von mir nicht gewöhnt. Tränen stiegen in ihre Augen. Ich war unfähig etwas zu sagen. Unser Wohnzimmer war klein und schäbig. Einfach alles hier zeugte davon, dass wir gar keine richtige Entscheidung treffen konnten. All die leeren Weinflaschen, in die sie Lichterketten gefüllt hatte, die Fotos unserer Freunde, die mich an zahlreiche Partys erinnerten und auch die unzähligen Notizzettel, Ordner und Lernblätter. Wir konnten es einfach nicht und selbst wenn, wie sollten wir es erklären? Trotzdem. All das waren wir und wir mochten dieses Leben.
„Ein Nein bedeutet das Aus. Ich wüsste einfach nicht, wie ich weitermachen sollte.“
Sie stellte das trocken fest, doch ihre Mimik sagte mir etwas anderes. Wer so mit den Tränen rang, war nicht kalt, egal was er auch sagte. Meine Hand tastete nach ihrer. Ihre Haut war weich und warm. Die kleinen Härchen auf ihrem Handrücken fühlten sich seidig an. Diese Haut ließ sich einfach mit nichts vergleichen, was ich kannte. Sie zog ihre Finger ein und ihre Hand zurück. Das warme Kribbeln verschwand genauso schnell, wie es gekommen war. „Ja, das wäre das Ende.“
Ihre Beherrschung brach in sich zusammen und sie schluchzte hemmungslos.
Ich stand auf und nahm sie in den Arm.
„Egal was wir machen, wir machen es falsch.“
Sie hauchte diese Worte in mein Ohr, ich streichelte ihren Kopf.
Ich drehte sie zu mir und sah ihr fest in die Augen.
„Nein, dass ich dich geliebt habe, war nie falsch. Und, … und ich tue es noch immer.“
Ich weinte nicht, auch wenn sie es tat. Ich hatte all meine Tränen bereits in den ersten Tagen nach dem Testergebnis aufgebraucht. Seitdem weinte ich nur noch in meinen Träumen oder in der Zeit, bevor sie Uni-Schluss hatte. Es sollte keiner meine Unsicherheit merken, vor allem nicht sie. Sie brauchte mich. Langsam fasste sie sich wieder. Umgehend wurde sie hart und fordernd.
Das war sie immer, nachdem sie geweint hatte.
„Wir müssen uns entscheiden, viel Zeit bleibt uns nicht.“
„Ich weiß.“
„Johan, es liegt auch an dir. Ich werde mich nicht entscheiden, bevor ich nicht gehört habe, was du dazu denkst.“
Mein Blick wanderte an ihrem sportlichen Körper entlang. Sie sah gut aus. Das hatte sie schon immer. Dass ihr Bauch sich leicht wölbte, störte mich nicht. Das Gegenteil war der Fall. Immer wenn wir schlafen gingen, umfasste ich ihn mit meinem Arm und streichelte dieses kleine warme Zentrum ihres Körpers und meiner Welt.
Als sie mich ansah, war sie störrisch und entschieden. Mein Warten hatte keinen Sinn mehr. Ich musste es einfach fragen.
„Also gut, was spricht dagegen?“ „Das Geld, die Wohnung, unsere Uni und das…“
„Das, was die anderen denken würden“, vervollständigte ich ihren Satz.
Was die anderen denken würden, so ein Blödsinn. Wir konnten einfach nicht ohne einander leben und wir liebten uns. Was hatte der Rest, die Anderen zu interessieren?
Doch auch diesen Gedanken sprach ich nicht aus, denn wie so oft wusste ich, dass es zwar richtig war, was ich dachte, doch nichts an unserer Situation änderte.
Unwillkürlich erinnerte ich mich an dem Tag, an dem wir in die neue Wohnung eingezogen waren. Wir hatten gerade die Umzugskisten ausgeräumt, als mir die Flasche Sekt runterfiel, die wir für diesen Moment aufgehoben hatten. Die Flasche schlug auf dem Boden auf und zerbrach mitten in der Küche, die bis dato perfekten Fliesen hatten nun einen hässlichen Riss. Damals hatte sie mich wütend angeguckt und ihre Nasenflügel gebläht, als würde sie gleich losbrüllen. Doch dann mussten wir lachen und als ich meinte, dass sie echt lächerlich aussah, wenn sie sich aufregte, gingen wir auf einander los. Ewig jagten wir uns durch die Wohnung und als sie mich dann hatte, begann sie mich zu kitzeln. Wir lachten und ich zog ihr eins mit dem Kissen über, als auch das aufriss, flogen hunderte Daunen durch die Luft. Wir lieferten uns eine erbitterte Kissenschlacht und fühlten uns wieder wie Kinder. Als wir am Abend ins Bett gehen wollten, um uns auszuschlafen und am nächsten Tag aufzuräumen, blieb sie stehen. Sie stand vor der Tür ihres Schlafzimmers, damals hatten wir noch separate Betten. Sie drehte ihren Kopf mit den langen welligen Haaren zu mir und sah mich seltsam an. In ihrem Blick mischte sich Erwartung und Trauer. Ich kam langsam auf sie zu und küsste sie. Es fühlte sich ganz natürlich, ganz richtig an. In diesem Moment stellte ich fest, dass ich nie einen Menschen geliebt hatte, keinen außer sie.
Ich drehte mich um und sah in der Küche noch immer die aufgeplatzte Fliese, die wir nie ausgetauscht hatten. Ein wohliges Gefühl durchströmte mich. Verdammt, das waren doch immer noch wir, wir dieselben wie damals. Ich wandte mich ihr zu und sagte, das was ich so lange dachte, frei und selbstsicher.
„Zugegeben, es ist etwas früh, aber willst du deswegen etwas töten, was wir beide sind?“
Sie sah mich fragend an. „Du willst, dass wir das Kind bekommen?“
„Ja.“ Sie schloss die Augen und atmete tief ein. „Ich hatte befürchtet, dass du das sagst.“
Ihre Brust hob und senkte sich stark, sie atmete ruhig und regelmäßig. Etwas, was ich an ihr in diesem Moment nur bewundern konnte, denn ich war trotz der wohligen Erinnerung alles andere als ruhig.
„Niemand müsste erfahren, dass es von mir ist, damit rechnet eh niemand“, begann ich meinen Plan in Worte zu fassen mit dem wir vielleicht leben könnten.
„Du hattest einen One-Night-Stand und …“
„Du willst, dass wir es behalten und dann die Verantwortung abwälzen?“
Ihre Stimme bebte vor Unverständnis. Sie stand auf und zeigte auf ihren Bauch, auf unser Kind. „Das, was ich da in meinem Bauch habe, ist ein Teil von mir. Und dir!“
Unsere Augen blieben an einander kleben. Ich konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Dass sie es ausgesprochen hatte, führte uns die Wahrheit dieses Umstands vor Augen. Ja, es war unser Kind.
„Ich will nicht Vater unbekannt auf der Geburtsurkunde stehen haben, ich will nicht das unser Kind in Ungewissheit aufwächst, wer sein Vater ist. Ich nickte und wollte etwas sagen, als sie die eine, die einzig relevante Frage stellte.“
„Willst du dein Leben lang ein behindertes Kind haben, einen Klotz am Bein der uns unsere Zukunft verbaut?“
Wie von alleine wanderte der Kuli zurück in meine Hand. Die Miene rastete ein und aus, ein und aus. Jetzt nur die Ruhe bewahren. Das Klick-Tempo erhöhte sich. Ich bekam Panik.
Die Blicke der Anderen, unserer Freunde in der Cafeteria.
Sie hatten es doch bereits alle geahnt, sie wussten was wir getan hatten.
„Johan das Kind wird behindert sein und unser Leben ist dann vorbei.“
Sie schrie mich an und ich wusste, dass sie recht hatte.
Was sie sagte war keine Wut. Das war die Wahrheit.
„Ich will, … ich“
„Was willst du? Noch ein paar Wochen warten, bis es zu spät ist und wir nicht mehr entscheiden können?“
Kurz stand sie da, dann setzte sie sich, alles in ihr sackte zusammen.
Die Wut, die Trauer, das alles war verschwunden, es blieb nur dieses ungewisse Gefühl, was man nicht beschreiben, sondern nur erleben kann.
Ich ließ den Kuli sinken. Ihre Augen waren groß, doch da war nicht mehr dieser Glanz, der mich ablenkte und so unwiderstehlich anzog. Trotzdem, ich konnte nicht ohne sie.
Ich stand auf und zog sie an den Händen nach oben. Wir standen uns gegenüber.
Sie ganz das verletzliche Mädchen von früher. Sie drückte ihren Kopf auf meine Brust, ich schloss meine Arme um sie. Als sie ihren Kopf hob, war es nicht, wie wenn wir sonst über das Thema stritten.
Da, wo sonst mein T-Shirt von ihren Tränen warm und nass war, blieb jetzt nichts als Leere.
„Was sollen bloß Mama und Papa denken?“
Sie presste sich an mich, ich sagte nichts.
„Johan, du wirst doch bei mir bleiben?“
Ich küsste sie auf die Stirn, etwas zu sagen war hier nicht nötig und ich hätte es auch nicht gekonnt. Ich nahm sie an der Hand und führte sie ins Bett. Wir waren erschöpft und als sie sich ihren Schlafanzug anzog, sah man den anfangenden Baby-Bauch im Spiegel.
Wir legten uns nebeneinander und ich lächelte sie an.
Sie war verwirrt, doch lächelte zurück. Grübchen umspielten ihre Mundwinkel.
„Nein, ich will kein Leben mit einem behinderten Kind, doch ich will uns auch nicht verleugnen.“
Sie nickte schwach, ihre Schminke war verwischt und ich strich ihr zaghaft über die Wangen.
„Lass uns irgendwo anders hingehen, an einen schöneren Ort, an dem niemand uns Fragen stellt, an dem niemand weiß, dass wir Geschwister sind.“
Sie schmunzelte schwach und so schliefen wir nebeneinander ein,
beseelt von dem Gedanken an diese wunderbare Möglichkeit, die es nie geben würde.
Und ich will über Schwangerschaftsabbrüche schreiben …
Wie dumm von mir. Wie naiv. Wie rücksichtslos. Wie egoistisch. Anderen dieses Thema aufzudrängen, ohne Rücksicht auf ihre Traumata, Überzeugungen oder ihren Glauben. Andere mit meinem Ballast zu überlassen.
Und trotzdem sitze ich jetzt hier und schreibe diesen Text, als würde er etwas ändern.
Es ist erst drei Monate her.
Wie konnte mir das nur passieren?
Ich fühle mich gefangen.
Niemand kann über den Körper einer Frau entscheiden, außer sie selbst.
Falsch.
Der Körper entscheidet, und die Frau hat kein Mitspracherecht. Das hat sie nie. Die selbst entschlossenen Entscheidungen sind nur ein Resultat aus Erwartungen von anderen und den äußeren Umständen. Die Vulva einer Frau gehört allen. Nur ihr selbst nicht. Ihre Entscheidung betrifft alle. Immer.
Ich will diese Last nicht. Sie gehört nicht zu mir. Das bin nicht ich.
Ich bin nicht schwanger. Ich kann es gar nicht. Ich kann nicht schwanger sein.
Mein Körper und mein Ich sind kein Wir mehr.
Wir führen Krieg.
Meine Brüste sind mir fremd. Ich mag sie mehr denn je, doch es sind nicht meine. Ich fühle eine Distanz zu mir, behandle mich mit einer absurden Vorsicht, die absolut irrational ist. Als könnte ich jeden Moment zerbrechen.
Warum kam ich gestern noch so gut mit allem klar?
Schock…
Jaja, der Schock.
Doch jetzt lässt der Schock nach und die Realität prasselt auf mich ein.
Ich will es nicht haben.
Aber was, wenn doch? Wenn ich meine Meinung ändere, in eins, zwei, drei Tagen. Was, wenn ich es doch will?
Ich will diese Entscheidung nicht treffen und ich will es nicht haben. Es gibt kein Aber für mich.
Ich kann nicht sagen, dass ich es gerne hätte. Ich spüre es nicht. Doch mir wird klar, dass es da ist. Bis jetzt konnte ich es nicht realisieren.
Vielleicht realisiere ich immer noch nicht.
Ich will nicht.
Ich will nur wieder Ich sein. Allein. Nur ich.
Jedes Körperzeichen lege ich auf die Goldwaage. Ich wiege alles ab und spüre das Gewicht der andern sowie mein eigenes. Nur das, eines weiteren Ichs spüre ich nicht.
Aber was, wenn?
Was, wenn es da ist?
Ich bin nur müde und will schlafen.
Es geht schnell: ausfüllen, unterschreiben, nicken, ja sagen, warten. Allein. Dann geht es los und dann ist es vorbei.
Es war falsch.
Die falsche Entscheidung.
Mein Körper ist mir fremd, wir führen wieder Krieg. Kratzer zieren nun meine Beine, das eindeutige Zeichen, dass sich etwas verändert hat, dass nichts so ist wie vorher.
Der Schmerz, der in mir steckt, ist nicht auszuhalten. Kein körperlicher Schmerz kann einen je so in die Knie zwingen.
Ich hatte die Freiheit mich zu entscheiden. Und ich bereue es.
Tage lang habe ich abgewägt, nachgedacht, in mich hinein gefühlt. Geredet, reflektiert, gespürt.
Und genau das, wovor ich Angst hatte, ist eingetreten.
Ich weiß nicht, ob ich es überleben werde.
Ich fühle mich so allein.
Jetzt, drei Monate später, beginnt alles wieder von vorne.
„Das Schicksal hasst mich!“, schreie ich, die Augen verquollen vor lauter Tränen. „Warum muss ich immer den harten Weg gehen? Womit habe ich das verdient?“
Er hält mich fest, versucht meinen Schmerz zu absorbieren, ihn für mich aufzusaugen.
„Es ist doch alles nicht fair“, murmle ich in seine Arme.
„Nein, ist es nicht“, stimmt er mir zu. „Es ist absurd.“
Später lachen wir, wie damals, wie davor. Wie vor der Entscheidung, als alles noch lustig war, als ich keine Konsequenzen tragen musste. Wir verstecken uns im Unglauben, in Ironie und Sarkasmus. So wie das letzte Mal.
Wie gut das tut.
„Ich bin ehrlich, die Wahrscheinlichkeit für eine unbefleckte Empfängnis ist höher“, lache ich.
„Schon wieder?“ So viel Erfahrung diese Frauenärztin auch haben muss, selbst sie ist überrascht vom Zufall, der mittlerweile nur noch Schicksal sein kann. „Haben Sie nicht verhütet?“
„Doch“, murmle ich kleinlaut, als wäre das alles meine Schuld. Mein Fehler. Mein Versagen.
„Wir haben Kondome benutzt.“
Ein Jahr mit Kondomen, zwei mit der Kupferkette, nie ein Problem. Und dann versagt beides, nacheinander. In fünf Monaten zweimal schwanger. Ich Glückspilz.
Die Frauenärztin sieht mich skeptisch an. Sie kennt mich. Ich bin verantwortungsvoll und ehrlich, doch mittlerweile traue selbst ich mir nicht mehr. Wie sollte sie dann?
„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie mich, jetzt sanft.
„Nicht gut“, gestehe ich.
„Natürlich“, stimmt sie mir zu. „Wenn ich ehrlich sein darf. Ihre Situation ist echt beschissen.“
„Danke.“
„Es war ja schon vorher echt scheiße, aber das hier …“
„Ja, so ist es.“
„Mir ist ja wirklich viel untergekommen, aber so eine Kacke …“
„Danke, ich weiß.“
Ihr Gesicht wird ernster. „Sie sind sich sicher, dass Sie das wieder durchstehen möchten?“
„Nein“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Nein, ich möchte das nicht wieder durchstehen.“ Ich hatte ihr danach erzählt, wie es mir ging, dass ich es bereute, dass es sich nicht richtig angefühlt hat. Und jetzt stehe ich wieder hier und will genau das Gleiche von ihr.
„Warum sind Sie dann hier?“
„Weil ich es durchgestanden habe.“
Sie nickt.
„Ich kann nicht gegen meine Gefühle entscheiden. Das konnte ich damals nicht und das kann ich jetzt nicht“, erkläre ich. „Es fühlt sich falsch an. Immer noch und schon wieder.“
Sie nickt.
„Ich weiß nicht, ob ich es nochmal durchstehe“, gestehe ich. „Aber alles andere wäre falsch. Aus meiner Perspektive jetzt.“
„Und nur die können Sie jetzt sehen“, stimmt mir die Ärztin zu. „Sie machen alles richtig.“
Wie viele mir das in den letzten Tagen, Wochen, Monaten gesagt haben … Ich kann es nicht mehr hören.
Ich google „Abtreibung“ zum sechsundfünfzigsten Mal in den letzten drei Monaten.
Mittlerweile lese ich mir alles durch. Früher noch wollte ich mich vor den negativen Emotionen anderer beschützen, doch heute sauge ich alles in mich auf. Mittlerweile kann mir niemand mehr was.
Faszinierend, wie viele Menschen Meinungen zu den Körpern von Frauen haben. Abtreibung ist eine Sünde, eine Pflicht, eine Verantwortung, richtig und falsch.
Frauen sind nicht frei, selbst wenn auf dem Papier steht, dass sogar sie Menschen sind, so wie alle anderen.
Die Geschichte ist genauso schizophren wie die Gegenwart. Ostdeutschland hat vor Westdeutschland Abtreibung legalisiert, mit der einzigen Abstimmung, die in der DDR nicht einstimmig erfolgte. Trotz der propagierten Gleichberechtigung durfte es schließlich nicht zu viel des Guten sein.
Aber dennoch war die Begründung deutlich feministischer als das heutige Abtreibungsgesetz.
So hieß es in dem sozialistischen Staat:
„Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert, dass die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann. Die Verwirklichung dieses Rechts ist untrennbar mit der wachsenden Verantwortung des sozialistischen Staates und aller seiner Bürger für die ständige Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Frau, für die
Förderung der Familie und die Liebe zum Kind verbunden.“
Heute ist eine Abtreibung in Deutschland rechtswidrig. Ich bin also eine Gesetzesbrecherin.
Rechtswidrig aber straffrei.
Die Gesetze drücken ihre Ablehnung einer Abtreibung deutlich aus, indem sie sie verbieten, aber mit einer straffreien Fristenregelung und Beratungspflicht versehen.
Strafgesetzbuch
§ 218 Schwangerschaftsabbruch
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses
Gesetzes.
Strafgesetzbuch
§ 218a Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs
(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn
1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
Ich mag es nicht, gegen Gesetze zu verstoßen, denn meistens haben Gesetze einen guten Grund. Sie sind unsere demokratische Grundlage.
Ich liebe es, gegen Gesetze zu verstoßen, die ungerecht sind, undemokratisch entschieden wurden oder die ich schlichtweg als dumm erachte.
Ich hasse es, gegen Paragraph 218 zu verstoßen, denn straffrei komme ich eh nicht davon. In keinem Fall.
Ich trage alle Konsequenzen, da würde eine richterliche Anordnung keinen Unterschied
machen.
Und dennoch, hätte ich diese Freiheit nicht, gäbe es kein § 218a, dann würde ich es erst recht die unfreiwillige Schwangerschaft beenden. Die praktische Freiheit, die das theoretische Verbot aufhebt, lässt mir überhaupt die Wahl, nachzudenken, zu reflektieren.
Und mich dennoch immer wieder für das Gleiche zu entscheiden.
Am Tag meiner zweiten Abtreibung drehe ich mich nervös vor dem Spiegel. Ich betaste meine Brüste, streiche mir über den Bauch, versuche meinen Körper zu verstehen. Er spielt ein Spiel gegen mich, das wir beide verlieren.
Dieses Mal ist es noch früher, ich kenne die Anzeichen, betrachte jede Veränderung mit
Argwohn und habe mir sofort einen Schwangerschaftstest gekauft, nachdem meine Brüste wieder Alarm schlugen.
Wie ich sie mittlerweile hasse. Wie sie mich betrügen, wenn ich nicht schwanger bin, wie sie mich verhöhnen, wenn ich es bin. Sie lassen keinen Moment aus, mir vorzuhalten, wie schwach ich bin.
Und dennoch betaste ich sie sehnsuchtsvoll, wünsche mir, dass sie für immer in diesem
Stadium bleiben, weder größer noch kleiner.
Wenn doch nur alles so bleiben könnte wie es jetzt ist.
Ausfüllen, unterschreiben, ich kenne das alles. Das Team begrüßt mich genauso freundlich wie beim letzten Mal. Manche kenne ich noch, andere nicht. Ich spreche mit der Ärztin, die das letzte Mal alles so schnell wie möglich abhaken wollte. Jetzt erklärt sie mir die gleichen Dinge, die ich
mittlerweile in– und auswendig weiß, die aber trotzdem nicht zu mir durchdringen.
Ihr prüfender Gesichtsausdruck gleitet immer wieder über mein Gesicht, wartet auf Fragen, auf Unsicherheit.
Warum mache ich überhaupt so ein Drama um das Ganze? Andere Frauen waren schließlich auch schon mehrmals schwanger, haben schon mehrmals abgetrieben und steigern sich nicht so
in die ganze Scheiße rein.
Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich werde es wohl nie wissen. Und damit muss ich mich
abfinden.
„Ich werde es nicht machen“, unterbricht plötzlich die Frauenärztin meine Gedanken.
„Was?“, frage ich verwirrt.
„Den Schwangerschaftsabbruch“, erklärt sie. „Es tut mir wirklich leid, aber ich werde das nicht machen.“
Ich bin verwirrt. „Wie bitte? Warum denn nicht?“
„Ich … ich kann nicht.“
„Aber das letzte Mal haben Sie doch auch …“
„Ja und werde es weiter tun, es ist das Richtige. Jede Frau sollte die Wahl haben. Aber ich kann Ihre Schwangerschaft nicht beenden, ich will nicht wieder für ihren Schmerz verantwortlich sein. Und ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen.“
Irritiert stehe ich auf und verlasse die Praxis.
Ich hasse mich selbst dafür, dass ich sie verstehe.
Ich habe eine andere Praxis gefunden, eine Ärztin, die mich nicht kannte, den Schmerz den ich hatte nicht spürte und mich mit einer Distanz behandelte, die mich etwas unwohl fühlen ließ.
Es ging mir nicht gut danach. Es ging mir schrecklich.
Ich habe es überstanden.
Zehn Jahre später bekam ich mein erstes Kind. Es war nicht leicht, ich mache nicht alles richtig, doch ich bin dankbar für die Freiheit, die ich habe.
Die Freiheit, mein Leben zu leben, den Schmerz zu spüren, den ich immer noch mit mir herumtrage, der mich nie wirklich verlässt. Doch wie jede andere Trauer versickert er langsam, wird schwächer und schwächer und heilt.
Ich hasse den Zufall dafür, dass ich in diese Entscheidungen gedrängt wurde.
Ich hasse die Ärztin, die mich für ihre eigenen Gefühle und Gewissensbisse stehen lassen hat.
Ich hasse mich dafür, dass meine Entscheidungen mir so viel Schmerz bereiten.
Und ich vergebe allen. Weil es das richtige war.
Es gibt bei uns gewisse Freiheit
doch besser wärs es gäb ne Pflicht
so gut mag sein Gewissensfreiheit
ohne Gewissen geht es nicht
Denn wo kein Wille keine Freiheit
Gesetze schaƯen Möglichkeit
um die zu nutzen hat man Freiheit
doch dafür muss man sein bereit
Für dies Bereitsein braucht es Wissen
und Mut zum Urteil braucht es auch
man wird schon selber denken müssen
nur Nachplappern ist Schall und Rauch
Die eignen Werte muss man kennen
sie zu erneuern oƯen sein
und doch für diese immer brennen
für sie einstehn auch ganz allein
Denn nicht was alle wolln ist richtig
sondern nur das was richtig ist
und du bist stets gewissenspflichtig
oh welch ein Glück, dass du es bist
Wenn alle handeln nach Gewissen
und ihrem eignen Herzverstand
dann wird man Menschlichkeit nicht missen
und das Gesetz ist angewandt
Es gäb sie nicht all diese Kriege
wenn jeder ein Gewissen hätt
läg jedes Kind in seiner Wiege
ein jeder wär zum andern nett
Und jeder hat es, dies Gewissen
nur wissen‘s manche jetzt noch nicht
weshalb wir sie erinnern müssen
deshalb braucht es Gewissenspflicht
Gewissenspflicht heißt nicht diktieren
es gibt nicht eine Richtigkeit
es heißt zum Denken navigieren
und streben nach Gerechtigkeit
Man muss sich selbst für fehlbar halten
und immer suchen nach mehr Sinn
in weisen Schriften neuen, alten
und immer zu Gesprächen hin
Um so gemeinsam dann erreichen
dass ein Gewissen in uns spricht
so stellen wir zusamm die Weichen
für wirksame Gewissensfreiheit
Ich habe oft ein schlechtes Gewissen
Ich habe ein schlechtes Gewissen
Weil meine Lebensverhältnisse
Ein Privileg sind
Und ich das zu oft nicht sehe
Weil meine Bedürfnisse
Manchmal wie Luxusprobleme erscheinen
Und meine Hindernisse im Leben klein sind
Im Vergleich zu denen
Die anderen vor die Füße gelegt werden
Ich habe ein schlechtes Gewissen
Wenn ich mit meinen Kenntnissen
Und meinem Wissen
Keinen Beitrag leiste
Wenn ich zwar hingucke
Aber dann trotzdem schlucke
Was ich sehe
Oder vorbeigehe
Ohne etwas dagegen
Zu unternehmen
Ich habe ein schlechtes Gewissen
In den Momenten
In denen ich aus Versehen
Mein Einverständnis gebe
Weil es mir zu peinlich ist
Mein Unwissen zu gestehen
Wenn ich lieber Komplimente verteile
Weil das einfacher ist
Als mit Argumenten
Um sich zu schmeißen
Ich habe ein schlechtes Gewissen
In den Situationen
In denen ich mich für die bequeme Option entscheide
In denen ich lieber schweige
Und hinnehme
Geschehnisse über mich und andere ergehen lasse
Anstatt mich aus meiner Komfortzone zu bewegen
Und für eine Sache einzustehen
Aus Angst vor den Reaktionen der anderen
Wenn ich sie sehen lasse
Wo und wofür ich wirklich stehe
Ich habe ein schlechtes Gewissen
Wenn ich mich zerrissen fühle
Wie ich mich zu den Meinungen
Die kursieren
Positionieren soll oder auch muss
Denn wenn ich recherchiere
Und hinterfrage
Kann ich oft im Anschluss
Nicht sagen
Was Fakt und was Mythos ist
Ob mich der Algorhythmus des Internets
In die irre führt
Oder mein eigenes Gespür verwirrt ist
Ob meine eigene Einschätzung von Dingen
Einfach generell
Zu vorschnell oder individuell
Nicht aktuell, reell und essenziell
Gefällt wird
Oder ich im jetzt dieser Gesellschaft
Quellen grundsätzlich
Für fake halten soll
Ich habe ein schlechtes Gewissen
Denn sollte ich nicht
Wenn ich Kapazitäten übrig habe
Mich insgesamt mehr engagieren?
Alle meine Kraft und Ressourcen ausschöpfen
Um zu
Protestieren zu demonstrieren
Andere dazu zu animieren
Dasselbe zu tun
Agieren
Bevor Tiere Lebensräume verlieren
Immer mehr Menschen in Albträumen leben
Wir keine Natur pur
Sondern nur noch zu heiße Temperaturen
Und Spuren des Klimawandels erleben
Sollte ich nicht meinen Konsum reduzieren?
Bestimmte Produkte boykottieren?
Und mich insgesamt mehr informieren?
Und sollte ich nicht gleichzeitig
Für mich mein Leben strukturieren?
Meine Taten reflektieren?
Zwischendurch immer Yoga praktizieren?
Oft genug mein Handy deaktivieren?
Das was ich ich tue immer mal wieder variieren?
Meditieren für innere Ruhe?
Und dabei auch noch Freunde kontaktieren?
Einander respektieren?
Und bevor ich es vergesse
Auch ganz nebenbei noch grundlegend existieren?
Und damit konfrontiert mich mein Gewissen
Unter anderem
Ich fühle mich zerrissen
In all dem
Was ich nicht alles könnte und müsste und sollte
Bekomme Gewissensbisse
Fühle mich beschissen
Weil ich nie all das schaffe
Was ich wüsste ich sollte
Weil ich nie all das mache
Was ich denke ich wollte
Mein Gewissen
Gibt mir die Erkenntnis
Dass es immer etwas gibt
Was ich mehr machen kann
So sehr ich mich auch anstrenge
Ich in seinen Fängen festgehalten werden
Bis das Drängen des Gewissen
Mich erstarren lässt
Alle Anstalten etwas zu versuchen
In Überforderung enden
Ich mich abwende
Und dass schlechte Gewissen verdränge
Manchmal weiß ich nicht
Wie ich mit meinem schlechten Gewissen umgehen soll
Ich finde es schwer eine Balance zu finden zwischen
Sich vor der Auseinandersetzung drücken
Oder das Gefühl zu haben nicht aus freien Stücken zu geben
Und sein eigenes Leben
Als nebensächlich zu bezeichnen
Zwischen dem Bestreben
Alles richtig machen zu wollen
Aber gleichzeitig auch auf sich selber achtzugeben
Ich möchte verstehen
Wie das Gewissen
Mich beeinflusst
Um damit besser umgehen zu können
Das Gewissen ist eine Instanz
Im menschlichen Bewusstsein
Die bestimmt wie wir urteilen
Ein Gewissen zu haben
Setzt voraus
Dass ich aussortieren und sagen kann
Was echt und was fake ist
Was recht und was unrecht
Denn mein Gewissen ist eine Instanz
Die von meinem Wissen
Meine Erfahrungen und Beeinflussungen
Genährt wird
Denn um etwas entscheiden zu können
Brauche ich eine moralische Orientierung
Aber auch das Bewusstsein
Dass unsere Moralität
Ausgenutzt wird
Sie wird benutzt um uns zu beeinflussen
Wird vermarket
Wie ein Gerät
Ist ein Target
Um in uns Falschinformationen zu sähen
Uns zu kontrollieren
An uns zu appellieren
Moralität von außen gesät
Wird so zu einer Instanz
Die uns selber verrät
Vielleicht
Ist ein schlechtes Gewissen zu haben
Das Zugeständnis
Sich zu sagen
Dass ich nicht alles schaffen kann
Dass es nicht in meiner Macht liegt
Dass ich nicht die Kraft dazu habe
Dass ich mir eingestehen muss
Dass nicht alles was ich ich sehe
Nicht allem dem ich begegne
Oder was ich verstehe
Von mir geändert werden kann
Vielleicht
Geht es darum
Sich mit seinen eigenen Möglichkeiten auseinanderzusetzen
Zu verstehen
Was wieviel und auf welchem Weg
Ich geben kann
Vielleicht ist die Aufgabe
Zu sehen
Zu was ich realistisch und tatsächlich in der Lage bin
Denn ich glaube
Wenn wir uns loslösen
Von den vielen großen Meinungen da draußen
Und auf unserem eigenen inneren Anstoß vertrauen
Gibt jeder Mensch auch etwas in die Welt
Wenn ich einsehe
Dass ich nur dann geben kann
Wenn ich auch auf mich selber acht gebe
Und dass was auf mir lastet
Nicht verachte
Weil ich denke
Dass ich damit meine Kapazitäten verschwende
Dann fängt an sich etwas zu ändern
Wenn ich mit meinem Gewissen in ein Dialog gehe
Versuche zu verstehen
Was es mir sagen will
Wenn ich nicht nur genervt bin
Sondern mich auch darüber freue
Mein Gewissen zu spüren
Weil es mich fühlen lässt
Weil es mich wach hält
Immer weiter hinterfragt
Mir die Möglichkeit gibt
Nach meiner inneren Wahrheit zu handeln
Dann kann ich auch geben
Und dadurch etwas verwandeln
Ich kann nur bei mir selber anfangen
Mich so behandeln
Wie ich gerne nach außen hin handeln möchte
Und sehen:
Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen
Wenn ich meine eigene Bedürfnisse übergehe
Und nicht ernst nehme
Wenn ich mir Dinge nicht zugestehe
Und die Hindernisse
Vor denen ich stehe
Klein rede
Ich habe ein schlechtes Gewissen
Wenn mir etwas nicht gut tut
Und das ist gut so!
Mein schlechtes Gewissen
Will mir etwas verraten
Und es ist an der Zeit
Es zu fragen
Was es mir sagen möchte
Du bist die, die pocht an meine Schläfe.
Du drehst das Karussell meiner Gedanken auf und nieder.
Und wenn ich schlafe, rüttelst du mich wach.
Du bist mein Gewissen, das niemals schläfst.
Niemals schläft heißt, du wachst, auch wenn ich es nicht will.
Du atmest so laut, dass ich es fühlen kann und du ratterst.
Oh, wie du ratterst, das glaubst du selbst nicht –
Man würde glauben, es ist pure Absicht. Pure Absicht!
Ich kann dich hören, wenn du schweigst,
noch bevor du ein Wort sagen willst,
weiß ich es schon.
Und du lähmst ab und an,
bringst mich zum Erschaudern – über mich selbst.
Und doch musst du leben, mein Gewissen,
doch werde ich dir die Freiheit lassen.
Frei musst du immer bleiben,
meine Ampel zu jeder Zeit sein,
meinen Puls im Blick haben und mein Sein.
Damit ich immer Mensch bin, immer Mensch bleiben kann, immer Mensch bleibe.
Niemand sollte dich besiegen,
so, dass du am Boden liegst.
Denn immer bist du mein Begleiter, ohne dich geh ich nicht los.
Ich glaube fest, dass ich dich liebe,
irgendwo und irgendwann.
Bleib nur mein Gewissen, bleib nur immer frei.
Biegt man links in die Gęsia-Straße ein
Grüßt freundlich ein großes braunes Tor
Dahinter prangt ein Haus aus Backstein
Aus dem Dach lugt ein Schornstein kess hervor
Und öffnet man das dunkle Eisen
Murmeln Kieselsteine “Guten Tag!”
Eins der Scharniere quietscht ganz leise
Weil es Besucher ihrer Wege fragt
Der Schotterweg gesäumt von Halmen
Getupft vom feuchten Morgentau
Der Dunst des Tages lädt zum Verweilen
Ein in die warmen Wände von jenem Haus
Rundherum, da gähnt ein alter Hof
Der sich in der Morgensonne reckt
Noch ist’s still, man vernimmt bloß
Entferntes Klimpern von Besteck
So zwitschern Vögel hier und dort
Ein paar Bälle schlafen in den Ecken
Zwei rollen zur Straße fort
Wo sie müde Menschen entdecken
Von der Eingangstür, da blättert Farbe
Dennoch sieht sie zufrieden aus
Kam nur allmählich in die Jahre
Und schaut nun etwas faltig aus
Das kühle Metall eines Türknaufs
Schmiegt sich vorsichtig in die Hand
Das Öffnen knarzt behaglich laut
Und hinter der Tür steht ein kleiner Mann
”Ja, hereinspaziert, schön, dass du wieder da bist!”
Wie man so früh schon so wach sein kann
Und dass das Frühstück jetzt bereit ist
Und dann schaltet er das Flurlicht an
Kleine Kinderfüße tappeln weiter
Die schon so früh spazieren waren
Tänzelnd auf den Gängen heiter
Die sie in die Küche tragen
Dort herrscht großes Durcheinander
Zwischen Butter, Brot, Käse, Wurst
Man reicht zuvor die Hände einander
Und nach dem Hunger, kommt der Durst
Man isst und trinkt, man kaut und schmatzt
Der Mann steht seufzend im Rahmen der Tür
Man kichert und krümelt, pupst und lacht
Ein buntes Treiben zwischen Tisch und Geschirr
”So, ihr Lieben, nun esst aber auf
Der Reiseleiter holt uns gleich ab
Geht in die Waschräume, putzt euch heraus
Und nehmt mit, was ihr gern bei euch habt!”
“Wo gehen wir denn hin?” fragt ein kleiner Bub
Mit seiner Geige in seiner Hand
”Mir gefällt es hier doch wirklich gut!
Solange ich nur bei dir sein kann.”
”Wir fahren auf’s Land, ab in die Natur.”
Sagt der Mann und rückt seine Brille zurecht
”Und es sind ja auch ein paar Tage nur
Hier in der Stadt ist die Luft so schlecht.”
”Ist’s denn weit?” will ein anderer wissen
”Ein wenig schon, aber nicht zu sehr
Und du hast ja auch gerade gut gegessen
Doch schaffst’ du’s nicht, trag ich dich gern.”
“Wie viele sind es denn nun genau?”
Fragt der Reiseleiter am braunen Tor
”Hundertzwanzig, ich und diese Frau.”
Sagt der Mann und geht einen Schritt dann vor
„Nein, nein, Herr K., Sie bleiben hier!
Denn Sie gehören nicht zu denen!“
Herr K., damit niemand sonst ihn hört
Senkt seine Stimme unter Tränen
„Ich bitte Sie drum und flehe Sie an,
Diese Kinder sind mein ganzes Leben
Und ich will doch nur als alter Mann
Mein eigenes für sie geben!“
Der andere rümpft seine Nase
„Dann es gibt keinen Weg zurück!“
„Das ist meine Antwort auf Ihre Frage“
Antwortet Herr K. mit eisernem Blick
Und sieht ein letztes Mal auf das Haus
„Also dann, marschieren wir ab!“
Er atmet Wehmut ein und wieder aus
Als die Gruppe sich auf den Weg begab
”Moment!”, ruft der Mann in Uniform
”Der Junge mit Geige führt den Zug an!”
Und er holt den kleinen Buben nach vorn
Der gerade Jarzębski zu spielen begann
Gesang, Gelächter, Tanz, und Spiel
Waren auf ihrem Weg ihr Geleit
und bis zu ihrem letzten Ziel
Ließ der Mann sie keine Minute allein
Er hätte gekonnt, aber er blieb
Und ging bis nach Treblinka mit
Hatten sie doch niemanden außer ihn
Und weil das Gas sie alle dort erstickt
Und er nichts tun konnte, um das abzuwenden
Blieb er bei seinen Kindern bis zum Schluss
In der Kammer des Schreckens zwischen tödlichen Wänden
Aus freien Stücken und nicht weil er muss
Janusz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit, geboren 22. Juli 1878 oder 1879, war ein bedeutender Kinderarzt und Pädagoge. Bekannt wurde er vor allem dadurch, dass er ein jüdisches Waisenhaus gründete und leitete. Am 5. August 1942 wurden im Rahmen der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ die etwa 120 Kinder des Waisenhauses von der SS zur Deportation in das deutsche Vernichtungslager Treblinka abgeholt. Obwohl Janusz Korczak und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska wussten, dass dies den sicheren Tod bedeutete, bestanden sie darauf mitzufahren. Dieser Text soll an seine Loyalität und Zivilcourage erinnern. Auch noch heute gibt 4000 gewalttätige Übergriffe auf Menschen aufgrund ihrer Religion. In Deutschland. Jährlich. Die Tendenz ist steigend.
Janusz Korczaks Fußstapfen sind zu groß
Für dich und mich allein
Doch gemeinsam passen wir rein
Denn die Antwort auf Hass kann
Kann doch immer nur der Frieden sein
Der Mann im Anzug war selten weniger allein. Er hält seine
Augen noch geschlossen. Und er schwitzt. Er schwitzt durch
den Anzug. Seine Finger suchen den Knoten seiner Krawatte.
Die Erleichterung ist flüchtig. Die Erleichterung ist
eingebildet. Er atmet durch.
Tief.
Lang.
Mit dem Atemzug steigt der Geruch von Stempeltinte,
Normpapier, Pomade und Gewissensschweiß in seine Nase auf
und verdichtet sich dort zum Geruch von Verantwortung.
Er hört Stühle hin- und herrücken, das Quietschen von
Sitzpolstern und das magnetische Knistern der Filmkameras.
Eintausend unsichtbare Augen ruhen auf ihm.
Augen von den Zuschauerrängen, Augen hinter Kameralinsen und
den Empfangsgeräten, Augen aus der Vergangenheit, Augen aus
der Zukunft, zukünftige Augen.
Vor allem die.
Der Mann im Anzug war selten weniger allein. Aber er fühlt
sich allein, alleingelassen. Trotz der Stimmen und dem
warmen Atem und dem blechernen Echo des Mikrofons.
Er muss sich dringend festhalten. Er muss sich dringend
irgendwo festhalten. Die Krawatte tut es nicht mehr. Er
würde sie am liebsten abnehmen. Er behält sie an. Mutti
zuliebe.
Gewissenssache.
Wenn Mutti ihn in den Nachrichten sieht, wenn Mutti ihn ohne
Krawatte in den Nachrichten sieht, ruft Mutti an und sagt:
Wo ist deine Krawatte? So bist du nicht erzogen. Und beim Einkaufen wird sie sich tagelang entschuldigen für ihren
gewissenslosen Sohn.
Nein, die Krawatte bleibt an.
Ein Augenpaar, denkt er, gehört wohl seiner Mutter, aber als
er es entdeckt, hat er es schon wieder verloren.
Er fährt über den Stapel Papier auf dem Pult vor sich. Er
fühlt. Er fühlt jede einzelne Papierfaser und Unebenheit –
wie perfekt Papier aussieht, wenn es vor einem auf dem Tisch
liegt. Wie rau und imperfekt es ist, unter seinen Fingern,
in mikroskopischen Tiefen.
Seine Augen sind immer noch zu.
Er fühlt die Tinte, die das Papier verletzt. Die in der
Kartusche oder im Federhalter Wasser ist, Lösemittel,
Eisensulfat. Und die, wenn gelesen, plötzlich auf
gespenstische Weise mehr bedeutet, die morphologischen,
lexischen, syntaktischen, symbolischen und schließlich
performativen Wert erfährt.
Das also ist sein Gewissen. Das also ist er, nach außen
gekehrt. Wortgeworden. Weltgeworden.
Die Augenpaare blinzeln in der Dunkelheit wie Luftlöcher in
einem dunklen Schuhkarton.
Blut rauscht in seinen Ohren, der unermüdliche Takt seines
eigenen Herzens. Dazwischen schneidet für einen Moment das
Feedback des Mikrofons, die Stimme, die es füttert.
„Es handelt sich hier um eine Frage, die in erster Linie
nach rechtlichen Überlegungen und somit aus dem Gewissen
jedes einzelnen heraus entschieden und beantwortet werden
muss.“
Sein Herz schlägt noch schneller, schmerzhafter. Das ist
nicht seine Art. So nervös zu sein. Entbunden von Parteilinien riecht er stärker denn je den
Geruch, den Gestank der Verantwortung von vierhundert
Männern und um die vierzig Frauen, fragt sich, welchen Wert
ihr kollektives Gewissen hat, das durch Abstimmung zum
absoluten Gewissen wird, wenn es das größere Gewissen
dahinter nur unzureichend abbildet. Paritätisch gesehen. Und
jetzt? Trotzdem: Verantwortung! Für sich selbst. Sein
eigenes Gewissen. Das er mit niemandem teilt.
Aber aus dem er gleich vorlesen wird.
Was ist Gewissen? Er stellt es sich ausgeschrieben vor.
Wieder dieses Zusammenschmelzen und Geborenwerden zu neuen
Formen, neuem Sinn, Morphem für Morphem. Wissen ist ein
Teil. Damit kann er etwas anfangen. Man weiß etwas.
Woher?
Gewissen unterscheidet zwischen Gut und Böse. Das hat schon
das Bundesverfassungsgericht so aufgefasst. Aber woher weiß
er – er persönlich –, eigentlich was gut ist.
Und was böse?
Er sieht sich wie dunkles Wasser, das sich am Boden eines
Beckens sammelt. Sammelbecken, denkt er. Wir sind
Sammelbecken. Wir sind Reservoir unserer Vergangenheiten,
unserer Erziehung, der unserer Eltern. Er zittert. Sind wir
gewissensfrei? Frei in unserem Gewissen.
Oder haben wir nur die Freiheit, über ein Gewissen zu
verfügen. Das vielleicht nicht unseres ist.
Kann es dann nicht nur ein schlechtes, sondern ein falsches
Gewissen geben? Was, denkt er, wenn mein Gewissen falsch
ist? Der Gedanke wäscht über ihn und tröpfelt kalt in das
dunkle Becken seines Gewissens. Die eintausend Augen
blinzeln aufgeregt. Er ist sich seiner Person unangenehm bewusst. Wie er hier
sitzt. Sich herausnimmt, etwas zu wissen.
Seine Finger spielen wieder mit der Krawatte, der Form des
Knotens, der von außen betrachtet perfekt sitzt, uniform,
aber darunter Handgriffe verbirgt und Jahre vor einem
Spiegel.
Vielleicht, denkt er, muss er in diesem Moment nicht für
sechsundsiebzig Millionen Deutsche sprechen – neunundfünfzig
und siebzehn –, oder für sechs Millionen Menschen, die nicht
mehr sprechen können, für unendliche, unendlich schmerzhafte
Zahlen.
Vielleicht muss er nur für sich selbst sprechen, sich
offenlegen, mein Herzschlag in eueren Ohren.
Und die Wahrheit hinter dem Knoten.
Vielleicht muss er nichts anderes tun, als zu sagen, was in
ihm ist.
Und vielleicht ist das das Wunder dieser Demokratie und das
Versprechen, das das Grundgesetz ihm schenkt. Das teuer
bezahlte, ewig schützenswerte.
Er öffnet seine Augen.
Vielleicht.
Er hört seinen Namen.
Er steht auf.
Und etwas in seiner Brust strahlt so hell, dass sich
eintausend Augen hinter ihre Lider zurückziehen an diesem
10. März.
Wörtliche Rede zitiert Ewald Bucher in: Deutscher Bundestag,
Plenarprotokoll vom 10. März 1965, 4. Wahlperiode, 170.
Sitzung, Bonn 1965, S. 8519: [https://dserver.bundestag.de/btp/04/04170.pdf].
Die Männer meiner Verwandtschaft mütterlicherseits haben kein besonders großes Glück. Es wirkt fast, als würde ein Fluch auf ihnen liegen, der ihnen nicht erlaubt, wesentlich älter als fünfzig Jahre zu werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz, die einer Frau das Leben schwer machen können, bin ich also zuweilen recht froh, nicht als Mann geboren worden zu sein. Ich habe weder meinen Opa noch meinen Uropa je kennengelernt, und darüber bin ich wirklich traurig, denn es müssen kluge und interessante Männer gewesen sein. Mein Opa, der unbedingt wollte, dass seine Töchter studieren und der sein Haus mit den eigenen Händen baute. Mein Uropa, der geniale Erfinder, der doch tatsächlich in seinem Dorf in Ostfriesland die allererste Windmühle auf die Beine stellte und es so mit Strom versorgte.
Ich weiß wenig über meinen Uropa, aber ich glaube, vielleicht wären wir uns ein bisschen ähnlich. Der Gedanke bringt mich zum Lächeln, denn in meinen Gedanken sehe ich ihn als einen Mann mit wirrem Haar und freundlichen dunklen Augen. Vielleicht fuhr er die Dorfstraße mit einem von diesen Fahrrädern mit einem riesigen Reifen entlang und in meiner Vorstellung trägt er auch einen schiefen Hut. Er isst gerne Bonbons und ist genauso vergesslich wie ich.
Der Bürgermeister des Dorfes schreibt über ihn die Dörfler hielten ihn für einen „Abenteurer“ und „Phantasten“. Diese Beschreibung macht mich aus irgendeinem Grund honigkuchenpferdglücklich. Es gefällt mir so, diese Vorstellung von einem kreativen und etwas verrückten Kopf, mit einem Hang zum Abenteuer. Wie gerne würde ich ihm erzählen, vom Sporttauchen und vom Klettern, von hundert verschiedenen Hobbies und meiner Begeisterung für das Meer. Wie gerne würde ich ihm von meiner Zeit in Schweden erzählen, wo ich als Guide für Hundeschlittentouren arbeitete, oder dass ich ihm Juli nach Neuseeland gehe. Das würde ihm sicher, anders als meiner ruhigen und besonnenen Familie, gefallen.
Meine Mutter hat mir erzählt, dass Uropa sich aus allerlei Kram eine Kamera mit Selbstauslöser baute, um sich vor eigens inszenierten Fototapeten abzulichten. Uropa vor dem Kilimandscharo, auf dem Dach Afrikas. Ein Träumer, der von der weiten Welt träumte. So wie ich. Aber das war früher nicht so einfach wie heute, die Sache mit den Weltreisen. Die Dorfbewohner hielten ihn wohl für ein wenig verrückt, vielleicht haben sie ihn auch belächelt. Ungefähr im August 1939 die Männer als Soldaten eingezogen werden um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Sie werden zu Meldestellen kommandiert und sollen an die Front. Mein Uropa hatte über die NSDAP immer gesagt, er „habe mit dem Verein nichts am Hut.“ Aber auch er war Mitglied, um seine Arbeit behalten zu können und seine Familie zu ernähren. Nun sollte er also, mit zweiundvierzig Jahren, an die Front gehen um für Volk und Vaterland zu kämpfen und vielleicht zu sterben.
Hat er wohl nicht eingesehen. Die Geschichte bringt mich immer ein wenig zum Lächeln. Dieser störrische, geniale Mann kannte nämlich einen Ausweg – wie man ihn mit etwas Kreativität auch in jeder noch so aussichtslosen Lage finden kann. Die Menschen damals hatten schlechtere Zähne als wir heute und Uropa hatte trotz seines verhältnismäßig jungen Alter bereits ein Gebiss. Dieses nahm er nun raus, um sich feierlich für die Front zu melden. Als er auf die Meldestelle zulief, begann er bucklig zu laufen und ein Bein nachzuziehen. Mit schwächelnder Stimme meldete er sich dann zum Dienst. Der Befehlshaber, der die Namen aufnahm, fragte fluchend, warum sie denn die Greise auch zur Front schicken würden. Somit war Uropa aus dem Schneider. Sicher hat er noch ein bisschen gehinkt, bis er außer Sicht war.
Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand.
Tragischerweise, wie ich am Anfang bereits erwähnt habe, wurde er trotzdem nicht viel älter. Zwei Jahre später starb er bei einem Busunglück, das war 1941. Dieser großartige Kopf und so ein schlichtes Ende. Aus und vorbei.
Und so bekam er wohl nicht mehr mit, wie sein ältester Sohn an die Front geholt wurde, der ältere Bruder meines Opas. Ich habe im Haus meiner Oma einige seiner alten Feldbriefe gefunden, die mit 1943 datiert sind – da war er grade siebzehn Jahre alt. Viel weiß ich über diesen Mann nicht, doch er muss gegen Ende des Krieges wohl völlig traumatisiert desertiert sein und hielt sich danach sehr lange versteckt. Bis er irgendwann in sein leerstehendes Elternhaus zurückkehrte um sich dort schließlich zu erhängen. Ich wünschte, er hätte auch seine Zähne rausnehmen können, als er eingezogen wurde.
Gegen Ende des Krieges wollte schließlich mein Opa mit seinen Freunden auch noch an die Front ziehen, die Propaganda der Nationalsozialisten von wegen „Deutsche Jugend meldet sich freiwillig“ hatte wohl gewirkt. Die Jungs waren dreizehn und vierzehn Jahre und versammelten sich vor dem Schulgebäude. Viele von Ihnen hätten das nicht überlebt.
Dem herausstürmenden Schulleiter verdanke ich also wahrscheinlich mein eigenes Leben. Er schimpfte mit den Jungen und schickte sie nach Hause. Opa ging nicht mehr an die Front und starb auch nicht für Volk und Vaterland.
Ich kann nicht verstehen, wie mit all unserem heutigen Wissen wieder rechtes Gedankengut Gehör in Deutschland findet. Als wäre der Horror jener Zeit längst vergessen. Ich möchte den Ruck nach rechts nicht akzeptieren. Ich habe manchmal wirklich Angst, es scheint so ausweglos und furchtbare Nachrichten prasseln von allen Seiten auf uns ein. Wir dürfen die Hoffnung nicht sinken lassen, und müssen gegen die Umstände kämpfen. In unseren Möglichkeiten, egal ob wir demonstrieren oder Texte schreiben und publizieren. Oder eben unsere Zähne rausnehmen. Wahrscheinlich ist ein bisschen Kreativität genau das, was wir jetzt brauchen. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Falls ihr mich also sucht, ich kaufe mir jetzt erstmal ein Gebiss und mache ein Foto von mir vor dem Kilimandscharo.
Anfang August. Neuer Job. Neuer Arbeitsweg. Über den Rhein. Die einzige Brücke, die nur Treppen hat. Keine Rampe, kein Fahrstuhl, keine Straßenbahn. Nicht barrierefrei und auch nicht fahrradeinfach. Auf jeder Seite ein Treppenturm. Man kann da mit vielen Wendungen bis zur Brückenebene hochlaufen. Und bis zur Straße runter. Auf dem Weg gibt es zwei Ebenen, die sind so groß wie mein WG-Zimmer.
Ende August. Gewohnter Arbeitsweg. Dort, auf der Seite wo es wieder runter geht, schläft einer. Er steht immer um 10 auf und räumt seine Sachen ordentlich zusammen. Außer heute. Weil er noch nach dem Aufwachen onaniert. Habe ich auch. An ihm laufen dabei viele Leute vorbei. Sie schütteln mit dem Kopf und heben ihr Fahrrad an, damit es über seine Beine passt. Es wäre für alle besser, wenn er woanders onanieren würde. Geheim, so wie ich. Vielleicht kann ich ihm mein altes Wurfzelt hinstellen. Aber vielleicht will er es auch mit Publikum. Mitte September. Wir habe das erste Mal unsere Gesichter gesehen. Ich frage mich, ob er mich erkennt. Nicht wegen dem Gesicht, das sieht er nie, weil er schläft. Sondern an meinen Schritten. So, wie ich früher wusste, ob Mama oder Papa die Treppe hochkommt. Die schweren Schritte meiner Designerstiefel und das Tapsen meines Hundes und mein „NEIN“, wenn er hingeht, um an ihm zu schnuppern. Oder an seinen Wienerl aus dem Glas. Vielleicht kann ich anderes Essen hinlegen. Aber jemand hat schon Yoghurette mitgebracht.
Ende September. Er trinkt jetzt mehr Bier. Abends standen viele Flaschen da und morgens ist im WG-Zimmer eine größere Urinpfütze als sonst. Manchmal Erbrochenes. Er versucht dann, das mit Blättern zu bedecken. Man riecht es trotzdem. So wie in meinem Badezimmer nach einer WG-Party. Vielleicht kann ich ihm Mülltüten bringen oder Lappen oder eine Zahnbürste. Aber ich vergesse es.
Anfang November. Immer eine Skiunterhose unter meiner Jeans. Ich bin spät zur Arbeit, er ist schon aufgestanden. Neben seinen ordentlich zusammengepackten Schlafsäcken hat jemand einen Zettel gelegt. Mit Nummern von Notunterkünften. Dafür braucht er ein Handy. Vielleicht kann ich da anrufen für ihn. Aber ich traue mich nicht.
Ende November. Regenschirm aufgeklappt. Der Rhein hat jetzt 8 Meter Wasserstand. Ich verstehe nicht, von wo man misst. Auf der anderen Seite steht eine Statue und wenn die überschwemmt ist, sind es 7 Meter. Die ist schon lange überschwemmt, also sind es mehr. Und mit ihr das Zeltlager unter der Brücke, in dem andere geschlafen haben. Man sieht nichts davon. Ich frage mich, ob der aus dem WG-Zimmer die anderen kannte und ob er Angst hat. Vielleicht kann ich ihn fragen, er liegt da und ist wach und löst Kreuzworträtsel. Aber bestimmt versteht er mich nicht oder möchte nicht gestört werden.
Mitte Dezember. Mein Hund trägt eine Jacke. Ein leerer Haufen mit Schlafsäcken und einer leeren Bohnendose und Dosenbier. Es ist morgens, vor seiner Aufstehzeit. Vielleicht ist er jetzt früher als sonst draußen. Es ist zu kalt zum Schlafen. Mir ist fast zu kalt zum Gehen. Gestern habe ich neue Handschuhe gefunden, vielleicht kann ich meine alten dalassen. Aber vielleicht braucht er auch keine.
Ende Dezember. Nach Weihnachten. Ich war eine Woche nicht hier. Das Bettenlager ist nicht
mehr ordentlich. Überall liegen Mandarinenschalen. So wie heute morgen bei mir, auf
meinem Tisch in meinem WG-Zimmer. NEIN Hund, nicht fressen. Gestern war ein Artikel in der Zeitung. Über einen anderen, der unter einer anderen Brücke schläft. Da steht, dass der trinkt, wegen der Sucht. Aber wenn man betrunken ist, wird einem warm und man zieht sich aus. So wie ich am Wochenende beim Tanzen. Und dann erfriert man. Und dass Geld am meisten hilft oder eine warme Mahlzeit. Es gibt hier keinen Imbiss in der Nähe. Vielleicht kann ich Geld hinlegen. Aber ich habe gerade nur Scheine dabei.
Anfang Januar. Weihnachtsbäume blocken den Wind von den Fenstern des WG-Zimmers. Ich frage mich, wie lange es gedauert hat, die hier her zu bringen. Er liegt zwischen und unter den Bäumen. Auf dem Schlaflager, mit dem Kopf unter der Decke. Macht was Verstecktes. Eine Spritze aufziehen? Ich gehe langsamer, weil ich neugierig bin. Nur auf das, was er da macht, auf nichts anderes. Es ist wieder ein Kreuzworträtsel. Die letzte Seite aus dem Heft. Die Hände zittern. Meins habe ich aufgegeben. Ich wusste nicht, was ein französisches Wort für „alt“ ist. Frustrierend. Vielleicht kann ich ihm das bringen. Aber das ist zu Hause und ich bin jetzt schon unterwegs.
Mitte Januar. Der Wind pfeift. Eiskalter Regen in meinem Gesicht. Endlich der Treppenturm mit Dach. Die Weihnachtsbäume sind weg. Überall Tannennadeln. Das Schlaflager darunter leer. Am Ausgang des Treppenhauses ein Krankenwagen.
Ende Januar. Gewohnter Arbeitsweg. Mein Hund schnuppert am Dreck. Da, wo mal das Schlaflager war. Vielleicht hätte ich helfen können. Aber ich wollte nicht.
Ich sehe heute gut aus. Ich habe mir die Wimpern getuscht und meine Augenringe abgedeckt. Ich trage die neue grüne Vintage-Bluse und Sneaker die mal weiß waren, so als hätte ich mir nicht extra für dich Mühe gegeben. Es ist ein warmer Juniabend, ich sehe heute gut aus und ich hoffe, dir fällt das auf.
Ich lag im Bett, mit offenen Fenstern und konnte nicht schlafen, als du mir geschrieben hast. Willst du vorbeikommen, hast du geschrieben, von deinem Balkon gibt es einen schönen Blick über die Häuser. Kein Hallo, kein, obwohl es schon spät ist und keinen Grund. Es ist Juni und vielleicht reicht das für einen Grund, also habe ich ja geschrieben und ja, ich bringe noch Wein mit. Ich habe mich am stillen Schlafzimmer meiner Eltern vorbeigeschlichen, einen Zettel auf den Küchentisch gelegt und darauf geschrieben, ich bin noch bei einem Freund, obwohl wir keine Freunde sind, obwohl wir uns nur zunicken, wenn wir uns sehen, obwohl du mich heute überrascht hast. Ich habe die Tür leise hinter mir ins Schloss gezogen, darin bin ich gut und heute auch darin, mehr wie der Juni zu sein, heute stoße ich mit dir an, heute schaue ich über die Stadt, der Sommer reicht dafür. Ich habe in einem Kiosk Rotwein für sechs Euro gekauft. Bis zu der Adresse, die du mir geschickt hast, war es nicht weit und als ich bei dir angekommen bin, habe dir eine Nachricht geschrieben, ich kenne deinen Nachnamen nicht und wusste nicht, wo ich klingeln muss.
Du stehst in der offenen Tür und aus der Wohnung klingen die Beatles, du grinst, umarmst mich, das ist das erste Mal, dass ich deinen Rücken unter meinen Händen fühle, für einen flüchtigen Moment, und dann gehst vor und ich folge dir mit einem Schritt Abstand. Durch die Küche, in der du die großen Weingläser aus einem Küchenschrank holst, über eine schmale Wendeltreppe, durch einen Raum mit Pflanzen und einer Matratze auf einem Lattenrost bis auf den Balkon.
Der Ausblick ist schön, sage ich, und du deutest auf die Stühle. Der Balkon ist klein, ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber von der Tür und du dich auf den direkt davor. Ich kenne dich nicht gut, nur von einer Party, auf der du mit wenigen geredet hast, ein Oversize-Shirt getragen und einmal ein Bier für mich geöffnet. Die meisten waren zu betrunken und zu laut, aber du hast in der Ecke gestanden und deine Stimme war ruhig, gerade so, dass man dich trotz dem lauten Bass noch hören konnte. Du hast mich nach meiner Nummer gefragt, ich habe sie in dein Handy getippt und danach hast du mir einen Smily geschickt, Doppelpunkt und Klammer zu. Meine Freundinnen finden, dass du gut aussiehst und ich frage mich, warum du an diesem warmen Abend an mich gedacht hast, die Party war noch im April und da wurde die Dunkelheit noch kalt. Auf dem Tisch steht eine Whiskeyflasche mit einer Kerze darauf und ich zünde sie mit meinem Feuerzeug an. Du lächelst mich an, entkorkst den Wein und den Rest des Juniabends, die Zeit ohne Uhr, das Nichtkälter-Werden. Der Wein glitzert im Dunkeln in den Gläsern und ich trinke einen großen Schluck, denn es ist
ein warmer Juniabend, deine Augen sind so dunkel wie der Wein in den Gläsern und meine Hände ständig zittern. Du sagst, deine Mutter ist gerade nicht da, du bist meistens alleine, du magst das eigentlich ganz gerne, aber heute hast du an mich gedacht. Du erzählst, du stellst dir nie einen Wecker, du erzählst mir, dir ist deine Zeit wichtiger als Pünktlichkeit und dass du keinen Kontakt mehr zu deinem Vater hast, du lässt all das nach Freiheit klingen.
Der Rauch unserer Zigaretten zieht über uns in die Nacht und du schiebst mir die kleine Musikbox zu, du kannst gerne etwas aussuchen, sagst du und ich klicke die Playlist einer Freundin an. Ich lüge über meinen Geschmack, ich ziehe mir eine fremde Meinung über und dir fällt das nicht auf. Du schaust mir in die Augen und sagst: Du siehst heute gut aus und meine Wangen färben sich im Dunkel rot, ich klopfe die Asche von meiner Zigarette in dem Marmeladenglas auf dem Tisch ab und in meinem Bauch klopft ein leises Gefühl
von Freude, ein kleines Kribbeln, eine Berechtigung, die Bescheinigung, heute dein Grund zu sein, für die Lichterkette an der Tür und dafür, die Zigaretten an der Kerze anzuzünden.
Du musst bald wissen, wie es weitergeht, sagst du, aber du weißt nicht, wohin es gehen wird und so wie du mich ansiehst, denke ich, du würdest die Tage vielleicht verstehen, an denen meine Gedanken Stacheldraht haben, aber heute fragen wir uns nicht, wie es uns geht, wir reden nicht über die Tabletten auf meinem Nachttisch und nicht darüber, wie lange es her ist, dass deine Mutter einen ganzen Tag lang da war. Die Tabakkrümel verteilen sich über den Tisch, das Wachs der Kerze tropft auf die Flasche und die nächsten Zigaretten teilen wir uns, wir reißen die Filter auseinander, wir nehmen uns Zeit, um das Papier zu befeuchten. Der Korken und die losen Filter auf dem Tisch, das sind die Schichten zwischen uns und dann gibt es noch paar, die sich nicht so einfach aufstapeln lassen, aber trotzdem hörst du zu, wenn ich etwas sage, trotzdem hörst du zu, wie meine Stimme mutiger wird und ich von den Städten spreche, die ich lieber als unsere mag, aber der Ausblick ist wirklich gut, sage ich. Ich greife nach der Flasche Mate, die du geholt hast und dann greifst du nach meiner Hand.
Dein Hinterkopf mit den rausgewachsenen blonden Strähnen spiegelt sich in der Scheibe hinter dir, aber mehr von deiner Rückseite kenne ich noch nicht, ich weiß nicht, wann sich deine Grübchen zurückziehen, ich weiß nicht, ob deine Freunde schon wissen, wohin sie gehen werden und ob du als erster in eine neue Stadt ziehen wirst, um nicht zurückgelassen zu werden. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und suche nach einem Stern am Himmel, dann nimmst du mir den Filter aus dem Mund, streichst mit deinem Daumen über meine Lippe und ich spüre den einen Ring an deinem Mittelfinger an meiner Wange. Es ist spät, der Aschenbecher voll, die Gläser mit Fingerabdrücken übersäht, aber es ist Juni und im Sommer ist es egal, wenn es spät wird. Der Filter ist auf den Boden gefallen, zwischen unsere Füße. Ich sehe dir in die Augen, sie sind blau, so wie meine, aber heller. Du ziehst meinen Stuhl näher an dich heran, du durchreißt das dünne Papier zwischen uns und meine heiße Haut strahlt gegen deine kalten Finger. Du kommst näher und drückst deine Lippen auf meine, du reißt die Klebestreifen auf, du öffnest meinen Mund, du schiebst deine Zunge neben meine und ich mache dir Platz, ich rutsche nach vorne und lege die Hände in meinen Schoß.
Lass und reingehen, sagst du und ziehst mich zwischen den Stühlen durch die Tür, ich gehe rückwärts, du drückst mich auf die Matratze, der Lattenrost quietscht. Du streifst die grüne Bluse wie eine zweite Haut von meinem Körper, du beugst dich über mich, aber ohne Worte zu benutzen, die, die mir eben noch nah gekommen sind. Du hast den Abstand zwischen uns in den Aschenbecher geklopft und ich schlinge meine Beine um dein Becken, weil ich keinen Halt mehr finde und du kein Halt mehr hörst. Es ist eine Juninacht, und du hast mir eben noch zugehört, aber jetzt wird es immer später, es wird immer dunkler, es wird zu spät und ich verschwinde unter deiner Haut. Du greifst nach meinem Hals, ich will den Filter zurück, ich will den Korken zurück in die Flasche pressen. Eben waren wir noch zusammen still, aber jetzt bin nur noch ich es. Stöhn doch, sagst du und ich sage nicht: Du tust mir weh. Ich sage nicht: Wollen wir nicht einfach die Gläser nochmal auffüllen? Du füllst dich in mich, du stempelst dich auf meinen Mund, du stützt dich auf meinen Brustkorb und ich denke an die Herzdruckmassage, die ich im Erste Hilfe Kurs gelernt habe.
Du nimmst dir deine Freiheit, du nimmst mir meine Freiheit. Dein Gewissen ist still, dein Atem laut. Dein Gewicht drückt mich nach unten, dir ist deine Zeit wichtiger als ich es bin, ich will das Klingeln eines
Weckers. Du schlägst meine Seiten auf, ich blättere mich zu und stelle die Silben, die sich auf mein Herz und gegen deines legen wollen, in meinem Hinterkopf ab. Ich will den Juni aus meinem Kalender radieren und du brennst dich auf meine Haut. Dein Ring drückt gegen meine Oberschenkel und die Vorhänge, die eben noch in meinem Zimmer im Wind geweht haben, die Vorhänge, die extra blickdicht sind, ziehen sich vor meine Augen. Ich werde der Grund, du machst mich zum Abgrund und der Rotwein auf meinen Lippen ist die letzte Farbe in meinem Gesicht. Ich will etwas sagen, ich will an dein Gewissen appellieren, ich will SXTN zitieren, aber ich du hast mich still gemacht. Du hast meine Freiheit und dein Gewissen zusammengeknüllt und nichts mehr davon ist übrig.
Die Balkontür ist offen, aber es wehen keine Geräusche mehr zu uns. Schau mal, man kann von hier den Himmel sehen, sagst du und ich nicke nicht mehr. Auf dem Weg liegt das Feuerzeug, was mir aus der Tasche gefallen ist, meine dreckigen Schuhe und die grüne Bluse. Ich fühle mich schmutzig, ich fühle mich Second Hand. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf, der warme Juniabend ist vorbei, die Kerze draußen flackert und das Wachs tropft auf den Tisch. Du liegst hinter mir und ich spüre deinen Atem in meinem Nacken. Deine Haut ist feucht und meine rau, deine Stimme fliegt in leisen Worten durch den Raum und meine Gedanken durch das Fenster nach draußen.
Es ist schon spät, sagst du und ich sage, Ich glaube, ich gehe jetzt und du stehst hinter mir auf. Ich streife den grünen Stoff über meine Arme, steige in meine Sneaker und puste die Kerze auf dem Balkon aus. Du bleibst drinnen stehen, kannst du die Gläser mitbringen, fragst du. Die Musik ist ausgegangen, ohne dass ich es bemerkt habe, der Akku der Box blinkt rot und mein Herz schlägt im gleichen Rhythmus und dann laufe ich die Treppen nach unten, alle aus dem Obergeschoss, zur Tür, zur Haustür, zu meinem Fahrrad, aber ich komme nicht außer Atem. Ich schließe das Schloss auf und fahre den Umweg zu der Apotheke, die morgens als erste öffnet.
Mit der kleinen Pille schlucke ich alles runter, die Nacht, den Juni und deinen Namen, ich wische die Wimperntusche unter meinen Augen weg, ich sehe mir meine Augenringe an und flechte meine verknoteten Haare zu einem Zopf. Ich frage mich, wann meine Freiheit zu einem Konstrukt wurde und dein Gewissen zu stummgeschaltet, wie ich. Zu Hause fragt mich meine Mutter, wo ich war, und ich zucke mit den Schultern, bei einem Freund, sage ich. Am nächsten Tag verschenke ich die grüne Bluse, die nicht mehr neu ist und
putze meine Schuhe, bis sie wieder weiß sind und meine Finger brennen.
Maja Goertz
Der große König 1. Akt Exposition: Das immerwährende Fest
Einst im wundersamen Königreich der Freiheit,
Wurde täglich zelebriert die Hörigkeit in Einheit.
Lebten die Menschen in liebendem Frieden.
In des großen Königs Reich, musste sich niemand bekriegen.
So feierten sie Fest um Fest!
Der komische Narr gab dem Spaß den Rest!
Tafeln lang wie hundert Mann,
Damit auch wirklich jeder genug essen kann.
Tanzend tummeln sich haufenweise adelige und Bürger,
Kaum lässt sich etwas erkennen in dem Wirrwarr.
Alle versammelt, mit unendlichen Freuden,
Niemand ist arm, also warum den Segen vergeuden?
Hinter jenen großen Mauern,
Das Königreich umgebend,
Nichts schlechtes jemals erlebend,
Was soll da böses schon lauern?
So gibt der große König wieder einmal eine seiner Reden:”
Wir sind das einzige Reich, in dem die Freiheit Einzug hält!
Nicht so unzivilisiert wie der Rest der Welt!
Deshalb sind wir froh hier zu leben.”
Das Volk jubelt ihm zu!
Doch einer behält die Fassung.
Nur er merkt: etwas stimmt hier nicht zur Passung.
Diese Frage lässt ihn nicht in Ruh
“welch Wunder mag es dort draußen wohl geben?”
Diese Freiheit ist alles, was ich kenne.
Vielleicht führe ich trotzdem ein Eingesperrtes Leben?
Mehr zu wissen, das ist wofür ich brenne!”
Und so beschloss er, ja wie wunderbar,
Die Mauern zu verlassen,
Etwas, das tat niemand, in über hundert Jahr.
Und schon sah er sie in Ferne verblassen.
Der große König, als er davon Wind bekam,
Lies ihn jagen mit seinen hundert besten Mann.
Ahnungslos schreitet er voran, nicht trauernd, sondern mit Elan.
Der große König 2. Akt Steigende Handlung: Die Formeln der Liebe
Draußen vor den Mauern, sah er bis zum Horizont Sträucher und Bäume
Etwas, das ihn sehr erfreute, da er davon gerne Träumte,
Außerdem entdeckte er Tempel und Ruinen,
“Wozu die einst wohl dienten?”
So wandert er heiter weiter,
Da er nun von seiner Freiheit befreit ward.
Und bald erreicht er, welch Wunder einen kleinen Ort.
Er fragte sich, wie es wohl war zu leben dort.
Er lief geschwind dort hin,
Schon bald war er in dem Dörfchen drin.
Er sprach mit den Menschen lang und ausgedehnt,
Doch ändert sich die Stimmung, als er den großen König erwähnt.
“Ihr kennt den großen König, doch woher das?”
“Natürlich kennen wir ihn, versteckt in seiner großen Festung,
Für all den saus und braus, zahlen wir doch die Rechnung!”
“Oh, ich verstehe also tragt ihr des spaßes ganze Last.”
“Ein Spaß ist das für uns keineswegs!”
“Also stiehlt der König von euch unentwegt?
Uns wurde stets gesagt, draußen sei alles unbelebt.”
“Ihr habt zwar Bauern, doch zum Bedauern, fresst ihr mehr, als ihr euch eingesteht.”
“Also, wie kam es, eure Unterdrückung?”
“Wir verwalteten seit jeher die Formeln der Liebe,
Doch sie wurden geraubt, von den Königen, nein, Diebe!”
“Also basiert euer Leid auf der Entrückung.”
“Und was sind nun die Formeln der Liebe?”
“Sie sind eine Art zu Leben.”
Doch welche, ihr erzähltet mir von dem langen Kriege?”
“Unter dieser Kontrolle kann es sie nicht geben.”
So zog er weiter,
Die Gedanken getrübt,
Es gibt so viel Leid da,
Darin ist er nicht geübt.
Etwas zurück, noch bei dem kleinen Ort,
Die Ritter des Königs dringen ein,
Wer nicht spricht, dem drohen sie mit Mord,
Sie fragen, wo der Wanderer könnte gegangen sein.
Der große König 3. Akt Klimax: Verständnis vor Vernichtung
So wandert er umher und grübelt ständig,
Zum ersten Mal fühlt er sich ganz lebendig.
So warf er sich auf jede schöne grüne Wiese,
Und genoss des Windes jede kühle Brise.
Er rannte oft voll frohsinn und tollte gar,
Und jauchzte: “Diese Freiheit ist einfach wunderbar!”
Er zog noch immer von Stadt zu Stadt,
An den Geschichten über die Liebe hörte er sich niemals satt.
Und Langsam mit der Zeit verstand er die Erzählungen,
Jeder gibt acht auf jeden und steht zu seinen Verfehlungen.
Er lernte, ja das ist menschlich, niemand ist perfekt,
Und es wird erst brenzlig, wenn man seine Fehler vor anderen versteckt.
Man lebt nicht nur für sich selbst,
Doch auch für die Gemeinschaft,
Und zwar so, dass man möglichst wenig Leid schafft,
Es ist diese Liebe, die uns am Leben hält.
Die Natur ist unser aller Fundament,
Zerstören wir sie, so ist es unser Untergang,
Hören müssen wir auf sie und das ein Leben lang!
Denn sie erschafft alles, was man Wunder nennt.
Er verglich das neu gelernte,
Mit dem was er vom innern der Mauern her kannte,
Durch das Wissen, wie er das in seinem Schatten lauernde Verbannte,
Schon fühlte er, wie sich sein Herz erwärmte.
Doch bald schon trug man ihm eine schaurige Nachricht zu,
Weil er heimlich war geflohen ohne Erlaubnis,
War Der große König am toben und er wird geben keine Ruh,
Bis der Junge getötet, mit der höchsten Brutalität, die dem König erlaubt ist.
Er rannte Richtung Wald,
Wissend was würde mit ihm geschehen,
Schon sah er seine Leiche kalt,
Und doch hoffte er, man würde ihn verstehen.
Schon hörte er die Ritter,
Das donnern der Rösser starker Hufen,
Bald fühlte er die Gitter,
In der Ferne hörte er noch des Dorfes Bürger rufen.
4. Akt retardierendes Moment: Das dunkle Geheimnis
Eingesperrt in einen Metallenen Zwinger,
seine Lebenskraft wurde stetig geringer.
Gezogen von des Königs Ritter,
Hockte er und weinte bitter.
Bald schon da sah er sie Wieder,
Die großen Mauern und ein Schock fuhr durch seine Glieder.
Er erblickte das prächtige Tor, aus dem er war zuvor geflohen.
Doch verstand er nun und ließ sich dadurch nicht bedrohen.
Im geheimen ward er in die Stadt gebracht,
Wissend was würde aus ihm, haben die Ritter ihn herzhaft ausgelacht.
Vorgeführt wurde er dem König in seinem riesen großen Saal,
“Für deine Flucht wirst du erfahren die größte Qual!”
“Dein Kopf wird rollen, doch niemand wird es sehen.”
“Ich bitt euch Herr, hört mich an!
Ich möchte zeigen, dass ich euch überzeugen kann.”
“Da hilft dir kein Betteln und kein Flehen.
Doch als Zeichen meiner guten Gunst,
Werde ich dir schenken eine Unterredung.”
“Sodann mein Herr, möchte ich euch berichten von meiner Begegnung.”
“Doch zuerst begleitet mich hinab zu meiner Kunst.”
Sie stiegen lange Treppen weit hinunter,
Und in eine Kammer, gut versteckt,
Dessen inneres sich bis zum Horizont erstreckt,
Er konnte nicht glauben, dass diese Kammer von innen kunterbunt war.
“So tritt ein und ergötze dich an meinem Reichtum!
All das ward einst verwahrt in Tempeln und Palästen.
Es versprach ihnen Wohlstand, das wollten wir ihnen gleichtun.
Doch behielten sie das Geheimnis für sich, wir sollten nur leben mit den Resten!”
“Sodann habt ihr das Geheimnis von ihnen gestohlen.
Besitzt es nun ganz für euch alleine,
Alle anderen leben nun arm und selbst das bisschen lasst ihr von ihnen holen,
Dieser Schatz ist nicht euer und nicht meiner!”
“Ist nicht das ganze Königreich fett und wohlgesonnen?
Mir gab der Schatz endloses Leben,
Da trübt es mich nicht, wenn das leben anderer ist Zeronnen.
Ich weigere mich, etwas davon abzugeben!”
Der große König Akt 5: Tragödie
“So denkt doch, so flehe ich, an jeden!”
“Warum denn das, sie wollten mir ja auch nichts geben?”
“Diese Schätze verkörpern die Formeln der Liebe.
Ihr hättet bekommen, was ihr sucht, durch Freundschaft, nicht durch Hiebe!”
“Das alles ist mir einerlei,
mein Reich ist mächtig und auch frei.”
“Doch hat es jeder verdient zu führen sein Leben reich und mit Frohsinn,
In Gemeinschaft mit allen, es ergibt doch nur so Sinn.”
“Diese elenden Barbaren haben dir ganz schön den Kopf verdreht!
Es betrifft dich nichts, nur das, was dich angeht!
Die anderen musst du vergessen,
Bist du schwach, so werden sie dich erpressen.”
“So bitte, hört mir zu, all die Verschwendung”
“Wir müssen uns niemals Sorgen machen,
In den sichren Mauern können wir stets lachen.”
“Dieser Reichtum ist nicht des Lebens Vollendung!”
“Genug deiner elendigen Schwafelei!
Du lebst nur für dich selbst und deine Triebe,
Gemeinschaft kannst du vergessen und auch deine Liebe,
Meine Ritter bringen dir nun endlich Manieren bei!”
So ward er fortgetragen,
Die letzte Hoffnung ist nun verblasst,
Er war erstaunt wie sehr der König die Welt doch hasst,
Noch auf dem Weg wird heftig auf ihn eingeschlagen.
Nach sehr langer Zeit der Folter,
Wird er geführt zu seinem Schafott,
Nun muss er lassen das Leben, welches ihm so hold war,
Und so rollte sein Kopf unter der Ritter Spott.
Unbemerkt von des Königs Untertan,
Und auch von ihm und seinem gefolge bald vergessen,
Dauerte das Fest auch noch die nächsten Hundert Jahre an,
Ungetrübt wurde kräftig getrunken und gegessen.
Bis der große König mal wieder eine seiner Reden hielt,
Und mal wieder ein junger Mensch den Wohlstand hinterfragt,
Sich Sodann aus den großen Mauern stiehlt,
Und von des Königs Rittern ohne erbittern wird gejagt.
„Gewissensfreiheit“, so weiß Wikipedia zu sagen, „Gewissensfreiheit ist die Freiheit, Entscheidungen und Handlungen aufgrund des Gewissens, frei von äußerem Zwang, durchführen zu können. Eine gewissensfreie Handlung oder Entscheidung orientiert sich an Gut und Böse und an sittlichen, für den Einzelnen als verbindlich geltenden Kriterien.“
Ich schließe die Augen, nur für einen Augenblick. Und wieder wandle ich in der Schwärze der Nacht dieselben altbekannten Straßen entlang. Die Fassade, die ich mir aufgebaut habe, langsam, mühsam, über all die Jahre- Sie fällt noch immer allzu leicht. Ein kurzer Moment der Schwäche, ein altbekanntes, lautes Wort- Mehr braucht es nicht- und ich bin wieder Kind.
Ich bin sechs, ich stehe vor dem Pult meiner Klassenlehrerin. Der Rest der Klasse ist, lärmend und lachend, in die Pause unterwegs. Ich bleibe zurück. Sie sieht mich fest an. Doch ich weiche ihrem Blick aus, ich kann ihn nicht ertragen. Mit den kleinen Fingern der rechten Hand halte ich mein Hausaufgabenheft fest umklammert. „Hast du deinen Eltern den Eintrag von gestern gezeigt?“ Ihre Stimme ist nicht unfreundlich, und doch bestimmt. Der Boden ist mit grauem Laminat belegt, ein verwirrendes weiß- grau- schwarzes Muster spielt um unsere Füße. Mein Magen dreht sich um, in Gedanken an die hässlichen roten Buchstaben auf der zweiten Seite des Heftes. „Annelie hat sich heute gegenüber Klassenkameraden unangemessen und verletzend verhalten“. Ich übergebe mich fast auf den verwirrenden Laminatboden- in Gedanken an seine harte Hand. Es hilft nichts, lügen konnte ich noch nie. Mit fest aufeinandergepressten Lippen schüttle ich den Kopf. Ich mache mich auf Geschrei, auf Schläge gefasst. Und stoisch sehe ich dem Schmerz entgegen, der jetzt kommen muss. Doch alles, was meine Klassenlehrerin entgegnet, ist ein leises, enttäuschtes: „Warum denn nicht?“ „Weil ich Angst hatte.“ Noch über all die dazwischenliegenden Jahre hinweg ist dieser Satz in meinem Kopf so unendlich präsent, wenn ich an diesen Augenblick zurückdenke- So präsent, so greifbar- dass ich mir sicher bin, ich muss ihn laut ausgesprochen haben. „Weil ich Angst hatte“. Vielleicht, vielleicht hat mein verzweifeltes, sechsjähriges Ich es sogar herausgeschrien- „Aus Angst“- und jeder Muskel meines kleinen Körpers zittert wie Espenlaub. Vielleicht habe ich aber auch nur verschämt gelächelt, und ein lahmes „Mein Vater hatte keine Zeit“ herausgepresst. Ich kann es nicht mehr sicher sagen. In jedem Fall weiß ich, was meine Klassenlehrerin daraufhin meinte: „Dann mach das heute Nachmittag, und zeig mir morgen die Unterschrift vor.“ Ich nicke, ich eile davon, ich renne – in dem Glauben, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.
Was kostet es, ein einziges Mal die Bestrafung einfach Bestrafung sein zu lassen? Was kostet ein Anruf bei einem Kinderpsychologen, was kosten ein paar aufbauende Worte?
Ich bin zehn Jahre alt. Ich sitze am breiten, weißen Strand, und sehe auf das Meer hinaus. Meine Füße graben sich tief in den warmen Sand. Meine Tränen fallen dicht an dicht. Die Luft strömt frisch und frei, streichelt mein Gesicht, nimmt sacht meine Haare auf. Er setzt sich neben mich. Es muss raus, diese erstickende Enge in meiner Brust braucht Worte. „Ich will nicht nach Hause.“ Er nickt leicht, als würde er verstehen. „Irgendwann ist aber jeder Urlaub mal vorbei. Und dann ist eben wieder Alltag, dann muss man wieder in die Schule“. Gar nichts versteht er. Auch hier, gute acht Stunden von „Zuhause“, ist meine Welt nicht perfekt, bei weitem nicht. Und doch sind die drei Wochen hier wie Ausgang aus der Haft, Ausgang auf Zeit. Diese kostbaren Tage sind wie ein kurzes Atemholen vor dem langen, kräftezehrenden Tauchgang. Ich schüttle leicht den Kopf. „Ich weiß. Ich will einfach nicht nach Hause“, versuche ich es noch einmal. „So schlimm wird es doch nicht sein“, meint er, mehr um sich selbst zu beruhigen, als mich. „Komm, lass uns gehen. Es hilft doch nichts“. Er steht auf, und entfernt sich mit gemächlichen Schritten. „Ich will nicht“, liegt mir auf der Zunge, doch ich beiße mir fest auf die Lippen. Es hat doch keinen Zweck. Ich habe doch gelernt, wie ich lieb lächeln, und still funktionieren kann. Stumm verabschiede ich mich von dem Rauschen der Wellen, dem kräftigen, harzigen Duft der Kiefern- Mit dem Versprechen, dass ich wiederkommen werde.
Was kostet es, ein paar Worte mehr zu verlieren, nachzufragen, zuzuhören? Was kostet es, dem eigenen Sohn entschieden Grenzen aufzuzeigen- Was kann es kosten, für ein Kind dazusein, wenn es dich braucht?
Und plötzlich bin ich schon sechzehn Jahre alt. Wir sitzen an einem sommerlichen Sonntag gemeinsam mit einem Familienfreund zum Grillen zusammen. Der Mann ist Psychologe- und sicherlich ein extrem kompetenter Vertreter seines Faches. Er sagt nicht viel, doch seine grauen Augen beobachten all die Menschen um ihn herum mit einer einschüchternden Intensität. Er versteht Dinge, die ich nicht im Ansatz erfassen kann, sieht so vieles, das mir entgeht. Dieses Gefühl jedenfalls gibt mir bereits seine bloße Präsenz. Um nichts in der Welt würde ich glauben, dass ausgerechnet der Elefant im Raum seinem forschenden Blick entgeht. Er weiß was Sache ist, darauf verwette ich mein letztes Hemd. Ich spreche an diesem Nachmittag nur, wenn mir eine direkte Frage gestellt wird- und antworte leise, zögerlich, kaum je in die Augen meines Gegenübers blickend. Nur manchmal, wenn ich mich zwinge, meine Stimme etwas zu erheben- Dann klingt ihr Klang selbst in meinen Ohren unnatürlich, aufgesetzt, schrill. Ich bin es gewohnt, jedes einzelne meiner Worte zu überdenken, zu zensieren- und im Zweifel meinen vorlauten Mund zu halten. Ich weiß nicht, wem ich vertrauen kann in dieser feindselig scheinenden Welt. Er beobachtet, er liest die Zeichen, da bin ich mir sicher, liest die so eindeutigen Zeichen wie ein offenes Buch.
Was kann es kosten, einem alten Freund nicht alles durchgehen zu lassen? Was kann es kosten, nicht wegzuschauen? Was kann es kosten, für drei Kinder das einzig Richtige zu tun?
Ich sehe ihre Gesichter vor mir- Drei Menschen, die im Grunde ihres Herzens keine schlechten Menschen sind. Es sind die Gesichter dreier Menschen, die mir einst wichtig waren. Ich höre sie kollektiv bitten, sich kollektiv verteidigen- Sie hätten doch von allem was geschehen ist nicht wissen können, sie hätten sich doch nicht anders verhalten können- Für sie sei die Situation doch auch nicht einfach gewesen. Ich müsse doch das Dilemma verstehen, in dem sie sich befunden hätten. Und, als würde ich eine alte Tonbandaufnahme abhören- beobachte ich mein jüngeres Ich- Wie es ihnen beipflichtet, wie es so viele Zugeständnisse macht. Ich würde allem zustimmen- Hauptsache, ich bin nicht lästig, nicht zu aufdringlich oder fordernd.
Dabei ist die Situation doch so eindeutig. Ich wollte handeln, doch mir waren die Hände gebunden durch Angst und durch Unerfahrenheit. Ich war doch bloß ein Kind. Dagegen waren sie erwachsen, jede und jeder von ihnen. Sie waren frei, nach ihrem Gewissen zu handeln.
Freiheit, Gewissensfreiheit, bringt es mit sich, dass wir nicht länger so handeln müssen, wie „wir es schon immer getan haben“, so „wie es sich gehört“. Ich muss mich nicht länger so verhalten, „wie es meine Familie und mein bester Freund von mir erwarten.“ Wir sind nicht länger gefangen in verkrusteten Gesellschaftsmodellen, altmodischen Ehrenkodizes, mittelalterlichen Familienmodellen. Wir können es uns, mehr und mehr, leisten, nicht vor Macht oder Geld oder sozialer Stellung zu kuschen- und erst recht nicht vor schönen Fassaden.
Wir als Erwachsene entscheiden, was wir für falsch und was wir für richtig halten. Wir entscheiden auf der Grundlage unseres eigenen Gewissens, frei von äußerem Zwang.
Mit Freiheit kommt Verantwortung. Wir haben die Verantwortung, nicht wegzuschauen- wo wegschauen doch so verdammt viel einfacher wäre. Es ist unsere Verantwortung, nicht völlig abzustumpfen gegen menschlichen Schmerz. Wir sind gefragt, einzugreifen, wo niemand anderes es tut. Gegenüber den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft- stehen wir in der Verantwortung, ihnen Schutz zu bieten.
Ich verurteile euch nicht- denn woher will ich wissen, dass ich den Mut gehabt hätte, der euch so fehlte? Wer sagt mir, dass ich auf mein Gewissen gehört, dass ich gehandelt hätte?
Ich kann nur ehrlich hoffen, dass ich es besser machen würde -trotzt- oder vielleicht wegen- meiner Vergangenheit, selbst verfolgt von alten Dämonen. Ich kann nur hoffen, dass ich heute ein stärkerer, erwachsenerer Mensch bin, als ihr es damals sein konntet. Denn damals hätte ich euch gebraucht – irgendeinen von euch.
Darum, schaut nicht länger weg- auch wenn es so viel einfacher scheint.
10.22 Uhr, Dienstagmorgen. Die Lichtstrahlen schleichen sanft durch die halbgeöffneten Jalousien. Wie sanfte Wellen grüßen sie mich. Es ist meine Gewohnheit geworden, die Jalousien im Schlafzimmer zu öffnen, nachdem er aufgestanden ist und zur Arbeit gegangen ist. Um 7 Uhr werde ich nicht aufstehen, lieber erst um 10 Uhr mit den Sonnenstrahlen, die mich nicht mehr einschlafen lassen. Mein Traum war wieder leer, leer wie so oft. Wieder bin ich allein in der Wohnung, er ist bei der Arbeit.
Zu Hause war es anders. Meine Schwestern und ich wachten gemeinsam auf, als ob wir es geplant hätten. In Wirklichkeit konnten wir es einfach nicht ertragen, die anderen schlafend zu sehen, also weckten wir sie auf unsere Weise. Dann das Warten auf das Badezimmer und ein informelles Frühstückstreffen am Küchentisch mit der ganzen Besatzung.
Jetzt ist es anders. Wir sind erwachsen geworden. Wann habe ich realisiert, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich mit meinen Schwestern und Eltern wie ein Kind zu Hause sein würde? Zu Hause ist jetzt weit weg. Ich habe ein neues Zuhause, dort, wo er ist. Ich schätze mich glücklich ihn kennengelernt zu haben. Vor drei Jahren haben wir inmitten von Corona geheiratet. Jetzt sind wir allein zusammen, in einer fremden Stadt, in einem fremden Haus mit fremden Menschen. Er flüchtet sich in die Arbeit, und abends wieder zu mir. Ich tue so, als würde ich für die Uni lernen. Der Laptop steht offen da, die aufgezeichneten Töne der Professoren gehen an mir vorbei. Sie dringen nicht einmal in meine Ohren, etwas hält sie von mir fern. Ich fühle mich gefangen in einem Standby-Modus.
Meine Gedanken schweifen ab. Papa geht es nicht gut. Die zweite Knieoperation im letzten Jahr war nicht erfolgreich, er kann immer noch nicht richtig laufen. Ich fühle mich schuldig. Ich besuche meine Eltern nicht mehr oft. Papas Gesicht, Mamas Missgunst ihm gegenüber, die Blicke meiner Schwestern fragend und hoffend, dass ich alles regle. Die Verantwortung der Erstgeborenen.
12.30 Uhr, mein Wecker klingelt, in einer Stunde sollte ich zur Arbeit. Ich weiß, ich sollte etwas essen, aber der Appetit ist verschwunden. Ich denke nur an das eine und wundere mich wie schnell Menschen sich verändern oder wie langsam es den anderen auffällt. Seit Corona ist Papa ruhiger geworden. Was verheimlicht er mir noch? Dass sein Laden nicht mehr läuft, ist mir jetzt klar. Die Mahnungen, die gelben Umschläge, versteckt in seinem Auto und neben seinem Bett stapelnd, habe ich gesehen. Mama hat aufgegeben und sich nach 42 Jahren das erste Mal einen Job gesucht, an der Kasse. In ihrer Heimat hat sie Medizin studiert. Jetzt schmeißt sie den Haushalt, hat Geld, aber sie spricht nicht mehr mit Papa. Auch das muss ich regeln.
Wir haben Papa Hilfe angeboten. Von einem sinkenden Schiff sollte man sich fernhalten. Der Sog kann einen mitreißen. In seinem Fall ist es der Stolz. “Ich schaffe das schon”, sagt er. Ich fühle, wie ich mitgerissen werde, ins kalte Wasser.
Freitag, 15:30 Uhr. Im Schaufenster lächelt mich eine Tasche an. Guess, schlicht in Schwarz, in trendiger halbrunder Form. Fast 200 Euro. Ich hole sie mir. Die unaufhörliche Brandung der Menschenmenge trägt mich fort, und ich gleite von einem Laden zum nächsten, ich bin ein leiser Passagier auf den Wellen des Konsummeers. Zu Hause freut er sich, als ich ihm meine Beute zeige: eine neue Tasche, ein neuer Schlafanzug, der dritte in diesem Jahr, und natürlich die Winterjacke, für die ich eigentlich rausgegangen war. Es macht ihn glücklich, mich glücklich zu sehen.
23.40 Uhr, ich liege wach, er schläft schon. Kann Papa sich dieses Jahr eine Winterjacke holen? Wann hat er das letzte Mal eine geholt? Um diese Uhrzeit ist er noch im Laden, am Wachende gibt es immer einen kleinen Ansturm. Längst nicht so viel wie vor Corona. Seitdem hat er einige Mitarbeiter entlassen. Jetzt sind es nur noch er, ein Koch und ein Fahrer. Manchmal nur er und der Koch. Mit seinem gebeugten Knie, das ihm das Laufen erschwert, liefert er Pizzen aus. Wahrscheinlich ohne Winterjacke.
Ich schäme mich.
Sonntag, 11 Uhr. Mein Schwiegervater fragt mich, wann ich meinen Papa das letzte Mal angerufen habe. Gestern, lüge ich. “Du bist erwachsen, aber vergiss niemals deine Wurzeln. “sagt er in sanftem Ton zu mir, “Dein Vater freut sich immer, wenn du anrufst” fügt er an. Er hat das Gleiche wie Papa erlebt, nur 15 Jahre früher und statt eines kaputten Knies hat er ein halbkaputtes Herz.
Mittwoch, 18 Uhr. Heute habe ich ein Brathähnchen gemacht. Papa schicke ich ein Bild auf WhatsApp. Es wird ihn sicherlich freuen zu wissen, dass ich jetzt doch kochen gelernt habe. Er schickt mir einen Daumen hoch und schreibt “gut gemacht”.
Donnerstag, 10 Uhr. Ich rufe Papa an und hoffe, dass er nicht rangeht. Es klingelt zweimal. Beim dritten Mal lege ich auf. Eine Minute später ruft er mich an. Wir reden für zwei weitere Minuten, er freut sich sehr, dass ich anrufe. Ich sage ihm wieder, dass er in Rente gehen sollte und dass wir ihm helfen werden, meine Schwestern, mein Mann und ich. Er lacht, “Keine Sorge, meine Kleine, ich regle das schon.” Dann legen wir auf. Wie viele Schulden hat er wohl jetzt?
Ich werde wütend. Auf ihn. Auf mich. Mein Gewissen sollte rein sein. Ich sollte frei sein. Jeder ist für sich verantwortlich und doch ziehen mich meine Wurzeln zurück, ketten mich an sich und lassen mir keine Luft zum Atmen. Habe ich nicht versucht ihm zu helfen? Habe ich nicht genug getan? In den Armen meines Mannes habe ich nachts geweint, und auch er hat versucht zu helfen. Wir sind zur Beratung gegangen, haben Anträge gestellt, Anrufe getätigt. Aber er gibt nicht auf, seinen deutschen Traum zu leben. Mein Gewissen schmerzt. Es schickt mir Geister. Hier und da. Schuldig, das bin ich.
Ich hätte mehr tun sollen.
In der Dunkelheit der Nacht hält mich mein Gewissen gefangen. Es flüstert mir von Schuld, von unausgesprochenen Worten und übersehenen Signalen. Die Schatten der Vergangenheit zeichnen sich auf meiner Seele ab, und ich frage mich, ob ich je in der Lage sein werde, den Klang der Verantwortung zu übertönen.
Tage ziehen vorüber, Taschen und Schlafanzüge vermehren sich Pakete stapeln sich in meinem Arbeitszimmer. Die Winterjacke liegt hinten im Schrank. Sie schaut mich vorwurfsvoll an, gekränkt dass ich sie nicht raushole, bei dem Wetter sollte ich kein erfrieren riskieren. Ich glaube ich trage doch gerne lieber meinen Wollmantel.
Die stummen Schreie der Mahnungen und gelben Umschläge drängen sich in meine Gedanken. Papa, der Held seines eigenen stillen Dramas, weigert sich, die Hauptrolle abzugeben. Er geht mit seinem Schiff unter und zieht uns alle mit. Mein Gewissen zieht mich mit sich, wie ein rostiger alter Anker, tiefer und tiefer sinke ich in die kalte und unbarmherzige See. Ich sollte mehr tun.
Sonntag, 12 Uhr “Hast du deinen Papa angerufen?” Die Worte meines Schwiegervaters hängen schwer in der Luft. Diesmal entscheide ich mich für die Wahrheit. Nein, ich habe ihn nicht angerufen. Der sanfte Ton meines Schwiegervaters erinnert mich an meinen Vater früher. Ich vermisse ihn.
Entschlossen greife ich zum Telefon. Der Klang des Wählens hallt durch den Raum, begleitet von einem pochenden Herzen. Ich nehme tief Luft. Fülle meine Lungen mit Sauerstoff. Ich lasse sein Boot nicht untergehen.
Manchmal, wenn die älteren Jungen auf dem Schulhof die Parolen des Vaterlands brüllen- die sich in ihren Mündern so groß und doch irgendwie leer anfühlen- schleichen sich Mathilde Erinnerungen an Edith in den Kopf. Und dabei fühlt sie sich schuldig und beschämt und so verwirrt und würde am liebsten gar nicht daran denken.
In der Schule sitzt Emma neben ihr. Sie ist blond, blauäugig und ihre Freundin. Ihre Eltern mögen Emmas freundliches und unbesorgtes Wesen. Mathilde mag ihre Sorglosigkeit nicht. Dennoch gehen sie immer zusammen den Schulweg und zum Bund Deutscher Mädel.
Jedes Mal, wenn der Lehrer über Rassefeinde spricht, wenn die Mütter ihrer Freundinnen Volksschädlinge erwähnen, dann wächst die Schuld ein kleines Stück. Aber dabei lassen sich diese kleinen Zweifel- diese Scherben von glücklichen Erinnerungen einfach nicht unterdrücken und unter deren Worten begraben. Diese ganz leisen Stimmen in ihren Kopf finden die Worte der Älteren falsch, weil sich diese ganz leisen Stimmen an Edith erinnern.
Dann ist da wieder ein Gedanke und Mathilde ist nicht mehr auf im Klassenraum, sondern in der verlassenen Scheune im Kiefernwald nahe ihres Heimatdorfs. Dann ritzt sie wie so oft mit spitzen Fingernägeln kleine Figuren ins morsche Holz, weil sie einfach nicht zuhause sein kann. An einigen Tagen ist Edith auch da und dann ritzen sie zusammen mit den Buttermessern ihrer Oma.
Jetzt ist Edith weg.
„Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude.“, trichterte die Führerin ihrer Mädelschaft ihr ein und hielt wie als Beweis eine Auslage von Mein Kampf hoch. Die Seiten des Buchs waren leicht vergilbt, das Cover wies einige Kratzer und Gebrauchsspuren auf, wie sie nur durch massenhaftes Lesen entstehen können. Das Gesicht des Führers war prominent auf der Seite abgebildet und schien wachsam auf die dutzend Mädchen herabzublicken. Das ältere Mädchen drückte es an ihre Brust und fuhr fort: „Es gibt keine Gleichheit der Rassen, sondern…“
Den Zettel für die Eltern nahm Mathilde und fuhr im Sommer mit ins Zeltlager. Aber damals war die Schuld noch nicht so schwer, denn damals war Edith noch da. Nur an einigen Tagen, wenn ihre anderen Freunde gemütlich in Decken eingewickelt am Lagerplatz über die Stärke der Arier sprachen, wünschte sie, dass Edith keine Jüdin wäre.
„Wo warst du?“ Hat Edith gefragt und Mathilde hatte gewissenhaft geantwortet. „Im Zeltlager“.
„BDM?“, murmelte sie bedrückt und ruckte unruhig hin und her, verschränkte dann ihre Arme unwohl vor der Brust. Mathilde war kurz verwirrt, bis sie sich erinnerte, dass Edith nicht im Bund war.
„Uh-hum,“, antwortete sie und fuhr abwesend mit dem Buttermesser die Konturen eines Vogels auf dem Holz nach. „Ich wünschte, du wärest auch mitgefahren.“
Nach einiger Zeit schreckte Mathilde aus ihrer Arbeit erschrocken auf, denn da war ja was, da waren ja, aber-
Edith war schon gegangen.
Jedes Mal würde sie wieder kehren, bis sie es dann nicht mehr tat.
Als ihr Vater am Abend von der Fabrik zurückkam, da war es Mathilde immer noch seltsam. Es war ein mulmiges Gefühl im Buch, ein Zwicken in ihrem Kopf und als der Vater den Juden Schuld an ihrer Armut gab, da öffnete sich ihr Mund.
Nicht die rechthaberischen, überzeugten Worte, nicht die Schelle, die sie sich nach leisen Widerworten gefangen hatte, ließen das Gefühl sterben. Ja, es blieb selbst, als sie abends im Bett lag und nicht schlafen konnte. Mathilde verstand nicht viel von Wirtschaft und Krieg, aber sie wusste, dass nicht alle Juden schuldig sein konnten. Denn Edith war unschuldig. Wie sollte sie auch bestimmen, wer arm oder unglücklich war? Was war dann mit den anderen Juden?
Auf dem Küchentisch lag die alte Zeitschrift des Vaters geknickt. Sie griff danach, um sie glatt zu falten, bis sich die mit Eselsohren markierte Seite aufschlug. Das rot gedruckte Wort Rassenschande fiel in ihr Auge. Dann: Todesstrafe für Juden.
Sie befeuerte den Kamin mit den Seites des Der Stürmer Magazins im März und schrie nachts in ihr Kissen, als sie nicht mehr schweigen konnte. Sie wagte es nicht zu sprechen, was sie dachte. Und doch fühlte sie, dass sie diese eine Sache richtig hatte; dass Juden normal waren. Und wenn die anderen sagten, sie seien eine Schande, dann waren die die eigentliche Schande für die Welt, flüsterte ihr eine Stimme zu.
„Edith, verzeih mir.“, rutschte ihr hastig heraus, als sie die auseinanderfallende Tür der Scheune aufdrückte und ihre Freundin auf dem Strohhaufen sitzen sah. Als Edith zu ihr aufblickte, war nichts zu sehen, was sie die letzten Tage so gefürchtet hatte. Kein Zorn, keine Enttäuschung und keine Ablehnung.
„Ich vergebe dir.“, sagte sie und zuckte mit den Schultern, als wäre das alles ganz alltäglich.
Damals war alles leichter und auch wenn sie nie mehr darüber sprachen, so hatte sich dieser Moment in Mathildes Gehirn eingebrannt.
„Oma meint, die Sprache von denen ist wie Arsen.“ Sagte Edith eines Tages in der Scheune und dann verschwand sie für zwei Monate. Aber sie kam wieder. Noch.
Ihre Schule bekam einen neuen Lehrer frisch von der Universität in Berlin. Dirk erlaubte ihnen ihn mit Vornamen anzureden, weil sie bald ihren Abschluss haben würden. Er war besonnen, ruhig und schien besonders Mathilde viel Aufmerksamkeit zu schenken (auch wenn ihre Freundinnen behaupteten, es sei dasselbe bei ihnen). Sie mochte ihn, sie mochte ihn wirklich. Bis er anfing ihnen die Rassenideologie beizubringen. Bis er sie an die Tafel rief und sie die Unterschiede der Gesichtsmerkmale von Juden aufzählen musste. Bis er ihr sagte, dass sie von Natur aus besser war. Sein Lob- denn sie war sich sicher, er glaubte sie zu loben- hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Der ging nicht weg, als er den Jahrgang zum Zelten an den See mitnahm. Der ging nicht weg, als sie ihn beim Spenden in der Wohlfahrt sah.
Wie konnte so ein guter Mensch solche falschen Ansichten haben?
Das fragte sie sich. Oder, wie konnte so ein böser Mensch gute Dinge tun? Und dann wurde ihr bewusst, dass nicht alles schwarz und weiß sein konnte. Egal, was der Führer sagte.
Denn tief in ihr drin da hatte sie ganz heimliche Gedanken.
Und doch war alles nur in ihrem Inneren und sie hütete es wie die kostbarsten Schatz. Denn die anderen würden das nicht verstehen. Denn es waren verbotene Worte und Gefühle.
Und dann war November und alles veränderte sich.
Schreie weckten sie in der Nacht, als sie ihr beschlagenes Zimmerfenster zur Straße aufschlug, so kam ihr gleich der beißende Geruch von Rauch in den Nase. Grölende Schattengestalten schlugen mit schweren Pflastersteinen klirrend die Fenster der Druckerei auf der anderen Straßenseite ein. Hastig duckte sie sich von dem Fenster weg tiefer in die Dunkelheit des Zimmers, dass die Laternen nicht beschienen. Mit pochenden Herzen versteckte sie sich unter ihrem Bett.
Sie wagte sich erst aus dem Bett, als die Sonne schon lang aufgegangen war und sie die munter klirrenden Geräusche der Töpfe aus der Küche vernahm.
„Mutter?“, fragte sie leise, als sie das Wohnzimmer betrat. Ihr Vater lag in dunklen Arbeitsklamotten schlafend auf dem Sofa, die Hände mit Schnittwunden verwundet, die unter Bandagen hervorlugten. Still schlich sich die besorgte Mathilde zu ihm hin.
Tod dem internationalen Judentum stand auf der Zeitschrift, die auf dem Schoß des Vaters lag und sie erst übersehen hatte. Und dann stand da noch viel mehr abartig, unmenschlich Verstörendes.
Sie wandte sich von dem Mann ab.
Sie weigerte sich, die neuen modischen Kleider zu tragen, die ihre Mutter von der Wohlfahrt hatte. Dabei sahen sie besser aus, als alles, was sie jemals besessen hatte. Doch egal, wie oft ihre Mutter sie gewaschen hatte, der rauchige Geruch blieb wie ein Phantom in ihrem Gedächtnis. Schließlich erklärte sie der Mutter: „Ich will kein Leichenkleid eines Juden tragen. Mir lehrst du Diebstahl sei gegen das Gesetz und mir lehrst du den Glauben an Gott- verstehst du nicht, dass das falsch ist?“
Sie verstand es nicht. Mathilde bezweifelte, dass irgendjemand sie verstand. Sie hörte nun öfter hin, was die Erwachsenden sagten. Sie sprachen viel über Volk und Rasse und das Recht des Stärkeren.
Die Mutter zwang sie die Kleider zu tragen. Mathilde hatte das Gefühl, ihre Haut würde brennen.
Sie fühlte sich einsam. Die Parolen grenzten Mathilde nun ab, wo sie anderen Einheit und Gemeinschaft brachten. Das mulmige und unwohle Gefühl in ihr verschwand nicht, denn es schien ein Eigenleben zu haben. Sie konnte es nicht ersticken, und jedes Mal, wenn sie glaubte zu gewinnen, dann kam es doppelt und dreifach zurück. Es wollte nach draußen, aber sie konnte es nicht lassen, denn alles war anders.
Da waren Fotografien von zerstörten Synagogen in den großen Städten und auch in ihrem Dorf waren die Druckerei und die Metallverarbeitungsfabrik, in der ihr Vater arbeitete, nicht unbeschadet davongekommen. Sie hatte gehört, dass der Inhaber der Fabrik die Gerechtigkeit für ein Attentat in Frankreich zu spüren bekommen hatte. Sie kannte den Juden nicht, sie wusste einzig, dass ihr Vater jetzt mehr Lohn bekam, weil der Betrieb dem Staat gehörte.
Sie sah nur das Blut auf den Münzen.
Noch schlimmer als all die neuen Dinge in ihrer Wohnung war die leere Scheune. Mathilde war selten dar, nur noch wöchentlich um zu sehen, ob Edith zurück war oder ihr eine geritzte Nachricht hinterlassen hatte. Mit jedem Mal, das sie in die leere Scheune blickte, wuchs ihre Schuld und ihre Furcht. Denn was war, wenn man auch Edith bestraft hatte? Muss eine Strafe nicht Schuld vorrausetzen? Als sie Edith das nächste Mal vor der Scheune sah, umarmte sie ihre Freundin stürmisch und dankbar. Edith lächelte schwach und dann zeigte sie ihr die neue Scheune. In der Scheune lebten jetzt Menschen. Juden.
Wenn ihr Vater am Mittagstisch über Sonderbehandlung und Parasitenbekämpfung sprach, dann redeten die Leute aus der Scheune über Vertreibung und Angst und Mord. Mathilde mochte die Leute in der Scheune. Manchmal brachte sie ihnen die gute Wurst vom Metzger und die Kleidung von der Wohlfahrt, wenn die Mutter nicht achtsam war. Sie hörte nicht mehr hin, wenn die Leute aus der Schule über Rassen sprachen. Wie automatisch beantwortete sie die Fragen der Lehrer und in der Mädelschaft, sagte ihnen, was sie hören wollten und kam jeden Abend mit neuen Sachen in die
Scheune und unterhielt sich mit den Leuten über die Sachen, die sie dachte. Sie verschwieg ihr Gefühl und die Menschen in der zerfallenen Scheune jedem anderen. Auch wenn die Flugblätter, Reden der hohen Parteifunktionäre und Bücher sie geradezu anzuschreien schienen, dass das falsch war, dann war sie sich so sicher, wie sie es noch nie in ihrem Leben war, dass sie im Recht war.
Anfang Dezember waren sie weg. Die Scheune war leer, all die Decken und Koffer verschwunden. Nur aufgewühltes Heu blieb zurück. Zögernd war Mathilde einige Schritte in den so großen und leeren Raum hineingetreten. Auf einem kleinen morschen Brett, das zerschmettert im Stroh lag, war ein letztes hastig eingeritztes Wort. Polska.
Mehr noch als die Menschen, die faule Worte wie Äpfel aßen und selbst verdarben, hasste sie sich selbst. Sie hasste jede Parole aus ihrem Mund, hasste ihre Machtlosigkeit und hasste ihre Untätigkeit. Sie war gefangen, nicht nur von der Welt um sich herum, sondern auch von den Ketten des Gewissens. Nur, dass es gute Ketten waren, Ketten, die sie an die Menschlichkeit banden und mit ihr verbanden.
Ihr Volk war ihr fremd. An manchen Tagen hoffte sie, dass da andere waren wie sie. Und dann hoffte sie es doch nicht, weil; wie sollte sie die finden, die auch ganz heimlich Gedanken hatten? Mathilde hatte gelesen, was mit den Volksverrätern passiert, die gefunden wurden. Mathilde hatte Angst und wollte mitlaufen und zu den Anderen gehören. Die Anderen waren sicher, sie waren wertvoll, weil sie deutsch waren. Sie fühlte sich aber immer weniger deutsch ganz tief in ihr drin.
Da waren keine Zeltlager mehr. Die Eltern schrieben Briefe und dann schickte ihre Jungmädel Führerin sie zu einem Militärhospital. Das Leid der Männer war erdrückend und sie ging zur Hand, wo auch immer die Militärärzte es zuließen. Es war laut, doch die Männer schrien Schmerz und keine Parolen. Da waren Leute, deren Schädel geöffnet werden musste, da waren leichenblasse Menschen deren Hand sie hielt, als ihnen zerfetzte Glieder amputiert wurden. Und dann waren manche Männer, die mühsam geheilt wurden, wieder da. „Warum,“, hat Mathilde gefragt, als der junge Soldat noch in seine blutige Uniform gekleidet seinen Verletzungen erlag „bist du zurückgegangen?“
„Für die Befreiung der Welt.“, würgte er hustend heraus und nahm einen pfeifenden letzten Atemzug. „Für den Führer!“
Da waren andere und sie gingen und kamen zum Sterben zurück. Manche erzählten wie ihre Kameraden in der Schlacht gefallen waren, andere beteten zu Gott, erhofften ewige Erlösung für die Schlachtung der namenlosen Juden. Mathilde zögerte jetzt, wenn sie den Verletzten Morphium gab. Ihre Hände zitterten, wenn sie die blutigen Verbände wickelte. Während die Soldaten in Uniform das Hospital verließen, stand sie versteckt hinter den Gardinen der Krankenzimmers, ihre Hände zu Fäusten geballt. Denn sie fragte sich heimlich, ob es ihre Schuld war, wenn die Fremden von deutschen Soldaten erschossen wurden. Trug sie dazu bei? Waren die Schwestern keine weißen Engel sondern Todesengel, welche die Besiegten zurück in die Schlacht führten, damit sie mehr Leid anrichten konnten? Die weiße Kutte brannte auf ihrer Haut mit jedem helfenden Handgriff, den sie tat. Aber da war mehr als die leblose Uniform, da waren ängstliche und schmerzerfüllte Schreie und da waren Jungen der Hitlerjugend noch in ihrem Alter und doch schon fast tot.
Das Gefühl nagte an ihren Gedanken, brachte ihr Blut zum Rauschen und ließ ihren Blick öfter auf den Wiederkehrenden ruhen, als sie wollte. Wie viel Blut war an ihren Händen? Wie viele Menschen waren durch ihre Taten, durch ihre Heilung umgekommen? Sie konnte nicht helfen und sie konnte nicht nicht helfen. Ihre Gedanken entglitten öfter und ihr Kopf drehte sich, in ihr ein ewiger Kampf zwischen sollen und wollen. Sie fühlte sich schuldig, wenn die Männer das Hospital gesund verließen und mehr Leid anrichteten oder selbst starben. Sie fühlte sich schlecht mit dem Gedanken, die Soldaten im Hospital hilflos ihrem Schicksal zu überlassen. Mathilde würde gerne nicht da sein, nicht sein.
Einige Tage nachdem sie zurück ins Dorf geflohen war, zwangen ihre Eltern und der Lehrer sie zurück. Jeder sollte für den totalen Krieg und Endsieg mithelfen. Ihre Zukunft, sagten sie, hänge von ihrer Hingabe für das deutsche Volk ab. Welche beruflichen und akademischen Möglichkeiten ihr offen stehen würden, wie viel Geld- welcher Ehemann- wie viel Ehre sie ihrem Vaterland und ihrer Familie bringen würde. Man ließ sie jedoch nicht mehr zu den verwundeten Soldaten, sie teilten Mathilde in einem anderen Pflegeheim der Altenpflege zu.
Da waren zwei Arten von Menschen. Die einen sollten von ihrem Leid befreit werden. Die anderen wollten von ihrem Leid befreit werden.
Zu gut erinnerte sie sich an die Poster am schwarzen Brett der Schule, die aufzeigten wie die Anzahl der Behinderten- nein, Minderwertigen- wächst und das Volk vergiften würde. Ihr Vater selbst war wütend wegen der Sozialausgaben die durch besondere Ausgaben für Behinderte erzeugt werden.
Sie schob den Rollstuhl von Heinz öfter auf die kleine, schmutzige Betonterrasse, als man ihr vorschrieb und unterhielt sich mit dem Greis über Schach. Nicht über das Völkische Schach, dass sie mit Freunden an Spieleabenden spielte, sondern das alte. Sie las den Bettlägerigen aus den Büchern, die sie aus der benachbarten Kinderstation mitnahm und manchmal stahl sie der Mutter die guten Häkelnadeln für die alte Frau aus Bett Neun, die manchmal nicht mehr wusste, wer sie selbst war und doch noch häkeln konnte. Der Mann im Bett am Fenster sprach nicht mit ihr oder den anderen Pflegern. Nur manchmal, wenn sie ihm den Haferbrei mit einem großen Löffel brachte, dann blickte er ihr in die Augen. Als sie am Montag nach Jahresanfang wiederkam, hatten sie ihn am Bett festgemacht und ganz weit weg von dem Fenster geschoben. Am Bett stand ein älterer Mann in Parteiuniform, der stürmisch auf den Alten, der ausdruckslos auf die blanke Wand schaute, einredete und wild gestikulierte. Die diensthabende Schwester zog sie zur Seite, als sie, angetrieben von dem nagenden Gefühl, einen Schritt in den Raum machen wollte
Einige Zeit später stand sie unsicher, das Klemmbrett und den Bogen unsicher unter den Arm geklemmt wieder im Krankenzimmer. Zögernd blickte sie auf Meldebogen mit der Nummer 6021. Dann drückte sie den Kugelschreiber testend auf das Feld mit dem Namen. Heinz, schrieb sie nieder und seinen Nachnamen. Dann waren da andere Felder; Beruf, Abstammung, vererbte Defekte, Diagnose, Grad der Behinderung.
Jeder Buchstabe fühlte sich wie ein Todesurteil, als würde sie mit jedem Strich ein Stück schuldig werden. Und doch war da der ruhige Atem der Schwester in ihrem Nacken, die ihr über die Schulter blickte und ihre Angaben mit denen auf dem wahren- auf dem Meldebogen in der Hand der Schwester abglich.
Mathilde fühlte sich weniger, als würde sie einen Menschen helfen. Es fühlte sich eher an, als würde sie üben, die Schäden an einem Gerät in grausamster Weise katalogisieren.
Am Abend kann Mathilde nicht einschlafen. Sie liegt wach, nicht gequält von ihrem Gewissen, sondern der Welt um sie herum. Wie soll ihr Gewissen sie quälen, wenn es ein natürlicher Teil von ihr ist? Nur das, was sie gezwungen ist gegen ihre Natur zu tun, nur das kann sie quälen. Mathilde ist an dem Tag im Heim ein kleines bisschen gestorben. Und dann denkt sie an Edith, an die Soldaten und an Heinz und findet, dass nicht ihr heimliches Denken schuld ist, sondern die Welt. Sondern die Nazis. Manchmal war Mathilde froh, dass ihr Gewissen ganz sicher und tief in ihr drin verborgen war, wo niemand es ihr wegnehmen konnte. Aber mit jedem Wort und jeder Tat entgleitet ihr Gewissen ein kleines bisschen mehr und ganz heimlich bezwingt es alles andere in ihr.
Nachdem Heinz nach einigen Tagen verschwunden ist, überhört Mathilde das Gespräch zweier Schwestern über die Ursache seines Ablebens. Über den Mord. Dann hat sie schon einige Zeit später mit den anderen Mädchen aus dem BDM darüber gesprochen und auf einmal findet sie sich vernetzt mit verschiedensten Pflegeinrichtungen und Schwestern. Wie eine Welle, die aus den Tiefen der überzeugten Nationalsozialisten den kleinen Funken Gewissen aufzuwühlen scheint, geht der Unmut über die Morde an den Alten durch die Region. Mathilde schreibt Briefe. Viele. Sie schreibt den Zeitungen, sie schreibt den Anwälten und den verbliebenden Familienangehörigen der Verstorbenen, deren Adressen ihr von unbekannten Mädchen und Frauen aus dem Bund Deutscher Mädel zugetragen werden. Manchmal, wenn Mathilde abends im Bett liegt, dann summt sie überwältigt von den Gefühlen der totalen Einheit und Hilfsbereitschaft der Anderen. Wenn ihr dann Gedanken über die judenfeindlichen und rassistischen Lieder kommen, die sie damals am Lagerfeuer gesungen haben, dann drängt sie die und das nagende Gefühl ein kleines bisschen zurück und konzentriert sich auf das, was sie bewirken kann.
Für einen Augenblick hat sie eine laute Stimme, weil Andere im Chor mit ihr schreien.
Für einen Augenblick, da ist sie nicht mehr machtlos, weil Andere ihr ihre Stärke leihen. Der Augenblick ist kurz.
Wie eine Lawine scheint der Unmut in der Region Fuß zu fassen und dann hört sie Gerüchte von Klagen der Angehörigen und für eine kurze Zeit rumort man, Behinderte jeden Alters und jeder Rasse seien betroffen und dann ist alles wieder still, denn die Zeitungen sind noch ruhiger als sonst und die Meldebögen verschwinden aus ihrem Alltag im Hospital.
So still es auch ist, so laut schreit das Gefühl in ihr. Es klingt wie Edith, wie die Leute aus der Scheune und wie tausende tosende Chöre. Als habe es Blut geleckt, will es wieder ausbrechen, will wieder verändern, will wieder berichtigen. Es lässt sich nicht bezwingen von den Drohungen der Regierung, nicht von Worten wie Volksverräter, Rassenschande und Ausstoßung. Es lässt sich auch nicht befreien, denn nichts kann es gefangen nehmen. Das Einzige, das in dieses große, schwere und bedeutende Buch geschrieben werden kann und wird, ist der Schutz der Natur des Menschen und der Handlungen, die dem überwältigenden Ruf des Gewissens folgen. Denn in einem drin, da ist das Gefühl ein unzähmbarer Drang, der nicht zum Schweigen gebracht werden kann. So kann es nicht Recht sein, den Menschen für seine Natur zu bestrafen und zu zwingen die eigene Menschlichkeit verkümmern zu lassen.
Vielleicht war das nicht die letzte Handlung Mathildes gegen die falschen Parolen und der letzte Schrei des Volkes.
Denn Mathilde hat verbotene Gedanken.
Ganz heimlich.
Hat dich Oma dressiert,
mit ihren Werten frisiert,
dir gesagt „Mädchen dürfen das nicht?“
Hast du’s trotzdem getan,
dann gezweifelt daran?
Oh, komm doch und führ mich ans Licht!
Das enge,
zu strenge,
das weite,
befreite,
über Zweifel erhaben,
gezeichnet mit Narben.
Soll ich auf dich hören
oder willst du nur stören?
Plagst du zurecht
oder machst du mich schlecht?
Ich fühl mich zerrissen,
mein Gewissen!
Ich will endlich klarsehen,
das Gute verstehen
und tun, was klug und gerecht.
Die innere Stimme, sie spricht,
doch ich verstehe sie nicht,
denn ich weiß nicht, ist sie wirklich echt?
Das enge,
zu strenge,
das weite,
befreite,
über Zweifel erhaben,
gezeichnet mit Narben.
Soll ich auf dich hören
oder willst du nur stören?
Plagst du zurecht
oder machst du mich schlecht?
Ich fühl mich zerrissen,
mein Gewissen!
Man erwartet von mir
und dann steh ich Spalier
und ziehe vor allen den Hut.
Denn wenn ich‘s nicht tu,
find ich doch keine Ruh‘.
Aber ist das denn wirklich so gut?
Das enge,
zu strenge,
das weite,
befreite,
über Zweifel erhaben,
gezeichnet mit Narben.
Soll ich auf dich hören
oder willst du nur stören?
Plagst du zurecht
oder machst du mich schlecht?
Ich fühl mich zerrissen,
mein Gewissen!
Lass mich gut unterscheiden!
Lass mich nie stehenbleiben!
In der Stille hör ich dir zu,
dass dich nichts übertönt,
dich nichts trübt oder schönt.
Wer leitet mich denn, wenn nicht du?
Das enge,
zu strenge,
das weite,
befreite,
über Zweifel erhaben,
gezeichnet mit Narben.
Soll ich auf dich hören
oder willst du nur stören?
Plagst du zurecht
oder machst du mich schlecht?
Ich fühl mich zerrissen,
mein Gewissen!
Marie steigt in die Straßenbahn. Ihre Augen suchen einen Sitzplatz, doch ihr Blick ist leer, nach innen gerichtet, in einen Hohlraum, eine diffuse Dunkelheit, die keinerlei Halt bietet. „Möchten Sie sich setzen?“, fragt eine ältere Dame und deutet auf einen der wenigen freien Plätze. Marie schüttelt den Kopf. Diese Sitzplätze sind alten, schwachen oder hochschwangeren Personen vorbehalten. So weit ist es noch nicht. Misstrauisch mustert Marie ihr Gegenüber: „Ob sie etwas weiß? Ob man es mir schon ansieht?“ Die alte Dame wirkt besorgt: „Ist alles in Ordnung?“ Eine Fremde nimmt Anteil. Marie möchte am liebsten losheulen, doch sie lächelt. „Danke, mir geht es gut“, lügt sie. Erleichtert hört sie, wie überzeugend ihre Stimme klingt. Die Lüge fällt ihr leicht. Gut so. Das wird sie in den nächsten Tagen noch öfter brauchen.
Als der Wagen in ihrer Station hält, steigt sie aus. Wie immer wendet sie sich gleich nach links, geht zügig in Richtung ihrer Wohnung und läuft dann ebenso zügig an dieser vorbei. Zwei Blocks weiter öffnet sie die Tür zu einem Kaffeehaus und setzt sich an einen kleinen Tisch in einer der hinteren Nischen. Trotzig bestellt sie einen Cappuccino. Sie muss ihn ja nicht trinken, aber bestellen wird sie ihn wohl noch dürfen! Nachhause kann sie jedenfalls noch nicht. Nicht mit dieser Leere im Kopf. Was wohl früher kommt? Der Kaffee oder ein klarer Gedanke? Der Kellner stellt das Tablett mit Tasse und Wasserglas vor ihr ab. Der Kaffee. Natürlich. Marie lächelt. Dann eben kein Gedanke. Gut. Dann eben nicht. „Haben Sie noch einen Wunsch?“, fragt der Kellner. „Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, was ich mir wünsche!“, schreit sie ihn natürlich nicht an, sondern murmelt stattdessen: „Danke, alles bestens.“
Sie nimmt einen Schluck und konzentriert sich auf die Wärme und Bitterkeit des Kaffees. Der Geruch erinnert sie an Normalität. Es wird Zeit, die Fakten zu sortieren. Jakob hat Schluss gemacht. Es tut weh, daran zu denken. Sie macht ihm keinen Vorwurf. Er geht zurück nach Berlin und Marie bleibt hier in Wien. Sie haben nie vorgehabt, sich zu verlieben. Wozu auch. Jakob kann es sich nicht leisten, seinen Studienplatz zu verlieren, und Marie geht immer noch zur Schule. „Vielleicht danach?“, hat Jakob angeboten. „Vielleicht kommst du auch nach Berlin und wer weiß, vielleicht machen wir dann dort weiter, wo wir aufgehört haben?“ Er hat sie in den Arm genommen und noch einmal geküsst. Es war ein inniger Kuss und danach hatten sie zum allerletzten Mal Sex. Ein Abschied. Traurig schön und unendlich romantisch. Wenige Tage später ist er abgereist und Marie hat geglaubt, ihn nie wieder zu sehen. Sie hätten beide nicht im Traum daran gedacht, dass er einen Teil von sich in Wien zurücklassen würde.
Dann, vor knapp einer Stunde: „Gratuliere! Sie sind schwanger!“ Das idiotische Grinsen der Ärztin brennt immer noch in Maries Bauch. Tief in der Magengrube diese Übelkeit. Schwanger? Woher besaß die Ärztin die Präpotenz, sich darüber freuen zu dürfen? Marie nahm all ihren Mut zusammen: „Ich werde das Kind nicht bekommen.“ Das Kind. In dem Moment, als sie es aussprach, wusste sie, dass es ein Fehler war. Eine winzige Verbindung von Zellen, kaum mehr als Eizelle und Sperma, als Kind zu bezeichnen, war nicht im Entferntesten zutreffend.
„Das ist Ihre Entscheidung“, hat die Ärztin kühl geantwortet und mit einem Blick auf die Karteikarte ergänzt: „Sie sind volljährig.“ Ja, seit drei Wochen. Happy Birthday, Marie! Dann drückte ihr die Gynäkologin eine Broschüre in die Hand und sagte: „Hier finden Sie Adressen mit Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Schauen Sie sich aber bitte auch die Kontaktdaten für psychologische Betreuung an. Sie sind sehr jung. Sie sollten mit jemandem sprechen.“ Marie hat genickt, die Broschüre eingesteckt und die Ordination verlassen. Wie ferngesteuert ist sie in ihre Jacke geschlüpft, hat die Tür hinter sich geschlossen und mit dieser auch alles hinter sich gelassen, was bis dahin ihr Leben ausmachte.
Schwanger! Das bedeutet vor allem, dass sie ab jetzt alle anlügen muss, denn ihre Mutter würde sie zu dem Kind drängen und der Vater würde sie am liebsten vor die Tür setzen und erwarten, dass ab jetzt der Kindesvater für sie sorgen sollte. Und Jakob? Wiederwillig würde er die Vaterschaft annehmen. Und dann? Er würde es ihr nie verzeihen. Immerhin war es ihr Körper und damit auch ihre Verantwortung zu wissen, ob sie empfängnisbereit war oder nicht. Natürlich würde er für das Kind bezahlen. Vermutlich würde er es sogar kennenlernen wollen, wenn es älter war. Und sobald man mit ihm Spaß haben konnte, würde er es auch zu sich nach Deutschland einladen und den perfekten Vater spielen. Marie hat ein ziemlich klares Bild davon, wie er seine Rolle als Vater ausleben würde. Vaterschaft als Fernbeziehung.
Und Marie? Die letzten Prüfungen würde sie mit dickem Bauch machen. Bald danach wäre die Geburt und dann, wenn alle Freunde studieren oder arbeiten, bliebe sie daheim, bei einem Vater, der sie und den Balg nur duldet, weil seine Frau es von ihm verlangt. Nach jeder durchwachten Nacht voller Kindergeschrei, bei jeder Windel, die aus dem Mülleimer stinkt, bei jedem Tropfen Babykotze auf der Couch, würde er ihr Vorwürfe machen und auch ihrer Mutter, wenn sich diese schützend vor sie stellte. Das kleine Würmchen, das sich in Maries Körper breit macht, würde ihr aller Leben zerstören. Und gleichzeitig in eine Welt hineinwachsen, in der es nicht erwünscht ist. Kann man das einem Kind wirklich wünschen?
Marie lächelt bitter. Sie denkt an den Ethikunterricht Anfang des Jahres. In der Klasse ist hitzig diskutiert worden. Man hat sich in eine Pro-Life versus Pro-Choice-Debatte gestürzt, als ginge es – nicht nur theoretisch – um Leben und Tod. Marie hat, eigentlich nur zum Spaß, für Pro-Life Partei ergriffen und mit Feuereifer gegen Abtreibung gewettert. Die Argumente auf ihrer Liste damals sieht sie immer noch deutlich vor sich. Eigentlich hätte sie gut auf die Entscheidung vorbereitet sein sollen, die sie jetzt vor sich hat. Doch, womit sie nicht gerechnet hat, ist das Gewissen, das sich plötzlich immer deutlicher einen Weg in ihr Bewusstsein bahnt. Dieses verdammte Gewissen, das von ihr verlangt, die richtige Entscheidung zu treffen, mit der sie dann auch leben kann. Ist man wirklich „gut“, wenn alle anderen leiden? Oder bedeutet es, „gut“ zu sein, wenn man bereit ist, zum Wohl aller, Schuld auf sich zu laden und möglicherweise „Böses“ zu tun.
Wie soll sie das wissen? Wer – um Himmels Willen – kann von einem einzelnen Menschen verlangen, die richtige Wahl treffen zu können? Wenn es tatsächlich so etwas wie Gut und Böse gibt – wieso ist dann nicht ganz einfach das Böse verboten und das Gute für alle gleich? Wäre sie gezwungen, das Kind auszutragen, weil es nun einmal das Richtige, das Gute ist, dann würde sie es ganz einfach tun. Und sie wäre bestimmt nicht die einzige mit dickem Bauch in ihrem Jahrgang. Für ihren Vater wäre es ganz normal, dass seine Tochter auch ohne Ehe schwanger werden kann. Wer weiß? Vielleicht würde er sich sogar darüber freuen und sie unterstützen. Und Jakob würde das Kind ebenso ohne Vorwurf annehmen und selbstverständlich helfen, so gut er konnte.
Wenn aber nach reiflicher Überlegung klar wäre, dass in diese Situation kein Kind geboren werden sollte, wenn es bedeutete, das Richtige zu tun, indem man das Falsche abbricht, dann sollte der Arzt gleich nach der Diagnose das Zellgewebe entfernen. Wie eine Zahnsteinentfernung oder ein verdächtiges Muttermal. Einfach Schnipp und Weg. Man könnte offen darüber sprechen, ohne Scham und ohne Vorurteil. Und es gäbe keine vorwurfsvollen Blicke der Eltern, sondern maximal ein mitfühlendes: „Schatz, hat es weh getan? Soll ich in der Schule anrufen und dich ein paar Tage krank melden?“ Einfach so, ein Schwangerschaftsabbruch wie ein grippaler Infekt. Nichts, was man geplant hätte, aber was nun mal jedem passieren kann. Das Kind nicht auszutragen, wäre dann nicht einmal eine Entscheidung, über die man diskutieren könnte, sondern einfach eine logische Konsequenz.
Marie nimmt noch einen Schluck. Der Kaffee ist in der Zwischenzeit kalt geworden. „Ob das Koffein dem Kind schadet?“ Erstaunt schaut sie auf. Sie sieht sich in dem Kaffeehaus um, als wäre sie gerade erst angekommen. Sie nimmt den Raum wahr, das Licht, die Geräusche, die Farben und die Menschen, die sich darin bewegen. Plötzlich ist sie hellwach. Sie holt die Broschüre der Ärztin aus der Tasche. Dann tippt sie eine Nummer in ihr Handy und wartet: „Hallo? Ja. Ich hätte gerne einen Termin. Es geht um einen möglichen Schwangerschaftsabbruch.“
Fassungslose Blicke jener, auf die man anlegt. Augen, Reflektoren von Hass, Verzweiflung, Angst … zerschießen mein Innerstes. Gleich den Patronen, deren ausgediente Stahlhülsen fast lautlos den Boden treffen. Ihren grausigen Dienst, ergänzt um beißenden Pulversmog, aushauchen. Endgültig. Wie der Delinquenten Leben. Zeitweise waren deren Augen verbunden. Schlafen Mörder dann besser?
Meine Gespenster der Vergangenheit poltern. Gnadenlos. Scheuen nicht das Tageslicht. Die Zeichen, ständig präsent. Auch jetzt. Ukraine. Wochen nach der sowjetischen Offensive. Ein Wagen auf der Wagramer Straße, stadteinwärts vor mir. Rot! Rost wie Zeit mindern die Qualität des Lacks. Das Pickerl aus einer Hinterhofwerkstatt im Überlebenskampf? Wer weiß?! Vielleicht nur ein anderer Bezug zur Wertigkeit von Mobilität? Oder Widerstand gegen die technisierte Entmündigung? Vorurteile sind die renommiertesten Platzhalter für Wissen.
Auf der Heckscheibe der Karre pickte kein Bekennerschreiben zu einer gewissenhaften Fahrweise. Kein: »Kevin an Board«. Kein: »Bremse auch für Tiere«. Scheibenfüllend prangerte ein von Hand bemalter Pappkarton. Blutrote Letter schrien: »Putin ist Hitler.« Die Aussage im Sinne absurd. So sinnentleert wie all diese territorialen gewalttätigen Überfälle und Missachtung der Völkerrechte. Kein Mensch ist ein anderer. Selbst ein zweites ›s‹ würde hinken. Bedingt eine Konservierung des Zweitgenannten. Beschwerlich genug, dessen vergammeltes Gedankengut aus der verzerrten Finsternis ins Licht der Sonne zu bringen. Unter Verzicht auf künstliche Flutlichtanlagen, deren Licht- und Schattenspiele, zielgerichtet auf Details und Gewissen, den Zugang zur Wahrheit beharrlich verblenden.
Doch zurück zur jüngsten Vergangenheit. Des Wagens Kennzeichen begann mit W. Nicht UA. Deren zurzeit zahlreich in Wien. Vollgestopft mit Hab und Gut. Oder nur mit Leben. Keine Zeit blieb. Tausend und mehr Schüsse pro Minute aus nur einer Waffe! Einige Gerettete finden Asyl in unserer Wohnung.
Bis zu erwähntem Zeitpunkt hatte ich keinen Dunst: Natascha hat ukrainische Wurzeln! Siebzehn Jahre sind sie und ich ein Wir. Ungetraut vertraut. Verzichten auf den standesamtlichen Status wie auf den Segen der Kirche. Verbunden durch unsere Herzen und unser Engagement für Menschen, Tiere und Umwelt. Wir reden über die Gegenwart. Das Notwendige über die Zukunft. Kaum über unsere Vergangenheit.
In nur zwei Monaten lernte Natascha die Sprache ihrer Ahnen. Es lag ihr im Blut. Ich dagegen habe in zwei Jahren Serbokroatisch gelernt. Seit meiner Rückkehr, vor gut dreißig Jahren, kam davon kein einziges Wort über meine Lippen. Verhalten. Nicht verdrängt.
»Wer bist du, Vordermann? Ein Vater? Ein Bruder? Ein Geflüchteter? Ein Spion? Welche Schandtat dieser Welt meinst du, mit deinem lahmen Gleichnis verhindern zu können? Kennst du Wladimir Putin? Was weißt du von Adolf Hitler? Hast du überhaupt Ahnung? Vom Krieg? Durchschaust du die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Anstifter? Das weltumspannende Konzept der Oligarchie? Weißt du um den seit Jahrzehnten rotierenden Konflikt rund um die Ukraine?« Spricht er überhaupt meine Sprache? Meine Sprache?!
Die Rotphasen zu kurz … gar Impulsgeschwächt von Metallicas: Suizide & Redemption aus den Boxen … ich nicht aus meinem Auto sprang, um die Tür des Vordermannes (der Lenker erschien im Außenspiegel definitiv männlich) aufzureißen, um Antworten zu erhalten. Allenfalls war er bloß ein Follower der Mantras der Propaganda. Oder ein Wichtigtuer. Den ganzen Tag durch die Stadt protestiert, fernab der Verbrechen in der Ukraine, bis ihn die Polizei abmahnt. Denn hätten sie ihn bestraft – bei der abgefuckten Karre aufgelegt –, wären sie vermutlich als Nazis auf den neuzeitlichen Scheiterhaufen verheizt worden. Jener Zündler, die uns auflagenstark und digital den Unterschied zwischen den Guten und den Bösen suggerieren.
Ich weiß, was Krieg bedeutet. Das Instrument ewiger Disharmonie. Hab’ Schlachten erlebt. Sah die Leblosen auf Feldern, in Gräben und Bombenkratern. In ausgebrannten Wracks. Zerstörten Häusern. Erfror angesichts der geisteskranken Lust der Misshandlung und Vernichtung. Inmitten der Abnormität und Sittenlosigkeit. Jetzt, nach notgedrungener Auseinandersetzung, zu lebenslänglich verdammter gewissenhafter Aufarbeitung, meine ich die Hintergründe erkannt zu haben. Seit Jahrtausenden dieselben sind. Wohl mit Übel auch so bleiben werden. Verabscheue Bilder und Berichte menschlicher Verwahrlosung. Und ist keineswegs Gleichgültigkeit, die mich abstößt. Es ist mein ganz persönliches Martyrium. Die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine nähren den Teufel in mir. Seit Frühjahr 2022 thront er hämisch, von Massakern frisch gefüttert, in meinem Domizil. Mitunter einem Matratzenlager gleicht. Unsere Kleiderkästen, nun halb leer, waren ohnehin zu voll. Werde bombardiert mit authentischen Erzählungen, Handyfotos von Heimen und vertrauten Menschen, wie sie sind … oder bis vor Kurzem noch waren. Der Folterknecht schafft es in seinem digitalen Auswuchs bis zu Natascha und mir ins Schlafzimmer. Jedes Läuten rattert wie eine Gewehrsalve. Jede WhatsApp-Nachricht gleicht dem Einschlag einer Granate. Wir tun gewiss Gutes. Ich fühle mich dennoch miserabel.
Und hätte nie so kommen dürfen. Mach dir einen Plan. Dein Schicksal jedoch grinst dir hinterfotzig in die Visage. Ich hatte Pläne. Wusste jedenfalls, was ich nicht will. Leben und enden wie der Baierl Joschi. Er besaß die Zimmerei in meinem Heimatort. Bruder Karl das Sägewerk. Ein Nest, in das es meine Großeltern nach einem dieser vielen Kriege verschlagen hat. Es hier Arbeit gab. Die Kleiderfabrik ist weg. Die halbe Ortschaft ist weg. Vater blieb. Auch wegen Mutter. Stadtflüchtling. Entgegen dem Stream. Verliebt in Land und Ort. Er durfte sein Lebtag pendeln. End to end mit dem Kaiser Franzl seiner Bahn. Jeden Tag. Nichts mit Homeoffice seinerzeit.
Meine drei Jahre schuften für Josef den Zimmermann – in den Niederungen von Leibeigenen – nannten sich Lehrzeit. Sein Geschimpfe über Unzulänglichkeiten, Lernen und Lehren nun mal an sich haben, stand einer Peitsche um nichts nach. Wäre nicht diese sonntäglich heilige Ruhe, das Gebot, Glockengeläut und Gebetsgemurmel nicht mit Nagel-Schussapparat und Kreissägen zu peinigen, hätte ich diesen Tag nicht frei gehabt.
Da schleppte ich Oma zur Messe. Intuitiv nicht wegen des Rituellen. Gewissenhaft, sie, nach geschätzt 100.000 Stunden an der Nähmaschine, mit arthritischen, zerstochenen Händen, wie ihr ans Kreuz genageltes Liebkind, meiner Gehhilfe bedurfte. Sie war gütig. Auch zufrieden, vorausgesetzt, sich irgendeiner der mobilen Prediger auf seiner apostolischen Bezirks-Rallye mit einem Sack Hostien und einem Doppler G’wasserten einbremste. Sonntags in der vom Verfall gezeichneten Ortskirche das Leiden Christi to go zelebrierte.
Der Präsenzdienst rettete mich davor, als jüngster Burnout-Kandidat Schlagzeilen zu machen. »Jüngste« als Kandidaten ins Rennen um Reputation zu schicken halte ich für ein Kuriosum. Jugend ist ein Privileg. Gewiss kein Garant der Tugendhaftigkeit. Ob als Kanzler oder wie in meinem Fall als Soldat. Die Missachtung von Reife sehe ich vom Start weg verurteilt zum Scheitern. Und stehe selbst für den Beweis.
Bei Unserem Heer mustern sie fast alles, was in die Panier passt. Heute sogar Mädchen. Oder so was in der Art. Ich gebe zu, das uniformierte Dasein kam prickelnder als die Rückkehr zum Baierl. Vergleiche: drei Jahre, mitunter bis zu sechzig Wochenstunden, harte Knochenarbeit. Und hätte Vater dem Knabenschinder bei Wirt und Bier nicht energisch das Wort Urlaub ins Gewissen buchstabiert, wäre ich auch um den umgefallen.
Für den kontra-evolutionären Mechanismus der militärischen Befehlskette, Unterwerfung sich kompetenzlos an Sternen festkrallt, war ich mit Leichtigkeit gerüstet. Verpflichtete mich als Zeitsoldat. Der Sold aus der Staatskasse für null Arbeitsleistung akzeptabel. Wenn nicht in der Kaserne oder auf dem Schießplatz, haben wir draußen die Stöpsel knallen lassen. Ich eroberte Tanja. Meine erste feste Freundin. Mobilisierte mich mit einer Honda Enduro. Mietete eine Wohnung. Es waren meine unbeschwertesten Jahre. Ich habe es nicht gewusst.
Sommer 1992 telefonierte Vater mich aus meinem Lotterdasein. Zitierte mich in die Einschicht. »Den Joschi hatʼs vom Dach gʼhaut. Die Beisetzung ist den Samstag.« Eine Frage des Anstands. Sah ich gegenteilig. Vaters Wunsch Pflicht. Dies sind nun mal die dörflichen Spielregeln. Ich tachinierte mit meiner Truppe gerade in Allentsteig. Frischgebackener Zugsführer … ergo drei Kekse auf dem Rockkragen … der Urlaubschein ging problemlos. Ein Manöver ist Kriegsspielen mit Krach und Flurschäden. Ein abgängiger Soldat wegen der Beerdigung eines Zivilisten keine Gefährdung der Staatssicherheit. Quasi ums Eck warʼs auch. Ich erschien zum Begräbnis in Uniform. Waren meine Eltern stolz?
Laut Helfer fiel dem Baierl oben am Giebel plötzlich die Druckluft-Nagelpistole aus der Hand. Dann griff er sich ruckartig ans Herz. Den Blick hat Werner zwar in seinen Worten geschildert: »… meiʼ, leck den Teufel, der hat dreingʼschaut wie ein Ochs, wennʼs blitzt …«, aber ich hatte den Joschi gut gekannt. Bringe es mit Pietät auf den Punkt: Aus dessen Augen quoll das Unverständnis der Gegebenheiten. Es dürfte ihm gar nicht geschmeckt haben, der freche Tod während der Arbeit anklopft. Er war einundsechzig. Den Rest besorgte der freie Fall. Genickbruch. Der Leichenbeschauer durfte wählen. Das Unglück in der Statistik der Herzinfarkte oder Arbeitsunfälle zu verewigen.
Die Leiche keine Stunde unter, zog mich Karl nach dem Schmaus beiseite. »Horch, Gruaber Spezi …«
Mein Vorname, bei uns nur jede zweite Generation im Repeat-Modus, war den meisten im Ort zu heilig. Opa Nickerl, zwar krumm wie Quasimodo (von der Last der Stoffballen, nicht erblich), aber ansonsten noch quietschfidel.
» … der Joschi hat viel auf dich gʼhalten. Zwei Mille und Hof und Werkstatt gʼhören dir.«
Er durfte das. War Bruder und Erbe. Kinder: negativ. Zumindest nichts Offizielles. Frau Baierl war vor ewig rechtskräftig in die Stadt geschieden. Der Klassiker: Eifersucht. Der Joschi sei allein mit seinen Holzbalken verheiratet.
Die zwei Millionen, seinerzeit Schillinge, rumorten. Die Selbstständigkeit reizvoll. So spontan kam mir ein Impuls. Ich kaufte den Bauern ihre alten Stadel ab. Zu Hunderten standen sie hier und in umliegenden Dörfern. Teils unbenutzt. Dem Verfall trotzend. Relikte einer Epoche, als Bäume noch per Hand nach Mondzyklen geschlägert wurden. Nicht die Holzindustrie automatisierte Schlägertruppen in ihrem Verwüstungsfeldzug gegen die Natur in die Wälder trieb. Für die immer monströseren Traktoren und Landmaschinen waren die Schupfen ohnehin zu filigran. Wurden zunehmend durch Beton und Blech ersetzt.
»Ablösen, Abtragen, aus Brettern und Balken Gartenhütten bauen. Die Leute stehen auf so Retro-Schnickschnack, glaub mir.«
Vater war begeistert: »250.000 haben Mutter und ich auf der Kante.«
Er meinte schenken. Verborgen bringt Sorgen.
»Zu früh. Ich hab noch keinen Groschen gespart.«
Ich wollte weder beim Karl betteln … das Angebot schien fair … noch in diesem Ausmaß der Banken Schuldknecht werden. Habʼs familiär leidig mitbekommen. Grad mal vier Jahre her, die Hypothek getilgt und aus dem Grundbuch verschwunden ist.
»Dann machʼs wie der Bruckner. Rennt dir ja nix davon.«
Vater meinte Peter den Großen. Ich nannte ihn so. Fand ihn immer schon tough. Gewinnertyp. Wenn sein Onkel Elmar abdankt – gemeint ehrenamtlich, nicht leiblich –, wird Peter fix nächster Ortvorsteher. Jahre war er auf den Golanhöhen UNO-Soldat. Kam zurück … da war ich grad mal Hauptschule. Haus gebaut, geheiratet, sich fortgepflanzt. Jetzt repariert er Autos, Traktoren und sonstige Anlagen und Gerätschaften. Nebenher wartet er noch Melkmaschinen. Damit die Saugzapfen, die man den von Medikamenten aufgeschwemmten Kühen an deren Euter fixiert, ergiebigst funktionieren. Bei Joschis Beisetzung hat mir Peter salutiert.
Dies war das letzte Vater-Sohn-Gespräch auf Augenhöhe. Unser visionärer Business Run, zerschossen mit scharfer Munition. Gewissenlos vereitelt wie Mutters biologisch bedingtes Herzflattern: ihr Bub im Ort haften bleibt … Familie … bestenfalls glupschäugiges Krabbelvolk? Deren Unschuld oft dahin, bevor ihr Sprachvermögen daher. Nicht angelegt. Auch später nicht. Natascha war einunddreißig, als wir uns verliebten. Hellblauäugig, blond und weißhäutig wie ein Albino. Sie strahlte im Mondlicht wie ein fluoreszierender Engel. Mich keine finsteren Gedanken heimsuchten, wenn ich ihren Körper berühren durfte.
Der Zug. Abgefahren. Dachte ich. Doch die biologische Uhr ist tückisch. Schlägt einem mitunter schockartig: »Du wirst Vater!« Mein Lächeln war bloß eine Reflektion auf ihre Freude. Punkto Frost so resistent wie die Arktis, beim Versuch, ihr mit dem Schneidbrenner den Garaus zu machen. Abortus im fünften Monat. Was hat dieses Wesen gespürt? Es die irdische Landung verweigerte? Die Zeichen?
Ein unbedachter, verheerender Schritt … den setzte ich Tage später in Allentsteig. Die Bewerbung zu den Blauhelmen, sprich: UN-Friedenstruppen, wäre Formsache gewesen. Des Teufels Lockruf kam aus dem Munde eines Kameraden: »Die zahlen besser.«
Der Preis der Torheit war hoch. Die Connection lief über Deutschland. Wir ließen uns beide anwerben. Mein Kumpel sprang Tage vor dem Treffen in München ab. Weiche Knie? Jemanden ins Vertrauen gezogen? Ich nicht. Im Gegenteil. Der Dämon bediente sich meiner Stimme: »Feige Sau!« Diese Worte, mein Stolz … auch Sturheit … jedenfalls eine Menge Flaschen Bier kappten meinem Ego den Rückzug. Im September 1992 trug ich eine kroatische Uniform, eine scharf geladene Waffe und verkaufte auf dem Balkan dem Teufel meine Seele. Die Gruppendynamik der Armee war ein morbider Selbstläufer. Soldat gehorcht. Soldat funktioniert. Hinterfragen galt als militärisches Sakrileg. Das Bestialische erstickte das Menschliche. Seitdem hänge ich in seiner Schleife. Wie die Kriege der Menschheitsgeschichte. Lediglich die höllischen Schauplätze wechseln.
»Stay with Ukraine«, rieb mir Kollegin Habiba kürzlich, um eine Spende werbend, unter die Nase. Ein Kind bosnischer Flüchtlinge. Die Marković, Petrović, Vuković, Jovanović … waren längst da, als ich 1994 frühzeitig wieder in Österreich aufschlug. Ich war am Ende. Der Fight zwischen ewigem Licht und ewiger Finsternis schien entschieden.
Das Mädel, keine zwanzig, Österreicherin. Kassiererin bei uns im Markt. Nur ihr Name erinnert an die Herkunft ihrer Eltern. An deren Vertreibung ich beteiligt war. Ihre Augen kenne ich nicht. Einen gefalteten Hunderter stopfte ich in den Schlitz der Box. Sich darin hörbar Münzen befanden. Wie billig sich manche ihr Gewissen freikaufen können. Hätte ich meine Wohnung, all mein Hab und Gut reingeworfen, wäre es nicht genug gewesen. Mit nichts kann ich meine Unbeschwertheit zurückkaufen. Mein Gewissen reingewaschen. Befreit, wie damals. Als Zeitsoldat. Mit Tanja. Dem Bike. Einer 35m²-Garconnaire. Meine egoistische Trennung samt beiderseitigem Herzbruch geschah ohne Begründung. Während … auch nachher … kein Signal meinerseits. Ich wurde ein anderer. Malträtiert von der Geräuschkulisse des Kriegs, wie andere von ihrem Tinnitus.
Dem Baierl Karl sagte ich ab. Eltern wie Heimatort mied ich. Bloß ein Besuch. Abends. Im Dunkeln. Die Gehsteige hochgeklappt waren. Der Ort, bis auf die Gäste im Wirtshaus (das letzte seiner Art) und Glotzen-Anbetern, schlummerte. Trotzdem erahnte ich die bohrenden Stimmen: »Der Gruaber-Bua fährt einen Riesen-BMW!« Fragen wären gekommen. »Wo war er denn die ganze Zeit?« Ich bin nicht wie der Bruckner Peter alle paar Monate mit Uniform und blauem Barett selbstbewusst durch die Ortschaft spaziert. Von mir gäbe es keine Antworten. Für niemanden. Menschen nun mal Antworten brauchen, geben sie sich eher mit Fiktion zufrieden als mit Fragezeichen.
Ahnten meine Eltern, wo … wie ich die beiden Jahre im Dunklen getappt war? Gewiss. Sie akzeptierten mein Schweigen. Stocherten nicht in meinem emotionalen Sumpf. Das Fremdeln ihnen gegenüber tat weh. Vaters Abschied – »Wir lieben dich und sind nicht deine Richter« – trieb mir Feuchte in die Augen. Welcher Ast immer für den Strick hätte herhalten müssen, ich war ihm sehr nahe. Nichts, niemand konnte meine Kaputtheit reparieren. Verdiente ich Hilfe? Mutter dürfte täglich gebetet haben: »Herrgott, lass den Buben am Leben.« Ob die Erhörung sich als Gefallen erwiesen hat?
Ich kaufte eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Kagraner Plattenbau. Die Erkältungen fördernde Anonymität der Stadt erwies sich als Zuflucht. Sollte es bis heute bleiben. Die Wände, so oft ich sie strich … polarweiß … schneeweiß … arktisweiß … blieben rostrot. Aus den Hähnen – angeschlossen an das Wiener Hochquellwasser – floss Blut. Aufgewühlt verfolgte ich die Schauprozesse des UN-Tribunals in Den Haag. Stand ich auf einer Fahndungsliste? Wären die Botendienstfahrer (auch größtenteils Migranten, irgendwer aus ihrer Heimat gelockt, vertrieben hat) so zahlreich, so penetrant gewesen wie seit der Corona-Ära, mehrmals am Tag sämtliche Hausparteien durchläuten, um ihre Paketmassen an die Empfänger … oder Nachbarn … zu bringen, ich hätte auf Drogen zurückgreifen müssen. Sich auf dem Balkan bewährt hatten.
Wenigstens eine Leidenschaft meines Vorlebens holte mich ab: Holz. Der Job in der Zuschnitt-Abteilung eines Baumarktes. Ich bekniete den versöhnlichen Geruch. Weniger das, was mittlerweile aus Holzabfall fabriziert wird. Ich privat häufig mit Cargo-Hose, Arbeitshirt oder Weste herumlief … störte meinen Arbeitgeber nicht. Das Firmenlogo war mein Versteck. Eine Art Uniform. Rot. Menschen sehen, was man zeigt.
Jahre des Vegetierens. Verlernte das Reden. Lernte dafür Lesen. Sogar bei einem Selbstfindungsseminar … ja, habe ich probiert (es gibt keine Selbsthilfegruppe der anonymen Söldner). Menschen öffnen sich. Erzählen ihre Probleme … subjektiv gesehen banal … schluchzen, trösten sich … am zweiten Tag blieb ich den Leidenden fern. Was wäre mein Kummertext gewesen? Niemand darauf geachtet hat, die Glieder der Opfer noch zuckten. Ihre Gurgeln noch röchelten, als sie zu Massen in Gruben verschüttet wurden. Die Männer. Alle. Auch Knaben. Von den Frauen nur die alten. Die Jungen ereilte ein anderes Schicksal. Schrecklicher als das Los der Verscharrten!
Die Zeichen hören nicht auf. Nicht jede Tat verblasst in der Nebulosität. Auf Lebzeiten eingebrannt. Ohne Recht auf Weichzeichnung. Die Scharfrichter warten. Sie sind geduldig. Lassen ihre Opfer schmoren. Erst Natascha, ihre ansteckende Affirmierung des Lebens, wehte nach Jahren der Tristesse einen Hauch von Entschärfung herein. Wird der Teufel irgendwann müde?
»Warum bist du abgehauen?«
Einen beträchtlichen Teil der Ewigkeit starrte Yegor ins Leere. Glasige Augen unter von Denkfalten zerfurchter Stirn. Deutschlehrer aus Kiew. Mein einziger Gast, mit dem ich ohne Nataschas Übersetzungshilfe plaudern konnte.
»Du fragst, was ich mich immerzu selber frage. Was wiegt mehr? Familie oder Land? Ich habe drei Kinder. Wollen sie einen Märtyrer oder einen Vater? Frag sie!«
Habe ich nicht. Anstelle der vorhersehbaren Antwort organisierte ich Sim-Karten bei einem hiesigen Anbieter. Nun unterschieden sich diese Jugendlichen kaum vom Rest jener des zivilisierten Europas. Yegor und ich quatschten wie beste Freunde. Mir gefiel seine Aussage: »Ich kämpfe nicht gegen meine russischen Brüder. Die ukrainische Politik hat versagt. Die russische Politik hat versagt. Beugten sich dem Druck internationaler Interessen – dominiert von Macht und Geld. Ich lasse mich weder schlachten, noch bin ich bereit, Brüder zu töten. Ich bin nicht das Mordwerkzeug der Verfechter einer neuen Weltordnung. Es geht in diesem Konflikt nicht allein um die Ukraine. Es geht um die globale Herrschaft über die Erde.«
»Wirst du zurückkehren?«
»Natürlich. Es wird nicht mehr diese Heimat sein, die wir verlassen mussten. Aber in der Ukraine sind meine Wurzeln. Wir werden genug zu tun haben.«
Warum … wie viele Sternschnuppen eines Abends den Orbit meines kosmischen Gewissens perforierten, nenne ich Mysterium. Yegor und ich wurden mit wenigen Jahren Abstand am selben Tag geboren. Unsere Geburtsorte Kiew und Krems verbindet immerhin das ›k‹ und dritte ›e‹. Mehr Astronomisches will ich da nicht reininterpretieren. Aber mich … ja ausgerechnet mich großzügig und offenherzig zu nennen … ein Ventil platzte. Warum wollte ich gerade ihn vom Gegenteil überzeugen? Worte flossen wie … der Vergleich bleibt aus. Es gibt keinen. Balkan! Das erste Mal war ich in bluttriefender Reue freiwillig zurückgekehrt. Yegors Betroffenheit aufgelegt.
»Wären wir perfekt, wären wir nicht mehr hier! Schlechte Taten als solche zu erkennen, daraus zu lernen, das zeichnet einen Menschen aus. Jetzt stehst du auf der guten Seite. Mag sein, mit zwanzig wäre ich auch geblieben. Hätte zur Waffe gegriffen. Heute sind wir reifer. Lassen uns nicht mehr so leicht missbrauchen.«
Reden mit Yegor … gefühlt wie beichten … war befreiend. End of war? Zu spät bemerkte ich Natascha. Ihre spitzen, durch die Leggins durchscheinenden Knie angezogen – wie sie das oft tut –, kauerte sie während dieses Gesprächs hinter meinem Rücken auf der Couch. Still. Verdauend. Bis mir das Plätschern ihres Mitgefühls in Herz und Ohren drang.
Sechzehn Tage ukrainisch/österreichischer Gastfreundschaft … Abschied. Natascha fand für die fünfköpfige Familie ein Langzeitquartier. Yegor übergab mir ein sperriges Teil, eingewickelt in ein von Malfarben bekleckstes Tuch. Mit den Worten:
»An euren strahlend weißen Wänden ist Platz für ein Symbol des Friedens. Mein Bruder war Maler. Und Seher. Viele seiner Gemälde sind – so wie er – bei einem Bombardement verbrannt. Stay true to yourself, Nikolaus.«
Das Aquarell, ich Tage vorher noch als Kitsch abqualifiziert hätte, zeigt den Hafen von Odessa, die Weiten des Schwarzen Meeres, eine Schar weißer Tauben. Die Konturen der Vögel, so gestochen scharf, als wollten sie aus dem Bild heraus, dem Betrachter entgegenflattern. Ins Gewissen.
Berlin, 5. Mai 2089 – „Verweile doch, du bist so schön“
Ein schrecklich normaler Ton riss Alexander Plebus aus dem Schlaf. Es war 8 Uhr, genau wie immer. Keine Minute wollte ihm geschenkt werden. Für einen Moment hielt er inne, ein kurzer Check seines Datenvolumens. Jaja die liebe Gewohnheit. Die letzten 42 Jahre waren ziemlich schnell vergangen. Morgen war sein 67. Geburtstag.
Ein Blick auf seine SmartWatch … 0A 0D 16H 0 Min … stand dort. Als er die Anzeige sah, verspürte er gleichzeitig Freude und Hoffnungslosigkeit. Er sah noch einmal zu seinem verhassten Wecker und verabschiedete sich von seinem alten Freund.
Mit einem Handzeichen öffneten sich die Jalousien und die Sonne richtete all ihre gleichgültige Freundlichkeit und Wärme auf ihn, als wollte sie sagen: „Kopf hoch, morgen ist auch noch ein Tag“.
Alexander genoss die Sonnenstrahlen trotzdem!
Und den blauen Himmel!
Und die Vögel am Horizont!
Es war einfach wunderschön! Ein normaler Tag, daran ließ sich nichts ändern. Auch heute rief wieder die Pflicht. Er ging ins Bad, wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne, machte sein tägliches Selfie vor dem Frühstück. Zur Feier des Tages hatte Alexander Anspruch auf alle Spezial- Luxusangebote der App42 und so hatte er sich bereits vor einer Woche Frühstück per Drohne bestellt: Frisch zubereitet von einem 3 Sterne Koch schwebte sein Essen nun vor seinem Küchenfenster. Er ließ das Ding rein. Die Drohne stellte das Essen ab und verschwand wieder hinaus in den Morgen. Das Öffnen des Fensters brachte die warme Sommerluft in seine Wohnung. Es war immer warm im Mai in Berlin, warm und malerisch mit einem klaren, wolkenlosen Himmel. Einen Monat später würde die Hitze wieder unerträglich werden. Der Duft des Frühstücks drang in sein Bewusstsein. Er setzte sich an den Tisch, begann zu essen und auf seinem MobileDevice die wichtigen Nachrichten des Tages zu streamen.
Alles ganz normal in der Welt – wie immer! Die Aktien von ‚Bite‘ waren gestiegen – was nicht verwunderte. Irgendein Star verklagte einen anderen – nichts Neues. Das ‚App42 Selfie des Tages‘ (wieder nicht er, nicht einmal heute). Eine Nachricht ließ ihn doch kurz innehalten: „Ein Anschlag in Malawi in Südafrika“. Seine Tochter war dort stationiert. Sie war keine App Userin und hatte sich für den Friedensaufbaudienst am Arsch der Welt entschieden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie war erwachsen und konnte frei entscheiden…
Schade war nur, dass sie nicht zu seinem Geburtstag nach Hause kommen konnte. Nun gut, er hatte keine private Nachricht von ‚Bite‘ bekommen, also war sie am Leben. Immerhin würde Nikolas heute kommen, sein Sohn. Er scrollte die Bilder von ihm durch und seine Augen leuchteten. Sein Sohn würde zu seinem Geburtstag nach Hause kommen!
Was für ein Glück!
Das würde ein fröhlicher Tag werden!
Genauso hatte er es sich geschworen!
Nikolas war zum Studium nach München gezogen und eigentlich immer sehr beschäftigt. Er war drittbester seines Jahrgangs in Systeminformatik und hatte glänzende Aussichten für sein Leben. In Gedanken bei seinem Sohn kontrollierte Alexander sein Datenvolumen und seinen Kontostand. Ganze drei Petabyte und etwas über 13k Eurodollar würde er ihm vererben, wenn es so weit war. Er hatte gut was angespart in den letzten Jahren.
Dass Nikolas gut versorgt sein würde, stimmte ihn noch glücklicher. Und als hätte es nicht noch besser kommen können, ploppte in diesem Moment eine Nachricht von ihm auf: „Hi Dad. Ich bin um 12.03 Uhr am HBF, sys Nik :)“
Na das war doch wirklich perfekt. Mit ein paar Klicks bestellte er sich ein H2car aus dem App CarPool nach Hause. Zur Feier des Tages war die Miete kostenlos und er bekam sogar noch ein Update auf ein besseres Modell.
Als er fertig war mit Frühstücken, ging er raus und wartete auf den Wagen. Alexander nutzte die Zeit, um sich alles noch einmal genau anzusehen. Die Straße, in die er als Jugendlicher gezogen war. Die neonfarbenen Graffiti. Die Häuserreihen. Sie standen immer noch an Ort und Stelle, nur die Fassaden und die Dächer waren neu. Alles war mit Solarfolie beklebt und die alte Straßenbeleuchtung diente nun nur noch als Stativ für Kameras. Die Stadt leuchtete sowieso auch bei Nacht so hell, also waren extra Laternen irgendwann überflüssig geworden. Er tiefer Atemzug. Der Duft der Großstadt Berlin.
Es war halb zwölf. Er musste seinen Sohn vom Bahnhof abholen, es war höchste Zeit! Am Berliner Hauptbahnhof trafen seit jeher Licht und Schatten aufeinander. Heute kam es Alexander so vor, als würde die große Glasfassade nur für ihn strahlen und versuchen ihn zu blenden. Er genoss es. Da kam auch schon sein Sohn auf ihn zu.
„Hallo Papa, schön dich zu sehen!“, sagte Nikolas freudig.
„Nikolas, sieh dich nur an, du siehst ja richtig erwachsen aus“, entgegnete Alexander mit einem Lächeln.
„Ist der Mantel neu? Den hab‘ ich noch auf keinem Pic gesehen.“
„Ja den habe ich vorhin in München gekauft. Ich wollte dich überraschen.“
„Na das ist dir gelungen! Komm, wir machen ein Bild. Vater und Sohn zusammen.“
Der Wagen brachte sie nach Hause in Alexanders Wohnung. Auf dem Weg machten sie noch einmal Halt bei Ihrem alten Lieblingsimbiss und bestellten sich zwei Curryvegs. Alexander hatte sich schon seit Wochen gefreut seinen Sohn zu treffen und jetzt war er tatsächlich da.
„Wie geht es dir, Nik? Ich meine, ich sehe ja die Fotos und die Videos, aber wie geht es dir?“ „Mir geht es gut, Dad, mach dir keine Sorgen. Das Studium läuft super und ich habe die Chance mit der nächsten Zwischenprüfung auf Platz zwei meines Jahrgangs aufzurücken.”
„Das sind ja fantastische Nachrichten! Und was ist mit dem Praktikumsplatz?“
„Na was soll damit sein? Im September fange ich für drei Monate bei ‚Bite‘ als Trainee im Bereich Systemadministration an, das habe ich doch erzählt!“
„Ich will ja nur, dass du auch alles hast, das ist das Recht eines Vaters. Hast du dich denn nun eigentlich entschieden, ob du die App nutzen willst?“
„Nein“, Nik seufzte kurz …“Bis ich 25 bin, habe ich ja noch etwas Zeit. Aber sag mal, wie geht es eigentlich mit deiner Wohnung weiter?“ „Der neue Mieter kommt heute Abend auch und stellt sich vor. Keine Sorge, ich habe alles in tadellosen Zustand gebracht, der wird nichts zu meckern haben.”
„Na ich frage ja nur…. Du weißt ja nicht, wie die Leute drauf sind und am Ende stellt der noch kurz vor Knapp Forderungen. Ich habe erst gestern eine News dazu gelesen, dass der Nachmieter sich noch Daten vom Vorbesitzer eingeklagt hat und das alles nur eine Woche vor „ ….“ seinem 67. Geburtstag“, korrigierte Nikolas schnell.
Das war ein Fehler, wie Nikolas auch sofort merkte. Eine seltsam trübe Stimmung legte sich über die beiden. Alexander hatte zwar verfügt, wie mit seinem 67. Geburtstag umzugehen sei – ganz normal, hatte er geschrieben und mehr nicht – aber das Gespräch war nun doch etwas abgerutscht.
„Komm schon, alter Mann!“, sagte Nikolas in spaßigem Ton und sprang auf. Wir dekorieren die Wohnung ein bisschen. Ich habe im Zug meine 100 Lieblingsbilder von dir und uns zusammengestellt. Lass sie uns auf allen Screens zeigen.“
„Ja unbedingt, hast du vielleicht auch Bilder von Nadja?“
„Natürlich, ich vergesse doch meine Lieblingsschwester nicht.“
Er zeigte lächelnd auf das Foto aus dem Krankenhaus. Es war irgendwann entstanden, als die zwei sich gerauft und im Anschluss beide Platzwunden hatten. Auf dem Foto lachten und weinten sie zusammen und lagen sich in den Armen.
„Es ist schade, dass sie heute nicht kommen kann”, sagte Nikolas in die Leere.
„Ja, aber ihre Mission ist wichtig und wir sollten Ihre Entscheidung gegen die App respektieren.“
Die Wohnung war fertig hergerichtet und so setzten sich die beiden noch auf den Balkon. Mittlerweile war es 17:30 Uhr. Der Tag war vorbei, kaum dass er angefangen hatte. So wie immer in dieser Welt. Die Sonne neigte sich langsam gen Horizont. Die Abendluft war herrlich, die Wärme wunderbar und Alexander hatte Nikolas an seiner Seite. Er wollte wirklich IN diesem Moment leben. Nikolas erkannte, in welcher Stimmung sich sein Vater befand, griff nach seiner Hand und lächelte ihm zu. Wirklich ein perfekter, schöner Tag und nun kam die Nacht, es war an der Zeit seinen Geburtstag zu feiern. Alexander genoss noch die letzten Minuten zusammen mit seinem Sohn.
Es war 18:30 Uhr oder wie es auf seinem MobileDevice angezeigt wurde …
0A 0D 5H 30MIN.…
Da klingelte auch schon der erste Gast. Es war sein Nachmieter, ein Herr um die 40. Alexander hätte nachsehen können, wie alt der Mann war und was er alles so machte, aber wozu? Der Mann schien nett zu sein. Auch Nikolas stellte sich vor. Es entstand ein kleines, steifes Gespräch mit dem bereits erwarteten Eindringling.
Kurz darauf kamen die nächsten Gäste und die 120m² Maisonette Wohnung in der Berliner Innenstadt füllte sich mit Leben. Es wurde eine bunte Truppe von bestimmt 50 Leuten, die alle Alexanders Geburtstag feiern wollten.
Alexander stand auf der Galerie und überblickte die Situation. Ihm wurde immer wieder zugeprostet. Es wurde gegessen, gebechert und ausgelassen getanzt und gefeiert. Sein Sohn trat neben ihn.
„Hättest du heute nicht noch etwas Besonderes gewollt?“
„Nein Nik, alles gut. Es war schön hier. Sieh dir nur an, wie fröhlich alle sind. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Es war schön, noch einmal Vater- Sohn-Zeit zu verbringen. Hey, schau, ist das nicht dein Freund Henry?“
„Ja tatsächlich, ich hatte ihm erzählt, dass ich heute hier bin.“
„Dann geh runter und begrüß ihn. Es freut mich, wenn du einen Freund gefunden hast, der dir so wichtig ist.“
Nikolas umarmte seinen Vater lange und ging los, um seinen Freund zu begrüßen. Niemand achtete auf die Uhr, niemand außer Alexander. Es war 10 min vor Mitternacht. Er zog sich still und heimlich in sein Schlafzimmer zurück, setze sich in seinen Liegestuhl und betrachtete den Mond. Es war eine klare und warme Sommernacht. Wunderschön friedlich, also für Berlin. Sterne sah er leider keine, aber das konnte man hier wirklich nicht erwarten. Er blickte zur Uhr – 5 vor 12 – und dachte an das Dorf, in dem er aufgewachsen war und an den Sternenhimmel. An seine verstorbene Frau und an Nikolas und Nadja.
Er schloss die Augen, er war müde.
Die große Uhr im Wohnzimmer schlug 12 und es wurde nicht stiller auf der Party. Nur Nikolas betrachtete die Uhr und suchte hektisch seinen Vater. Er fand ihn friedlich auf seinem Liegestuhl, als wäre er einfach eingeschlafen. Sein MobileDevice leuchtete auf dem Nachttisch:
App42 … 0A 0D 0H 0Min …
Alexander Plebus war gestorben.
München, 6.Juni 2089 – „Gretchenfrage“
Mit leichten Kopfschmerzen erwachte Nikolas Plebus am Morgen und richtete sich auf. Sein Wecker zeigte 7:15 Uhr an, zu zeitig, viel zu zeitig. Er war gestern Abend nach der letzten Vorlesung noch mit Henry und ein paar Kommilitonen in einer Bar versackt und das Bier hatte besser geschmeckt, als gut für ihn gewesen wäre. Trotzdem, mal eine Auszeit musste drin sein. Er hatte es vor einer Woche endlich geschafft, auf Platz 2 der Bestenliste seines Jahrganges aufzusteigen. Das hatte einen fetten Datenbonus gegeben und außerdem noch eine Monatsmiete bezahlt von ‚Bite‘. Aber warum musste die Vorlesung heute schon um 8 Uhr beginnen? Das war zu zeitig, viel zu zeitig!
„Na gut ok, auf geht’s“, sagte er zu sich. In seiner Wohnheim WG schliefen wahrscheinlich noch alle. Er schlich ins Bad und machte sich fertig. Nikolas musste sich beeilen, um den Bus zur Uni noch zu bekommen. „Dabei lebe ich doch in München, warum beeile ich mich also so?“, schoss es ihm durch den Kopf. Der nächste Bus kam in 10 Minuten. Na egal, los geht’s. Zum Zu-Spät kommen war er nicht erzogen worden.
Im Bus kam er endlich dazu, sein MobileDevice zu nehmen. Noch 563 Gb Datenvolumen auf seinem Konto, das sah gut aus. Alles in Ordnung. Er scrollte durch die Nachrichten: Alles so normal, wie es nur ging. Friedenstuppen in Malawi machten Fortschritte, es wurden Videos von Kindern gezeigt, die den Soldaten Blumen überreichten – also alles ok bei seiner Schwester, auch wenn sie nicht zu sehen war.
Von den Kopfschmerzen mal abgesehen lief der Tag gut an. Als er an der Uni ankam, machte er sich auf den Weg zum Audimax. Henry wartete bereits vor dem Gebäude auf ihn und dampfte vor sich hin. Er kontrollierte ebenfalls seinen Feed.
Henry war ein Jahr jünger als Nikolas. Sie hatten sich auf einer Semesterstartparty kennen gelernt und nach zwei offiziellen Dates beschlossen, dass sie lieber Freunde werden sollten. Das war fast 2,5 Jahre her und Henry war eine der wichtigsten Personen in seinem Leben geworden. Außerdem war er der Beste der derzeitigen Bachelorrotation, was ihn eigentlich zu seinem Konkurrenten machte, aber sie genossen es, die beiden ersten Plätze zu besetzen.
Als Henry ihn sah, lächelte er ihm zu und winkte ihn heran: “Mann, da bist du aber gestern mal ganz schön abgestürzt, was?“
„Danke, aber du siehst genauso scheiße aus, wie ich mich fühle“, grinste Nikolas zurück.
„Besser, wir setzen uns heute mal etwas weiter hinten hin, sonst müssen wir uns einen Kommentar vom Prof anhören.“
„Ja, lass reingehen“, entgegnete Henry. „Es ist ja nicht so, als würden die Datenanalysemethoden auf uns warten“.
Im Gebäude zog sich Nikolas noch schnell ein Frühstück aus dem Automaten, dann gingen sie zur Vorlesung. Die war eigentlich Zeitverschwendung, aber sie waren beide immer noch verkatert und konnten etwas Ruhe gebrauchen. Danach gingen sie in die Mensa. Nach dem Essen und zwei Kaffee (für jeden) waren die beiden gut erholt und saßen entspannt auf der überdachten Terrasse. Die Sonne brannte bei 37°C und der Schatten des Daches kam ihnen gerade recht.
„Hast du dich schon entschieden?“, fragte Henry.
„Was meinst du?“
„Na was wohl, Nik? In drei Wochen wirst du 25, was willst du tun? Ein friedliches, ruhiges Leben mit aktiver App oder lieber Dienst für den Konzern wie deine Schwester? Ich meine, mit deinem Abschluss kannst du es auch ohne Alles, auf die altmodische Art versuchen mit zwei, drei Jobs. Aber…
„Ja, ja, ich weiß!“, unterbrach Nikolas ihn. „Mir stehen alle Türen offen, bla bla bla. Du hörst dich ja fast an wie der Beratungstyp von der Uni. … Ich habe noch nicht entschieden, was ich machen soll.“
„Tja bald MUSST du dich entscheiden, sonst aktiviert sich die App von selbst, das weißt du.“
„Mann Henry, mein Dad ist erst einen Monat tot, lass mal das Thema wechseln bitte?“
„Ja schon gut, tut mir leid, ich mache mir nur Sorgen.“
„Du hast es gut, Henry. Du hast noch ein Jahr Zeit bis zu der Entscheidung. Wenn ich die App aktiviere, bekomme ich drei Petabyte von meinem Dad vererbt, das wäre schon was. Ich meine, er hat so viel Datenvolumen angespart, wäre doch echt eine Schande, wenn das verfällt, und Nadja kann es nicht nutzen. Ich bin echt hin und hergerissen!“
„Tut mir leid, ich wollte deine Stimmung nicht runterziehen.”
„Ist schon ok, du hast ja Recht. Irgendwann muss ich mich entscheiden, sonst bin ich automatisch mit dabei.
„Ok ok, was ist mit deinem Praktikum?“
„Ach, die würden mich natürlich am liebsten mit der App sehen. Aber der Admin ist echt korrekt und bedrängt mich kaum mal mit ‘ner Mail. Ach fuck, jetzt reden wir doch drüber.“ Er atmete laut aus, was einen kurzen, schuldvollen Blick von Henry zur Folge hatte. „Was ist eigentlich mit dir und der aus dem vierten Semester, du weißt schon, die mit den krassen Neontattoos?”
Der Themenwechsel hatte sein Zeil nicht verfehlt, Henry wurde rot. Er mochte die Frau, das wusste Nik und bohrte weiter, bis Henry mit hochrotem Kopf verkündete, er habe genug vom Nichtstun und mit einem Grinsen verließen sie die Mensa. Auf dem Weg nach draußen mussten sie doch tatsächlich noch mit ihren MobileDevices bezahlen, weil SmartPay offline war.
Die gute Laune von Henry bekam einen leichten Knick. „Na toll, die Uni war auch schon mal besser. Jetzt müssen wir hier noch unsere privaten Daten nutzen. Vielleicht zahlen wir nächstes Mal ja noch analog!“
„Ach komm, ist ja nicht so, als hätten wir nicht genug.”
„Ja maybe. Ach was soll’s… hier nimm, du blöder Kasten, friss meine Daten und mein Geld. Für mich ist die Uni für heute eh vorbei. Mach‘s gut Nik. Ich geh jetzt in die Bib zur Lerngruppe.“
„Mit wem gehst du denn lernen?“
Erwischt und mit glänzenden Augen lächelte Henry und ging in Richtung Bibliothek zu seinem Lerndate.
Nikolas hatte gerade den Bus verpasst und entschied sich deshalb zum Wohnheim zu laufen. Das Universitätsviertel war ein abgeschlossener Bereich innerhalb der Stadt. Daher war es kein Problem, auch mal ein paar Meter zu Fuß zu gehen.
Auf dem Weg nach Hause kreisten seine Gedanken immer wieder um die Frage, wie er sein Leben gestalten sollte: Mit dem Job bei ‚Bite‘ als Systemadministrator bräuchte er das Einkommen aus der App nicht unbedingt. Aber wie sollte er den Job nur ohne App42 Abo bekommen? Sicher, es wäre gut, auf das Grundeinkommen und die Krankenversicherung zurückgreifen zu können. Außerdem hatte sein Vater immer alles für seine Schwerster und ihn kaufen können. Es waren schöne Zeiten gewesen und sein Vater wirkte auf seiner Geburtstagsfeier auch recht glücklich. Aber das hier war sein Leben, seine freie Entscheidung. Wie seine Schwester wollte er es nicht machen. Es war unnötig, zum Friedensdienst zu gehen und er kannte die Meldungen und auch einige der Gerüchte dahinter. Klar war das alles gefiltert. Wer wusste das besser als er selbst? Sie lebten schließlich alle irgendwo in ihrer eigenen Bubble. Er war einfach nicht für den Feldeinsatz ausgebildet, sondern würde Systemadministrator werden.
„Gut, zurück zum Thema Nik, App 42 – ja oder nein?“, sagte er laut. Er erhielt keine Antwort, von wem auch? Sonst war niemand so dämlich, mitten im Hochsommer einfach zu Fuß zu gehen. Er schwitzte aus allen Poren, stieg in den nächsten Bus und fuhr heim. Im Wohnheim angekommen ging er ins Bad und schaute in den Spiegel. Er war feuerrot vom Sonnenbrand. Heute Abend würde er ganz sicher kein Selfie posten. Solange er noch die Wahl hatte, würde er sie nutzen und auf blöde Kommentare konnte er gerade sehr gut verzichten.
„Wer den Schaden hat… und so weiter“, dachte er. Das Web war gnadenlos. „Aber nicht heute.” Nikolas setzte seine HoloLense auf. Sein HoloMe kannte keinen Sonnenbrand und so ließ er den Abend entspannt im Web ausklingen. Morgen war wieder ein Unitag.
‚Bite‘ Hauptbasis Malawi, 16.April 2090 – „Auf einem Osterspaziergang“
Ein Sirenenton durchschnitt die Luft und weckte Nadja Plebus. Dank ihrer modifizierten Soldatenreflexe reagierte ihr Körper automatisch auf das Signal und so lag sie im nächsten Moment bereits mit der Waffe im Anschlag in ihrem Gefechtsunterstand.
Sie hatte diese Woche Frontdienst. Das bedeutete für sie, eine Woche lang den ersten Grenzposten der ‚Bite‘ Basis abzusichern. Eine Woche lang bei 45°C im Schatten und 30°C in der Nacht eine beschissene Straße bewachen. Dank der Gefechtsanzüge und BodyMods von ‚Bite‘ war es zwar auszuhalten, aber gefährlich war es trotzdem. Es war die ganze Woche ruhig gewesen und natürlich ausgerechnet an ihrem letzten Tag mussten sich die ʺRebellenʺ zu einem Angriff hinreißen lassen? Scheiße! Sie scannte die Umgebung mit ihren Augen und mit den Kameras. Keine Auffälligkeiten, also erlaubte sie sich einen kurzen Blick nach rechts zum anderen Gefechtsstand, in dem Isa lag. Sie hatten sich während der Woche angefreundet und gelegentlich per Videochat kommuniziert, auch wenn es auf die eigenen Daten ging. Aber was machte das schon, wenn man hier irgendwo im nirgendwo in der Wüste im Staub lag. Isabella war ganz ruhig und schien auch nichts zu bemerken.
So lagen sie da…. Nach vielleicht fünf Minuten hörten Sie aus der Ferne hinter ihnen dumpfe Einschläge aus Richtung der Basis! Das verhieß nichts Gutes, aber solange kein Befehl kam, würden sich die beiden nicht vom Fleck bewegen.
Deshalb warteten Isabella und sie zehn Meter voneinander entfernt in ihrem staubigen Unterstand und beobachteten die Gegend. Als endlich das Entwarnungssignal über ihr Headset erklang, schloss Nadja kurz die Augen, atmete durch. Ein letzter Blick auf den Kamera Feed, dann richtete sie sich auf und verließ den Unterstand, um sich etwas zu bewegen. Isa tat es ihr gleich. Sie grinsten sich an. Nichts passiert! Ein paar Minuten später traf eine Nachricht ein. Die Hauptbasis war mit Raketen und Drohnen beschossen wurden. Das Abwehrsystem hatte fast alle Geschosse abgefangen, es gab mehrere Verletze, keine Toten.
Ein mulmiges Gefühl blieb nach der Meldung, doch beschweren konnte sich Nadja über ihren Frontdienst nicht mehr. Raketenangriffe waren nichts neues, die hatte sie schon vier Mal mitgemacht. Die Laser des Abwehrsystems brachten die Geschosse zur Explosion, bevor sie die Basis erreichten, aber manchmal eben nicht alle.
Der Rest des Tages war ein Spaziergang. Es passierte nichts, so wie die anderen sechs Tage zuvor. Die Sonne brannte, der Wind heulte und wirbelte braun-grauen Sand durch die Luft.
Um 18 Uhr kam die Ablösung und zwei andere Kameraden übernahmen für eine Woche ihren Platz.
Als sie im Konvoi in die Hauptbasis einfuhren, sahen sie die Ursache für den Signalton vom Vormittag. Einige Raketen waren in die Schutzmauern der Gebäude gekracht. Eine hatte ihr Ziel gefunden und eine Baracke getroffen. Zum Glück war es nur der Lagerbereich gewesen. Trotzdem verfluchte Nadja den internen Meldedienst. Die Gefechtsmeldung war mal wieder außerordentlich beschönigend korrigiert worden. „Einige Verletzte“ hatte daringestanden. So ein Schwachsinn, bei so einer großen Basis gab es nacheinem derartigen Angriff nicht nur „ein paar Verletzte“. Die Krankenstation wall voll mit Opfern und es glich einem Wunder, dass sonst niemand gestorben war. Bis jetzt. Scheiß Zensur!
Ihre Wut ließ etwas nach, als sie ihre Wohnbaracke erreichte. Bei dem Gedanken nach einer Woche endlich mal wieder den Sanitärbereich zu betreten, stahl sich sogar ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Nach einem Fronteinsatz durfte man volle 10 Minuten duschen und sie würde jede Sekunde genießen. Danach gab es eine doppelte Portion in der Kantine. Richtiges Essen. Nicht diese Riegel, die sie die ganze Woche lang jeden Morgen essen musste. Jetzt war ihr Dienst beendet und sie hatte 48 Stunden frei auf dem Gelände der Basis. Diese Zeit würde sie zu nutzen wissen, soviel war klar!
Nach dem Essen legte sie sich aufs Bett ihrer Wohneinheit und setzte die HoloLense auf. Die VR Umgebung war wunderschön. Kaum zu vergleichen mit der Wüste, in der sie vorhin noch gelegen hatte. Sie saß auf einer grünen Wiese in der Nähe eines Flusses. Der Himmel war freundlich blau, in der Ferne sah sie Berge, deren Spitzen gerade noch so mit Schnee bedeckt waren. Die Kälte schien gerade zurückzuweichen und dem Leben Platz zu machen. Der ewige Kreislauf der Natur, den der Mensch so barbarisch unterbrochen hatte. Es war ein Witz, dass sie nun in genau diese Idylle floh, die schon lange nicht mehr existierte.
Also in die VR, um einen kurzen Moment der Illusion vom Menschsein zu verspüren und nicht nur ein Konzernsklave zu sein. Sie atmete tief durch, fast konnte sie die frische Luft schmecken, aber eben nur fast. Der Moment war verflogen, ihr Nachrichtenpostfach meldete sich und sie begann wieder Anschluss an die Welt da draußen zu finden. Bilder, Selfies, kurze Videos von ihrem Bruder waren dabei.
Nikolas, ihr kleiner Bruder. Er hatte die App42 aktiviert und war damit Teil des Zoolebens geworden. Jeder konnte sehen, wo er war, was er postete, was er kaufte und wann er krank, fröhlich oder auch nur angespannt war. Beim Sport oder auch anderen Aktivitäten. Live Standort, Kontostand, Puls und natürlich auch das unaufhörliche Ticken der Uhr, die sein Leben bis zur letzten Minute bestimmen würde.
Der Konzern ‚Bite‘ würde all die Daten nutzen, um seine Algorithmen noch weiter zu verfeinern. Alles für Werbeeinnahmen und um die Bubble um die Nutzer noch enger zu schnallen. Das wusste sie und das wusste auch Nik. Klar, es hatte auch seine Vorteile…. Ein gutes Grundeinkommen, Krankenversicherung, Datenvolumen, von dem sie nur träumen konnte… aber war es das wirklich wert?
Es war jedermanns freie Entscheidung und was hatte sie selbst schon getan? Sie hatte sich für 30 Jahre für den Friedenseinsatz verpflichtet. Als sie dann hier war, wurde ihr bewusst, dass sie in einen handfesten Konzernkrieg geraten war, in dem die Global Player ihr neustes Spielzeug testeten, um es an den Meistbietenden zu verkaufen. Damals war sie auf die Propaganda hereingefallen, hatte sich freiwillig gemeldet. Am Ende war es ihre eigene Entscheidung gewesen, aber was heißt das schon, wenn man seit frühester Kindheit die Konzernpropaganda und Eigenwerbung eingeimpft bekommt.
Sie war sauer.
Sie konnte ihre Situation nicht mehr ändern und weder ihrem Bruder noch sich selbst helfen. Wenn sie ihm eine Nachricht schrieb, würde der ZensurBot sie so umschreiben, dass Nik denken würde, sie mache hier Urlaub. Am Anfang hatte sie es versucht, aber musste schnell einsehen, dass die KI hinter den Bots über die Jahre einfach zu gut geworden war. Darum schrieb Nadja ihrem Bruder nur noch selten. Wenn sie gar keine DM’s schrieb, würde das auch der Bot übernehmen und diesen Sieg gönnte sie dem Konzern nicht.
Ihr blieb noch die Zeit in der VR… Da Nikolas ein App 42 Nutzer war, konnte sie ihrem Bruder wenigstens folgen und an seinem Leben teilhaben. Er hatte gerade ein Praktikum bei ‚Bite‘ beendet und würde bald seinen Abschluss machen. Dann hätte er im besten Fall das Grundeinkommen plus das Gehalt von seinem Job. Er würde eine Familie gründen und sein Leben genießen. All das würde sie erst können, wenn und vor allem FALLS sie das hier überlebte.
Die restlichen drei Stunden bis zum Strom Aus lag sie in der VR am Strand und ließ sich von der Simulation treiben. Ihre Gedanken kreisten um ihren Vater und ihren Bruder. Wieder einmal kam der Punkt, an dem nichts mehr Sinn machte. Sie kämpfte für ‚Bite‘. Die „Rebellen“ für einen anderen Konzern, eine andere App. Alles nur Rädchen im Uhrwerk der Zeit. Nadja entschied sich eine Pille zu schlucken und schlafen zu gehen. Morgen war wieder ein neuer Tag in der Wüste, zumindest das war mal sicher.
München, 3 Juli 2090 – „Der kleine Gott der Welt“
Vor einer Woche waren seine Eltern aus London für seine Graduierung eingeflogen. Henry Ädilen hatte als Jahrgangsbester abgeschlossen und dachte, seine Eltern wollten bei seinem großen Tag dabei sein. Wollten sie auch. Nur auf das, was noch passierte, war er nicht vorbereitet gewesen. Eben stand er noch mit Hut und Robe auf der Bühne im Theater der Universität. Er hielt die Abschlussrede, seine Eltern im Publikum. Seine Mutter vergoss ein paar Tränen, sein Vater hatte eine sehr ernste Miene aufgesetzt. Nach dem feierlichen Abschluss fielen sich alle Familien und Freunde in die Arme.
Zu Henrys Überraschung war außer seinen Eltern niemand gekommen. Etwas verwundert aber immer noch überglücklich über ihre Anwesenheit fiel er seiner Mutter um den Hals. Sein Vater reichte ihm kurz die Hand zur Begrüßung, er wirkte nervös.
Der Universitätsdekan begrüßte und beglückwünschte sie. Nach einer belanglosen Plauderei lud der Dekan, welcher seinen Vater zu kennen schien, die ganze Familie in sein Büro ein. Er sagte, es gäbe mit so einem speziellen Absolventen noch etwas zu besprechen im Hinblick auf seinen baldigen Geburtstag.
Als die Tür zum Büro ins Schloss gefallen war, nickte der Dekan seinem Vater zu. Dieser bestätigte kurz und Henry bekam seine Abschlussurkunde und einen Vertrag für die App42 PRO vorgelegt. Ihm wurde erklärt, dass es ihn und seine gesamte Verwandtschaft in höchste Schwierigkeiten bringen würde, sollte er gegen die Geheimhaltung verstoßen. Es machte ohnehin keinen Sinn, so etwas zu versuchen, die Filter die App42 PRO betreffend waren die besten, deshalb würde auch niemand von seinem Abschlusstag erfahren. Verwirrt und verängstigt unterschrieb Henry den Vertrag. Mit der Unterschrift wurde sein Vater etwas entspannter.
Gestern war der Tag, der sein ganzes Leben verändert hatte.
Nun klingelte der Wecker. Henry öffnete nur widerwillig die Augen. Es fiel ihm schwer, aufzustehen. Mit dem 25. Geburtstag musste sich jeder Bürger entscheiden, wie er in Zukunft der Gesellschaft dienen konnte, nur mit dem kleinen Unterschied, dass diese Entscheidung für ihn schon vor langer Zeit getroffen worden war. So viel war ihm jetzt klar. Sein Blick glitt auf das MobileDevice – alte Gewohnheiten ließen sich nicht so einfach ablegen, egal wie sehr es schmerzte. Und so scrollte er durch die Nachrichten. Aktienwerte, großer Hack, Bla Bla Bla und Prominente… eine Nachricht jedoch versetzte ihm einen Stich: „Terror in Malawi, Rebellen verüben großangelegten Terroranschlag auf die Gemeinschaftsbasis von UN und ‚Bite‘ – Anzahl der Toten 577“. Die Liste der Toten war natürlich schon online, mit allen Bildern und weiteren Links. „Zur Ehrung der Toten“ stand da. Er suchte und er fand den Namen – Nadja Plebus, die Schwester von Nikolas. Ihm kamen die Tränen.
Es war über ein Jahr her, da hatte sich Nik für die App 42 entschieden. Damit war der Kontakt zwischen ihnen abgebrochen. Einfach so. Nach drei Jahren enger Freundschaft und gemeinsamen Studiums.
Auch Henry hatte die App aktiviert, sein Vater hatte ihn dazu gedrängt und seit einer Woche wusste er auch warum. Wieder kamen ihm die Tränen, es war ein Wunder, dass er überhaupt noch welche hatte. Er konnte Nikolas sehen, die Bilder und die Videos, die er Tag für Tag ins Netz stellen musste. Ihm ging es anscheinend gut. Er war mit irgendeiner Frau in Südfrankreich und machte Urlaub. Henry sah die Bilder von Strand, Partys, Essen und immer wieder den Zeitstempel ticken. All das konnten er und jeder andere sehen.
Nur andersherum funktionierte das nicht. Nikolas steckte in der Blase der App fest und die wurde immer kleiner und kleiner. Das wusste Henry. Im Gegensatz zu Nikolas, der hatte noch nicht einmal von seiner Schwester erfahren, so schien es.
Henry legte seine Finger auf das Display. Im Hintergrund schimmerte das Logo der App42 PRO … 42A 0D 0H 0 MIN…
Der Timer stand still.
Die Ewigkeit hielt ihn fest, für 12 Millionen €$ pro Jahr natürlich.
Hätte ich doch nur der Müdigkeit nachgegeben. Der Junge wäre mir einfach entwischt. So ist es nun mal, manche schaffen es und andere nicht. Jetzt stehe ich hier, vor seiner Zellentür, habe sogar noch mein Brot in der Hand, so wenig hat er sich körperlich gewehrt. Er sieht durstig aus, kraftlos. Er erinnert mich an Azad, der seine Schultern auch immer nur hängen lässt. Aber anders als bei meinem Jungen ist es nicht seine Statur, die schwach ist, sondern sein Wesen, das schwach wirkt.
Ein einziges Wort hatte ihn schon zu Boden gerissen, als suchte sein Körper nur einen Grund der Schwerkraft nachgeben zu können.
„Hey“, rief ich halb im Schreck aber aus tiefster Inbrunst in die dunkle Nacht hinein, dem laufenden Schatten entgegen. Und da lag er, mein erster Fang an meinem ersten Arbeitstag. Hinter ihm erstreckte sich das Ödland bis in die Unendlichkeit. Im Mondlicht erkannte man gerade noch die dunkelgrauen Umrisse der vertrockneten Büsche, aber ansonsten versank der Rest der Landschaft ins Schwarz. Der Junge wusste vermutlich nicht einmal, wie nah er seinem Ziel bereits war.
Ich ziehe mir einen Stuhl an seine Zellentür heran, versuche mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Ich darf keine Unsicherheit zeigen. Sie würden versuchen mich zu knacken, mir ins Gewissen reden und mich am Ende an der Nase herumführen, hatte mein Schwager mich gewarnt. Ich solle mir immer im Klaren darüber sein, dass ich für das Recht einstehe, dass ich im Recht bin und recht habe. Sie würden mir manchmal ihre schreienden Kinder unter die Nase halten, an meine Menschlichkeit appellieren. Ihre Tränen würden mich an meine Grenzen treiben und ihnen letzten Endes zur Freiheit verhelfen. Zur unrechtmäßigen Freiheit, aber ich bleibe gesetzestreu.
Ich schaue den Jungen vor mir an. Er hielt mir nichts unter die Nase, hatte kein Kind dabei. Er war höchstens selbst noch eins. Er weint nicht, beschwert sich nicht, fragt nicht einmal nach Wasser und Brot. Er sitzt so weit entfernt von mir, wie seine kleine Zelle es nur zulässt und starrt apathisch nach unten zu seinen Händen, die fest ineinander greifen und dessen bohrende Nägel rosafarbene Abdrücke hinterlassen.
„Wie ist dein Name?“, frage ich ihn, mit einstudiertem Nachdruck in der Stimme.
Der Junge hebt kaum sichtbar den Kopf und senkt ihn gleich darauf wieder. Wieso hatte ich ihn überhaupt mitgenommen? Wieso nicht gleich zurücklaufen lassen? Prügel und zurück, sagt mein Schwager immer. Damit sie ihre Lektion lernten. Vor allem dann, wenn sie alleine kämen. Wieso war er alleine? Und bis wohin wollte er? Ich werde es vermutlich nie erfahren, denn er spricht nicht mit mir. Statt meine Zeit zu verschwenden, sollte ich ihn nach draußen zerren und zurückschicken, mich an meinen Posten stellen und wieder Ausschau halten. Wer weiß welcher Abschaum mir gerade entwischt. Etwas hält mich ab. Ich schaue den Jungen an, der keine weiteren neun Stunden Fußweg über die Berge bei Nacht überleben wird. Wenn ich ihn jetzt zurückschicke, wird er sterben.
„Bist du Kurde?“
Der Junge blinzelt hektisch, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken gerissen. Er macht jedoch keine Anstalten hochzublicken.
„Oder Afghane?“, mit der Hand greife ich kräftig das Gitter seiner Zellentür. Er zuckt wieder zusammen, nicht ängstlich, eher vor Schreck.
„Ich hab dich was gefragt!“, schiebe ich mit deutlich mehr Nachdruck hinterher und erhalte erneut keine Antwort.
„Hey, Junge!“ Ich rüttle an dem Zellengitter. Die Wut kocht in mir hoch. Diese Arroganz, genug ist genug. Ich reiße die Zelle auf und prügle auf den Jungen ein. Er wehrt sich nicht, gibt nicht einmal einen Laut von sich. Viel mehr scheint er sich den Schlägen hinzugeben. Respekt soll er vor mir haben. Ich schaue von oben auf ihn herab, spucke ihn an, richte mich auf. Meine Wut ebbt ab. Er blutet am Kopf und im Gesicht. So würde er den Rückweg niemals bewältigen. Ich hole ein Wasser und stelle es ihm hin, habe Angst, dass er vor mir verblutet. Er nimmt es an.
„Jiyan“, er verzieht das Gesicht, bemerkt seine aufgeplatzte Lippe. „Jiyan also.“ Noch leicht außer Atem von den Schlägen nicke ich ihm zu, als würde ich einen alten Freund begrüßen.
Er versucht noch etwas zu sagen, ich verstehe ihn nicht. Seine Lippe ist mittlerweile aufs doppelte angeschwollen. Nicht die besten Vorraussetzungen für eine Unterredung. Er nuschelt vor sich hin. Ich verstehe nur ein Wort.
„Wer tötet wen?“
Mein Handy vibriert. Ich verschwinde ins Büro.
„Komm doch, komm zurück!“, schreit Jiyan mir plötzlich kraftlos hinterher.
„Schlag mich, schlag mich tot. Ist mir egal!“, er bricht schreiend in Tränen aus.
Wenn selbst der Höllenhund dir den Rücken zukehrt, dann kannst du dich gleich in Luft auflösen. Mit dem Ärmel wische ich mir über die blutigen Lippen. Ich spüre meinen Schädel pochen, immer lauter und lauter pulsiert das Blut in meinen Arterien. Der Grenzkontrolleur verlässt den Raum. Ich höre ihn im Nebenraum telefonieren, verstehe jedoch nicht worum es geht, will es nicht wissen.
Ich bemerke meine Mitinsassen. Drei Fliegen schwirren in der Mitte der Zelle im Kreis. Das Surren hallt unerträglich laut in meinen Ohren. Ich beobachte, wie zwei Fliegen aufeinander zusteuern und sich dann wieder ausweichen, Pirouetten umeinander schlagen und dann voneinander abkehren. Ich hatte einmal gelesen, dass Fliegen so lange geradeaus fliegen, wie der Raum es zulässt. Sobald sie eine Wand vermuten, schlagen sie eine neue Richtung ein. Nur die Entfernung können sie nicht gut abschätzen, deshalb scheint es als würden sie in der Mitte des Raums kreisen. Das Surren bemerke ich nicht mehr, ich konzentriere mich auf ihren Flug. Ihr hektisches Treiben entspannt mich. Meine Beine drücken schwer Richtung Erdkern, meine Arme ziehen an meinen Schultern. Und dann, nichts mehr. Dunkel. Meine Augen zu, mein Atem gleichmäßig. Vor mir, sein Gesicht. Navid.
Ich hatte es mir anders vorgestellt, organisierter, bewusster, nicht alleine. Aber mit jedem Schritt, den ich weglief, wurde mir klar, dass es für mich keine Richtung mehr gab. Das war mein Schicksal. Es war ganz egal, wohin ich ging.
Wieviele Tage war es nun her, dass sie ihn fassten? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Immer wieder spielte sich die Szene in meinem Kopf ab. Ein lauter Knall, es muss die Tür gewesen sein. Die Musik ging aus, das Licht auch. Dann Taschenlampen, es müssen fast zehn Leute gewesen sein. Ich kenne einen Hinterausgang, ich kenne das Szenario. Es ist schon mal passiert. Ich nehme Navids Hand, wir rennen nach oben. Es ist früher Morgen und die Straßen sind warm und ruhig. Wir küssen uns, ein letztes Mal. Ich laufe nach links, weise ihn an, nach rechts zu rennen. So soll es sein, so lautet das Protokoll. Ich bestimme seine Richtung, ohne zu wissen, dass dort der Teufel auf ihn wartet. Schläge, Männerstimmen, eine Autotür. Navid wehrt sich, aber kurz darauf startet der Motor. Ich stehe hinter der Ecke, bewege mich nicht, helfe ihm nicht. Stattdessen fange ich an zu rennen.
Immer weiter weg von ihm.
In der erdrückenden Dunkelheit der Zelle, begleitet vom Surren der Fliegen, gibt mein Körper nach. Der Raum wird still, als ich den kalten Boden an meinem Rücken spüre. Die Müdigkeit flutet meine Arme und Beine, während meine Gedanken um die schmerzhaften Erinnerungen der letzten Tage kreisen. Die Unausweichlichkeit meines eigenen Schicksals wird mir bewusst, als mich der Boden unter mir verschlingt und ich in einem Meer aus gelebten und erhofften Erinnerungen versinke. Erinnerungen weit weg von unserer Realität, von unseren Familien und Bekannten, aber in Freiheit und Sicherheit.
Während das Surren der Fliegen in meinen Ohren verblasst,
verschwimmt die Grenze zwischen Bewusstsein und Dunkelheit und in diesem erlösenden Dunkel finde ich zumindest vorübergehend Frieden, während die Welt um mich herum verschwindet.
Gehorcht.
Nicht denen,
die sagen,
was zu tun sei.
Gehorcht
auf die Stimme in mir,
wohin sie weist und führt.
Sie ist alt,
die Stimme in mir.
Ihr Baum stammt aus Zeiten
lange vor mir.
Doch hab ich sie genährt,
gezogen aus einem Samen,
wachsen- und freigelassen.
Gehorcht
auf ihren Ruf
wie auf den eines Vogels,
der mich zum Fliegen,
in die Freiheit ruft.
Lockruf.
Überhören besiegelt Gefangenschaft.
Horchen und lauschen
auf die Stimme in mir.
Viel weiser als ich,
hat ihre Gründe
weit außer mir
und doch so tief in dem,
was ich zuinnerst bin.
Treibt mich an,
sehnt und zieht zu dem,
wofür allein ich stehen,
zur Not alleinstehen kann.
Nur so bin ich ich.
Der Stimme gehorchen,
mehr als den Menschen.
Gehorcht
auf die Stimme in mir.
Nicht gehorchen!
Nicht einstimmen
in den Vielgesang.
Hinhorchen.
Stimmig!
Stimmt.
Claudia öffnete die Haustür. Ihr rotbraunes Haar war zu einem Zopf gebunden, der über ihrer rechten Schulter lag und fast bis zur Taille reichte. Ich umarmte sie. Sie trat einen Schritt zurück, schob eine Haarlocke aus ihrem Gesicht hinter ihr linkes Ohr. Ihre Haut war faltig geworden. Ich schloss die Haustür.
„Du weißt ja, die Garderobe ist da hinten.“
„Hier geht’s doch auch“, sagte ich.
Ich zog meine Jacke aus und legte sie auf die Sitzfläche des Rollators, der neben der Treppe stand.
„Christian ist oben im Schlafzimmer“, sagte sie.
Ich folgte ihr. Ihre Jeans war verblasst, hatte kleine Risse.
Christian lag rechts im Ehebett, sein Kopf ruhte auf der gepolsterten Lehne. Er richtete sich auf, zog mit einer Hand, dann mit beiden Händen die Decke über seine Beine. An seiner Seite saß ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren und Brille. Neben seinem Stuhl stand eine große schwarze Tasche. Der Mann nickte mir zu. Claudia setzte sich auf einen zweiten Stuhl zu ihm.
Christian lächelte mich an. Er zeigte auf einen Hocker am Fußende des Bettes. „Mehr Platz haben wir hier leider nicht“, sagte er.
Ich setzte mich. Die Luft war stickig, das Fenster geschlossen, der Rollladen halb heruntergelassen.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte Christian.
„Ist mir nicht leicht gefallen.“
„Ich weiß. Wie ich dich kenne, hast du dich schlau gemacht.“
„Ja“, sagte ich.
„Du siehst doch den Rollstuhl an Claudias Bettseite. Ich kann meine Beine kaum noch bewegen. Mit den Armen geht es auch immer schlechter.“
„Aber es muss doch … Die Ärzte, was sagen die?“
„Es gibt keine Chance. Die Krankheit ist unheilbar. Nur diese eine Möglichkeit …“, sagte Christian.
Er schaute Claudia an. Sie starrte auf den Boden.
„Sicher?“, fragte ich.
„Ganz sicher. Ich kann nicht mehr. Nicht für mich und vor allem nicht für meine Frau.“
Claudia hatte ihre Hände verschränkt, rieb die Finger aneinander. Das kleine silberne Kreuz, das sie an einer Kette am Handgelenk trug, schwang immer langsamer, stand schließlich still.
Christian lachte auf. „Wie lange kennen wir uns?“, fragte er.
„Seit der Realschule. Über 50 Jahre“, sagte ich.
„Also kennst du mich. Verstehst du mich auch?“
„Ich versuche es.“
„Kannst du dich noch erinnern?“, fragte Christian.
„Woran?“
„An unser erstes gemeinsames Konzert, auf dem wir waren.“
„‘Genesis‘?“, fragte ich.
„Ja.“
„Natürlich“, sagte ich.
„Wir haben unser ganzes Geld zusammengekratzt“, sagte Christian, „für die Fahrt und die Karten.“
„Haben wir. Genau. Der letzte Zug ist uns vor der Nase weggefahren.“
„Stimmt, weil du noch auf der Toilette warst“, sagte Christian.
„Ging nicht anders nach dem langen Konzert. Aber du, was hast du gemacht?“, sagte ich.
„Das weiß ich nicht mehr.“
„Natürlich weißt du das noch. Du hast dir noch zwei T-Shirts der Gruppe gekauft und mich überredet, auch eins zu kaufen.“
„Jetzt tu mal nicht so. Das war eine gute Investition“, sagte Christian und grinste.
„Na ja, wenn du das sagst. Jedenfalls hatten wir kein Geld mehr für ein Taxi. Mussten 20 Kilometer zu Fuß laufen. Mitten in der Nacht.“
„Das werde ich nicht vergessen“, sagte Christian.
„Ich auch nicht. Mir taten so die Füße weh.“
„Stimmt. Du wolltest sie bei mir im Gartenteich kühlen. Da war ich aber dagegen.“
„Genau“, sagte ich. „Wir haben hier unten am Teich gesessen, Bier getrunken. Und …“
„Nein, sag nichts. Wir haben getrunken und gesungen. Alle Lieder des Konzerts. Ziemlich laut. Zum Glück ist Claudia nicht aufgewacht. Es wurde irgendwann Morgen.“
„Die Sonne ging auf“, sagte ich. „Deine Fische kamen an die Wasseroberfläche.“
„Ja“, sagte Christian. „Es stimmte alles. Damals. Zwei Kumpels am Teich.“
„Zwei Kumpels am Teich. Das war es“, sagte ich.
„Ich habe die Elritzen verkauft.“
„Warum?“
„Meine Frau mag eigentlich keine Fische“, sagte Christian.
Claudia schaute ihn an. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist jetzt nicht wichtig. Man muss Abschied nehmen.“
„Bist du wirklich ganz sicher?“, fragte ich.
„Denk immer an das, was wir beide alles erlebt haben“, sagte Christian. „Jetzt geht es noch so gerade, aber es wird schlimmer. Täglich schlimmer. Claudia meint zwar, dass …“
Er blickte sie an. Sie saß da, still, mit geschlossenen Augen.
„Ich habe mich entschieden“, sagte er.
„So, Herr Doktor, ich denke, es wird Zeit.“
Der Mann öffnete seine Tasche, holte ein Fläschchen und einen kleinen Plastikbecher heraus. Er schraubte das Fläschchen auf, goss den Inhalt in den Becher und reichte ihn Christian, der den Becher leerte und ihn dem Doktor zurückgab.
„Keine Sorge“, sagte Christian. „Das hier war nur, um ein Erbrechen zu unterdrücken.“
„Aber …“, sagte ich.
„Ich weiß, was du fragen willst. Nein, ich werde keine Schmerzen haben. Durch das Schlafmittel, das ich noch bekomme, werde ich bewusstlos und danach wird alles schnell vorbei sein.“
Ich stand auf, strich einmal mit der flachen Hand über die Decke, die über seinen Beinen lag.
„Danke, mein Freund“, sagte Christian. Er hob ein wenig seinen linken Arm, ließ ihn sofort wieder fallen, blickte zur Seite. Der Doktor griff erneut in seine Tasche. Ich verließ den Raum.
Am Fuß der Treppe nahm ich meine Jacke vom Rollator und zog sie an. Ich wischte den Staub von der Sitzfläche, klappte den Rollator zusammen und lehnte ihn an die Treppe. Draußen atmete ich einmal tief ein und aus. Der Teich in der Gartenecke wurde beschattet durch die hohe Ligusterhecke, die das Grundstück von der Straße trennte. Er war mit einer Holzplatte abgedeckt. Daneben stand ein Junge. Sein Fahrrad lag auf dem Kiesweg. Er drehte sich um.
„Hallo“, sagte er. „Sind die Fische weg?“
„Die Fische, ja, nun, die …“
„Ach, ich weiß“, sagte er, „Onkel Christian hat gesagt, die Fische brauchen auch mal Ruhe.“
Er setzte sich auf sein Fahrrad, fuhr an mir vorbei.
„Ich komme wieder, wenn die Fische ausgeschlafen sind.“
Er steuerte auf den Eingang zu, hob seinen linken Arm ganz hoch, winkte und bog auf die Straße ab. Über mir wurde ein Rollladen langsam heruntergelassen, bis er leise auf die Fensterbank fiel.
Vorwort
Lieber Mensch,
ich freue mich, dass du mein Buch aufgeschlagen hast. Du hältst die erste generationsübergreifende Fabel über Nachhaltigkeit in der Hand. Eine Fabel für Groß und Klein? Ja, denn ich glaube, dass viele von uns eigentlich groß gewordene, verletzliche Kinder geblieben sind. Menschen spalten sich im Laufe der Zeit von ihrem inneren Kind ab. Ich habe das jahrelang auch gemacht, aber gebe jetzt meinem inneren Rotzlöffel mit diesem Buch eine Stimme. Somit erzählt „Lou – der rebellische Marienkäfer der Nachhaltigkeit“ eine teilweise autobiografische Geschichte über ein Marienkäfer-Mädchen, das seinen Idealen folgt.
Wahrscheinlich hätte sich eine französische Komödie eher angeboten, aber mein Leben ist alles andere als ein langer, ruhiger Fluss. Ich habe in den letzten 20 Jahren hart daran gearbeitet, in ein gesellschaftliches Schema zu passen: mit schöner Wohnung, einem Partner zum Vorzeigen und respektablem Job. Als ich all das erreicht hatte, kam ich ins Grübeln und fragte mich: Was mache ich hier eigentlich?
Veränderung ist ein schleichender Prozess. Du merkst, dass etwas nicht stimmt, aber verdrängst das unwohle Gefühl. Doch wie Albert Einstein erkannte: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, das sich etwas ändert.“
Machen wir uns zusammen auf den Weg.
Kapitel 1: Nichts wie weg von hier!
Lou hat eigentlich alles, was man sich wünschen kann: Sie ist ein Marienkäfer-Mädchen mit gesunden Beinen, einem hippen Job und einer schicken Wohnung. Doch etwas fehlte in ihrem Leben. Sie wusste nicht genau was, aber es fühlte sich falsch an. Jeden Morgen sah sie ältere Menschen Pfandflaschen sammeln, und Schlafzelte reihten sich am Berliner Maybachufer auf wie in einem Monopoly-Spiel. Das Wasser des Landwehrkanals glänzte ölig im Sonnenschein, das Vogelgezwitscher war längst verstummt.
Damals, als sie noch klein war, war Berlin ganz anders. Die Nachbarn trafen sich täglich zum gemeinsamen Hundespaziergang, zum Picknick am Ufer oder Kaffee im Senti. Wohnraum war bezahlbar, die Bienen summten am offenen Fenster und jeder kannte jeden. Nun blickte sie nur noch in fremde Gesichter. Das Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer ähnelte einem Jahrmarkt der Eitelkeit. Alle Bekannten zogen weg, entweder wegen einer Eigenbedarfskündigung oder horrender Mieten. Oder weil sie einfach die Nase voll hatten! Berlin war längst nicht mehr arm, aber sexy, sondern gentrifiziert und seelenlos.
Was Lou aber fast noch mehr beschäftigte als die prekäre Lebenssituation vieler Menschen in Berlin, war ihr eigener Job. Sie arbeitete in einem großen Start-up-Unternehmen mit Diskokugel und Obstkorb. Sie kannte ihre Kolleginnen und Kollegen vorwiegend vom Bildschirm und – durch die hohe Fluktuation – so gut wie keinen persönlich. Das Arbeitsklima war mehr von einem Gegen- als Miteinander geprägt. Sinnerfüllt erschien ihr der Beruf schon lange nicht mehr. Sie vermisste die Verbundenheit mit anderen, mit der Natur und auch mit sich selbst. Ihre Eltern waren einst eingewandert und sie dachte immer, weil sie in der Hauptstadt zur Welt gekommen war, dass diese ihre Heimat sei. Doch dieser Glaube erhielt mit der Zeit, wie ein altes Stück Berliner Mauer, immer mehr Risse.
Aber was konnte sie tun? Am liebsten hätte sie ihre Mama gefragt, aber diese war gestorben, bevor Lou fliegen gelernt hatte. Sie konnte sich kaum noch an sie erinnern. Nur ein Satz hatte sich ihr eingeprägt: „Lou, wenn du irgendwann nicht mehr weiterweißt, flieg nach Norden.“
Lou zögerte lange mit ihrer Entscheidung. Verhielt sie sich wie eine Prinzessin auf der Erbse? War sie überempfindlich? Natürlich könnte sie einfach weitermachen wie bisher und alles ausblenden, was sie bedrückte wie Armut, Krieg oder Klimakrise. Es wäre so einfach, sich mit Netflix, Shopping & Co. abzulenken und zu denken: Hauptsache, mir geht es gut. Doch je mehr Zeit verging, desto größer wurde ihr Wunsch nach einer Veränderung.
An einem kalten Märzmorgen hielt sie es schließlich nicht mehr aus. Schluss mit dem Selbstbetrug, dachte sich Lou, als sie Zahnbürste, Schlafsack und das vergilbte Foto ihrer Mama hastig in den winzigen Rucksack packte. Sie hatte kaum geschlafen wegen der Party-Touristen und der Drucker für das Kündigungsschreiben streikte. Aber dieses Mal würde sie nichts mehr aufhalten. Als sie losflog, blickte sie ein letztes Mal wehmütig über ihre Geburtsstadt, die ihr an diesem Tag wie ein graues, monochromes Bild von Gerhard Richter erschien.
Zuerst überflog Lou Kreuzberg, streifte Friedrichshain, weiter ging es nach Prenzlauer Berg, über Pankow und Karow, bis sie schließlich im Panketal merkte, dass sie bereits in Brandenburg war. Lange würden sie ihre zarten Flügel nicht mehr tragen, doch Lou war ein Sturkopf und ein wenig Strecke wollte sie noch schaffen. So flog sie weiter und bemerkte zu spät, dass sie sich komplett überfordert hatte. Sie kam ins Trudeln, prallte völlig übermüdet gegen die Glasscheibe eines Hauses und blieb bewusstlos auf dem Fensterbrett liegen. In der Nacht blitzte und hagelte es, doch davon bekam sie nichts mit.
Am nächsten Morgen wurde Lou durch Sonnenstrahlen geweckt. Sie erwärmten nach und nach ihren Panzer. Was genau war geschehen? Sie versuchte, sich zu erinnern, und fühlte sich wie von einem Lastwagen überrollt. Völlig zerzaust blickte sie mit ihren müden Knopfaugen durch ein Fenster und erkannte junge Menschen, die gerade unterrichtet wurden. Das Fenster war gekippt und Lou konnte den Unterricht mitverfolgen. Sie verstand nur Bahnhof, denn sie hatte noch nie von den „planetaren Grenzen“ oder dem Club of Rome gehört. Wo zum Himmel war sie gelandet?! Sie lehnte sich ein Stück zurück und schafft es gerade so, das Eingangsschild des Backsteingebäudes zu lesen: H-O-C-H-S-C-H-U-L-E F-Ü-R N-A-C-H-H-A-L-T-I-G-E E-N-T-W-I-C-K-L-U-N-G E-B-E-R-S-W-A-L-D-E. Kürzer ging es wohl nicht?, dachte sie. Sie entschloss sich, beim Unterricht zuzuhören, da sie sowieso den Muskelkater des Jahrhunderts und nichts Besseres zu tun hatte.
Mit dem Thema Nachhaltigkeit hatte sie sich schon befasst, aber noch nie im wissenschaftlichen Kontext. Je länger Lou zuhörte, desto mehr faszinierten sie die Inhalte. Wie ein Schwamm saugte sie jedes Wort auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie das Gefühl, Zusammenhänge zu verstehen. Heißt: Kippt ein Ökosystem, kann es zu gefährlichen Dominoeffekten kommen. Bereits vor 50 Jahren warnte der Club of Rome in seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vor einer nur am wirtschaftlichen Wachstum orientierten Welt. Die Menschen könnten nicht so weitermachen, ohne dass es zu großen Krisen kommen würde. Tja, da sind wir wohl mittendrin, schlussfolgerte Lou.
Eifrig flog sie zum nächsten Baum, sammelte dessen Blätter ein, setzte sich wieder auf die Fensterbank und fing an mitzuschreiben. Sie notierte jedes Wort und schnell stapelten sich die Rotbuchenblätter neben ihr. Gegen Abend sinnierte sie über das Gelernte und fragte sich: Warum sind Menschen eigentlich so gierig? Sie konnte es sich nicht erklären, stellte aber fest, dass Tiere anders tickten: Ist ein Wolf hungrig, verspeist er ein Reh und nicht drei.
Geht er jagen, benutzt er seine Beine und kein Auto. Er fliegt auch nicht in den Urlaub nach Mallorca, um sich von seinem stressigen Alltag zu erholen. Kurz vor Mitternacht schlief Lou schließlich selig zwischen den Blätterstapeln ein. Sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, nicht mehr allein auf dieser Welt zu sein.
So zogen die Wochen ins Land und langsam türmten sich ihre Notizen auf. Lou hatte einige Kurse belegt wie Forstwirtschaft, strategisches Nachhaltigkeitsmanagement, nachhaltige Ökonomie und Agrarkultur. Ihr gefiel vor allem, dass im Unterricht die Probleme nicht nur angesprochen, sondern auch Lösungsvorschläge erarbeitet wurden. Aber was nun?!
Kapitel 2: Neue Freunde – Lou und der Dachs
Lou hatte in den vergangenen Wochen verzweifelt versucht, eine Bleibe zu finden. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass der Wohnungsmarkt auf dem Land genauso angespannt war wie in der Großstadt. Vor allem Wohnprojekte hatten es ihr angetan, etwa ein Vierseitenhof, den man gemeinschaftlich nutzen kann. Aber leider wurde sie stets abgewiesen, weil sie zu klein, zu groß, zu allein, zu… was auch immer war. Ein großes Manko waren die sechs Punkte auf ihrem Panzer, denn in Mitteleuropa ist der Marienkäfer mit sieben Punkten am weitesten verbreitet. Also hatte Lou es sich auf der Fensterbank der Hochschule gemütlich gemacht und dort mit Zweigen und Ästen eine kleine Hütte für sich gebaut. Ab und an war zwar das Dach undicht und es regnete rein, aber sie war noch nie so glücklich gewesen.
Lou beschloss, nach der ganzen Theorie in Aktion zu treten und ihr Wissen mit anderen zu teilen. Ihr kamen die Klimaaktivisten in den Sinn, die Straßen und Kreuzungen blockierten. Als Marienkäfer-Mädchen war es aber vielleicht nicht so schlau, sich auf den Asphalt zu leben. Wer würde mich denn sehen und für mich bremsen?, dachte Lou und verwarf die Idee. Aber könnte sie nicht die Notizen aus den Lesungen an der Hochschule auf der Autobahn verteilen? Dann würden die Autofahrer verstehen, wie schlecht es um den Planeten steht und ihren Panzer-SUV mal in der Garage lassen, überlegte sie.
Keine Viertelstunde später hatte Lou die A11 erreicht. Sie überflog, mit den Flugblättern unterm Arm, gerade die Ausfahrt Biesenthal, als sie einen schwarzen Punkt neben der Leitplanke bemerkte. Dieser Punkt bewegte sich sehr, sehr langsam. Sie entschied sich, näher heranzufliegen und ihn in Augenschein zu nehmen. Je näher sie kam, desto schärfer wurden die Konturen und sie erkannte schließlich einen Dachs. Einen älteren Dachs mit Krückstock und Lesebrille, der an der Autobahn entlang schlurfte.
„Hallo, Herr Dachs, was suchen Sie an der Autobahn? Haben Sie sich verlaufen?“, fragte Lou und flog näher heran.
Der Dachs erschrak und schrie: „Wer ist da?“
„Hier oben“, sagte Lou.
Der Dachs blickte, durch seine milchige Lesebrille, nach oben.
„Ich bin Lou und vor Kurzem aus Berlin hierhergezogen.“
Na, großartig! Noch ein Berliner, dachte der Dachs.
„Ich verteile Flugblätter auf der Autobahn, um über den Klimawandel aufzuklären“, erklärte Lou stolz.
„Wird ja immer besser“, brummte der Dachs mit seiner Bassstimme. Von Liebe auf den ersten Blick konnte also wahrlich keine Rede sein. „Mein Name ist Hans, und sei mir nicht böse, aber ich habe Wichtigeres zu tun. Ich muss auf die andere Seite zu meinem Brombeerenstrauch“, nuschelte der Dachs.
Lou blickte ihn verdutzt an. Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Sei mir auch nicht böse, aber bist du des Wahnsinns?! Bis du die andere Seite erreicht hast, ist Berlin autofrei.“
Daraufhin schnauzte der Dachs: „Na, dann mach dich wenigstens nützlich und sag mir Bescheid, wenn Autos kommen!“
„Okidoki!“, erwiderte Lou. Sobald sie die Situation auf der Autobahn im Blick hatte und sicher einschätzte, pfiff sie laut und gab dem Dachs ein Zeichen. Dieser überquerte die Autobahn mit gefühlten 2,4 Kilometern pro Stunde. Er schaffte es gerade noch auf die andere Straßenseite, bevor die Autos wieder vorbeirauschten. Zum Glück gab in diesem Abschnitt ein Tempolimit, denn sonst hätte ihn sicherlich ein Wagen erwischt.
„Dich hat noch keiner geblitzt, wa?“, scherzte Lou, als er sich nach der Anstrengung an der Leitplanke abstützte.
„Das ist nicht lustig“, antworte der Dachs völlig außer Atem. „So habe ich meine Frau vor einigen Jahren verloren.“
Lou schämte sich in Grund und Boden und entschuldigte sich.
Es herrschte Stille. Hans senkte traurig den Blick. Nach einigen Minuten sagte er: „Weißt du, es macht keinen Spaß, im Alter allein zu sein.“
Lou holte tief Luft. Sie überlegte kurz und sagte: „Weißt du, Hans, vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als du denkst. Auch in jungen Jahren kann man allein sein.“
Hans schaute zu ihr herüber und ahnte, dass Lou doch nicht ganz so einfach gestrickt war, wie er zuerst gedacht hatte.
Um das Eis zu brechen, fragte er: „Wie kommt man denn auf die bahnbrechende Idee, Flugblätter über den Klimawandel auf einer Autobahn zu verteilen?“
„Na ja, von nichts kommt nichts“, erwiderte Lou.
„Komm, dann lass uns erst einmal ein paar Brombeeren naschen, bevor die Welt untergeht“,
witzelte Hans und Lou nickte. So saßen die beide den restlichen Tag auf der Leitplanke und unterhielten sich brombeerennaschend über Gott und die Welt.#
Kapitel 3: Nachhaltigkeit wird (nicht) großgeschrieben
Lou und Hans konnten sich stundenlang unterhalten. Obwohl sie so gut wie nie einer Meinung waren. Ihr Geheimnis? Sie ließen die Meinung des anderen gelten. Sie konnten auch mal eine Nacht darüber schlafen, wenn ihnen im Gespräch kein besseres Argument einfiel.
Das Thema Krieg war zum Beispiel heikel. Lou befürwortete Selbstverteidigung. Hans war strikt dagegen. Lou konnte nicht verstehen, wie man dagegen sein konnte, dass ein Land, das angegriffen wird, sich verteidigt. Hans dagegen hatte den Zweiten Weltkrieg miterlebt, Familienangehörige verloren und seinen Dachsbau verlassen müssen.
„So wie die Flüchtlinge heute?“, fragte Lou.
„Genau wie die. Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt. Kriege müssten sofort beendet werden“, sagte Hans voller Überzeugung. Diese Bemerkung machte Lou nachdenklich.
Er hingegen fand die Idee, Flugblätter über den Klimawandel auf der Autobahn zu verteilen absurd. Auch sprach Hans eher von einer „Klimakrise“ anstatt von einer Klimakatastrophe.
Lou konnte nicht nachvollziehen, warum es so vielen Menschen egal war, was aus den nächsten Generationen wird. Nachhaltigkeit bedeutet schließlich, Ressourcen so zu nutzen, dass zukünftige Generationen davon nicht beeinträchtigt werden.
Hans hörte sich stundenlang die Zahlen und Fakten zum Klimawandel an und scherzte:
„Bei dem Zukunftsszenario kann ich nur froh sein, dass ich so alt bin.“
„Genau darin liegt das Problem“, sagte Lou. „Wir sitzen alle in derselben Achterbahn, die jahrelang nicht gewartet wurde. Die Konsequenzen werden uns alle betreffen. Deshalb müssen wir umso mehr zusammenhalten.“
Beide konnten sich darauf einigen, dass das jetzige Wirtschaftssystem Menschen dazu bringt, Geld auszugeben, dass sie nicht haben, für Dinge, die sie nicht brauchen, um damit Menschen zu imponieren, die sie nicht mögen. Aber wie kommt man aus diesem Schlamassel wieder heraus?
„Zuerst müssen wir alles neu denken. Wir können die Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, meinte Lou. Hans stimmte zu, machte sich aber auch Sorgen um das Marienkäfer-Mädchen, das den Planeten retten wollte.
Andererseits – hatte nicht schon ein anderes Mädchen aus dem hohen Norden die Welt zum Nachdenken angeregt?
„Ich glaube, Erwachsene sind einfach zu erwachsen. Sie haben unglaublich starre Grenzen im Kopf. Es scheint, als ob sie im Laufe der Jahre ihre Vorstellungskraft verloren haben“, sagte Lou.
„Oder sie sind eben Realisten“, antwortete der Dachs.
Lou runzelte die Stirn und konterte: „Wenn sie Realisten wären, dann würde jeder morgen seinen Job hinschmeißen und sein Leben komplett umkrempeln.“
Hans fand ihre Ansichten zwar teilweise zu radikal, aber konnte sie auch nachvollziehen. Lou hatte schließlich noch sein ganzes Leben vor sich.
„Erwachsene sind die größten Angsthasen!“, posaunte Lou heraus und warf sich dabei wie eine Superheldin in Pose. „Sie haben Angst vor allem und jedem. Angst vor den anderen, Angst vor der Natur und ich glaube sogar teilweise Angst vor sich selbst. Nie ist die Rede davon, dass es durch Nachhaltigkeit auch etwas zu gewinnen gibt!“
Darüber musste Hans einige Zeit nachdenken. Von einem Gewinn hatte lange keiner mehr gesprochen. Kriege, Naturkatastrophen, die Polemiken darüber und ein allgegenwärtiges Angstgefühl beherrschten die gesellschaftlichen Diskussionen.
So verbrachten die beiden, das Marienkäfer-Mädchen und der Dachs, zusammen den Sommer in Barnim. Ihre Freundschaft wuchs von Tag zu Tag. Lou half Hans jeden Freitag sicher über die Autobahn zu seinem Strauch zu kommen und wurde für ihn mit der Zeit weit mehr als eine Lebensversicherung. Und auch sie hatte in ihm einen neuen Freund gefunden.
Kapitel 4: Back to Berlin
Eines Tages, als Lou wieder emsig Flugblätter verteilte und nebenbei auf Hans wartete, geschah ein Unglück: Beim Überfliegen eines SUV blieb sie mit einem ihrer Cowboystiefel am Scheibenwischer hängen. Sie geriet in Panik und verlor ihre Flugblätter. Ihre Beinchen aus der Gummihalterung zu befreien scheiterte. Sie schrie um Hilfe, doch der Fahrer des Geländewagens hörte sie nicht. Sie war viel zu klein und er viel zu schnell. Lou blieb nichts anderes übrig, als sich an den Scheibenwischer zu krallen, während der SUV über die Autobahn bretterte. Sie fuhren an Wandlitz vorbei, über das Autobahndreieck Barnim, bogen bei der Ausfahrt Weißensee ab, über Prenzlauer Berg ging es nach Mitte, bis der Wagen schließlich in Kreuzberg zum Stehen kam. Durchgefroren und am Rande eines Nervenzusammenbruchs traute sich Lou kaum, ihre Augen zu öffnen, die sie während der gesamten Fahrt vor Angst zugekniffen hatte. Als sie hörte, wie die Insassen ausstiegen und die Türen zuknallten, wagte sie einen Blick und erkannte: das Maybachufer.
Das ist jetzt ein Scherz!, dachte sie kopfüber hängend und wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Sie war genau wieder an dem Ort gelandet, den sie vor knapp einem halben Jahr verlassen hatte. Bis auf die größeren Müllberge am Straßenrand hatte sich nichts verändert.
„HALLOOOOOO!!! Kann mir jemand helfen?!“, schrie Lou. Doch die Fußgänger hörten sie nicht und gingen achtlos an ihr vorbei.
Stunden vergingen und niemand nahm den winzigen Marienkäfer wahr, egal was Lou unternahm.
Schließlich landete plötzlich ein Rabe auf dem Dach des Wagens. Lou erkannte ihre Chance und sagte: „Hallo, mein Name ist Lou und mein Bein ist im Scheibenwischer eingeklemmt.
Könntest du mir bitte helfen?“
Der Rabe hob kurz seine Sonnenbrille an und musterte Lou, bevor er antwortete:
„Warte kurz, ich bin in ´nem Call.“
Lou war von der Antwort so verwundert, dass sie erst mal kein Wort herausbrachte. Sie zog sich am Scheibenwischer hoch wie an einer Klimmstange. Sie erkannte, dass er tatsächlich AirPods im Ohr hatte und telefonierte. Auch trug er knallrote Sneaker, die wie aus dem 3-DDrucker aussahen. Wahrscheinlich eine Special Edition, dachte Lou.
Als der Rabe sein Telefonat beendet hatte, näherte er sich mit kleinen Sprüngen. „Gehört DIR dieses schicke Auto?“, fragte er.
„Ja klar! Ich klemme mir beim Fahren immer das Bein in den Scheibenwischer. Das gibt den extra Kick“, antwortete Lou entnervt.
„Entspann dich mal! War nur eine Frage“, sagte der Rabe. „Ich habe das nicht gesehen, dass du mit dem Bein eingeklemmt bist.“
Lou konnte es nicht fassen, dass das Auto ihn mehr interessierte als ihre missliche Lage.
„Dann hilf mir doch bitte raus“, bat sie und zeigte dabei auf ihr Bein.
Der Rabe musterte weiterhin das Auto und fügte hinzu: „Großartiges E-Auto mit knapp 700
Kilometern Reichweite.“
Jetzt spricht er jetzt schon wieder von dem Fahrzeug, dachte Lou. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, da nur er ihr jetzt helfen konnte.
„Ja, die Batterie lädt auch in weniger als einer halben Stunde“, sagte sie.
„Crazy“, sagte der Rabe, während er sein Spiegelbild in der glattpolierten Autohaube bewunderte.
„Ich finde aber, die Elektromobilität sollte mit Vorsicht betrachtet werden“, fügte Lou hinzu.
„Sie verursacht viele Rebound-Effekte, also einen Anstieg des Energieverbrauchs aufgrund der Effizienzsteigerung.“
„Ach herrje!“, erwiderte der Rabe. „Du bist doch nicht eine von diesen Öko-Hippies, die wie im Mittelalter leben möchten, oder?“
Lou verdrehte die Augen. „Das hat nichts mit Mittelalter zu tun“, sagte sie. „Wir zögern damit das Problem mit dem Klimawandel nur heraus. Alle denken, der technologische Fortschritt wird uns retten, aber das ist nur eine Seite der Medaille.“
Dem Raben war Lou suspekt. Er verabschiedete sich schnell mit den Worten: „Dass du hier so hängst, ist garantiert kein Zufall. Bestimmt ist das wieder eine dieser Protestaktionen, die uns alle so nerven.“
Als Lou den Raben davonfliegen sah, fielen die ersten Regentropfen vom Himmel. Sie verstand die Welt nicht mehr. Ihre Lebenssituation war genauso verzwickt wie ihr Bein im Scheibenwischer. Hatte sie mit Absicht jemanden beleidigt oder sich schlecht verhalten?
Nein. Doch je mehr sie ihren Idealen folgte, desto mehr Gegenwind erfuhr sie. Dieses Mal konnte sie ihre Wut und ihre Verzweiflung nicht zurückhalten. Unter die Regentropfen mischten sich ihre Tränen. Pitschnass, allein und verängstigt vermisste sie in diesem Moment ganz besonders ihre Mama.
Die Nacht brach herein, es wurde immer kälter. Plötzlich spürte Lou etwas Warmes an ihrem Bein. Sie schaute genauer hin und entdeckte eine winzige, weiße Raupe. Sie schmiegte sich an ihre Füße, als wolle sie diese aufwärmen. „Hallo, kleine Raupe“, sagte Lou. Sie streichelte ihren Kopf, obwohl sie die Raupe nicht sonderlich süß fand. Doch diese blieb stumm. So schwiegen sich beide gegenseitig an und das Einzige, was Lou Trost spendete, war ihre Gesellschaft. Als Lou kurz vor Mitternacht bibbernd einschlief, war der Himmel sternenlos und nur die weiße Raupe glänzte im Mondschein.
Kapitel 5: Die große Verwandlung
Im Morgengrauen wurde Lou von den Sirenen mehrerer Krankenwagen geweckt, die an ihr vorbeirauschten. Als sie sich umschaute, traute sie ihren Augen nicht: ein segelgroßer, bunter Flügel hatte sich schützend über ihren Panzer gelegt. Sie berührte ihn vorsichtig, er fühlte sich an wie Seide. Der Flügel schimmerte im Sonnenlicht wie tausend Regenbogen. Als sie ein zweites Mal darüber strich, regte er sich. Ein wunderschöner Schmetterling kam zum Vorschein und drehte sich zu ihr um.
„Wo kommst du denn her?“, fragte sie überrascht.
„Ich bin der Schmetterling des Wandels“, sagte er.
„Bist du etwa die Raupe von gestern?“, hakte Lou nach.
„Vielleicht“, sagte der Schmetterling. „Ich muss mich einmal komplett verändern, um neu zu entstehen. Das ist ein schmerzhafter Prozess und auch ein Kraftakt.“
„Und du hast keine Angst davor?“, fragte sie.
„Der leichteste Weg ist nicht immer der beste“, antwortete der Schmetterling. „Natürlich könnte ich aus Angst mein Leben lang eine Raupe bleiben, aber das wäre längst nicht so spannend, wie ein Schmetterling zu sein.“
Lou dachte an die gesellschaftliche Transformation, die Debatten und Angst auslöste. Auch sie kostete Kraft. Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie gar nicht bemerkte, dass ihr Bein nicht mehr im Scheibenwischer des Geländewagens klemmte. Anscheinend hatte jemand es befreit. Was es der Schmetterling gewesen? Als sie den Kopf hob, um ihn zu fragen und sich bei ihm zu bedanken, war er verschwunden. Sie war für einen Moment irritiert. Denn sie konnte immer noch seine Wärme spüren, obwohl er nicht mehr da war. Sie blickte in alle Richtungen, aber der Schmetterling war wie vom Erdboden verschluckt.
Perplex setzte Lou sich kurz hin, um alles zu verdauen. Was war im letzten halben Jahr geschehen? Sie hatte alles Vertraute zurückgelassen, den Dachs getroffen, viel Neues gelernt, aber auch Niederlagen eingesteckt wie bei dem Treffen mit dem Raben. Ihr blieb nicht mehr viel Kraft. Aber als sie daran gedacht hatte aufzugeben, war plötzlich der Schmetterling erschienen. Was für ein unglaublicher Prozess, sich selbst zu zersetzen, nicht wissen, ob es gut geht, um als neues Wesen wiedergeboren zu werden.
„Wahrscheinlich hat der Schmetterling recht. Man muss sich eben entscheiden, ob man eine Raupe oder ein Schmetterling sein will“, dachte Lou, raffte sich auf und schüttelte die letzten Regentropfen von ihren Flügeln. Sie wusste, dass etwas Magisches geschehen war, konnte es sich aber noch nicht erklären. Sie verspürte nur eine tiefe, wohlige Wärme und ihre Angst war verflogen.
Kapitel 6: Lou und der Rabe
Voller Zuversicht wollte sie gerade abheben, um nach Norden zu fliegen. Da näherte sich der Rabe von gestern.
„Oh, du schon wieder!“, sagte Lou.
„Hm…, hey… Ich habe mich gestern gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Freddie“, sagte der Rabe zögernd. „Ich wollte mich entschuldigen, dass ich dich gestern im Stich gelassen habe.“
Lou musterte ihn lange mit überkreuzten Armen. „Das war echt mega gemein!“, sagte sie wütend. „Du hast mich im strömenden Regen mutterseelenallein gelassen.“
„Tut mir wirklich leid. Ich war echt im Stress und musste eine Deadline einhalten“, sagte der Rabe. Er pulte verlegen mit seinen Krallen im Boden.
Meinte er das ernst? Eigentlich wollte Lou ihm nicht verzeihen, aber die Begegnung mit dem Schmetterling hatte ihr so viel positive Energie gegeben, dass sie nicht nachtragend sein konnte.
Freddie stellte fest, dass Lou sich aus ihrer misslichen Lage befreit hatte. „Wie bist du denn mit dem Bein aus dem Scheibenwischer rausgekommen?“
„Der Schmetterling des Wandels hat mir geholfen“, antworte Lou.
„DER Schmetterling des Wandels?!“, erwiderte der Rabe überrascht. „Wahnsinn! Ich dachte, er wäre eine Legende.“
„Warum das denn?“, fragte Lou.
„Weil die Legende besagt, dass er Pionieren erscheint, um ihnen Kraft und Zuversicht zu geben. Nur sehr wenige sind ihm persönlich begegnet, und ich habe ihn noch nie getroffen“, sagte Freddie.
Ich? Ein Pionier, grübelte Lou innerlich. Sie hatte eher das Gefühl, ein misfit, eine Außenseiterin zu sein.
Freddie bemerkte, dass er Lou falsch eingeschätzt hatte. „Kann ich mein Verhalten wiedergutmachen?“, fragte er.
„Ich muss ehrlich gesagt so schnell wie möglich zurück nach Biesenthal“, sagte Lou.
„Wo ist das denn?“ Freddie suchte schon auf seinem Handy nach der Route.
„Boah, du bist echt handysüchtig“, antwortete Lou. „Es ist ungefähr eine Stunde von hier entfernt. Ich muss da dringend hin, denn heute will Hans zu seinem Brombeerstrauch.“
„Ich verstehe nur Bahnhof“, sagte der Rabe. „Aber let’s go!“
Er streckte ihr einen Flügel entgegen und lud sie ein, auf seinen Rücken zu krabbeln. Lou zögerte erst. Aber dann griff sie nach einer Feder und kroch hastig zu seinem Nacken hoch.
„So, jetzt halt dich fest, kleiner Spatz! Es wird ungemütlich“, witzelte Freddie und sie hoben ab.
Lou blieb keine andere Wahl, als sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Während des Flugs peitschte ihnen der Wind entgegen. Lou musste laut schreien, um dem Raben die Geschichte von Hans zu erzählen. Freddie wunderte sich, dass ein Dachs mit einem Marienkäfer befreundet sein konnte. Andererseits flog aber gerade auch ein Rabe mit einem Marienkäfer auf dem Rücken durch die Lüfte. Also: Was soll’s.
Die beiden überflogen Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg, weiter ging es auf der schon bekannten Strecke nach Pankow und Karow, bis sie schließlich bei der Autobahnausfahrt Biesenthal Hans sichteten.
„DA, DA IST ER!“, schrie Lou und zeigte aus der Luft auf einen kleinen, schwarzen Punkt, der orientierungslos die Autobahn absuchte.
„Siehst du, er sucht mich bereits“, wiederholte sie mehrfach aufgeregt.
Zu ihrem Entsetzen überquerte Hans gerade den Sicherheitsstreifen und war kurz davor, allein über die Autobahn zu gehen.
„OH, NEIN!!! SCHNELL!!!“, schrie Lou und trommelte dabei auf Freddies Federn.
Dieser fühlte sich überfordert und wusste nicht, was er machen sollte. Er entschied sich für einen Sturzflug. Lou traute sich kaum, hinzugucken, und hielt sich mit ganzer Kraft an seinem Gefieder fest.
Wie ein Pfeil durchschnitt Freddie die Luft und flog nur um Haaresbreite über Hans’ Kopf.
Dieser erschreckte sich, seine Brille fiel zu Boden. Er blieb stehen, zum Glück, denn ein riesiger Lastwagen donnerte nur wenige Zentimeter an ihm vorbei.
Freddie verringerte seine Geschwindigkeit und nach einer großzügigen Schleife am Himmel landete er kurz darauf direkt hinter dem Dachs.
Als Lou ihre Augen öffnete, weinte sie beim Anblick von Hans vor Erleichterung.
„Hans, was machst du nur?!“, rief sie.
„Lou, bist du das?“, fragte der verwirrte, brillenlose Dachs.
Sie stieg vom Rücken des Rabens ab und krabbelte so schnell wie möglich in Hans’ Richtung.
Sie nahm ihn in die Arme, hielt ihn minutenlang fest an sich gedrückt.
In der Zwischenzeit hatte Freddie dessen Brille aufgehoben und streckte sie ihm entgegen.
„Hey, mein Name ist Freddie. Ich glaube, du hast da was verloren“, sagte er.
Hans bedankte sich, setzte die Brille auf und blickte lächelnd zu Lou. Gott war er froh, dass sie wieder da war!
Kapitel 7: Die drei von der Tankstelle
In den kommenden Wochen wurden Hans, Lou und Freddie unzertrennlich. Es gab kein Tier in Barnim, dass das Trio nicht kannte. Sie hatten sich hinter einer Tankstelle niedergelassen und sogar die Wölfe in der Schorfheide nannten sie liebevoll „die drei von der Tankstelle“.
Freddie gründete in einer Garage eine Resell-Plattform für Sneaker, Hans verliebte sich in eine ältere Waschbärin, mit der er seinen zweiten Frühling genoss. Und Lou? Die baute fleißig Hochbeete und bepflanzte sie mit Brombeersträuchern. Das Marienkäfer-Mädchen verteilt keine Flugblätter mehr, sondern hat sich einer Aktivistengruppe angeschlossen.
Wer hätte gedacht, dass so unterschiedliche Charaktere zueinanderfinden? Die drei überwanden ihre Egos und ließen sich aufeinander ein, sie arbeiteten mit- statt gegeneinander. Hans nahm Hilfe beim Überqueren der Autobahn an. Lou ließ sich trotz ihres Ekels auf die Raupe ein, die sich in einen Schmetterling verwandelte und ihr beistand, und Freddie entschloss sich, zurückzukehren und Lou zu helfen. Sich nachhaltig zu verhalten hat eben nicht nur mit Mülltrennung zu tun. Es geht auch darum, wie wir andere behandeln.
Wie ist unsere Streitkultur? Wie integrieren wir Widersprüche und wie respektvoll ist unser Umgang miteinander generell?
Aktuell besteht die Gefahr, dass unsere Umwelt genauso wie unser Zusammenhalt kippt und dadurch gefährliche Dominoeffekte entstehen. Wir ahnen, dass wir unser Verhalten verändern müssen, entscheiden uns jedoch für schnelle Übersprungshandlungen wie technologischen Fortschritt oder Abschottung an den Grenzen. Getreu dem Motto: Hauptsache, mir geht es gut. Es besteht jedoch eine Kontextabhängigkeit, die wir übersehen und die durch unsere aktuelle Lebensweise entsteht.
Die Klimakatastrophe ist von uns Menschen verursacht und unser aktueller Konsum verschärft diese nur. Wir tragen Kleidung, die um die halbe Welt reist und von Menschen genäht wird, die davon nicht menschenwürdig leben können. Wir essen Tiere, die so intelligent sind wie ein siebenjähriges Kind, wie Verhaltensforscher herausgefunden haben.
Wir fällen Bäume, die uns die Luft zum Atmen schenken. Wir überfahren Tiere und lassen sie achtlos am Seitenstreifen liegen. Wir bemitleiden ältere Menschen und belächeln die Jugend. Wir arbeiten bis zum Herzinfarkt und schmücken uns mit Dingen, die eine trügerische Sicherheit vermitteln. Ein „Weiter so“ auf Pump und die vorherrschende Mefirst-Politik können nicht die Lösung sein.
Die gute Nachricht ist: Wir haben die Wahl. Wir können den Transformationsprozess gemeinsam nachhaltig gestalten oder unsere Lebensgrundlage durch unser aktuelles Verhalten ruinieren: also Wandel by design oder by desaster. Wir können weiter aus Angst Raupen bleiben, gegeneinander arbeiten, uns selbst belügen und ein riesiges Potenzial verschenken. Oder wir können zu Schmetterlingen werden, uns auf den Prozess einlassen, neue Lebensstile aneignen, uns frei machen vom Überfluss und wieder schätzen, wie wertvoll das Leben im Einklang mit anderen und der Umwelt sein kann. Lasst uns als die zurückblicken, die etwas verändert haben, und nicht als die, die es gemacht haben wie alle anderen zuvor.
Ihr Körper ist ein verhärteter Muskel. Feuchtigkeit verklebt ihre Handflächen, die Stoffhose ist zu schwach für den Schweiß. Sie rutscht auf der harten Holzbank hin und her. Verschwinden möchte sie, unsichtbar sein. Pupillen klammern sich an ihren Nacken. Ihn ansehen will sie nicht und weiß, dass sie muss. Sie kennt sein Gesicht. Durch ihre Träume jagt es sie. Edward mit den Schattenhänden war er genannt worden, weil er einem folgte, man seinen langen, groben Fingern nie entkam. Nur wenigen gelang es, indem sie sich in den Stacheldraht stürzten, sich dem rettenden Strom ergaben.
Er weicht allen Blicken aus; ein Kind, das Verstecken spielt, indem es die Augen verschließt. Ohne Regung sitzt er neben seinem Verteidiger wie ein zufällig an diesen Ort Geratener, auf das Ende der seltsamen Veranstaltung wartend. Nur wenn ihm eine Frage gestellt wird, strafft sich seine Haltung und er antwortet in die Luft hinein, als spräche er zu sich selbst, mit dem Leben, einer unsichtbaren Instanz.
Die Verhandlung zieht an ihr vorbei. Wer den Angeklagten angezeigt hat, weiß sie nicht. Wörter liegen wie ein verästeltes Labyrinth in ihrem Kopf. Sie findet den Ausweg nicht. Seit Jahren sucht sie schon danach und geht jedes Mal aufs Neue verloren. Bald muss sie an der Reihe sein. Viel zu lange schon ist sie in diesem Raum. Tage sind verstrichen oder Stunden. Nie gezähmte Sicherheit ist ihr abhandengekommen. Kann sie mit absoluter Gewissheit sagen, dass es sich auf diese Weise ereignet hat? Die Spiele ihres Geistes kennt sie, der zu gerne glauben möchte, dass es sich nie zugetragen hat, jede Erinnerung ihm selbst entsprungen ist. Irgendwo zwischen den Perspektiven lauert die Wahrheit.
Beim Betreten des Lagers durch das unscheinbare Tor wusste sie nicht, was sie erwartete. Arbeit macht frei, stand dort. Gearbeitet hatte sie noch nie mit ihren neun Jahren, aber frei sein wollte sie unbedingt. Sie hörte die Beschwichtigungen der Erwachsenen, die darin schwingende Anspannung. So übel kann es nicht werden. Wir haben Schlimmeres überlebt. Es dauert nicht mehr lang. Bald ist es vorbei.
Nach der Ankunft wurden sie in einen großen Raum getrieben, wo sie sich ihrer Kleider sowie Habseligkeiten zu entledigen hatten. Für sie, die in ihren jungen Jahren noch Respekt vor Erwachsenen empfand, war dies der quälendste Anblick gewesen, zerschmetternder als alles danach: ihre Eltern, deren Freunde, Bekannte in ihrer nackten Scham zu sehen, während Beschimpfungen und Schreie durch die Luft peitschten. Vor ihren Augen verwandelten sich Menschen mit Besitz, Vergangenheit, Persönlichkeit in Nummern, noch bevor diese vergeben wurden. Länger als notwendig dauerte die Prozedur, die Ausführenden fanden sichtlich Gefallen daran.
Im nächsten Raum wurde ihr Schädel rasiert. Ihre Eltern hatte sie aus den Augen verloren, flehte in stummer Suche nach ihnen. Das stumpfe Rasiermesser bestrafte ihre unbedachten Kopfbewegungen. Durch einen Stoß von hinten stolperte sie in kochend heißes Duschwasser, das ihr die Haut verbrühte und Feuer in die frischen Schnitte goss. Kratzige Kleidung schabte über ihren Körper.
Unecht kommt ihr der ritualisierte Ablauf der Gerichtsverhandlung vor, ein dilettantisches, mit seiner Thematik überfordertes Schauspiel. Jeder Sprechende demonstriert sein Wissen um die Brisanz ihres Zusammenkommens durch einen getragenen, priesterlichen Tonfall. Der Saal ist von Menschen überschwemmt, Kameras zeichnen das Geschehen auf. Die Presse stürzt sich auf jede Einzelheit, das Geräusch der Aufnahmegeräte durchbricht das Schweigen der Zuhörer, das wie eine sich langsam bindende Soße dichter und zähflüssiger wird, je weiter der Prozess voranschreitet.
Sie betrachtet den Gerichtssaal um sich herum. Ihr Blick saugt jedes Detail auf. Mit seiner majestätischen Erhabenheit rückt der Ort die Versammelten in eine unterwürfige Position. Suum cuique steht an der Decke. Die sich selbst tragende Glaskuppel, die die Hilfe der korinthischen Säulen nicht bräuchte, wirft Oberlicht auf Geschworene und Richterin. Getäfeltes Holz erhöht die Recht Sprechenden. Mit etwas Umgestaltung, ästhetischer Rekontextualisierung, Kollare für die Roben wähnte man sich in einer Kirche. Risse im Stein bezeugen das Alter des Gebäudes. Die Architektur hat die Jahre überdauert, nur die Gesetze haben sich geändert. Eine klug platzierte Marke, die Verpackung bleibt, der Inhalt passt sich dem Zeitgeist an.
Als sie das erste Mal ins Krankenrevier gebracht wurde, hielt ihre Blase der Angst nicht stand. Nass klebte die zu weite Hose an ihren Oberschenkeln. Der Aufseher schimpfte, doch der Arzt wies den Wütenden zurecht und tröstete sie wie eine ängstliche Patientin. Alle Besuche im Labor, wie sie es nannte, fusionierten zu einer einzigen Glut in ihren Gefäßen. Fetzen aus Schmerz und Fieber mischten sich mit dem grünen Grasgeruch der Wiesen. Je stärker ihr Leib bekriegt wurde, desto enger schmiegte sich das Zuhause ihrer Kindheit an sie, ihre Begeisterung über die wachsenden Schneehüte der Berge, das sommerkühle Wasser des Schwansees.
Die Verhandlung wird unterbrochen. Eine Frau ist nach vorne gestürmt und hat den Angeklagten bespuckt. Sicherheitsmänner zerren die sich Wehrende nach draußen vor die schweren, ihre Schreie verschluckenden Holztüren. Raunen im Publikum. Mit einer langsamen Handbewegung wischt sich der Angeklagte die Spucke von der Wange. Nur seine Finger verraten ein Zittern.
Diese Hände vergisst sie nie. Ein eigenes Wesen lebte in ihnen, wenn sie den Kolben der Spritze hinunterdrückten in einer routinierten, tausend Mal geübten Bewegung. Welche Flüssigkeit sich durch ihre Adern fraß, weiß sie bis heute nicht – ein Medikament oder die Krankheit selbst. Das Meerwasser als einziges Nahrungsmittel hatte die meisten der anderen Versuchspersonen von innen verätzt, dahingerafft. Auch an ihr wurde erforscht, wie über dem Meer abgeschossene Piloten der Luftwaffe mit Trinkwasser versorgt und vor dem sicheren Tod bewahrt werden könnten. Nicht mehr lange, dann löste sie sich in der Trockenheit auf. Krämpfe stachen in ihre Glieder. Nur noch Durst war sie, ihr Mund Sandpapier. Ihr Geist erlahmte und ergab sich, floh zur stillen Weisheit der Berge zuhause. Häufiger, langandauernder überflog sie die Schlösser zwischen den Wipfeln, das gelbe und das weiße, bis zum Bullachberg. Sie besuchte Hansi, das Kalb, das jeden Sonntag ein Stück wuchs, und die Kiste mit Geheimnissen, die sie mit ihrer besten Freundin Edda in der Nähe seiner Umzäunung verbuddelt hatte.
In diesem Delirium schien sie den Arzt zu langweilen, als Versuchsobjekt uninteressant geworden zu sein. Vielleicht zeigte er aber auch einen Akt von Menschlichkeit an einem unmenschlichen Ort. Seine Hände rissen den unteren Teil ihres Abzeichens ab, das sie außerhalb des Krankenreviers als Flüchtige markierte, schubsten sie hinaus in einen anderen Bereich des Lagers. Niemand scherte sich darum. Nicht nur ob sie lebte, war gleichgültig, sondern auch, ob sie starb. Kaum hatte sie die Baracke erreicht, stürzte sie zu Boden, stieß einen Wischenden zur Seite und presste ihre Zunge auf die feuchten Dielen, machtlos gegen ihr inneres Brennen. Die Schläge des Aufsehers spürte sie kaum. Dem Meerwasser war sie entronnen, ab jetzt sah sie die Toten nur noch von Weitem; bis zur Bläue Gefrorene, Ausgemergelte, Versengte, Ausgetrocknete.
Kurz danach war der Arzt verschwunden. Sein Nachfolger war gnadenloser. Mehr Bahren als je zuvor wurden herausgetragen. Auch die Appelle fanden häufiger statt. Sträfling um Sträfling wurde nackt über einen Holzbock gespannt und ausgepeitscht, bis rubinrotes Blut in den Sandboden sickerte. Sie fühlte sich, als hätte sie dies ausgelöst, trüge Verantwortung dafür.
Seit der Unterbrechung durch die randalierende Frau zermartert sie sich das Gehirn über ihre eigene Aussage. Wird eine gute Tat edler, wenn sie in der Umklammerung tausender schlechter daherkommt, von denen sie sich umso schillernder abgrenzen kann? Den Angeklagten will sie sich nicht als Menschen vorstellen. Eine Geschichte mit Ursachen und Wirkungen, ein Kontext, erschwert ihr Urteil. Eine merkwürdige Spiegelung der Nummerierung, deren Zweck nicht nur darin lag, ihren Willen zu brechen, sondern auch den des anderen zu erhalten. Warum sie, das hat sie sich oft gefragt, warum hat sie überlebt und nicht ein anderer, sich selbst eine wackelige Antwort gebend: Als Kind unter Erwachsenen verschwand sie nicht hinter ihrer Nummer, sondern blieb menschlich.
Trotz ihrer Angst zwingt sie sich dazu, den Angeklagten anzusehen. Jeder Psychologe, der zu belegen versucht, an der Physiognomie eines Menschen ließen sich die in ihm angelegten Möglichkeiten zur Grausamkeit erkennen, wird hier widerlegt. Zwar ist dessen Gesicht von mehr Linien durchzogen als früher, doch in seiner Symmetrie noch immer makellos. Diese Perfektion ist für sie das Unfasslichste. An ihm zelebriert die Schöpfung ihren eigenwilligen Humor, Inneres und Äußeres einer Person fröhlich auszuwürfeln. Oder war der Angeklagte anders angelegt gewesen und hatte aufgrund der Umstände eine falsche Entscheidung getroffen, die ihn zu weiteren zwang? Hat er deswegen sein Gesicht bewahrt?
Niemals vergisst sie den Augenblick, als sie nach all den Jahren die Hände wiedersah. Im Gegensatz zur Seele vergisst der Körper vergangenen Schmerz und empfindet den akuten als den quälendsten. Eine stählerne Presszange zerquetschte ihre Eingeweide. Für die Ärzte war ein Kaiserschnitt ein Routineeingriff. Sie glaubte, sie würde sterben. Mitten auf der Straße war sie zusammengesackt, Passanten hatten den Notruf alarmiert. Sie hatte extra das Land verlassen, das offene, weite Europa genutzt, aber plötzlich war Europa ganz eng. Von den Schwestern wurde sie in ihrem Bett durch die Krankenhausgänge geschoben. Die Hand des behandelnden Arztes legte sich zu ihrer Beruhigung auf ihren Oberarm. Als sie den Kopf wandte, die Finger nahe ihrer Schulter erspähte, wurde sie wie in einer Zentrifuge an den Rand ihrer Welt geschleudert. Die Schattenhände hatten sie aufgespürt.
Sie wollte sich wehren, etwas sagen, aber ihr Körper verweigerte sich. Die Sedierung setzte ein. Das Gesicht über ihr zerfloss. Wie wässrige Aquarellfarben verliefen die Konturen ineinander. Die den goldenen Schnitt ehrende aristokratische Nase rann in das Ocker der Gipsfaserplatten an der Decke des Operationssaals. Nur die Schattenhände blieben klar umrissen, die Hände lösten sich nicht auf.
Die Nachuntersuchungen erlebte sie im Fieber. Bestimmt verwechselte sie ihn, brauchte diese Verwechslung des Hünen, der hoch über ihr hinauf bis in den Himmel und in die Hölle ragte. Kein Anzeichen von Reue, nichts Geläutertes verriet dessen Miene. Er erledigte seine Arbeit, wie er stets seine Arbeit erledigt hatte; rettete ihr das Leben und das ihres Kindes.
Nachts träumte sie, der Arzt käme zu ihr ans Klinikbett. Am Tag weigerte sie sich, diesen Begriff zu verwenden, obwohl der andere das war – ein Arzt, jemand, dem man Vertrauen entgegenbrachte, seine Sorgen anvertraute, vor dem man sich entkleidete und seine Intimitäten preisgab. Nachts kehrte sie ins Lager, ins Labor zurück, wie schon so oft in ihren Träumen und doch anders diesmal: ein Traum, der wusste, dass er keiner war. Barfuß lief sie aufs Neue den kilometerlangen Kiesweg entlang, von dessen rauchendem Ende niemand zurückkehrte. Eiswind rüttelte an ihrer Kleidung, aschiger Regen peitschte ihre Wangen aus. Der Bach vor den Schornsteinen zog die letzte Grenze. Den Bach durfte sie nicht überschreiten. In ihrem Schlaf erwürgte der Arzt sie, um einer Verhaftung zu entgehen. Am Tag wurde deutlich: er hatte sie nicht erkannt.
Wie er zur Schuldfrage stehe, will die Richterin vom Angeklagten wissen. Dieser verteidigt sich und besteht auf der Trennung von rechtlicher und menschlicher Schuld. Nicht er trage die rechtliche Verantwortung, sondern der Staat, der solch politische Entscheidungen treffe, für die Erteilung dieser Befehle sorge. Er habe getan, was von ihm verlangt wurde. Die Richterin fällt ihm ins Wort, spricht von dem Lager als rechtsfreien Raum – im Gegensatz zur Rechtsordnung außerhalb davon. Sie wiederum versteht diese Abgrenzung nicht, als ob dort tatsächlich Recht gegolten hätte. Vielleicht ist sie deshalb Architektin geworden, aus einem sich der erlebten Willkür widersetzenden Glauben an die Ordnung der Dinge.
Ein Zeuge beschreibt seine Erfahrungen. An seinen hinter dem Rücken verbundenen Händen war er aufgehängt worden, sodass seine Schultern sich auskugelten, er zum Invaliden wurde. Im Ofen vor ihm brannte sein Kamerad. Der Zeuge überlebte, weil Besucher im Lager sich Musik und einen Klavierspieler wünschten. Mit berstenden Schultern und hämmernden Rippen spielte er um sein Leben. Der Geruch von versengtem Menschenfleisch diffundierte mit hellen Durakkorden. Dies deckt sich mit den Erzählungen anderer ehemaliger Häftlinge, die ihr auf seltsame Art vertraut sind mit ihrem sichtbaren Aufbegehren gegen die eigene Erinnerung.
Mit halbem Ohr hört sie hin, distanziert sich davon; unendliches Wachstum gibt es nicht. In ihrer Brutalität zersetzen sich die Berichte der Zeugen gegenseitig. Je mehr das Grauen sich häuft, zu einer Masse verdickt, in der der einzelne ertrinkt, desto weniger empfindet sie. Sie zieht sich heraus, schwebt über allem.
Da hebt der Angeklagte in einer schreckhaften Bewegung sein Haupt, als habe er ihre Flucht vernommen. Und dann entdeckt er sie, erkennt sie, versteht. Das Treffen ihrer Blicke entspricht nicht dem Moment, den sie all die Jahre imaginiert hat, ist härter und weicher zugleich. Nähme man sie beide aus dieser Situation heraus und stellte sie in eine andere, könnten sie alte Bekannte sein, deren Wege sich zufällig kreuzen – nach einer Zeit der Kontaktlosigkeit, die mit einem Mal fortgeblasen ist. Zwischen ihnen oszilliert eine Intimität, die sich mit niemandem einstellt, den man nicht in seiner Gesamtheit gesehen hat; und sie begreift: Nicht nur sie ist an den Beschuldigten gebunden, sondern auch er an sie sowie an jeden Einzelnen, der unter seinen Händen lag.
Nun weiß sie, was sie zu sagen hat. Wie die Einzelteile des Baukastens, den sie an Sonntagabenden mit ihren Enkeln zu Gebäuden zusammensteckt, sammeln, sortieren, formieren sich die Zeugenaussagen und enthüllen erst zum Schluss in der Verbindung miteinander ihre Funktion innerhalb der Konstruktion. Sie ist eins dieser Holzstäbchen, ihre Geschichte der Leim zwischen sich und seinen Nachbarn.
Sie ist an der Reihe. Ihre Stimme taumelt, aber bricht ihr Schweigen. Die Richterin ermahnt sie: „Sie schwören, dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben.“
Schwerfällig erhebt sie sich gegen das Gewicht ihres Leibes, das sie nach unten zieht, und antwortet: „Ich schwöre, Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend, dass ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde.“
Das ist der falsche Text. Sie kann ihren Mund nicht kontrollieren. Die Worte hat sie irgendwo gelesen. Sie spricht den falschen Text.
Die Schwüre hat sie durcheinandergebracht. In letzter Zeit verwechselt sie vieles. Alt ist sie, bettlägerig, verlässt die weißen Laken nicht einmal mehr zum Urinieren. Ihr Tag ist geregelt durch drei Mahlzeiten sowie die Fernsehsendung, in der Teilnehmer ihre Wohnungen verschönern lassen.
Sie denkt an die Gerichtsverhandlung. Ob sie realistisch ist, weiß sie nicht, hat nie einer beigewohnt. Lediglich Ausschnitte hat sie gesehen, von dem Eichmann-Prozess und anderen. So oder so ähnlich könnte es sich abgespielt haben. So oder so ähnlich hätte es ausgehen können. Sie ist die allerletzte Zeugin: Die Rekonstruktion des Ungeschehenen bleibt ihre einzige Tätigkeit, ein Lektorat ihrer Erinnerung. Wie hätte der Arzt als Angeklagter ausgesehen? Sie malt es sich aus und überzeichnet das Bild: seine schönen Gesichtszüge von Furchen durchkreuzt, die Stirn als Häftling vergangener Handlungen. Vielleicht saß er seine Strafe in seinem eigenen Gedächtnis ab. Hat er versucht, es wiedergutzumachen? Babys gegen Insassen, Kaiserschnitte gegen Meerwasser. Auch ein Urteil der Gerechtigkeit erbrächte nicht sein Schuldeingeständnis. In ihrer Vorstellung genügt das eine nicht ohne das zweite, wobei sie sich nicht zu einer Entscheidung durchringt, keine Priorität bestimmt. Sie findet den Ausweg nicht, das Labyrinth gibt sie nicht frei.
Kurz nach ihrer Flucht aus dem Labor entfloh sie dem Lager. Ihr Ausbruch bestand aus Todesangst. Wie es ihr gelang, bringt sie nicht mehr zusammen. Ihre Eltern ließ sie im Stich, riss aus, als sich die Chance zum Entkommen ergab. Manchmal tröstet sie sich mit der Vorstellung, dass sie doch jemanden gerettet hat. Indem sie ihren Körper zur Verfügung stellte, ist ein anderer nicht gestorben. Forschung hat sie vorangetrieben. Wissen, Schutz und Heilung baut auf ihren Schultern auf, und heutiges Überleben. Ganz sicher ist es so.
Nach der Geburt ihres Sohnes hat sie die Schattenhände nie wieder gesehen. Während ihrer Regeneration entschwanden sie in die Dunkelheit. Sie verriet niemandem etwas, zu viele waren noch im Amt. Einmal kehrte sie zurück ins Krankenhaus, doch der Arzt, der dort nach dem Krieg unter falschem Namen gearbeitet hatte, war fort. An dieser Stelle hat sie aufgegeben. Ab diesem Moment hätte es sich anders abspielen, anders ausgehen können. Sie hätte ihn anklagen können. Doch darüber zu sprechen, hätte sie zum Opfer gemacht, das sie nicht sein will. Warum sie so lange geschwiegen hat, hätten sie gefragt, und niemand sollte sich für sein Schweigen rechtfertigen müssen.
Andere sind stärker, lauter gewesen als sie, fast alle sind tot – ein sterbendes Gedächtnis, eine ausgelöschte Zeugenschaft. Im Fernsehen sieht sie eine Reportage. Alles gelogen, sagt ein junger Mann darin, das war alles ganz anders. Ein anderer schimpft auf das Judentum. Wut gelingt ihr nicht immer. Sie war dabei und leugnet trotzdem, was an der Beschaffenheit dieses Schreckens liegt, der an die Grenzen des Verstandes reicht, außerhalb dessen, was jeder in seinem eigenen Inneren für möglich hält. Oft hat sie sich diese Frage gestellt, vermutlich mehr als die nicht Betroffenen: Wie hätte sie gehandelt, wäre sie an Stelle des Arztes gewesen? Was hätte sie getan? Ihr Verstehen ist ein gewaltiges Schwarzes Loch, das sich selbst frisst und dabei alles mit sich reißt, ein implodierendes Etwas, das formlos bleibt.
Alt ist sie, müde. Die Phasen, in denen sie wach bleibt, verkürzen sich. Ihr Kopf verdrängt, will die Geschehnisse umdeuten. Nach einer Klammer sucht sie, die alles zusammenfasst. Im Schlaf glaubt sie, den Sinn zu erkennen; das kathartische Prinzip, das alle Illusionen nimmt, die Wahrheit offenbart über die Welt, die Mitmenschen, sich selbst. Ist es nicht Liebe, die Wahrheit bringt? Dann wacht sie auf und steht vor der Wirklichkeit. Die Stimmen in ihr streiten miteinander. Sie ist Richterin, Klägerin, Angeklagte, Zeugin zugleich; Justitia, die das Gewicht der Waage nicht halten kann.
Ihre Familie nicht belasten zu wollen, hat diese umso mehr gefährdet. Ihre Angehörigen wissen nichts über ihre Zeit im Lager, nur von ihrer Abneigung gegen Arztbesuche. Hier in der Großstadt hat sie andere Gründe für ihre Einsamkeit gefunden als das Erlebte, das sie von allen trennt, denen es nicht widerfahren ist.
Ihre Knochen begehren gegen die Zeit auf. Bald kommt ihre Familie. Mit Maske und Abstand darf sie sie besuchen, hinter Plexiglas. Vor dem Virus fürchtet sie sich nicht. Aber ihre letzten Kräfte bündelnd wehrt sie sich gegen die Impfung, auch wenn ihre Weigerung unvernünftig ist. Keine Spritze wird ihren Körper mehr berühren und sogleich rechtfertigt sie sich vor sich selbst für diesen Schwur: Ihren erzwungenen Beitrag hat sie bereits geleistet – als Kind im Labor.
Oder – Freiribbeln
Der braune Faden ist sehr lang geworden. Ich ziehe jeden Tag daran. Das Loch ist innen entstanden. Da wo meine Körpermitte ist. Ich kann es weiter aufribbeln. Ohne dass sie’s merken.
Die Morgensonne fällt auf die dicke Bolzenplatte. Selbstgezimmert. Patina, Kerben, speckige Flecken. Drei Generationen.
Der Haferschleim schmilzt in meinem Mund. Ich sehe meine Schwestern auf ihren harten Stühlen. Kerzengerade, still, wie Eisen. Mit strengen Blusenärmeln. Meine Mutter hackt in der Küche. Mein Vater verbreitet mit Teeschlürfen Angst.
Wir bereiten uns vor. Auf den Feind. Jeden Tag. Wenn wir uns morgens am Zulauf waschen. Mit eiskaltem Wasser, das am Körper schmerzt: Tausend Nadeln für den Angriff. Wenn meine Schwestern an ihren Webstühlen sitzen, um Faden um Faden zu kreuzen: Unsere Rüstungen gegen Konsum, Kapitalismus, Lügner. Wenn meine Mutter schabend den Haferbrei rührt. Selbstgezogener Hafer, Gerste, Korn: Unsere Nahrung gegen Genderwahn, Verschwulung, Entmannung. Und wenn mein Vater Ausschau hält. Über drei Felder. Rahmen uns’rer Siedlung. Wechselfelder: Unsere Mauer gegen diversen Einheitsbrei, gegen Volksverräter, den großen Austausch.
Ich stelle mir vor, wie sie kommen. Über das brache Feld. In ihren Amistiefeln. Ich stelle mir vor, wie einer vor mir steht. Kaugummi kaut. Wie in Filmen der Dreißiger. Und wie ich ihn nicht absteche. Wie ich frage. Wie Coca-Cola schmeckt.
Der Haferschleim fließt meine Kehle runter. Ich ziehe am Faden, spüre die Maschen sich ergeben. Stück für Stück. Kleine Bewegung. Befriedigend. Wie das Klicken der Kette, durch die Öse eines Flaschenzugs. Am Brunnen, wo wir das Wasser Eimerweise heben.
Meine Schwestern kauen wie die Hinterwälder Zuchtochsen. Alte Nutztierrassen. Abseits leben. Von Rinderwahn, Schweinepest, Vogelgrippe, Gammelfleisch. Lieder singen vom Dönermörder. Ich ziehe am Faden. Sein Fransenende streicht gegen meinen Blusenbauch. Ich war nie shoppen wie die Mädchen von draußen. Ich hatte nie ein bunt bedrucktes T-Shirt an. Ich trage Trachtenrock und blaue Bluse. Wanderrock und blaue Bluse. Arbeitsrock und blaue Bluse.
Ich trage den alten braunen Pullover. Den schon Sieglind getragen hat, den schon Freya getragen hat. Imke, Solveigh, Hanna, ich.
Ich ziehe am Faden. Am Faden aus wolligem Schaf. Ich werde am Faden ziehen, bis er weg ist. (Nach mir wird ihn niemand mehr tragen) Den alten ausgelutschten braunen Pullover. Aus zweiter, aus dritter, aus vierter Hand. Second Hand darf man bei uns niemals sagen. Handtelefone empfangen nicht. Gut so, sagt mein Vater. Wegen der Spione. Schlitzaugen, Amis, LKAschweine.
Mein Vater schlürft. Meine Mutter hackt. Ich stelle mir vor, wie ich an ihnen ziehe. An ihrer Körpermitte. Wo der Magen ist, wo die Leber ist, wo die Lunge ist. Da, wo wir zustechen, wenn die Amis kommen. Ich stelle mir vor, wie ich Organe rausziehe, wie den Faden aus dem Pullover. Sie aufhängen kann. Meinen Vater. Meine Mutter. Ihr Fleisch jetzt ein Faden. Wie bei den Schafen, an deren Wolle wir ziehen. Um sie zu Fäden zu machen, zu Stoffen, zu Kleidung. Mädchen ziehen die Fäden in der Siedlung. Halten sie in der Hand. Obwohl sie nichts bestimmen, ist die Siedlung voll, von Handspindel-Mädchen.
Ich sehe sie sich drehen. Immer im Kreis. Immer um sich selbst. Einsam aufgehangen. Auswegslos. Ein Brummkreisel zwischen den Schenkeln der Mädchen. Ich sehe ihren Holzkörper umsäumt von Faden.
Braun gefärbt mit Wallnussschalen, Frauenmantel. Für den nächsten Pullover. Eine immer dicker werdende Säule, birnenförmig wie die Fledermaus im Schlaf. Einkokoniert. Gefangen wie im Netz. Spinne. Acht Beine. Acht Kinder. Keimzelle. Ungeheuer. Drehende Spindel. Wie der Reigen bei Wendefeiern. Meine Schwestern, verzückt, die Augen gesenkt. Wie der Rock sich öffnet mit jeder Pirouette. Wie Glocken auf dem Festplatz. Brummkreisel im Schein der Fackeln. Des Feuers.
Der Haferschleim liegt in meinem Magen. Alles ist Blei. Der Gedanke an meinen fertig gepackten Affen.
Was werden sie sagen, wenn ich weg bin? Wahrscheinlich nichts. In keinem Fall weinen. Mich jagen?
Vielleicht.
Ich höre wieder die Zelte im Lager rascheln. Wie Plastikmüll. Reißverschlüsse auf und ab. Messer im Nebel. Psst, Kamerad. Aufstehen, Taschenlampen, raus. Ich fühle das Gras, nasskalt vor Nacht. Rechts links Ohrfeigen dünner Astkrallen. Flieg Kamerad, flieh Sturmvogel. Die Bullen kommen. Renn, was Du kannst. Lichtkegel im schwarzen, schweigenden Wald. Ich sehe die Lichtung. Im Mondlicht weiß-blau. Das Gras wie durch Filter verzaubert. Ich sehe den Schweinekörper. Aufgehangen. Unterdrückte Quietscher, niemand kann sie verhindern. Das Lachen der oberen Kader. Gelungener Streich! Das Hecheln der Hunde. Das Fiepen, Winseln, Ersticken an den Leinen.
Ich sehe meine Eltern an ihrer Körpermitte aufgehangen. Wie die Spindeln. Sich lustig drehend im Wind. Auf dem Festplatz, wo kein Feuer mehr brennt. Wo keiner mehr singt, Polka tanzt, klatscht.
Der Haferschleim ist alle. Das Hacken vorbei. Das Schlürfen verstummt. Meine Schwestern sitzen draußen. Ihre Silhouetten wie Gräber. Ich warte. Ich ziehe.
Bei Auflösung des Pullovers, gehe ich fort.
Kommentar zur eingereichten Geschichte:
Völkische Familien, die teilweise seit über einem Jahrhundert, also schon vor den Nazis, ihre fragwürdigen Traditionen weitergeben, sind seit Langem dabei, in ländlichen Gebieten Deutschlands, systematisch Land und Gehöfte auszukaufen und dort ihre Völkischen Siedlungen zu errichten. Sie unterwandern geschickt und oft lange unbemerkt regionale Institutionen und Politik. Kinder, die in den abgeschlossenen Parallelwelten dieser Siedlungen und Ideologien aufwachsen, haben kaum eine Chance auf einen Ausstieg aus denselben. Noch eine Chance auf wahre Hinterfragung des ihnen indoktrinierten völkisch-nationalistischen und zutiefst rechten Gedankenguts.
Die Freiheit ihres Gewissens wahrzunehmen oder gar auszuüben, dazu haben sie so gut wie keine Möglichkeit.
Strahlend waren uns’re Zeiten
Hoffnung tanzte klar und weit
schenktest mir stets Zärtlichkeiten,
Liebe und Geborgenheit.
Dann ein Riss in trauten Bahnen
düster zieht ein Sturm vors Glück
konnte erst es nicht erahnen
kommst heut’ Nacht nicht mehr zurück.
Hängst verstummt an den Maschinen
Jahre ziehen leis’ vorbei
wirst noch einem Zwecke dienen
gebe deinen Körper frei.
Sehe grimmig in die Sterne
traurig, dass du fort sein musst
doch ein Trost in stiller Ferne:
schlägt dein Herz in neuer Brust.
„Und siehe,
Schrecken und große Finsternis überfiel ihn“
1. Mose 15, 12
Prolog
Tiefschwarz umhüllt ihn noch immer die Nacht. Wie eine bleierne Decke legt sich die Angst auf sein Gemüt, verstopft ihm die Atemwege, so dass er panisch nach Luft zu schnappen beginnt.
Sein Mund formt einen lautlosen Schrei – ungehört.
Dann – über Stunden hinweg, in denen er erschöpft und reglos an der Wand hockt – nichts mehr!
Die Stille frisst sich in sein Hirn, bis er fast irr wird, dehnt sich ins Endlose.
„Wir werden dich auslöschen!“, hatten sie zu ihm gesagt, „du wirst ein Niemand sein, nicht mal mehr eine Nummer! Von jetzt an nennen wir dich ‚Zahl‘ – einfach ‚Zahl‘, ohne irgendeinen Wert!
Ihn auslöschen! Was hatten sie mit ihm vor, was würden sie ihm antun?
„Zahl? Nein, ich . . .“, er schlägt mit der geballten Faust gegen die Wand, an die er sich lehnt. „Au! Schsch. . .“ Er sucht den Schmerz mit seiner anderen Hand zu verreiben.
In seinem Kopf beginnt sich zugleich ein Mühlrad zu drehen, dumpf und quälend. Das Denken fällt ihm schwer.
Die stundenlange Befragung hat Spuren hinterlassen. Sie waren nicht zimperlich gewesen.
Nun tastet er sich langsam mit der Hand vor, im-mer an der Wand entlang, bis . . ., da geht’s nicht weiter, wie ist es auf der anderen Seite? Er sucht sich zurechtzufinden, will wissen . . ., auch hier kommt er schon bald an ein Ende, die Schmalseite? Also weiter, wie sieht es mit der anderen Wand aus?
Sie fühlt sich kalt an. Er beginnt unwillkürlich zu frösteln und zieht die Jacke enger um seinen Körper. Zwei kleine Schritte, dann ist auch hier das Ende erreicht. Nicht mehr?
Kann – kann er sich hier überhaupt lang ausstrecken? Er wagt kaum, den Gedanken zu Ende zu denken.
Und dann probiert er es aus. Es geht so grad. Wenn er die Arme ausstreckt, kann er mit den Händen die Wände berühren.
Vorsichtig richtet er sich zu voller Größe auf – und berührt mit seinen Haaren die Decke.
Jetzt entsteht eine räumliche Vorstellung in seinem Kopf. Aber was ist das hier? Kein Zimmer, keine Zelle . . ., eine Gruft! Wie eingemauert ist er! Wollen sie ihn hier verrotten lassen? Weiß überhaupt irgendjemand davon? Das geht ja nicht mit rechten Dingen zu, ist alles nicht legal, was diese Verbrecher da mit ihm machen! Aber dann wird er ja vielleicht nie mehr . . ., dann wird er möglicherweise niemals mehr das Tageslicht sehen. Er beginnt, am ganzen Körper zu zittern, als ihm das so richtig klar wird. Und dass sie es ernst meinen mit ihren Drohungen, davon haben sie ihn be-reits mehr als überzeugt.
Gerade will er sich der Verzweiflung überlassen, als ein Geräusch ihn hochfahren lässt. Er hört, wie eine Klappe geöffnet wird, während ein leichter Lichtschein das Gelass erhellt: „Zahl! Dein Essen!“
Ein blecherner Knall, als die Schüssel auf dem beschlagenen Brett aufschlägt, dann wieder Dunkelheit und sich entfernende Schritte. Erst als die Stille wieder lauter wird, kommt Bewe-gung in den Mann. Er tastet sich langsam zur Tür und zu der Schüssel vor, die er mit sich nimmt, als er sich auf den Boden setzt. Dann befühlt er deren Inhalt, ohne ihn ergründen zu können.
Die weiße Kälte so laut, dass meine Gedanken bersten.
Endlose Weite dringt ein in mein Hirn.
Gleich! Gleich werden sie kommen und mich holen!
Etwas zerrte an meiner Jacke.
„Au!“, ich riss meinen Arm zurück. Das tat weh! „Was soll das?“ Ich suchte meine Augen zu öffnen – auch wenn es schwerfiel – und prallte entsetzt zurück. Ein Wolf! Er schien ebenso erschrocken wie ich und machte einen Satz zurück, als unsere Blicke sich trafen. Erst jetzt spürte ich den brennenden Schmerz in meinem linken Bein. Das Aufstehen bereitete mir Mühe, doch im Angesicht des offensichtlich hungrigen Tieres, das aus relativ kurzer Distanz jede meiner Bewegungen genau beobachtete, durfte ich meine Schwäche nicht offenbaren, sonst war ich schon gleich dem Tode geweiht. Ohne das Raubtier aus dem Blick zu lassen, raffte ich mich wieder auf die Beine. Misstrauisch beäugten wir uns gegenseitig eine Weile, bevor ich mein Gewehr vom Boden hochhob. Zum Glück waren auch der Munitionsbeutel und das Messer noch da, sonst hätte ich mich nur noch mit bloßen Händen verteidigen können. Ich atmete auf und sah mich um. Wo es einen Wolf gab, waren meistens auch noch andere zu finden. Doch weit und breit konnte ich nichts dergleichen entdecken. Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich nach kurzer Überlegung Richtung Westen in Gang.
Es war mühsam, sich durch den Schnee vorwärts zu bewegen, auch der Wolf blickte skeptisch, wie mir schien. „Ja, brauchst gar nicht so zu gucken, ich schaff das schon, wirst sehen!“, knurrte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Von Zeit zu Zeit blickte ich mich um. Aber er schien mich als Beute noch nicht aufgegeben zu haben, denn er folgte mir beharrlich, wenn auch in einigem Abstand.
So schleppte ich mich, wie mir schien, einige Stun-den lang voran. Irgendwo hier in der Nähe musste eine Holzhütte stehen, wenn ich mich nicht arg täuschte. Aber der Schnee hatte die Landschaft so verändert, dass ich mich kaum noch auskannte.
Schon begann es zu dämmern, und das konnte bei diesen Temperaturen den Tod bedeuten. Auch ohne Wölfe. Ich musste dringend nach meinem Bein sehen, es schien stark verletzt zu sein. Doch konnte ich mich nur noch dunkel daran erinnern, wie das denn überhaupt geschehen war.
Ich blieb stehen.
Es war nichts zu hören als diese alles übertönende Stille. Als ich weiterging, nur noch das leise Knirschen des Schnees unter meinen Füßen. Alle Geräusche sonst wurden verschluckt. Verschluckt von einer wachsenden Verzweiflung, die ich nur noch schwer in den Griff bekam
Mit der untergehenden Sonne aber tauchte endlich die Hütte auf. Ich stieß ein Freudengeheul aus. Als dies jedoch prompt beantwortet wurde, schrak ich sofort heftig zusammen und nahm das Gewehr zur Hand. Es hörte sich sehr nah an. Das schien auch meinen Verfolger nachdenklich zu machen, denn er verhielt sich still, anstatt zu antworten. „Oh, hast wohl auch Bedenken, wie? Sind das nicht deine Brüder?“ Der Wolf blieb stumm, sah mich aber unverwandt an, als habe er verstanden, was ich sagte. Als wir schließlich bei der Hütte anlangten und ich die beinahe festgefrorene Tür endlich aufstieß, nutzte das Tier die Gelegenheit, mit mir zugleich ins Innere zu schlüpfen. Mir verschlug es die Sprache! Unsicher überlegte ich noch, ob ich die Tür schließen sollte, da ließ mich ein aus nächster Nähe ertönendes Geheul sie entsetzt hinter mir zuwerfen. Schnell schob ich auch den Riegel vor. Erst danach schaute ich mich wieder nach meinem „Mitbewohner“ um. Der Wolf aber hatte sich in eine Ecke verkrochen und horchte, genau wie ich, aufmerksam nach draußen. „Da sind wir wohl Leidensgenossen, wie?“, brummte ich unbehaglich. „Ich werde mal erst ein Feuer machen, auch wenn du das wahrscheinlich nicht magst!“ Zum Glück lag genügend trockenes Holz säuberlich an der Innenwand des kleinen Raumes aufgestapelt. Um keinen Preis der Welt hätte ich mich jetzt nach draußen getraut!
Allerdings hatte ich mein Messer immer in griffbereiter Nähe, ließ meinen ungewollten Begleiter in der Hütte nicht aus den Augen.
Schon kurze Zeit, nachdem ich das Feuer im Ofen entfacht hatte, fingen auch die nachgelegten dicken Scheite Feuer und begannen, eine wohlige Wärme zu verbreiten.
Der Wolf verblüffte mich damit, dass er sich nun behaglich ausstreckte, und zusammen mit mir ganz offensichtlich die Nähe der Flammen zu genießen schien.
„Na, das ist ja eine Überraschung! Du bist gar kein richtiger Wolf, wie?“ Ich befüllte einen Topf mit dem zu Eis gefrorenen Inhalt meiner Wasserflasche, den ich zu diesem Zweck erst zerklopfen musste. Während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte, betrachtete ich das Tier nachdenklich. „Du bist an die Menschen gewöhnt, stimmt’s? – Doch komm mir erstmal nicht zu nahe, ich muss jetzt mein Bein versorgen, hörst du? Das tut nämlich saumäßig weh!“
Draußen schien jetzt alles still, und so schnitt ich behutsam die Hose auf und suchte, sie von der Haut zu lösen, mit der sie bereits wie verbacken war. „Sssssss“, scharf zog ich die Luft ein vor Schmerz, als ich das Tuch schließlich mit einem Ruck vom Bein löste. Prompt fing die Wunde wieder an zu bluten. Schnell drückte ich etwas von dem vorher zurechtgelegten Mull darauf und zog eine Wickel fest darüber, um die Blutung zu stillen. Zum Glück war es nur ein Streifschuss gewesen, so dass ich nicht noch in der Wunde herumstochern musste, um eine Kugel herauszuholen!
Inzwischen war auch meine Erinnerung an das Davor zurückgekehrt. Aber daran wollte ich jetzt erst mal nicht denken. Ich brauchte dringend etwas Schlaf! Doch was war mit dem Wolf, überlegte ich argwöhnisch? Schließlich kippte ich den Tisch und legte mich dahinter, das Feuer in meinem Rücken. In der Hand hielt ich mein Messer.
Neugierig sah mir der Wolf bei meinen Vorbereitungen zu. „Dass du bloß nicht auf dumme Gedanken kommst! Lass mich ein bisschen schlafen, hörst du?“
Kurz darauf fielen mir vor Erschöpfung die Augen zu.
2
Er schreckt hoch, findet sich nicht zurecht.
War da nicht gerade noch der Wolf? Dann fällt es ihm wieder ein. Der Kerker!
Immer noch hält er die Essensschüssel fest in der Hand. Eben hatte er noch geglaubt, es sei sein Messer.
Draußen auf dem Gang ein Klappern, das immer näherkommt. Er nimmt die ungeleerte Schüssel und tastet sich zurück zum Brett, wo er sie abstellt. Schon wird die Klappe aufgerissen. Einen kurzen Moment lang kann er im trüben Lichtschein die ganze Enge seines Verlieses erfassen. „Was soll das, Zahl? Besser, du würdest was essen, sonst machst du es nicht mehr lang!“, der schnoddrige Ton lässt es sogleich noch um einige Grade kälter werden.
Der Gefangene bemüht sich gar nicht erst um eine Antwort für den Aufseher. Aber der hat die Klappe ja auch schon wieder zugeworfen.
Ihm wird immer deutlicher, er ist nur in einer einzigen Hinsicht noch wichtig für seine Häscher. Sie erwarten Informationen! Doch was wird aus ihm, wenn sie die bekommen haben? Noch ist er klar genug bei Verstand, um sich nichts vorzumachen. Es liegt auf der Hand, dass er dann ganz einfach wertlos für sie ist, und das heißt, dass er nicht nur verschwinden darf, sondern sogar muss! Sie werden ganz sicher dafür sorgen, da gibt er sich keinerlei Illusionen mehr hin.
Mit dieser Erkenntnis breitet sich auch die Kälte immer weiter in ihm aus. Unwillkürlich beginnt er wieder zu zittern.
Zudem machen sich jetzt auch noch Blase und Darm bemerkbar.
Irgendwo muss es doch eine Möglichkeit geben . . ., er tastet den Boden ab. Nichts!
„Hallo! Haaalloo!“ Er schlägt gegen die Tür. Nach einer ganzen Weile: „Hey Zahl, was machst du da für´n Getöse?“, die Stimme des Aufsehers klingt genervt.
„Ich muss mal zur Toilette!“ „Ach, der Kleine muss mal! Was glaubst du denn wo du hier bist? Dafür störst du meine Mittagsruhe? Bist du etwa ein Baby?“ „Bitte!“
„Weißt du was? Wenn du nicht aussagen willst – scheiß dir doch in die Hosen, aber lass mich in Ruhe!“, ein Fußtritt des Aufsehers lässt die Tür erbeben. Dann dessen, sich entfernende, Schritte.
Ungläubig verharrt er momentlang vor der geschlossenen Tür – bevor er sich schließlich langsam abwendet und in die äußerste Ecke vortastet, um sich dort hinzuhocken.
3
Ein lautes Scheppern riss mich aus dem Schlaf. „Ach du meine Güte! Was machst du denn da?“ Der Wolf suchte sich erschrocken und mit eingekniffenem Schwanz vor den gerade aus dem Regal purzelnden Metallschüsseln zu retten.
„Hahaha, wolltest wohl nach was Fressbarem suchen, wie?“, frotzelte ich.
„Hast du schon einen Namen? Na, guck nicht so! Hast ja recht, ein Wolf hat keinen Namen! Aber irgendwie muss ich dich ja nennen!“ Das Tier legte den Kopf schräg. „Na gut, nenne ich dich also Wolf! – Mein Name ist übrigens Ove! Das heißt so viel wie die Schwertschneide, die Spitze! – Aber davon verstehst du nichts!“
Der Wolf ließ ein kurzes Winseln hören.
„Also – wollen mal sehen, ob es hier was Essbares gibt!“ Ich stand auf und wühlte im Regal. „Hier haben wir tatsächlich ein paar Konserven, das dürfte fürs Erste reichen! Zumindest, bis ich etwas gejagt habe.“
Kurz horchte ich an der Tür, dann öffnete ich sie einen Spaltbreit, um hinauszuschauen. „Die Luft scheint rein, deine Kumpels haben sich verzogen!“ Auch Wolf kam herausgesprungen und suhlte sich fröhlich im Schnee.
„Also ich mach jetzt Frühstück!“, damit ging ich wieder hinein und begann, etwas von dem Konservigen in der Pfanne zu brutzeln. Ich brauchte dringend etwas Warmes in meinem Bauch. Kaum hatte ich es mir mit großem Appetit einverleibt, fühlte ich mich schon verpflichtet, nach dem Wolf zu schauen. Hatte ihm vorsorglich auch eine Portion bereitgestellt, dachte: Immer noch besser, als wenn er mich anknabbert.
Ich ging mit einer Schale Futter hinaus und sah mich nach ihm um. Nirgends eine Spur von ihm zu entdecken. Ein Gefühl von Enttäuschung über-raschte mich. Wo war er denn hin? Ob er schon weitergezogen war?
Plötzlich griff ich nach meinem Gewehr. Ich vermeinte, eine Bewegung in der Ferne wahrgenommen zu haben und schaute durch das Zielfernrohr. Tatsächlich! Da löste sich ein Wolf aus den Bäumen des nahen Waldrandes! – Aber war es auch „Wolf“, oder war es einer von den anderen, den wilden, Wölfen?
„Er ist es, ja! Er ist es! Und er bringt gleich was zum Frühstücken mit!“, jubelte ich plötzlich und musste über mich selber lachen. „Na, das kommt davon, wenn man zu lange in der Wildnis alleine ist, dann redet man mit Wölfen und schon mal mit sich selbst!“, feixte ich wohlgelaunt. „Was bringst du denn da Feines, mein Guter? Gib schon her und hör auf zu knurren! Schau mal, ich hab auch was für dich!“
Ich wusste, dass man Wölfe nicht zähmen kann, daher versuchte ich es auf meine Art, und hatte Erfolg. Das Tier schien mich zu respektieren. Und es schloss sich mir an. In der folgenden Zeit blieb es in meiner Nähe, auch wenn es zwischendurch immer mal wieder Erkundungsgänge unternahm. Aber jedes Mal kam es auch wieder zurück.
Beinahe hatte ich alles Vergangene von mir abgestreift. Und mein Bein war inzwischen relativ gut verheilt.
Es war nicht zu befürchten, dass meine Verfolger noch hier auftauchen würden, denn sie wähnten mich wohl tot. Das glaubte ich jedenfalls.
4
Die Schritte kommen näher, laut und unheilkündend.
Dann wird die Tür aufgerissen, so dass das grelle Licht ihn blind werden lässt. „Ach du meine Güte, stinkt das hier! Wir werden dich wohl erst abspritzen müssen, du Schwein!“ Schon spürt er den eiskalten, harten Strahl des Wassers wie einen Schlag. Als der sein Gesicht trifft, nimmt es ihm sogleich die Luft zum Atmen, und er stürzt der Länge nach hin!
Sogleich wird er wieder hochgerissen, und sie schleifen ihn hinaus. Hinaus aus seinem Kerker! Beinahe möchte er darüber jubeln, doch er kann noch nicht mal irgendetwas erkennen, nach der langen Dunkelhaft.
Nur langsam gewöhnen sich seine Augen wieder an die Helle, so dass er zumindest die Umrisse des Verhörraumes zu erfassen vermag. Grob wird er auf einen Metallstuhl gedrückt.
Ist es schon soweit?
Er hebt seinen Kopf. Ihm gegenüber am Schreibtisch sitzt ein Mann, doch er ist nicht imstande, dessen Gesicht zu identifizieren. Eine Weile lang passiert gar nichts. Da beginnt er unruhig zu werden. „Was, was haben Sie mit mir vor?“ Seine Stimme klingt rau und zittrig.
„Mein lieber „Zahl“! Das hängt doch ganz allein von dir ab, wie du weißt!“ Diese Stimme! Er kennt doch diese Stimme!
In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. „Können Sie die Lampe etwas drehen, sie blendet mich!“, wagt er anzumerken! „Aber sicher doch, Zahl!“
Die Leuchte wird etwas gedreht, aber nun fällt ihm das Licht noch direkter in die Augen, so dass er sie schließen muss. „Nnein, nicht so, bitte!“
„Wohl nie zufrieden, was?“ Völlig unerwartet trifft ihn ein Schlag mitten ins Gesicht. Und mit einem Mal weiß er, woher er diese Stimme kennt.
Kann das denn sein? Ist es wirklich möglich, dass dies . . . das dies sein früherer Nachbar ist?
Er ist geschockt!
Nein, ein Irrtum ist nicht möglich. Er ist es!
Das verschlägt ihm für eine Weile die Sprache. Doch dann fährt er hoch: “Carl! Das bist doch du?“
Als keine Antwort kommt, fleht er: „Du musst mir helfen, Carl!“ Das Flüstern zweier Männer ist zu hören, doch er kann nicht verstehen, was da geredet wird, so sehr er sich auch anstrengt. Jetzt ist es eine andere Stimme, die ihn anherrscht: „Du Hurensohn, wenn du nicht bald sprichst, wirst du es nie mehr tun – können! Ist dir das klar? Ist dir das klar, hab ich gefragt!“
Jemand zerrt an seiner Schulter. Er nickt. „Ja, ja das ist mir klar!“ Seine Stimme ist beinahe tonlos.
„Und?“
Ungeduldig trommelnde Finger auf dem Schreibtisch vor ihm. Er räuspert sich und ihm wird unmissverständlich deutlich: Ja, es ist soweit!
Mit gesenktem Kopf flüstert er: „Bringen Sie mich zurück!“
5
Und dann waren sie plötzlich doch da!
Mitten in der Nacht überraschten sie mich, als ich überhaupt nicht mehr damit gerechnet hatte.
Als Wolf zu winseln begann, dachte ich zunächst an die anderen Wölfe, doch dann wurde mit einem Schlag die Türe aufgebrochen, und schon standen sie mitten in der Hütte.
Wolf machten sie sogleich den Garaus, als er Anstalten machte, sie anzugreifen. Die Kugel traf ihn mitten zwischen die Augen. Mein lieber Freund: Wolltest du mich denn tatsächlich verteidigen?
Der Schmerz über deinen Verlust ist groß! Dabei kannten wir uns erst so kurze Zeit. Und doch reichte unsere Verbindung tiefer, als es bei Menschen so schnell möglich gewesen wäre. Wir waren Seelenverwandte, wie es nur echte Freunde sind!
Deine treuen braunen Augen ließen mich nicht mehr los.
Tränen rannen über mein Gesicht – doch das rührte die Jäger in keiner Weise.
Nicht einmal mit Steinen durfte ich dich bedecken, zum Schutz vor Tierfraß, denn sie hatten es furchtbar eilig.
Es tut so weh, wenn ich daran denke.
Ein anderer Schmerz wurde an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült. Ich hatte ihn bisher erfolgreich verdrängt, sonst hätte ich nicht überleben können.
Nun jedoch legte er sich mit ganzer Schwere auf all meine Gedanken. Jetzt forderte er sein Lebensrecht ein! „Jytte!“ – Ich muss es laut ausgerufen haben, denn einer der Männer presste mir sofort den Mund zu! Alle duckten sich, um nicht gesehen zu werden. Mich nahmen sie in den Würgegriff, bis mir Sterne vor den Augen tanzten. Eine bezeichnende Geste, wie Halsabschneiden, tat ihr Teil dazu bei, mir klarzumachen, was mit mir geschehen würde, falls ich nicht kooperierte.
Als wir die grüne, bzw. jetzt schneegeweißte Grenze passierten, wurde mir klar, dass ich nicht mehr auf die Hilfe meiner Landsleute rechnen durfte. Sie ahnten wahrscheinlich noch nicht einmal etwas von meinem Schicksal.
Ich weiß auch nicht, wieso ich trotzdem noch so voller Hoffnung gewesen war. Hatte mir wohl selber etwas eingeredet.
Meine Liebste, Jytte, war tot, da gab es keinen Zweifel! Ich hatte ja selbst gesehen, wie sie ihr mit dem Messer den Hals aufgeschlitzt hatten. Doch ich wollte, ich konnte es einfach nicht glauben! Ich würde später zu ihr zurückkehren und dann . . .
Wie oft hatte sie mich gebeten, mir einen anderen Job zu besorgen, wie oft! Es war ja klar, dass die Arbeit gefährlich war! Und geheim noch dazu!
Ich hatte sie benutzt! Hatte sie miteingebunden in meine Spitzeltätigkeiten, hatte mir damit große Schuld aufgeladen! Ich weinte lautlos, haltlos.
„Hör auf zu flennen!“ Der Mann stieß mich mit dem Fuß an.
Dann ging es weiter, bis wir schließlich dort landeten, wo ich mich noch jetzt befinde.
6
Wie betäubt sitzt er nun schon seit Stunden nur so da. Doch je regloser er in seinem Äußeren erscheint, um so turbulenter geht es in seinem Inneren zu. Als er wieder aus seinen Gedanken auftaucht, erscheint ihm seine Lage schier unerträglich! Am liebsten möchte er sich selbst sogleich vom Leben zum Tode befördern. Doch wie soll er das anstellen? In diesem Gelass gibt es nichts, was er als Hilfsmittel für solches Tun gebrauchen kann.
Probeweise untersucht er die Wand, kratzt an ihr und sucht nach Lücken, doch nichts, außer zersplitterten Fingernägeln!
Wenn er sich ihnen so nicht entziehen kann, dann muss er es eben anders schaffen! Er kann sie nicht siegen lassen! Jyttes Tod, er muss einen Sinn gehabt haben! Doch bevor er diesen Gedanken weiterdenken kann, ist er schon wieder abgedriftet.
Seine Konzentrationskraft hat deutlich nachgelassen, seit er aufgehört hat, zu essen.
Wiederum befindet er sich in einem Bewusstseinsstrom, der ihn hilflos, wie in einem Fluss, dahintreiben lässt, sein Gemüt unkontrolliert in dessen Wellen hin- und hergeworfen.
Später, als ihm bewusst wird, welche Gefahr dies für ihn bedeutet, beginnt er damit, einen Plan zu schmieden. Er weiß, dass die Zeit dabei gegen ihn arbeitet.
Über Stunden bemüht er sich verzweifelt darum, sich immer wieder neu zu konzentrieren, um klare Gedanken zu fassen. Die Anstrengung ist so groß, dass er darüber mehrfach wegdämmert, ohne voranzukommen. Schließlich aber ist er soweit.
Ja, so allein kann es gehen! Denn wenn er ihnen in diesem leiblichen, irdischen Sein auch hilflos ausgeliefert ist, so können sie ihm in dem viel umfassenderen, größeren doch überhaupt gar nichts anhaben! Und genau das sollen sie erfahren! Sie werden ihm keine Angst mehr machen können! Er weiß, dass es in seinem Zustand nicht einfach sein wird, das umzusetzen – oder war es vielleicht gerade darum leichter? Ab sofort wird er auch nichts mehr trinken, er wird überhaupt nichts mehr zu sich nehmen.
Und dann will er meditieren, aus Enge und Dunkelheit endlich ins Licht treten!
7
Wir hatten uns im Sommer, auf einer Party, kennengelernt. Jytte kam ein wenig verspätet, das Fest war schon in vollem Gange. Als sie in mein Blickfeld geriet, war es gleich um mich geschehen. Sie entsprach in etwa meinem Traumbild von einer Frau.
Doch ganz so leicht machte sie es mir nicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es war, als ahnte sie schon damals, was da auf sie zukommen sollte. Ganz anders als ich. Ich war ja so arglos, so sorglos, dumm?
Nein, nein, einfach total verliebt war ich, bin ich immer noch! Hatte ihren Tod noch ganz und gar nicht realisiert.
Es fehlte die Zeit, der Trauer ins Gesicht zu blicken. Zwei unterschiedliche Denkweisen in einem einzigen Kopf, das musste zu Irritationen führen! Wenn erst mal ins Licht des Bewusstseins trat, was ich krampfhaft versuchte, auszublenden, dann bedeutete das großes Leid für mich.
Doch jetzt war wohl die Zeit gekommen, sich damit auseinanderzusetzen!
„Oh Jytte, mein geliebter Schatz!“
Ein tiefer Schluchzer entfuhr meiner Kehle. Ihr Gesicht schien dem meinen plötzlich so nah, dass ich vermeinte, ihren Atem auf meiner Haut zu spüren. Tränen lösten sich aus meinen Augen und rollten mir unkontrolliert über die Wangen. Sie schwollen an zu einem Strom unstillbaren Leids, das mich zu Boden warf und schüttelte, bis ich schließlich in eine gnädige Erschöpfung versank.
8
Ein Schrei lässt ihn hochfahren. Kerzengerade kniet er auf dem nackten Boden seines Verlieses und horcht in die Dunkelheit.
Wieder dieser, beinahe heulende, um Gnade bettelnde Schmerzenslaut, der nichts Menschliches mehr an sich hat. „Aufhören!“ Entsetzt hält er sich beide Ohren zu und schlägt mit dem Kopf gegen die Wand.
„Aufhören!“ Von außen donnert jemand gegen seine Tür. „Noch einen Ton und du kommst auch gleich dran!“ droht der Wärter. Entsetzt steckt er sich die Faust in den Mund, um seine Schreie zu ersticken. So werden sie bald auch ihn . . .
Er fängt leise an zu summen, summt und findet seinen eigenen Ton – unhörbar für die Schergen. Er fließt aus ihm heraus, immer weiter, immer mehr, bis er den Raum ganz erfüllt. Und fließt und drängt durch den kleinsten Spalt – bis hinaus auf den Gang und weiter noch durch die Mauern und ganz hinaus ins Freie! Dort entfaltet er sich erst recht und fährt jubilierend empor, als habe er Flügel bekommen, hebt sich und hebt, bis hinauf ins All!
Und er hört ihn aufsteigen, horcht, wie er langsam leiser wird, immer leiser, bis er schließlich ganz entschwindet.
So wird er es auch machen – vielleicht schon ganz bald!
Erschöpft sinkt er wieder in sich zusammen.
9
Leise bewegten wir uns durch die Nacht, immer auf der Hut vor den Grenzpatrouillen. Ich hatte die Leute vor dem Aufbruch instruiert, wie sie sich zu verhalten hatten. Und sie wussten genau, was sie erwartete, wenn wir entdeckt wurden. Als Systemgegner würden sie in irgendeinem Gulag, würden im Nirgendwo des riesigen Landes verschwinden.
Schon lange wollte ich mit meinen Grenzgängen aufhören, doch immer wieder wandten sich verzweifelte Menschen an mich, ihnen aus ihrer Not herauszuhelfen. Ich konnte sie nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen!
Diesmal war es eine ganze Familie, die ich herüberholen sollte. Die zwei kleinen Mädchen, die von ihren Eltern fest an den Händen gehalten wurden, gähnten müde und taumelten erschöpft mit uns durch die Nacht. Vor uns lag eine weite Ebene, die wir zu durchqueren hatten, doch noch lag kein Schnee, und so war die Gefahr der Entdeckung nicht gar so groß. Als aber plötzlich, nicht weit hinter uns, ein Licht durch die Dunkelheit zitterte, trieb ich die Leute zu höchster Eile an: „Los! Schnell, es ist nicht mehr weit! Gleich haben wir es geschafft!“
Die Freiheit war bereits in Sichtweite, und tatsächlich schafften wir es bis dorthin, schafften es hinaus aus diesem Land. Schon wähnten wir uns aber in Sicherheit, da mussten wir mit Entsetzen feststellen, dass wir noch immer gejagt wurden. Unsere Verfolger konnten dem Drang nicht wiederstehen, uns dennoch zu überwältigen.
Wohl nach der Devise: Wo kein Kläger, da kein Richter!
Zuerst nahmen sie sich die Familie vor: Peng! Peng! Peng! Peng! Jütte kam aus unserem Haus gelaufen, heftig mit den Armen gestikulierend, auf uns zugelaufen: „Nein, nein! Nicht doch!“, schluchzte sie noch. Dann war sie selbst dran. Mir gefror das Blut in den Adern, ich konnte nicht glauben, was ich mit eigenen Augen sah. Doch dann ging ein Ruck durch meinen Körper, als ich begriff! Noch waren sie beschäftigt, und ich nutzte meine letzte Gelegenheit zur Flucht.
10
Lange Zeit dämmert er nur so dahin.
Bald wird er Jütte wiedersehen, bald! Schon wird ihre Kontur klarer – tritt sie lächelnd auf ihn zu. Er streckt ihr seine Arme entgegen: Liebste!
Doch dann wird er plötzlich unruhig und merkt auf.
Entkräftet liegt er noch immer in seinem dunklen Gefängnis. Er kann sich kaum mehr bewegen, so schwach ist er geworden.
Er sehnt sich so – will nicht länger in diesem Dasein gefangen bleiben! Da, ein Schimmer in der Ferne!
Und bald spürt er, wie ihn sein Wunsch ganz langsam hinüberträgt.
Als ein wenig später die Wärter kommen, ihn zu holen, finden sie nur noch seine Leiche vor.
Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln.
Meine Chancen stehen ganz gut, wie der Anwalt sagt. Ich glaube ihm nicht so recht. Denn wenn meine Chancen wirklich gut stünden, bräuchte ich ja gar keinen Anwalt.
Jedenfalls ist es jetzt an der Zeit, sich zu verteidigen.
Agnes hat jede weitere Aussprache abgelehnt. Sollte ich noch irgendetwas von ihr wollen, so hätte ich mich ausschließlich an ihren Anwalt zu wenden.
Das verstehe ich. Wie ich mich ja immer bemüht habe, verständnisvoll und tolerant zu sein.
Allein: Sie hätte die ganze Sache wenn schon nicht vergessen, so doch zumindest auf sich beruhen lassen können. Nachtragend ist sie in den gesamten fünf Jahren nie gewesen. Ich bilde mir ein, dass sie am Anfang unserer Beziehung sogar mal zu mir aufgeschaut hat. Da hat sie noch den Rettungsschwimmer, den Lebensretter in mir gesehen. Ich wollte immer schon Bauingenieur werden, Brücken bauen, und ein Menschenfreund wollte ich bleiben.
Nach Köln-Hauptbahnhof sind wir gemeinsam gefahren, als zwei Menschenfreunde, die das Leben einfach nur bejahen. Das erste Mal wegen der Willkommensparty, im vergangenen September. Das zweite Mal, um Silvester zu feiern.
Wir wollten tanzen. Angetanzt werden wollten wir nicht.
Als alles vorbei war, endlich vorbei war, hatte ich sie ganz fest in den Arm genommen und zu trösten versucht. Wenn ich will, kann ich auch witzig sein. Und schon am 2. Januar hatte ich ihr ein neues Smartphone gekauft.
Ihre Würde konnte ich ihr nicht ersetzen.
Diebstahl hin oder her. Viele Frauen und Mädchen hatte es in dieser Nacht noch viel schlimmer erwischt. Dieses Argument hatte ich erst am 3., und dann nochmal am 4. Januar ins Feld geführt. Am 5. Januar packte Agnes das allernötigste zusammen. Ihr neues Smartphone zählte sie offenbar nicht dazu.
Mich hat sie bestraft. Mich. Dabei habe ich doch gar nichts gemacht. „Eben“, hat sie gesagt. „Die Kerle haben mir in die Brüste gekniffen und zwischen die Beine gefasst. Einer hat mir sogar die Zunge in den Hals gesteckt. Und Du hast nur dagestanden.“
Richtig. Die Armlänge Abstand, wie von der Politik im Nachhinein empfohlen, hatte ich in dieser Nacht konsequent eingehalten. Mit Ohnmacht hatte das folglich nichts zu tun. Mit Feigheit erst recht nicht.
Was hätte ich denn auch sonst machen sollen … können … müssen … dürfen? Das habe ich nicht sie gefragt. Das habe ich mich gefragt.
Ja, ich gebe es zu. Am 15. Januar überfiel mich in der halbleeren Wohnung einmal der Wunsch, sehr groß und sehr stark zu sein. Die Freundin eines Zwei-Meter-Mannes, mit Armen so dick wie anderer Leute Oberschenkel, hätten sie bestimmt nicht begrabscht. Nicht einmal zu fünft oder zu sechst.
Am 17. Januar ertappte ich mich am Frühstückstisch bei dem Gedanken, dass sich ein Messer nicht nur zum Brotschneiden eignet. Ob wohl einer von ihnen in dieser Nacht ein Messer dabei gehabt hatte?
In meinem Hunger nach tröstlichen Impulsen sah ich dann beim Abendbrot diese Talk-Show, in der ein sehr gebildeter Gast erklärte, dass Integration naturgemäß nicht immer reibungslos verlaufen könne. Umso löblicher seien daher Schritte in die richtige Richtung. Gemeint waren etwa diese neuen, mehrsprachig untertitelten Bildtafeln in den
Schwimmbädern, denen zufolge blonde Mädchen im Bikini kein Freiwild seien. (Fairerweise möchte ich betonen, dass er weder „frei“, noch „wild“ in den Mund nahm.)
Spät, aber für eine Talk-Show nicht zu spät erinnerte ein anderer Gast, kaum minder gebildet, an die deutsche Vergangenheit und die immer währende moralische Verpflichtung. Jeder solle nochmal in sich gehen und sich fragen, was er – oder auch sie – hätte besser machen können. Dass jemand wie ich alles richtig gemacht hatte, sagte trotz alledem keiner der Gäste.
In der Nacht zum 19. Januar musste ich im Halbschlaf an diesen Selbstverteidigungskurs denken; ein Angebot an der Technischen Hochschule im zweiten Semester. Ich hatte nicht daran teilgenommen. Wozu auch? Mich selbst hätte ich ja nicht zu verteidigen brauchen.
Im Internet gierte ich an den Folgetagen nach Sportberichten. Die Frauen von heute lernen Boxen und Kickboxen, werden sogar Weltmeisterinnen. Sie können sich selber wehren. Sie müssen sich selber wehren können.
Die Brandwunde an Agnes´ Hals habe ich übrigens zu spät bemerkt. Einer von ihnen hatte seine Zigarette draufgedrückt. Doch kein Knutschfleck.
„Körperverletzung“, „Raub“, „Sexuelle Belästigung“. So etwas müsste in der Anzeige stehen. Nichts von „Unterlassener Hilfeleistung“. Und die Anzeige müsste dahin flattern, wo diese Kerle wohnen. Aber wo ist das?
Der Polizist hinter seinem sicheren, aber wackeligen Schreibtisch hatte uns von vorneherein sehr wenig Hoffnung machen können. Die Täterbeschreibung, die Agnes mit stockender Stimme und verheulten Augen abgegeben hatte, war demnach viel zu vage. Schwarzhaarig, mittelgroß und „relativ jung“ sei jeder dritte oder vierte Migrant in Köln und Umgebung. Wobei der Bulle an diesem Neujahrsmorgen wahlweise mal vom „Ausländer“, mal vom „Nafri“ gesprochen hatte.
Doch dann – vier Wochen nach Silvester – der Kracher, eingeworfen in unseren Briefkasten, der jetzt nur noch mein Briefkasten ist: Wenigstens ein Schuldiger scheint doch noch gefunden worden zu sein. Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und kennt, wie so oft bei Sexualstraftaten, das Opfer sogar persönlich.
Womöglich einer dieser Wiederholungstäter? Jedenfalls war es seine Absicht gewesen, auf der Domplatte erneut in Aktion zu treten. Dort wollte er nämlich auf das Opfer warten. Einen Ring wollte er ihm an den Finger stecken. Am 14. Februar. Nachts, wenn die Sterne funkeln.
«Schöne Schuhe trägst du. Die passen zu dir.»
Sein Körper liegt rücklings verdreht auf den helltürkisen Fliesen gleich hinter der Badezimmertür, der flauschige Bademantelsaum am Haken aufgehängt berührt ganz knapp seine verschwitzte Stirn. Eingeklemmt zwischen seinem schlaffen Körper und der Badezimmerwand versucht er den zur Brust geknickten Kopf ein wenig zu drehen, um meinen schwarzen italienischen Schuh genauer betrachten zu können.
«Wie bin ich nur hier angelangt?», flüstert er leise. «Aber schön, dass du da bist. Ein schöner Anblick bin ich bestimmt nicht, tut mir leid.»
Die Haustür hatte gastfreundlich offen gestanden, und ich hatte naiv geglaubt, dies wäre ein gutes Zeichen. Wer Türen offen stehen lässt, hat entweder nichts zu verbergen oder nichts, woran man hängt. Oder, man möchte gefunden werden, obwohl man sich abgemeldet hat.
Ohne dass man um Hilfe rufen muss. Dies wäre nämlich ein Zugeständnis, man würde das Versagen offen in die Arme schliessen mit einem Hilferuf. Da lässt man lieber die Türe offen stehen. Er hatte noch nie viel über sich selbst gesprochen, und heute mit einem Hilferuf zu beginnen, nein, das passt nicht zu ihm. Lieber Türen offen stehen lassen und gefunden werden zulassen.
«Geschlossene Türen machen Agnostiker zu Atheisten», hatte ich gedacht, als ich da gestanden hatte, unschlüssig, ob ich ihn suchen durfte. Ich war noch nie in sein Schlafzimmer gegangen zum Beispiel, obwohl wir dieses Sich-dem-Schlafzimmer-nähern-Spiel oft gespielt hatten. Ich war noch nie in seinem Badezimmer, kenne die marokkanischen Fliesen aber, weil er mir einmal eine geschenkt hatte.
«Für unter deinen Teekrug, damit du den Tisch nicht verbrennst», hatte er gesagt, als er von einer Malreise zurückgekehrt war und gebräunt vor meiner Tür gestanden hatte.
Und nun liegt dieser Mann vor meinen schwarzen italienischen Schuhen.
«Setzt du dich ein wenig zu mir?» fragt er, seine Augen sind wieder geschlossen, seine rechte Hand zieht er mühsam unter seinem Rücken hervor, damit er mich zu sich hinunter winken kann. Die Badezimmertür, die ich mit aller Kraft aufstossen musste, um überhaupt eintreten zu können, schliesse ich jetzte hinter mir, und ich knie mich seitlich zu ihm auf den Boden, lege den Kopf auf seine Brust und seine rechte Hand auf meine linke Wange.
«Du riechst gut», rutscht es mir heraus und gleite über die Jahrzehnte alte Grenze der Unnahbarkeit. Meine rechte Wange spürt ein zuckendes Lächeln in seiner Brust.
«Ganz alles habe ich nicht aufgegeben.» Ohne mein Gesicht zu bewegen suchen meine Augen nach Halt im Raum. Auf dem kleinen Schrank unter dem Waschbecken stehen ein paar präzise aufgestellte Fläschchen mit teurem Flair, jene, die seine Frau zurückgelassen hatte, um sich nicht erinnern zu müssen. Denn Duftreisen sind zwar kostenlos, aber unberechenbar. Das Badezimmer ist hell und sauber und aufgeräumt, und wenn ich nicht auf dem kalten Boden neben meinem ältesten Freund seitlich gebeugt knien würde mit der Wange auf seiner Brust und mit meinem Arm um seinen zitternden Körper, dann wäre doch alles ganz und gar normal, in diesem Badezimmer. Aber nichts ist mehr normal.
Für eine Zeit lang waren Schiff, Ente und Wasserrad auf dem Wannenrand normal, Haarbänder und ein rot geblümter Schemel, auf dem sich die kleine Vera stehend alleine die Zähne putzen konnte, während man beim Familienessen in kleinen Schlucken trank, vernünftig am Tisch und versteckt in der Küche und dabei so tat, als wäre der Wein für die Sauce gedacht. Veras strahlendes Gesicht war ein Schutzschild gegen das Masslose gewesen, ihre kindliche Reinheit die Wächterin des klaren Gewissens.
Jetzt kauere ich wieder in einem Junggesellenbadezimmer ohne Plastik, neben einem scheinbar siebzigjährigen Mann, der vor nicht allzu langer Zeit gerade mal fünfzig war, bevor die Weinregale im Keller hemmungslos leergetrunken worden waren und das Leuchten aus seinen Augen gewichen war.
«Ich habe eigentlich einen Plan. Wenn ich nicht besoffen im Bad flachliege.» Er spricht sehr langsam und kaum hörbar. An anderen Tagen hätte ich gelächelt, aber gerade jetzt kommt mir dieser Satz so dünn vor wie die spröde Haut an seinen Händen. Pläne gibt es in seinem Leben so viele wie auf den Regalen im Architekturbüro nebenan, fein säuberlich eingerollte, viel zu teure oder unpraktische aber stets sehr eindrücklich handcolorierte Pläne. Der Architekt ist heute mehrheitlich arbeitslos und hatte auch beim Kelleraustrinken geholfen.
Als ob das nicht alleine ginge, hatten sie gemeinsam oft lange schweigend nebeneinander dagesessen, bis die Schemel rote Kreise in ihr Sitzleder gepresst hatten. Die hatte man auch noch drei Stunden später sehen können, als die beiden auf den vollen Weinbäuchen auf Strandtüchern im überwucherten Sommergarten gelegen hatten, um den Rausch auszuschlafen. Im Juli.
Jetzt ist Dezember, der Keller leer und der Architekt hat sich frisch verliebt. Auch bei ihm stehen keine Wasserräder mehr im Badezimmer, aber seine Tochter wird wenigstens einmal pro Woche für eine Nacht zu Besuch gebracht. Seine Weingläser habe er verschenkt, hat mir der Architekt einmal im Oktober beschämt gestanden, scheinbar entsorgt ist damit das schlechte Gewissen und auch die peinliche Blösse, die man sich auf runden Bäuchen im Sommer gegeben hatte, und die an den Gläsern wie fettige Fingerabdrücke geklebt hatte.
«Hast du schon einmal etwas gestohlen?» frage ich und möchte mich aufsetzen, meine Beine schlafen ein. Ich weiss nicht genau, warum mir gerade diese Frage in den Sinn kommt. Eine Notfallfrage aus Verlegenheit.
«Ich habe immer für alles bezahlt», antwortet mein ältester Freund. «Auch jetzt. Schau mich doch an.» Wieder spüre ich sein Lächeln. Fast ein Hüsteln. Er räuspert sich.
«Manchmal ist nichts zu teuer, aber das kennst du ja. Immer schön masslos.»
Langsam entziehe ich mich unserer allerersten Umarmung, ich stehe auf und blicke auf ihn hinunter. Seine dunklen lockigen Haare sind schweissverklebt, die Haut an seinen rechten Fingerspitzen ist vergilbt von zu tief herabgebrannten Zigaretten. Im grauen weichen Wollpullover sind ein paar Brandlöcher an den Ärmeln.
«Kannst du mir einen Gefallen tun?» Seine tiefe Stimme klingt nüchterner und fest.
«Sicher. Was denn?»
«Kannst du für mich einen Brief einwerfen? Er liegt auf dem Regal im Wohnzimmer.»
Er holt tief Luft und versucht erneut, seinen Körper aufzurichten. Ich gehe in die Knie und ziehe ihn etwas zur Seite, weg von der Tür, dann setze ich ihn auf, wie eine träge regennasse Heupuppe lässt er sich bewegen, aber sein Körper ist zu schwer für mich und ich setze mich wieder. Nun lehnt sein Oberkörper mit dem Rücken gegen meine Brust, Beine ausgestreckt.
Die nackten Füsse sehen alt aus, denke ich. Wann beginnen Füsse alt auszusehen, frage ich mich, und es gelingt mir nicht mehr, wegzuschauen.
Ich erinnere mich an seine jungen nackten Füsse, als er mir vor drei Jahrzehnten sein erstes Atelier gezeigt hatte, als wir zusammen auf dem breiten Sofa unter einer Bogenlampe in der leeren Halle sassen und übermütig über Kunst philosophierten. Damals war ich unnachvollziehbar verliebt gewesen, obwohl er einen undurchsichtigen Ruf hatte. Für diesen ersten Besuch im Atelier hatte ich ein Mixtape zusammengestellt, auf dem Boden kauernd, Kette rauchend hatte ich Songs von Sängern in schwarzen Rollkragenpullovern ausgesucht, um musikalisch ein möglichst subtil zweideutiges aber doch beeindruckendes Verliebtheitgeständnis zu verfassen. Ich hatte mir vorgenommen, dass ich die Kassette ganz
beiläufig einlegen würde zwischendurch, während er uns vielleicht Kaffee brauen würde. Ich hatte gedacht, dass ich mit exquisitem Musikgeschmack und minimalsitisch gestalteter Kassettenhülle aus Helvetica und Man Ray Herzgeschichte schreiben würde. Tatsächlich hatte sich der Mutprobemoment ergeben, ich hatte das Tape hastig in das Kassettendeck hineingeschoben, den Startknopf gedrückt. Aus den Lautsprechern war zuerst ein Knacken gebrochen, gefolgt von einem baritonen Brummeln.
«Was machst du da?» hatte er aus der kleinen Küche gerufen. «Die Anlage ist kaputt, aber das weisst du ja jetzt!»
Mit übertriebener Vorsicht hatte er später das verquirlte Band aus dem Deck gezupft. Die Kassette würde er auf Bandsalat gebettet in einer kleinen Schale auf einem der Regale aufbewahren, bis aus dem Schwarzband die letzten Melodien verklungen waren, und meine Verliebtheit auch.
«Willst du denn, dass ich gehe?» frage ich.
«Nein. Aber ich will mich scheiden lassen. Der Brief geht an den Anwalt. Bringst du mir etwas Wein mit, wenn du wiederkommst?»
Wein werde ich keinen kaufen. Ich weiss, dass ich den Brief mitnehmen, aber statt in den Briefkasten, in den Hundekoteimer daneben werfen werde, zusammen mit meinem Anflug eines schlechten Gewissens.
Vor vielen Jahren ist es mir nicht gelungen im Spiel gegen das Schicksal zu gewinnen.
Heute gelten andere Regeln.
„Es gibt drei Kräfte auf dieser Erde, die das Gewissen dieser
schwächlichen Rebellen zu ihrem eigenen Glück für immer besiegen und fesseln können: Das Wunder, das Geheimnis und die Autorität.” So schrieb Fjodor Dostojewski in „Die Brüder Karamasow”. Alles kommt in einem Begriff zusammen: dem Wert. Ein Wert hat nach der Definition des Anthropologen Clyde Kluckhohn das desire, das Begehren, im Zentrum. An diesem Begehren mißt sich ein Gewissen. Ist es richtig oder ist es falsch? In einem Wert steckt Wahrheit. In ihm versammelt sich alles, was dem Zweck des Begehrens zuträglich ist. Wahrheit ist etwas, das sich dem indogermanischen Wörtchen wēr nähert. Wēr hat die Begriffe Vertrauen, Treue, Zustimmung als Inhalt. Faktizität ist dagegen Kern der modernen rationalen Definition. Ihr fehlt etwas Substantielles: Die Antwort darauf, wie man aus Fakten ein Begehren erzeugen kann. Goethes Faust lebt das Drama: Trotz allem Wissens fehlt ihm das Erstrebenswerte und mit ihm die Orientierung auf eine Wahrheit hin. Der Zukunft kann man nur mit Sorge entgegen schauen oder Vertrauen schenken. Das ist ein Gefühl. Und das Gewissen? Orientiert es sich nicht an Wert und Wahrheit, um Form zu bekommen? Ein wert-freies Gewissen ist substanzlos. Das freie Gewissen versteht sich dagegen als die Möglichkeit zu einer eigenen Entscheidung deren Konsequenzen – post ante – zu Gewissen führen.
Im Jahre 1989 war ich in Sorge. Ich wollte nicht, dass die Mauer fällt. Ich fürchtete, dass der imperialistische Feind auf unsere Seite kommt. Mein vierzehn Jahre altes Gewissen fühlte sich rein an — zumindest wenn man davon absah, dass ich mit meinem Freund Patrick gelegentlich Zigaretten aus der „Ernte 23” Schachtel seines Vaters geklaut hatte. Der Sozialismus war eine Lebensordnung, die ein Kind konditionierte und zugleich behütete. Glücklicherweise endete er als ich zum Jugendlichen initiiert wurde. Sonst hätte ich das Korsett gespürt, das mir wie unter einem römischen Vater, mein ganzes Leben lang keine Emanzipation gewährt hätte.
Ich erinnere mich an die Poster an der Wand in unserer Schule: Tarnkappen-Bomber aus denen schwarze Zigarren fielen. Daneben magere, hungernde Kinder in Afrika. Der IMPERIALISMUS! war der Feind und damit jeder Mensch, der für ihn stand. Es gab gute und böse Menschen in dieser Welt, weswegen es im Kindesalter schon mit den Lobliedern auf unsere Soldaten begann („Gute Freunde in der Volksarmee…”) und dem Stolz auf Zugehörigkeit („Ich trage mein Halstuch, das blaue, seht her…”). Ich besaß ein fremdes Gewissen. Es war rosa als ich Kind war und begann sich rot zu färben. Die Chancen wuchsen, dass ich irgendwann meinen Finger am Abzug gegen einen dieser Imperialisten gekrümmt hätte. Zumindest dieser kollektive Teil meines Gewissens wäre rein gewesen.
Doch selbst der Arbeiter- und Bauernstaat konnte keinem seiner Bürger die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion nehmen. Die Macht des Apparats musste immer absurdere Versuche unternehmen, um ihre Versprechen zur Wirklichkeit hin zu verbiegen. Irgendwann versuchte sie sich am Verbiegen der Wirklichkeit selbst und scheiterte. Imperialisten, Kapitalisten und Kriegstreiber hin oder her; die Lebensumstände im eigenen Land, die Verpetzer der Stasi, die leeren Konsums, die Beschäftigungsmaßnahmen in den Betrieben. Es war nicht zu maskieren oder schönzureden. Nur Druck, Drohung und Gefängnis blieben, welche das Absurde durchscheinen ließen. Übrig blieb nichts mehr außer diejenigen, auf deren Rücken er vierzig Jahre lang getragen wurde. Die real-sozialistische Ideologie war nicht der erste und der letzte Ethos, der an sich selbst erstickte. Aber er verschwand nicht mit dem Mauerfall aus den Köpfen.
Während die Werteordnung des sozialistischen Arbeiter- und
Bauernstaats zerbröckelte, begann ich in der Folge an meiner
Gewissheit über meine (die rote) Weltanschauung zu zweifeln. Das, was gut und böse oder richtig und falsch bestimmte, verlor Substanz. Die Wahrheit verlor Substanz. Wie kann ich handeln, ohne zu wissen, wie ich richtig handle? Mein Gewissen reduzierte sich auf die Kategorien von gut und böse eines kleinbürgerlichen Anstandes: Man schlägt nicht, man klaut nicht, man übervorteilt nicht, etc. Es hatte sich auf das Minimum meiner kindlichen Konditionierung und Zweckmäßigkeit zurückgezogen.
Jahrzehnte später überlege ich noch immer, was Freiheit und
Gewissen bedeuten. Noch schwieriger wird es, wenn man beide zusammenführen will: Freiheit, das große Negativum mit dem Gewissen, dass eine positive Ethik fordert. Vielleicht ist kollektives Gewissen ein Indikator von Unfreiheit; einem Gefangensein in fremd vorgegebenen Werten und Urteilen über die Welt. Schon von der Kindheit an. Vielleicht ist ein freies Gewissen das Gewissen eines von fremden Werten freien, dafür ewig zweifelnden Menschen, welches in seiner Freiheit aufhört zu existieren. Die Werte des minimalen Anstands sind ein Thema für sich. Darüber liegt, was mir mit der Wende abhanden gekommen ist: Die normalisierten Werte der Gesellschaft. Sie wurden zu „gemeinsamen Werten”, die eine offene, demokratische Gesellschaft zusammenhalten sollen, welche keine gemeinsamen Werte kennt. Ein Paradoxon, das uns heute zu schaffen macht.
Schauen wir mit Dostojewskis Begriffen, die das Gewissen binden — Wunder, Geheimnis und Autorität —, auf die Moderne.
Das Wunder
Einer Ideologie abzuschwören ist nichts anderes, als einem
Glauben abzusagen. Es ist ein aufklärerischer Schritt. Ein Wunder war es für mich, nach der Wende in eine Gesellschaft hineinzugeraten in welcher keine zentrale Instanz die Welt in Gut und Böse unterteilte. Ich und alle „Ossis” mit mir wurden emanzipiert vom diktierten Wir und in eine neue Freiheit des Ich entlassen. So wie über 12.000 Arbeitende des VEB Robotron Sömmerda. Darunter meine Eltern. Die Veränderungen vollzogen sich in rasender Geschwindigkeit. Die sozialistische Hypernormalisierung wurde aufgelöst und seine positivistischen Werte und Wahrheiten mit ihm. Vor allem diejenigen, die ihre Arbeitsplätze verloren, spürten das. Die sozialistische Normalisierung hatte sich bis tief in die tatsächlichen Lebensumstände der Einzelnen eingegraben. Ob jemand eine Wohnung besaß und wo er arbeitete, waren unmittelbare Resultate des vergangenen Gesellschaftssystems. Zurück blieb eine existentielle Leere, die Zweifel hervorrief, nämlich wann eigene Urteile und Handlungen richtig oder falsch waren.
Die neue Freiheit war, ein freies – ein eigenes – Gewissen zu haben; Potenz im existentiellen Niemandsland. Ihr Preis war die Unmöglichkeit eines Gewissens ex ante — bevor allem Denken, Urteilen und Handeln. Ein freies Gewissen zeigt sich beim Urteilen über die Welt, beim Handeln und bei der Reflexion der Handlung im Nachhinein. Jedesmal gibt es Zweifel: Wer über die Welt urteilt, kann nicht wissen, ob sein Urteil wahr (also richtig oder falsch) sein wird; wer handeln will, kann dessen Folgen nur einschätzen und wer die Konsequenzen seines Handelns betrachtet, schaut in die unabänderbare Vergangenheit. Die neue Freiheit war Fluch und Segen: Die Aufgabe, persönliche Werte (Wahrheiten) zu finden, aus denen sich freie Gewissen bilden ist eine, die nie erledigt ist. Sie lädt der Person fortwährenden Zweifel auf. Aber nur so bleibt ein Gewissen frei.
Das war, was sapere aude! bedeutete: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ein Wunder ist es, wie die ältere Generation der Ossis den aufgebracht hat. Immanuel Kants und Friedrich Nietzsches Philosophien gewannen plötzlich neue Bedeutungen. Sie wurden zu Negativität, in denen kein normalisiertes richtig und falsch existierte. So, wie die deutsche Verfassung von 1949, die ein Gesetzeswerk ist, das keine Rechte zuschreibt, sondern Abwehrrechte gegen jedermann und den Staat festschreibt. Das, was ich für richtig oder falsch halte, darf nicht von anderen beeinflußt, verboten oder bestraft werden. Die Grundrechte schützen den Kern meiner Freiheiten vor Eingriffen. Und sie geben anderen ein Recht zur Abwehr von Eingriffen durch mich. Sie helfen mir nicht dabei, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.
Glücklicherweise gab es die protestantische Ethik, eine „Moral- Light”, an der sich die Ossis orientieren konnten: Alles war erreichbar, wenn man tüchtig sei. Vom Trabi zum VW Golf, vom Tellerwäscher zum Millionär. Das wie war jedem selbst überlassen. Und wenn man von Ethik reden wollte, dann war es die des anthroposophischen Weltbildes vom gnädigen Unternehmer, dessen Vermögen das Soziale als trickle-down am Laufen hielt. Live and let live.
Aber wie ist Demokratie möglich, wenn es keine gemeinsamen (normalisierten) demokratischen Werte gibt? Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich um die Demokratie nicht kümmere, einmal alle vier Jahre oder gar nicht wähle? Wenn ich antidemokratisch bin? Ernst Wolfgang von Böckenförde hat das Problem der Demokratie in den 1960ern schon erkannt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Heute wird es uns drastisch vor Augen geführt durch Umverteilung, demokratiefeindliche Bewegungen und den Klimawandel. Allerdings hat die Werte-freie Demokratie einige Jahre lang weitgehend funktioniert. Bloß wie?
Die Antwort findet sich im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896. Es enthält den Grundsatz der Vertragsfreiheit. Er ist das moderne Wunder, welches erlaubt eine Gesellschaft ohne zentrale Moral, Ethik und Gewissen zusammenzuhalten. Er wird nur durch zwei kurze Gesetzestexte eingeschränkt: Sittenwidrigkeit und Wucher. Beide sind äußerst dehnbar und ändern ihre Bedeutungen mit der Zeit. Ganz im Sinne einer freien Entfaltung, die ihre Werte immer neu aushandelt.
Vertragsfreiheit besagt, dass freie, gegenseitig abgegebene Willenserklärungen zu einem Vertrag führen, in dem sich jeder Teil zur Erbringung einer Leistung verpflichtet. Jeder Vertragspartner erhält einen Anspruch auf Gegenleistung. Jeder Vertragspartner schuldet dem anderen eine Leistung. Diese Schuld macht einen Vertragspartner für den anderen berechenbar: Ich frage den Bäcker nach einem Brot und gebe das Angebot ab, ihm Geld dafür zu zahlen. Sobald der Bäcker Anstalten macht, das Brot aufzugreifen, hat er mein Angebot angenommen und schuldet mir das Brot. Ich schulde ihm das Geld. Wir beide erwarten eine Leistung und dabei sind wir uns sicher, dass mein Geld in seine Kasse klimpern und sein Brot in meiner Tüte verschwinden wird. Diese Sekunden haben uns untereinander zu einem Verhalten verbunden, das für einen winzigen Moment Stabilität in unserem menschlichen Verhältnis schafft. Bis die Verfügung (Übergabe von Geld vs. Brot) zum Abschluss des Vertrags führt.
Diese individuellen Schuldverträge binden mich und meine
Mitmenschen. Sie sind die zu Milliarden verbunden Fäden in der ökonomischen Gesellschaft, die sich damit politisch stabilisiert. Es sind heute die maßgeblichen Dispositive, von denen Michel Foucault schrieb; die zu komplexen Netzwerken verbunden Bindungen und Machtbeziehungen. Schuldverträge sind die tatsächlichen Gesellschaftsverträge geworden. Bis zu den Jahren 2002 (dem Dotcom-Crash) und 2008 (dem Bankencrash) schien das eine wunderbare Angelegenheit, die nur eine persönliche Ethik brauchte: Das Anerkenntnis, dass man Schulden zu begleichen habe.
Diese Schuldgeflechte sind dafür verantwortlich, dass Politik und Wirtschaft unzertrennlich scheinen. Politische Menschen hörten ab circa 1980 auf zu existieren. Was einst als Hippie-Culture galt wurde zu einer neoliberalen Idee, in der jede Person ihre eigene Selbstverwirklichung anstrebt. Eine Gesellschaft ohne Staat und ohne staatlich diktiertes Gewissen. Inzwischen ist offensichtlich, dass Banken und Versicherungen zu „Institutionen der Freiheit” geworden sind, weil sie als große Stabilisatoren fungieren. Ihre Schuldverträge sind auf lange Zeit angelegt und binden Menschen, die danach ihre Schulden abarbeiten und Lotto spielen. Friedrich Nietzsche hat so etwas vorausgesehen: „Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit…” Ein durch Schuld gebundenes Gewissen ist nicht frei, aber es existiert: Wer Schulden hat, hat eine ethische Pflicht, sie zu begleichen. Das Gewissen eines Schuldners muss sich allerdings nicht moralisch „schlecht” fühlen. Dafür gibt es Zinsen und Vertragsstrafen.
Im Dunkeln bleibt, warum man einen Vertrag eingehen sollte. Das meinte schon David Hume, als er von der „wertlosen Fiktion” des allgemeinen Gesellschaftsvertrags schrieb, den Thomas Hobbes als Leviathan und Jean Jaques Rousseau als volonté generale konstruierten. Die privaten Verträge sind heute das Wunder, das freie Gesellschaften stabilisiert und das Gewissen bindet. Ihr Abschluss ist autonom, weswegen heute die Privatautonomie mit freiheitlicher Demokratie verwechselt wird. Wo sie sich entfaltet, wird so getan, als hätte sich Aufklärung ihren Weg gebahnt. Aus diesem Grund gebiert sich Ökonomie als Wissenschaft und trennt säuberlich das Rationale vom Emotionalen. Auf der einen Seite stellen sich Schauspieler in weißen Kitteln hin und empfehlen Zahnpasta mit einer implizierten Autorität der Wissenschaft. Auf der anderen Seite häufen sich Studien und Gegenstudien zu Belangen wie der Schädlichkeit von Nikotin oder der Frage nach dem menschengemachten Klimawandel. Der informierte Geist glaubt sich als Autorität, welche autonom über den Abschluss von Verträgen verfügt. Aus ihm folgt die Verpflichtung zur Leistung, die Schuld, die man sich autonom auflädt. Diese Verantwortung wird zur ethischen Bewertung des Handelns: Alles, was zur Vertragserfüllung dient ist grundsätzlich richtig. Der Fokus bleibt dabei auf der Freiheit des Vertragsschlusses selbst, autorisiert durch die Person und ihre freie Entscheidung. Im Sinne Dostojewskis ist das Gewissen in jedem Vertragsschluss gebunden und mißt sich an der Schuld zur Leistung, die man sich auflädt.
Das Geheimnis
Für das Gewissen eines Ossis war die Privatautonomie und die protestantische Ethik großartig, denn richtig war alles, was zum Begleichen von Schuld führte. Ein Gewissen entsteht durch Bindung innerhalb eines Vertrags. Es ist ein Gewissen, das sich allein auf die Verantwortung aus einer autonomen Willenserklärung ergab und zu einer höchstpersönlichen Schuld wurde. Bis von Kinder- und Sklavenarbeit gesprochen wurde. Bis bei Foxconn Arbeiter in den Tod sprangen und in Verpackungen chinesischer Produkte Zettel mit Hilferufen von Zwangsarbeitern gefunden wurden. Das waren Probleme, die außerhalb der Verträge lagen, in der Frage, ob man überhaupt das billige T-Shirt oder die Sneaker hätte kaufen sollen. Für so belastete Gewissen gibt es inzwischen eine Menge von Gütesiegeln (Versprechen), an denen es sich zurückziehen kann: MSC, FSC, Bio- Siegel, EU-Ecolabel, Rain Forest Alliance Certified, Fairtrade, UTZ, SA8000, Leaping Bunny, etc. etc. Die Rettung der Welt liegt in der Hand der einzelnen Person und erfordert wenig Gewissensanstrengung vor dem Vertragsschluss.
Das Geheimnis, von dem Dostojewski behauptet, dass es das
Gewissen fessele ist der Glaube an das Konzept des freien Willens. Hier materialisiert sich das, was Kant unter sapere aude! zusammenfasste. Eine Person, die Aufklärung als Rationalismus versteht fokussiert auf diesen immanenten freien Willen, der sie autonom macht und in die Lage versetzt, Verantwortung zu übernehmen. Freier Wille ist Voraussetzung zur Möglichkeit von Privatautonomie. Gütesiegel und Zertifizierungen sind eines von vielen Mitteln, den Fokus des Einzelnen von der Frage abzulenken, warum sie ein Vertrag schließt. Ein Gewissen außerhalb von Verträgen wäre gefährlich für die Stabilität dieses Systems, weil es den Abschluss von Verträgen hindern könnte. Das Bestehen von Verträgen ist wichtiger als ihre Inhalte — ihre Ethik — geworden. Das Geheimnis liegt im fortwährenden Antrieb, der sich als rational-modern gibt und das Verweilen im Moment unmöglich macht. Eine Vernunft, die immer von hier und jetzt weg muss, um zur Freiheit hin produktiv zu sein. Sie ist ein Getriebensein in Bindung.
Ökonomen reden seit Auguste Comté oder Eduard Spranger vom „Nutzenoptimierer”: „Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.“ Sie reden von einem egozentrischen Gewissen, das keine soziale oder ökologische Verantwortung kennt. Der Psychologe und Wirtschaftswissenschaftler Daniel Kahnemann hat am Ende des letzten Jahrhunderts diesen nutzenmaximierenden homo oeconomicus widerlegt. Im „Anker-Effekt” macht er beispielsweise deutlich, dass Menschen dazu tendieren, sich bei Entscheidungen an zufälligen oder vorgegebenen Werten („Ankern”) zu orientieren, auch wenn diese Werte für den (rational erwarteten) Nutzen irrelevant sind. Seine Erkenntnisse sorgen für allgemeine Verwirrung, denn sie hat Risse in die pseudo-aufklärerische Begründung der Ökonomie als „vernünftige Ordnung” gebracht. Hier zeigt sich Aufklärung als Prozess: Menschen Freiheit durch Zweifel zuzugestehen. An einem solchen Punkt steht das frühe 21. Jahrhundert: An dem alle Register einer neoliberalistisch dogmatisierten Gesellschaft gezogen werden. Dogma ist der oben genannte Nutzenmaximierer, dem umfassende Individualität und ein freies Gewissen nicht gut tut. Es scheint wichtiger, die Autonomie der Person zu betonen als Inhalt und Ursprung des „Nutzens”.
Das Konzept des freien Willen macht uns gottesgleich. Oder sagen wir, unser Glaube daran. Denn nach Kant ist eines der (wenigen) geistigen Vermögen des Menschen die Herstellung von Kausalität. Alle Wirkung hat eine Ursache. Allerdings hat der freie Wille gerade keine Ursache, sondern er ist Ursache selbst. Wir lassen uns allenfalls dazu hinreißen, der Emotion, die durch — kausale — Sinneseindrücke geweckt wird, einen gewissen Einfluß zu verleihen. Dennoch trennen wir die Emotionen (die Affekte) sorgfältig vom Rationalen ab; und das Ich, der Ursprung des freien Willens und des Gewissens, wird damit zum Erzeuger von Urteil und Handlung in der Welt.
Dieses autonome Ich ist ein Konstrukt unseres Verstandes, der sich selbst schmeichelt. Denn wenn die Person die originäre Ursache von Veränderungen in der Welt wird, dann ist sie Gott. Dann ist das, was sie entscheidet ohne eine Ursache davor entstanden. Aus dem Nichts, so wie Gott die Welt schuf. Diese Egozentrik ist notwendig für das Gefühl, seines eigenen Glückes Schmied, also fähig zu Selbstwirksamkeit zu sein. Es führt dazu, die Welt nur noch als Umwelt zu begreifen, als etwas, das außerhalb von uns existiert und das es zu kontrollieren gilt. Und obwohl die Neurowissenschaft dieses Konzept schon eine Weile lang kritisiert, fesselt uns die Moderne mit diesen Glauben an das autonome Ich als Erzeuger eines Willens, der mit Mündigkeit im Sinne der Aufklärung gleichgesetzt wird.
Das Ökonomische versteckt sich hinter der Fassade einer falsch verstandenen Aufklärung. Sie rückt die denkende und frei entscheidende Person in den Mittelpunkt als fraglose Autorität und läßt ihre Motivation, ihr Begehren im Dunkeln. Deswegen funktioniert sie auch politisch — bei jedem von uns — indem sie sich liberal gibt. Freier Wille wird aus Verantwortung begründet. Ohne Verantwortung gibt es keine Schuld, die einen Vertrag bindend macht. Verantwortung für meine Handlungen ist nur dann möglich, wenn es frei-willentliche Handlungen des (verantwortlichen Ichs) sind. Der freie Wille ist dazu notwendig — aber aus diesem Zirkelschluss nicht erwiesen. Er bleibt das Geheimnis, das unser Gewissen nicht frei sein läßt, weil der Antrieb unserer Entscheidungen emotional und kollektiv schwer zu reflektieren ist. Die Substanz, die das Konzept des freien Willens möglich macht ist demnach nur der Glaube daran. Er ist eine Wertung, eine Wahrheit, die nicht erwiesen ist und unsere Gewissen vor dem Eingehen eines Vertrags nicht frei sein läßt.
Die Autorität
Was richtig – also von Wert – ist, entscheidet eine Person für
sich und sie empfindet es anmaßend, wenn in diese Urteile eingegriffen wird. Daher fühlt sich die gegenwärtige Gesellschaftsordnung frei an. Wir verhandeln Werte untereinander. Für Verträge, die uns in Schuld mit anderen setzen, fehlt allerdings ein entscheidendes Element, das uns dazu bewegt, solche einzugehen: Motivation oder das desire von dem Kluckhohn meint, es sei die Essenz von Wert.
Auch wenn uns die Moderne (bzw. wir selbst) uns glauben machen, dass wir (das Ich) die Autorität sind, die sich in Verantwortung begibt, steckt etwas anderes dahinter. Siegmund Freud hat das vor über hundert Jahren mit dem Unbewußten auf die Gefühle geschoben. Zwar mit dem kapitalen Fehler, diese Triebe als böse zu deklarieren, allerdings mit Folgen für das ganze 20. Jahrhundert. Es ist akzeptiert, dass unsere Motivationen emotional und nicht rational herleitbar sind. Der Neoliberalismus setzt auf diese individuellen Motivationen, ähnlich wie der Schutz individueller Freiheitsrechte. Das bedeutet allerdings nicht, dass Neoliberalismus individuelle Freiheit unangetastet läßt.
Im Vertrag, bzw. seiner Leistung für mich, liegt ein Wert auf
welchen ich hinstrebe. Was wert ist, angestrebt zu werden, muss logisch wahr für mich sein. Erinnern wir uns an seine
indogermanischen Wurzeln: Vertrauen, Treue, Zustimmung. Vertrauen schafft, wie u.a. Kahnemann darlegt, die ständige Wiederholung einer Botschaft. Sie wurde zu DDR-Zeiten in mich hineingetrommelt und -gesungen. Bis ich glaubte, dass der Sozialismus wertvoll sei und alle seine realen Begleiterscheinungen. Das war Propaganda. Heute heißt das public relations. Werbung schafft Vertrauen durch ständige Wiederholung. Wenn man mit einem Produkt zufrieden ist, bleibt man ihm treu. Und neuen Produkten der selben Marke stimmt man tendenziell a priori zu. Man schwört auf Adidas, BMW oder Coca-Cola. Es ist der Affekt, der uns motiviert einen Vertrag einzugehen.
Der Affekt ist etwas, das von Außen auf mich eindringt und
Emotionen weckt. Er schiebt mich als Person aus meinem Zentrum indem er Erstrebenswertes und damit Wert erzeugt. Aber ist es mein Wert? Die Kehrseite dieses Bedürfnisses ist, dass dieses Erstrebenswerte mich unzureichend macht: Ein Gefühl von Unvollkommenheit wird geweckt. Ohne diese Smartwatch oder dieses E-Auto komme ich nicht weiter. Es wird zur Aufgabe, auf den Wert hin zu streben, der von diesem Gefühl des Unzureichend-Sein befreit. Die Moderne hat sich die Verknappung des Glücks zum Gegenstand gemacht. Plakativ zeigt sich das dort, wo man zu arm, zu dick, zu faul, zu häßlich, zu dumm gemacht wird. Das Ziel wird die eigene Mitte, die es wiederzufinden gilt. Das optimale Ich, das dem tatsächlichen überlegen ist, das besser ist. Die Traumvorstellungen dieses Ichs zeigen sich in digitalen Filtern. Was hat das alles mit Gewissen zu tun?
Das Gewissen bindet sich am Affekt, aus dem Erstrebenswertes (desire) entsteht. Der Wert ist immer ein Befreiungsakt vom Unzureichend-Sein. Autonom ist nur die Rationalität, mit der wir versuchen, uns zu befreien. Gegenüber der Ursache des Wertes, nach dem wir streben, sind wir ignorant. Dummerweise bewahrt Ignoranz geistige Integrität. Das eigene Weltbild schützt sich vor unbequemen Tatsachen, um rund und intakt zu bleiben. Hat man allerdings das eigene Unzureichend-Sein aus Affekt akzeptiert, schließen wir Verträge, um einen Befreiungsakt von dieser Unvollkommenheit zu erreichen. In diesem Licht wird Freiheit zum ultimativen Wert.
Wer vorbehaltlos, kritiklos und wertungsfrei eine Affektion
aufnimmt, nimmt inhärent Ignoranz gegenüber seinem eigenen Gewissen auf. Wer Make-Up auflegt, befreit sich vom Gedanken an Tierversuche. Wer digital produziert, denkt kaum an die Energie, die dafür aufgewendet werden muss. Wer Fleisch ißt, denkt nicht an Schlachthöfe. Wer billige Klamotten kauft, hat keine Gerberei in Bangladesch vor Augen. Ignorance is bliss.
Die Gewissen-bindende Autorität ist nicht das autonome Ich, sondern der Affekt, der uns zum Eingehen von Schuld und Verantwortung bindet.
Normalisierung
Neoliberalismus hat uns ein Leben ermöglicht, welches die
Wirklichkeit einer offenen demokratischen Gesellschaft greifbar macht. Er hat uns von der Notwendigkeit politischer Ideologie befreit — ganz im Sinne der Verfassung. Er hat jedoch eine Bedingung: den Rückzug des Gewissens in’s Egozentrische in Form von affektgetriebener Privatautonomie unter dem Leistungsgedanken. Im Gegenzug verspricht er für jedes schlechte Gewissen Werte in Form von Lösungen und Produkten. Seine Konsequenzen sind weltweit spürbar: Ausbeutung, Ressourcenverschwendung, ein absurdes Wachstumsparadigma und Klimawandel.
Neoliberalismus hat uns vom Zweifel am Dasein weitgehend befreit und unter dem rationalen Tüchtigkeitsgedanken, dass jedes Problem (technologisch) lösbar sei, (u.a. zu Konsumenten) normalisiert. Preis ist die Akzeptanz, unzureichend und unvollkommen zu sein. Eine Ethik, welche mit Ängsten operiert. Indem sie die Gegenwart oder die Zukunft als sorgenvoll darstellt, treibt sie zu rationalen Lösungen an. Mit der positivistischen Aufladung von Affekten stellt sie sich gegen die aufklärerische Negativität, der Abwesenheit von allgemein gültigen Wahrheiten und postuliert dennoch eine eigene.
Mit Absurdität kämpfen wir gegen das Absurde an: Wachstum ist notwendig, um das Versprechen jederzeit erneuern zu können, sich immer wieder von diesem Unzureichend-Sein befreien zu können. Daher gibt es App gesteuerte Mülleimer, USB-beheizte Handschuhe, Bananenschneider, Selfie-Sticks für Haustiere, etc. Utopien wie selbstfahrende Autos oder Marsflüge sind Propaganda konservativer Technokraten, welche die Definition von „Fortschritt” für sich einnehmen. Kaum anders als in der späten DDR: Die Versprechen werden so absurd, dass sie sich nicht mehr an der Wirklichkeit messen lassen können. Und die Versuche, die Wirklichkeit an die Versprechen („Befreiung”) anzupassen, haben die Ausrufe von Terror, von Inflation und Deflation, Staatsschulden und Kriegsgefahr gezeigt. Die 2001 in den USA eingeführte „Terror-Ampel” steht seitdem auf Gelb. Fortwährend. Diese Getriebenheit macht müde. Sie ist die Achillesferse jenes neuen Liberalismus an, der gerade zugrunde geht und droht, die offene Gesellschaft mitzureißen.
So finde ich mich als ehemaliger DDR-Bürger in einer Gesellschaft wieder, deren Bindung durch Affekte erzeugt wird, die ich kaum verstehe. Wieder bin ich von fremden Urteilen beherrscht, die einen Ewigkeitsanspruch tragen. Die permanente (Selbst-)Befreiung von unserem Unzureichend-Sein hatte den Vorteil von der grundlegenden Absurdität des Daseins abzulenken. Wir sind immer damit beschäftigt, uns aus scheinbar dissonanten Lagen zu befreien. Diese Verhaltensmuster tragen wir in die gegenwärtige Transformationsphase. Es kommt für freie Gewissen darauf an, ob wir uns selbst von diesen Konditionierungen lösen können oder nicht.
Dostojewksi sieht es kritisch: „Oder hast du vergessen, daß Ruhe und sogar der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse? Nichts kann den Menschen mehr verführen als Gewissensfreiheit, aber auch nichts ist qualvoller für ihn.“ Die gegenwärtige Suche nach „gemeinsamen Werten” scheint ihm recht zu geben. Viele Menschen flüchten sich von einer Ideologie in die nächste und nehmen willkommen eine positive Aufladung ihrer Weltbilder durch fremde Werte an. Überragend ist dabei ihre naivste Form: Die Flucht in’s Konservative, die zum Identitären reicht. Menschen, die jahrzehntelang unpolitisch waren, suchen nun nach ihrem Selbstwert, weil sie sich von der Möglichkeit zu Verträgen in der neoliberalen Gesellschaft ausgeschlossen fühlen – oder in Sorge darüber sind.
Wer nicht mehr in der Lage ist, sich in Verträge zu begeben, kann sich nach dieser Logik nicht aus dem Unzureichend-Sein befreien. Zuflucht wird gesucht in Identität und Zugehörigkeit. Es geht nicht darum, „deutsch” zu sein, sondern um den wärmenden Inhalt der Versprechen drumherum: Ein freier, sorgenloser Mensch zu sein. Eine neue Ethik wird gesucht, weil Transformationsphasen aufklärerisch und furchteinflößend sind: sie sind ungewiß und stellen den Ewigkeitsanspruch eigener Wahrheiten, die plötzlich zerbröckeln, in Frage. Zweifel wird zur Qual.
Freiheit wird plötzlich zur unbegrenzten Möglichkeit, deren
Begriff leer und offen ist — und das Gewissen ebenso. Freiheit gewinnt ihre Konturen erst dort, wo sie verletzt wird. Wird Freiheit beispielsweise mit „Abwesenheit von Mauern“ definiert, ist das eine negative Abgrenzung. Das Substantielle findet sich allerdings darin, dass ein Umstand festgelegt wird, der im Denken immer einen positiven Begriff der Mauer erfordert. Diese Mauer tritt als substantielles Etwas in die Definition ein, die sie gerade ausschließen will. Das Nicht-an-den-rosafarbenen-Elefanten-Denken scheint notwendig und ist paradox: Erst wenn ich weiß, woran ich nicht denken soll, kann ich nicht an dieses Etwas denken. Diese Mauern werden wieder mit den alten Sprüchen bepinselt: Die Asylanten, die Eliten, die Verschwörungen gegen „uns” und unsere Freiheit. Ein dissonantes Gefühl der Unfreiheit zu erzeugen und zu nutzen ist Voraussetzung und der älteste Affekt im Buche. Oder wie Albert Camus schreibt: „Ich mache es wie so viele Beamte des Geistes und des Herzens, die mir nur Abscheu einflößen und die, das sehe ich jetzt genau, nichts anderes tun, als die Freiheit des Menschen ernst zu nehmen.“
Das aufgezwungene Gefühl von Unfreiheit trägt immer das
trügerische Versprechen, dass wir uns von ihr befreien könnten. Ein freies Gewissen ist eins, welches ewig geltende, positivistische Werte nicht akzeptiert. Sie sind die Gesichter, die der Angst gegeben wird. Freien Gewissens zu sein bedeutet, den Ewigkeitsanspruch von Wahrheit immer in Zweifel zu ziehen — und damit sich selbst.
Manina:
Wenn Manina aufwacht, ist Paul schon fast durch die Tür. Aufmerksam und zugleich noch sehr müde lauscht sie seinen Schritten, die wütend klingen und rasen, als ob es einen Wettbewerb gäbe, an dem sie nicht teilnimmt. Sie denkt: Auch dir einen guten Morgen und sagt nichts.
Jetzt dreht sie ihren Kopf zur Wand, an dem ein Traumfänger hängt, der höchstens noch Staub anzieht. Auf ihrem Nachtkästchen türmen sich Bücher, die Manina schon lange lesen wollte, aber bisher nur Dekoration sind und das Wasserglas daneben ist leer, weil sie vergessen hat, es aufzufüllen, und Paul schon lange nicht mehr daran denkt.
Die Stille im Schlafzimmer kommt Manina ohrenbetäubend vor und je länger sie in sie hinein lauscht, umso mehr glaubt sie, sie zu verstehen – panisch reißt sie sich aus diesen Gedanken, die in ihr toben wie tollwütige Füchse. Nachts würde sie die Kopfhörer tief in ihre Ohren drücken und eine Playlist rauf und runter laufen lassen. Melodien, die nichts in ihr auslösen, schluckt sie wie Schlafmittel. Nur morgens kann sie der Realität nicht entkommen.
Die Übelkeit schießt Maninas Speiseröhre hoch bevor sie es auf die Toilette schafft. Sie beugt sich aus dem Bett und erbricht sich auf einem Stapel verstaubter Beziehungs- Ratgeber.
Luise:
Luise mischt Putzmittel mit Wasser, zieht sich die langen, gelben Gummihandschuhe über und beginnt, Dotter und Eierschalenreste von der gläsernen Auslage ihres Cafés zu putzen. Ihr Herz hämmert bei jeder wischenden Bewegung über das schmutzige Glas. Bereits um sieben Uhr früh hatte Luise eine SMS von der Nachbarin von gegenüber erhalten, dass ein paar Männer mit Eiern geschmissen hätten. Wohl eher Männer ohne Eier, hatte sie sich gedacht und einen Pulli zum Umziehen eingepackt.
Nun reinigt Luise einen Buchstaben nach dem anderen, fährt mit liebevoller Genauigkeit über das „f“, das „r“, das „e“ und das „i“, bis der Schriftzug wieder in Weiß erstrahlt. Luise trägt den Eimer mit dem Schmutzwasser gerade zum Waschbecken als ihre Freundin Manina an die Tür des noch geschlossenen Cafés klopft. Der Überraschungsbesuch erhellt Luises Laune sofort, doch bereits ein Blick in Maninas starrende Augen reicht, um die Vorfreude zu trüben. Luise öffnet die Glastür und das Glöckchen über ihren Köpfen klingelt.
„Hey, alles in Ordnung?“
„Nein, nichts ist in Ordnung“, sagt Manina leise. „Ich will dich nicht bei der Arbeit stören, ich wusste halt nicht, wo ich sonst hin soll. Ich kann wieder gehen, wenn es ungünstig ist.“
Maninas Blick huscht verstreut durch den leeren Innenraum und Luise fällt der Zigarettengeruch auf, den Manina hereinträgt.
„Du störst nicht. Lass uns da hinten sitzen.“ Luise nickt in Richtung Sitzecke am hinteren Ende des Cafés. „Ich mach uns schnell einen Kaffee, mit Mandelmilch oder ohne?“
„Ohne, bitte“, erwidert Manina, die den Reißverschluss ihrer Jacke zwar öffnet, aber sie anlässt, als ob sie jeden Moment weg müsste. Sie setzt sich an den Tisch und vergräbt ihr Gesicht in beiden Händen. „Nein, gar nichts eigentlich“, entfährt es ihr plötzlich. „Nur ein Wasser, sonst nichts.“
Luise stellt die Kaffeetassen wieder ins Regal und lässt ihnen stattdessen zwei Gläser Wasser ein. Bis auf das mechanische Geräusch, das Wasser macht, wenn es durch den Wasserhahn fließt, ist es still im Café. Ausnahmsweise ist Luise froh darüber. Es ist kurz nach neun Uhr, aber weder Hanna, noch Selma waren da, um sich ihren Morgenkaffee zu holen. Auch die Studentinnengruppe, die gerne vor ihrer ersten Vorlesung im „frei“ vorbeischauen, ist heute nicht gekommen. Und die Männer (mit den Eiern), die sonst immer etwas an ihrem Café auszusetzen haben, waren heute wohl schon nachts da. Luise verdreht innerlich die Augen. Wenn sie da ist, hat sich noch keiner getraut, etwas zu werfen. Feiglinge, denkt sie sich, während sie die Gläser vor Manina und sich auf den Tisch stellt.
„Läuft es gut?“, fragt Manina wie um Luise von sich abzulenken. „Kommen viele Frauen?“
Luise nimmt einen Schluck Wasser und erzählt, dass das Bezirksblatt einen Artikel über „das frei“ veröffentlicht hatte und seitdem – besonders nach Büroschluss – viele neue Gesichter im Café auftauchten. Dass sie die Croissants-Bestellungen vom Bäcker erhöhen ließ und sie doppelt so viele Gespräche am Tag führte wie sonst. „Ich merke einfach, dass immer mehr Frauen reden wollen. Und sich anderen öffnen. Es gab schon einen richtig tollen Gesprächsabend mit einer Gruppe, die sich hier kennengelernt hat. Vielleicht wäre das ja auch etwas für dich?“
Manina lächelt und nickt, aber die Zustimmung erreicht ihre Augen nicht. „Ich freue mich für dich“, sagt sie. „Ich glaube, wenn es mir besser geht, komme ich auch mal abends vorbei.“
Luises Blick schweift über die leeren Polstermöbel und die frisch abgewischten Tische. Sie war die Letzte, die geglaubt hatte, dass das Konzept eines männerfreien Cafés funktionieren würde. Aber Manina hatte nicht nachgegeben. Die Idee eines sicheren Ortes, an dem sich Frauen untereinander treffen und austauschen konnten war Luise schließlich nicht ohne Grund gekommen. „Stell dir das vor, Lu, du kannst in Ruhe deinen Kaffee trinken und dir sicher sein, dass dich kein Typ dabei stört.“ Manina hatte ihr das Geld für die Einrichtung geliehen. Luise war es umso wichtiger, dass immer alles glänzt.
„Du willst es nicht, oder?“, fühlt Luise vor und beginnt ihre Hände zu kneten. Sie schwitzt, kalt, ohne es gemerkt zu haben. „Bist du deshalb hier, um meine Unterstützung zu holen?“
Manina atmet aus, ehe sie sich dem Blick ihrer Freundin stellt. „Ich kann das nicht, Lu“, beginnt Manina und die Fassade fällt. „Paul und ich – wir sind nicht mehr zusammen. Keiner traut sich, den ersten Schritt zu machen. Aber das ändert nichts dran, dass wir uns nur noch anschweigen. Wir leben wie Geister, völlig aneinander vorbei!“ Maninas Stimme bricht.
„Ich verstehe, hey, ist ja okay.“ Luise greift über den Tisch und umfasst die Hände ihrer Freundin. „Du musst dich nicht rechtfertigen.“
„Ich will es nicht. Ich will dieses Kind nicht. Allein der Gedanke, dass sich da etwas von ihm mit mir vermischt.“ Manina drückt Luises Hände. „Es wird alles anders werden. Ich muss ausziehen, einen Job suchen, die Scheidung-“
„Du bist nicht allein, Nini“, wirft Luise ein. „Ich bin für dich da. Wir machen das alles zusammen. Und- und in der Zwischenzeit kannst du bei mir aushelfen. Ich schulde dir noch Geld. Ich verkaufe Omas Standuhr, die sowieso keiner mehr hören kann. Wir besorgen dir die beste Anwältin.“
Maninas Mundecken verziehen sich allmählich zu einem Lächeln, das ihre Augen erreicht. Für einen Moment sehen sich die Freundinnen an und schweigen. „Danke“, formen Maninas Lippen. „Ich wusste nicht wie ich es dir sagen soll.“
Luise schluckt. „Natürlich“, antwortet sie nur und denkt dabei an ihren Bauch, der leer ist. Der sich seit Monaten, nein, seit Jahren nicht befüllen ließ, egal wie oft Mark und sie Sex hatten. Mit den Kosten ihres Cafés waren die teuren Invitro-Behandlungen einfach nicht drin. Seitdem schliefen sie nicht mehr miteinander, denn jeder Orgasmus erinnerte Luise daran, dass etwas mit ihnen nicht stimmte.
Luise streckt ihren Rücken durch, schiebt ihre Sorgen beiseite und sagt: „Du weißt, dass ich dich unterstütze, Nini. Egal, wie du dich entscheidest. Wir können froh sein, in einem Land zu leben, in dem wir uns von Männern nicht vorschreiben lassen müssen, was wir zu tun oder nicht zu tun haben. Ich bin die Letzte, die irgendetwas von dir erwartet.“
„Ich glaube, mir wird schlecht“, bringt Manina noch heraus. Luise kann gerade noch nach dem Putzeimer von heute Morgen greifen. Manina übergibt sich zwei Mal in den Kübel, während Luise ihr die Haare hält. Als Manina fertig ist, entleert Luise den Eimer auf der Toilette, holt Servietten und einen Krug Wasser, und setzt sich wieder an den Tisch. „Ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit“, murmelt Manina zwischen Luftholen und Mund abputzen. „Ehe sich dieses Ding in mir wohlfühlt.“
„Ruf am besten gleich bei deinem Gyn an. Und, wenn du ihn nicht kontaktieren willst, kannst du meine Frauenärztin fragen.“
„Danke, Lu.“ Manina wischt sich mit einer Serviette über den Mund. „Ich muss meine Wäsche holen. Aus dem Wachsalon. Ich möchte dich nicht länger aufhalten. Tut mir leid für die Umstände. Und danke nochmal für alles.“
„Ich bitte dich, das ist doch selbstverständlich.“ Ehe Manina das Café „frei“ verlässt, umarmt sie ihre Freundin fest.
Manina drückt die Augen zusammen und lässt die Sterne vor schwarzem Hintergrund tanzen, ehe sie all die zerstörerischen Gedanken wieder zulässt, die sie Luise verschwiegen hat.
Manina:
Sie verlässt die Küche durch die Terrassentür, mit einem Ruck zieht sie sie hinter sich zu. Die Kühle des heutigen Herbsttages umwickelt ihr aufgeheiztes Gesicht wie ein feuchtes Tuch, das sich auch auf ihre zerkratzten Arme wie frische Bandagen legt.
Sie sieht: einen grauen Himmel mit langen, spitzen Wolken, die langsam in Richtung Sonnenuntergang ziehen. Davor: zwanzig, fünfundzwanzig Häuser, die noch mehr Bauernhof als Fertigteilhaus sind, rauchende Kamine, Wege verschlingende Wälder und Berge, hinter deren Kämmen der Rest der Welt lebt.
Manina fischt eine Packung Zigaretten aus ihrer Hosentasche, greift nach einem dünnen Papierstängel und zündet ihn sich mit vorgehaltener Hand an. Den Rauch verbläst es sofort, weit hinter die Häuserdächer und all dem. Sie zieht noch einmal am glühenden Stängel, ehe sie hustet, hustet und spuckt. Dann drückt sie die Zigarette am Terrassenrand wieder aus, verschränkt die Arme und presst die Augen zusammen. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Augenlidern ist das einzige, was sie wärmt, die Angst kommt ihr seit einigen Tagen mitsamt der Galle hoch.
Sie hatte gegoogelt wie man nebenbei ein bisschen Geld verdienen konnte und nichts Legales gefunden. Entweder sie sollte ihren Freundinnen Billigkosmetik auf Kaufpartys andrehen oder Zeitungsabonnements an Pensionisten verkaufen oder überhaupt erst kostenpflichtig lernen, wie sie aus fünfhundert Euro fünfzigtausend in einem Monat macht. Frustriert hatte sie den Laptop zugehauen und darüber nachgedacht, wie sie ihren Körper auf Social Media verkaufen könnte. Studieren wäre irgendwie auch eine Option, aber dafür bräuchte Manina einen Geldpolster, auf den sie zurückfallen könnte, sobald die Scheidung durch war. Sie dachte, dass das mit Paul und ihr für immer gemeint war. Nicht nur für die nächsten paar Jahre. In der Zwischenzeit hatte Paul sein Studium beendet, einen gut bezahlten Job inklusive aufmerksamer Kollegin gefunden.
Sie reißt die Augen auf, lässt den kühlen Wind ihre nassen Augen trocknen. Sie wollte ihre Beziehung retten. Sie dachte, dass es schade gewesen wäre, das alles einfach wegzuschmeißen. Doch dort, wo Manina versuchte ihren Paul abzuholen, zwischen Haut und Haut und ein, zwei ungeschickten Küssen, war die Neue eingezogen. Und Paul ergriff die Chance, ein letztes Mal mit Manina zu schlafen – ungeschützt, weil sie sich doch immer um die Verhütung gekümmert hatte.
„Wir haben uns Monate lang nicht mehr angefasst“, hatte Manina Luise erzählt, im Café, am großen Opening-Tag. „Es könnte jetzt wieder werden, oder?“ Und die Hoffnung, die in ihrer Stimme mitschwang, fesselte an diesem Abend sogar Luise. „Das klingt super, Nini, ich würde es euch so wünschen!“ Sie hatten mit einem Gläschen Sekt darauf angestoßen, während Paul beim Geschäftsessen mit seiner Kollegin einen Blowjob zum Nachtisch bestellte.
Manina hatte nicht gewusst, wo sie beginnen sollte zu recherchieren. Also begann sie zu googeln: „schwangerschaftsabbruch wo“ – „abtreibung straffrei?“ – „schwanger beratung gratis“ – „wie lange wirkt pille danach“. Mit jedem Link, den sie anklickte, wuchs ihre Panik.
Sie wollte nicht lesen, dass sie eine Mörderin war. Sie wollte nicht sehen, wie der Embryo gerade aussah. Sie wollte nicht hören, dass sie für immer in der Hölle brennen würde. Und erst recht nicht wollte sie sehen wie alte weißhaarige Männer dafür protestierten, dass ihr Samen nicht abgetrieben werden dürfe. Also schloss sie ihren Laptop wieder und versuchte sich mit Gemüse schnipseln abzulenken, während der Fernseher auf höchster Lautstärke durch die Wohnung plärrte.
Paul kam an diesem Abend nicht nach Hause. Die unbeantworteten Fragen drückten in ihrem Bauch, sie hatten kaum mehr Platz. Manina schnitt sich in den Finger und spürte nichts.
Luise:
Luise sperrt gerade ihr Café zu als ihr Handy klingelt. Sie dreht den Schlüssel zweimal im Schloss um, ehe sie abhebt und sich das Handy zwischen Schulter und Ohr klemmt. „Ja?“, fragt sie, die übergebliebenen Croissants in ihren Händen balancierend.
Auch, wenn sie nicht spricht, kann Luise ihre Freundin zittern hören. Luise lässt den Sack mit den Croissants zu Boden fallen. „Ist alles okay?“, fragt sie und der weiße Atem zieht von ihrem Mund weg. „Wo bist du? Ich komme jetzt rüber zu dir.“
Manina:
Seit Tagen irrt Manina mit diesem Körper herum, der nicht mehr nur ihr eigener ist. Sie kann an nichts anderes denken. Wenn sie jetzt einkaufen geht hat sie Angst, ihren Lüsten nachzugehen. Dass es schon so weit ist und dieser Fötus etwas an ihr verändert, etwas mit ihren Hormonen macht, dass sich ihr Körper bereits zu sehr an seine neue Aufgabe gewöhnt hat und bestens funktioniert.
Paragraph zweihundert-achtzehn des deutschen Strafgesetzbuches stellt den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe. Nach Absatz drei droht eine Freiheitsstrafe in der Höhe von einem Jahr. Das ist das erste, was sie liest, was sie nicht mehr loslässt: dass sie eigentlich eine Verbrecherin ist. Dass ihre manifestierten Gedanken und allfälligen Handlungen im Strafgesetzbuch abgedruckt sind.
Das zweite, was sie liest, ist die Beratungsreglung in Paragraph zweihundert-achtzehn „a“ und das „a“ – wie sie lernt – steht dafür, dass dieser Paragraph erst nachträglich hinzugefügt wurde. Und dieses „a“ bedeutet auch, dass sie weiterleben kann wie sie es will. Sie könnte also die Ausnahme von Paragraph zweihundert-achtzehn sein, wenn sie den Vorgaben der „Beratungsregelung“ folgt, sie hat zwölf Wochen ab Empfängnis Zeit, wann hatten Paul und sie nochmal Sex-
Und dann setzen ihre Gedanken aus und dieses juristische Vokabular, das sie nicht kennt, rennt durch ihren Kopf wie eine dieser Dauerwerbesendungen ab Mitternacht. Jetzt, sie muss jetzt eine Entscheidung treffen, ehe es zu spät ist, ehe sie dieses fremde Gewebe in sich einnisten lässt.
Manina räumt die Wäsche ein und wieder aus, befüllt den Geschirrspüler, putzt jedes Eck ihrer gemeinsamen Wohnung, schrubbt den Dielenboden, wischt die Fenster ab, bis ihr die Finger schmerzen und die Knie wund sind. Bis sie nicht mehr anders kann als sich der Gegenwart zu stellen. Und dann greift sie zu ihrem Handy.
Die Gedanken sind bunt,
es duftet nach Leben.
Ich liebe die Farben,
das Denken und Weben.
Und sucht ihr in Daten,
so will ich euch raten
und mache es kund:
Die Gedanken sind bunt.
Was will sich denn lohnen
bei all den Spionen.
Sie checken und fahnden,
in eMails und ahnden:
Die Linken und Rechten
die Guten und Schlechten.
So geht es meist rund:
Doch Gedanken sind bunt.
Ihr könnt mich, wenn ihr wollt
in Netzen bewachen.
Ihr findet kein Gold,
nur manches zum Lachen.
Und jeder darf ́s wissen,
ich hab ein Gewissen
mit diesem Befund:
Die Gedanken sind bunt.
Noch denk ich, was ich will
und frei will ich denken.
Mal leise, mal schrill,
so will ich es lenken.
Und denen, die schnüffeln,
die rüffeln und süffeln
sag ich im Untergrund:
Die Gedanken sind bunt.
Die Gedanken sind bunt,
so bunt wie das Leben.
Mal eckig, mal rund,
und manchmal daneben.
Ich liebe Gedanken,
sie brechen die Schranken
und Mauern entzwei.
Die Gedanken sind frei.
Die Gewissensfreiheit, als fundamentales Recht in unserer demokratischen Gesellschaft, ermöglicht jedem Einzelnen, seine Überzeugungen, moralischen Prinzipien und ethischen Werte frei zu gestalten. Sie ist ein Eckpfeiler individueller Freiheit und Selbstbestimmung. Doch mit dieser Freiheit kommt auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, insbesondere wenn kontroverse Themen wie der assistierte Suizid aufkommen.
Gewissensfreiheit bedeutet, dass jeder Mensch das Recht hat, seine moralischen Überzeugungen zu entwickeln und gemäß diesen zu handeln. In Bezug auf den assistierten Suizid könnte dies bedeuten, dass Einzelpersonen aufgrund ihrer Überzeugungen das Recht beanspruchen, ihre Lebensentscheidungen, einschließlich des Endes ihres Lebens, selbst zu treffen.
Jedoch geht die Gewissensfreiheit Hand in Hand mit der Verantwortung gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft. In einer solidarischen Gemeinschaft müssen individuelle Entscheidungen, insbesondere solche von existenzieller Bedeutung, sorgfältig abgewogen werden. Hierbei spielt die ethische Dimension eine entscheidende Rolle. Es ist notwendig zu reflektieren, wie persönliche Entscheidungen das Wohlbefinden und die Werte der Gemeinschaft beeinflussen könnten.
Das Thema assistierter Suizid ist ein Paradebeispiel für diese ethische Herausforderung. Während die Gewissensfreiheit das Recht auf Selbstbestimmung betont, stellt die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft sicher, dass individuelle Entscheidungen nicht nur auf persönlichen Überzeugungen, sondern auch auf einem umfassenden Verständnis der möglichen Auswirkungen basieren.
Unser Zusammenleben wird durch die Balance zwischen individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung geprägt. Es erfordert einen Dialog, in dem die Vielfalt der Überzeugungen respektiert wird, gleichzeitig jedoch Raum für einen gemeinsamen ethischen Kern geschaffen wird. Bei kontroversen Themen wie dem assistierten Suizid liegt die Herausforderung darin, einen Diskurs zu fördern, der die Vielschichtigkeit der Überzeugungen anerkennt und dennoch nach Prinzipien sucht, die das kollektive Wohl wahren.
In diesem Kontext kann die Gewissensfreiheit als eine Art Richtschnur dienen, die den Raum für individuelle Entscheidungen schützt, gleichzeitig aber durch einen ethischen Kompass geleitet wird. Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zwischen der Achtung persönlicher Überzeugungen und der Verantwortung gegenüber anderen zu finden, um eine Gesellschaft zu schaffen, die auf gegenseitigem Respekt und Solidarität basiert. Die Debatte über den assistierten Suizid erfordert einen nuancierten Dialog, der die ethischen und moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft reflektiert. Es geht darum, die persönliche Autonomie zu respektieren, gleichzeitig aber auch den sozialen Zusamm enhalt zu wahren. Hier kommen Fragen nach Fürsorge, Mitgefühl und dem Schutz der Vulnerablen ins Spiel.
Die Verantwortung, die mit der Gewissensfreiheit einhergeht, manifestiert sich in der Anerkennung, dass individuelle Entscheidungen Auswirkungen auf das größere Gefüge unserer Gesellschaft haben können. Wie gestalten wir eine Gesellschaft, die den Raum für persönliche Überzeugungen eröffnet, aber auch sicherstellt, dass die Ausübung dieser Überzeugungen nicht zu Lasten der Schwächeren und Schutzbedürftigen geht? In der Debatte um den assistierten Suizid müssen wir uns fragen, wie wir Mechanismen schaffen können, um das individuelle Recht auf Selbstbestimmung zu bewahren und gleichzeitig die notwendige Absicherung vor Missbrauch oder unüberlegten Entscheidungen zu gewährleisten. Dies erfordert klare rechtliche Rahmenbedingungen und eine differenzierte, aufgeklärte Diskussion.
Gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft Ressourcen und Aufmerksamkeit darauf verwenden, alternative Wege der palliativen Versorgung, psychologischen Unterstützung und Schmerzmanagement zu stärken. Dies wäre ein Ausdruck der Verantwortung gegenüber denjeni gen, die sich in einer extremen emotionalen oder physischen Verletzlichkeit befinden. In unserem Zusammenleben geht es letztlich um die Schaffung eines gemeinsamen ethischen Rahmens, der die Vielfalt der Überzeugungen respektiert und gleichzeitig eine Basis für Solidarität und Verantwortung schafft. Die Frage nach dem assistierten Suizid ist eine, die tiefe moralische Überlegungen erfordert, und der Diskurs darüber sollte auf Werten wie Empathie und Fürsorge fußen.
In dieser komplexen Auseinandersetzung mit Gewissensfreiheit, Verantwortung und unserem Zusammenleben müssen wir die Grundprinzipien unserer demokratischen Gesellschaft bewahren. Der Dialog sollte geprägt sein von der Suche nach einer ausgewogenen Lösung, die die Würde des Einzelnen respektiert, ohne dabei den sozialen Zusammenhalt zu gefährden. Dies erfordert von uns als Gesellschaft eine kontinuierliche Reflexion darüber, wie wir unsere Werte im Angesicht ethischer Dilemmata bewahren und weiterentwickeln können.
In dieser tiefgehenden Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Gewissensfreiheit und der damit verbundenen Verantwortung wird deutlich, dass der assistierte Suizid nicht nur ein medizinisches oder juristisches Problem ist, sondern auch moralische und ethische Dimensionen berührt.
Ein zentraler Aspekt ist die Notwendigkeit, die psychosozialen Umstände und die emotionale Belastung, die zu einer solchen Entscheidung führen können, zu verstehen und anzuerkennen. Hier spielt die Gesellschaft eine entscheidende Rolle, indem sie Mechanism en schafft, die Menschen in Krisensituationen unterstützen und alternative Wege aufzeigen.
Es ist unerlässlich, Räume für den Dialog zu schaffen, in denen verschiedene Perspektiven gehört und respektiert werden. Dies könnte den Weg ebnen für eine Gesellschaft, die nicht nur das Recht auf individuelle Freiheit schützt, sondern auch eine gemeinsame Basis für Fürsorge und Solidarität bildet.
Die Frage nach dem assistierten Suizid ruft uns dazu auf, über die Strukturen unserer Gesellschaft nachzudenken, über die Art und Weise, wie wir als Gemeinschaft mit dem Leiden und den existenziellen Herausforderungen unserer Mitmenschen umgehen. Es erinnert uns daran, dass Verantwortung nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist, sondern dass wir als Gesellschaft gemeinsam verantwortlich sind für das Wohlbefinden und die Unterstützung jedes Einzelnen.
Der Weg zu einer umfassenden Lösung erfordert nicht nur rechtliche Regelungen, sondern auch eine kulturelle Veränderung im Umgang mit Krankheit, Schmerz und existenziellen Krisen. Es geht darum, eine Gesellschaft zu schaffen, die auf Mitgefühl und Empathie fußt, die Raum für die individuelle Freiheit lässt, aber auch die Verantwortung gegenüber den Schwächeren und Bedürftigen wahrnimmt.
Letztendlich sollten wir in unserer Debatte über den assistierten Suizid darauf abzielen, eine Gesellschaft zu gestalten, in der die Gewissensfreiheit jedes Einzelnen respektiert wird, ohne dabei die notwendige soziale Absicherung und das kollektive Wohl zu vernachlässigen. Dies erfordert einen fortwährenden Dialog, eine tiefe Reflexion über unsere Werte und eine Bereitschaft, die Herausforderungen der Zeit gemeinsam anzugehen.
Die Herausforderungen rund um den assistierten Suizid lassen sich nicht isoliert betrachten; sie sind eng verknüpft mit der Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit menschlichem Leid umgehen. Es bedarf eines holistischen Ansatzes, der nicht nur individu elle Rechte und Freiheiten achtet, sondern auch eine Kultur der Fürsorge und des Mitgefühls fördert.
Der assistierte Suizid wird oft in Verbindung mit schweren körperlichen oder psychischen Leiden gebracht. In diesem Kontext ist es essenziell, unsere Ressourcen und Forschung darauf zu konzentrieren, wie wir die Lebensqualität derjenigen verbessern können, die mit schmerzhaften Krankheiten oder existenziellen Krisen konfrontiert sind. Palliativmedizin, psychologische Unterstützung und die Integration von Schmerzmanagement sollten zentrale Elemente unserer Bemühungen sein.
Die Frage nach der Gewissensfreiheit und Verantwortung im Kontext des assistierten Suizids ist ebenso eng mit der Frage nach einem besseren Zugang zu mentaler Gesundheitsversorgung verbunden. In einer Gesellschaft, die die psychische Gesundheit wertschätzt und unterstützt, könnten viele Menschen, die mit suizidalen Gedanken kämpfen, alternative Wege finden, um ihre Krisen zu bewältigen.
Ein weiterer Aspekt, der in dieser Diskussion oft übersehen wird, ist die Bedeutung von sozialen Netzwerken und Gemeinschaftsunterstützung. Eine Gesellschaft, die Raum für offenen Dialog und Unterstützung bietet, kann das Gefühl von Isolation reduzieren, das oft Suizidgedanken begleitet. Hier spielt die Verantwortung der Gemeinschaft eine entscheidende Rolle im Schutz und in der Unterstützung jedes Einzelnen.
Die Zukunft der Debatte um den assistierten Suizid liegt nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in der Weiterentwicklung unserer Werte und der Art und Weise, wie wir als Gesellschaft auf die Bedürfnisse unserer Mitglieder reagieren. Es ist eine Einlad ung, eine Kultur der Empathie und des Mitgefühls zu fördern, die die Gewissensfreiheit jedes Einzelnen respektiert und gleichzeitig eine starke Verantwortung gegenüber den Schwächeren und Bedürftigen trägt.
Es erfordert Mut, die tiefgehenden Fragen zu stellen, die die Debatte um den assistierten Suizid begleiten. Welche Art von Gesellschaft möchten wir sein? Wie können wir sicherstellen, dass die individuelle Freiheit mit einer tiefen Fürsorglichkeit und Solidarität einhergeht? Die Antworten auf diese Fragen werden nicht nur die Zukunft der Diskussion um den assistierten Suizid gestalten, sondern auch unsere kollektive Reise hin zu einer humaneren und mitfühlenderen Gesellschaft beeinflussen.
Der Fortgang dieser tiefgreifenden Debatte um den assistierten Suizid führt uns zu einer noch grundlegenderen Reflexion über die menschliche Natur, unsere Verbindung zueinander und die Werte, die das Gewebe unserer Gesellschaft ausmachen.
Die Auseinandersetzung mit dem assistierten Suizid zwingt uns dazu, den Wert des Lebens und die Grenzen menschlichen Leidens zu überdenken. Hierbei ist es entscheidend, dass wir als Gesellschaft Wege finden, menschenwürdiges Altern und Sterben zu ermöglichen. Palliativpflege, Schmerzmanagement und psychologische Unterstützung sollten nicht nur verfügbar, sondern auch zugänglich und respektvoll gestaltet sein.
Gleichzeitig müssen wir einen Raum schaffen, in dem offene Gespräche über Lebensende und individuelle Wünsche möglich sind. Ein Tabu, das oft mit dem Tod verbunden ist, kann das Verständnis und die Kommunikation behindern. Hier spielt Bildung eine Schlüsse lrolle, um ein Bewusstsein für die verschiedenen Aspekte und Optionen im Zusammenhang mit dem Lebensende zu schaffen.
Die Weiterentwicklung der Gesellschaft erfordert auch, dass wir unsere Einstellung gegenüber psychischer Gesundheit verändern. Der assistierte Suizid wird oft mit psychischem Leiden in Verbindung gebracht, und es ist entscheidend, dass wir als Gesellschaft Wege finden, um die psychische Gesundheit zu fördern und Erkrankungen zu entstigmatisieren. Der Zugang zu Therapie und Unterstützung muss ausgebaut werden, um individuelle Krisen zu bewältigen.
Die Verantwortung gegenüber den Schwächeren und Bedürftigen zeigt sich nicht nur in rechtlichen Regelungen, sondern auch im täglichen Handeln. Wie unterstützen wir diejenigen, die sich in existenziellen Krisen befinden? Wie schaffen wir eine Umgebung, in der sich Menschen nicht allein gelassen fühlen? Diese Fragen sind nicht nur für die Diskussion um den assistierten Suizid relevant, sondern für das Fundament einer fürsorglichen Gesellschaft.
In der Tiefe dieser Debatte geht es um die Frage, wie wir als Menschen miteinander umgehen wollen. Es ist eine Einladung zur Empathie, zur Reflexion über unsere gemeinsamen Werte und darüber, wie wir als Gesellschaft die Herausforderungen und Schmerzen des Lebens gemeinsam tragen können.
Die Diskussion um den assistierten Suizid ist somit nicht nur eine Frage des Rechts und der Ethik, sondern eine Einladung zur Gestaltung einer Gesellschaft, die auf Fürsorge, Respekt und Mitgefühl gründet. Indem wir uns diesen Herausforderungen stellen, können wir nicht nur die Lebensqualität am Ende eines Menschenlebens verbessern, sondern auch eine Kultur der Achtsamkeit und des Mitgefühls fördern, die unser gesellschaftliches Gefüge stärkt. Auf diesem Weg der tiefen Reflexion über den assistierten Suizid gelangen wir zu einem zentralen Punkt: der Wertschätzung menschlichen Lebens in all seinen Facetten. Hier geht es um weit mehr als nur um die rechtlichen oder ethischen Grenzen des assistierten Suizids. Es geht um die Schaffung einer Gesellschaft, die den Wert des Lebens nicht nur in Momenten der Freude und des Erfolgs anerkennt, sondern auch in Zeiten des Leidens und der Verzweiflung.
Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit dem assistierten Suizid umgehen, ist eine Gelegenheit für einen umfassenden Diskurs über den Umgang mit menschlichem Leiden.
Wir sollten uns nicht nur auf die Frage konzentrieren, wann und unter welchen Bedingungen der assistierte Suizid zulässig ist, sondern vielmehr auf die Schaffung von Rahmenbedingungen, die menschenwürdiges Leben bis zum Ende ermöglichen.
Es ist entscheidend, dass wir uns als Gesellschaft darauf konzentrieren, Strukturen zu schaffen, die das Leben unterstützen und stärken. Dazu gehört der Ausbau von Ressourcen für psychische Gesundheit, die Verbesserung der palliativen Pflege und die Förder ung von Dialogen über Lebensende und individuelle Wünsche.
Die Verantwortung gegenüber den Schwächeren und Bedürftigen drückt sich auch darin aus, wie wir als Gemeinschaft mit Trauer und Verlust umgehen. Hierbei spielt die Unterstützung von Hinterbliebenen eine entscheidende Rolle, um ein Netzwerk der Solidarität zu knüpfen, das Menschen in schwierigen Zeiten trägt.
In dieser tiefgreifenden Auseinandersetzung geht es nicht nur um den assistierten Suizid,
sondern um das grundlegende Verständnis dafür, was es bedeutet, Mensch zu sein. Es ist eine Einladung zur Schaffung einer Gesellschaft, die von Mitgefühl und Respekt geprägt ist, die Raum für individuelle Überzeugungen lässt, aber auch eine starke Gemeinschaftsbasis bildet.
Auf dieser Reise der Reflexion sollten wir nicht vergessen, dass die Diskussion über den assistierten Suizid Teil eines größeren Dialogs über Lebensqualität, menschliche Würde und die Essenz unseres menschlichen Miteinanders ist. Es ist eine Gelegenheit, tiefer in die Werte einzutauchen, die unser gesellschaftliches Gefüge formen, und Wege zu finden, wie wir diese Werte im Angesicht komplexer Herausforderungen lebendig halten können.
In diesem weiteren Schritt unserer Reflexion über den assistierten Suizid richten wir den Blick auf die Bedeutung der Mitmenschlichkeit und der Gemeinschaft. Das Streben nach einer Gesellschaft, die den Wert des Lebens schätzt, erfordert eine tiefere Verbindung zwischen den Menschen und ein kollektives Bewusstsein für die Herausforderungen, denen andere gegenüberstehen.
Es geht nicht nur darum, rechtliche oder ethische Schranken zu setzen, sondern darum, wie wir als Individuen und als Gesellschaft einander begegnen. Hierin liegt eine Verantwortung, die weit über juristische Regelungen hinausgeht. Es ist die Verantwortung, eine Kultur der Unterstützung und Solidarität zu fördern, die Menschen in schwierigen Lebensphasen trägt. Der assistierte Suizid kann oft auf individuelle Leidensgeschichten zurückgeführt werden.
Eine Gesellschaft, die sich dieser Geschichten bewusst ist, kann Empathie entwickeln und Strukturen schaffen, um Menschen in Krisen zu unterstützen. Es erfordert die Bereitschaft, zuzuhören und uns gegenseitig zu verstehen, anstatt zu urteilen.
Ein wichtiger Aspekt ist auch die Integration von Palliativpflege und psychologischer Unterstützung als integrale Bestandteile unserer Gesundheitssysteme. Menschen, die mit schmerzhaften Krankheiten oder existenziellen Krisen konfrontiert sind, sollten Zug ang zu umfassender Pflege haben, die ihre Würde respektiert und ihre Lebensqualität verbessert.
Gleichzeitig ist es unerlässlich, das Bewusstsein für psychische Gesundheit zu schärfen und die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen zu überwinden. Eine offene und unterstützende Umgebung ermöglicht es Menschen, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen und Hilfe zu suchen, bevor Krisen eskalieren.
Die Verantwortung gegenüber den Schwächeren und Bedürftigen zeigt sich in der Art und Weise, wie wir mit dem Tod umgehen. Der Tod ist ein Teil des Lebens, und eine Gesellschaft, die den Wert des Lebens schätzt, sollte auch den Respekt vor dem Sterben fördern.
Trauerbegleitung und Rituale können eine wichtige Rolle dabei spielen, Menschen in Trauer zu unterstützen und ihnen einen Raum für Heilung zu bieten.
So wird die Diskussion über den assistierten Suizid zu einem Appell an uns alle, die Werte von Mitmenschlichkeit, Unterstützung und Respekt zu pflegen. Es geht darum, eine Gesellschaft zu schaffen, die in schwierigen Zeiten nicht den Einzelnen allein lässt , sondern eine gemeinsame Last trägt und dabei die Würde jedes Lebens hochhält.
Im weiteren Verlauf dieser tiefgreifenden Auseinandersetzung über den assistierten Suizid betonen wir die Bedeutung einer aktiven und unterstützenden Gesellschaft, die Raum für menschliche Würde und Empathie schafft. Diese Verantwortung reicht über juristi sche und ethische Fragen hinaus und fordert eine aktive Beteiligung jedes Einzelnen an der ethische Fragen hinaus und fordert eine aktive Beteiligung jedes Einzelnen an der Gestaltung einer Kultur des Respekts und der Fürsorge.Gestaltung einer Kultur des Respekts und der Fürsorge.
Eine Gesellschaft, die den Wert des Lebens hochhält, zeichnet sich durch ein starkes Netzwerk der Solidarität aus. Dieses Netzwerk sollte nicht nur Krisenmanagement umfassen, sondern auch präventive Maßnahmen zur Förderung von psychischer Gesundheit und Le bensqualität. Hier ist die Bildung entscheidend, um das Bewusstsein für seelische Gesundheit zu schärfen und Vorurteile abzubauen.
Der assistierte Suizid kann oft als ein verzweifelter Akt erscheinen, der auf fehlende Perspektiven und Unterstützung hinweist. Eine engagierte Gesellschaft sollte daher bestrebt sein, Räume der Hoffnung und Alternativen aufzuzeigen. Dazu gehört der Ausbau von Beratungsdiensten, Unterstützungsgruppen und einer breiten Palette von psychosozialen Angeboten.
Die Pflege von Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft zeigt sich auch im Umgang mit Trauer und Verlust. Eine inklusive Gesellschaft bietet Unterstützung für Hinterbliebene, schafft Rituale des Gedenkens und ermöglicht einen offenen Dialog über den Tod. So wird der Tod nicht als Tabu behandelt, sondern als Teil des Lebens akzeptiert.
Die Verantwortung gegenüber den Schwächeren und Bedürftigen wird auch darin deutlich, wie wir unsere Gesundheitssysteme gestalten. Palliativpflege und psychologische Unterstützung sollten integraler Bestandteil sein, um Menschen in kritischen Lebensphasen umfassend zu begleiten.
Der Weg zu einer Gesellschaft, die den Wert des Lebens in all seinen Facetten schützt, erfordert das bewusste Handeln eines jeden Mitglieds. Es geht um die Schaffung von Strukturen, die das Leben fördern, und die Entwicklung eines kollektiven Bewusstseins, das die Würde jedes Einzelnen achtet. Diese Verantwortung reicht über politische Entscheidungen hinaus und ruht auf der Grundlage von Menschlichkeit, Fürsorglichkeit und Respekt.
Im weiteren Verlauf dieser tiefgehenden Reflexion über den assistierten Suizid rücken wir die Bedeutung von Bildung, Empathie und kollektiver Verantwortung in den Mittelpunkt. Die Gestaltung einer Gesellschaft, die den Wert des Lebens in seiner ganzen Viel falt schätzt, erfordert eine kontinuierliche Anstrengung, um Bewusstsein zu schaffen, Stereotypen abzubauen und eine Kultur der Achtsamkeit zu fördern.
Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle. Ein umfassendes Verständnis von psychischer Gesundheit, palliativer Pflege und alternativen Möglichkeiten bei schweren Krankheiten schafft eine Grundlage, um differenziert über den assistierten Suizid zu diskutieren. Dieses Wissen ermöglicht es Menschen, informierte Entscheidungen zu treffen und fördert eine offene, unterstützende Kommunikation.
Empathie ist der Schlüssel zu einer Gesellschaft, die den Wert des Lebens schützt. Indem wir uns in die Lage anderer versetzen, können wir besser nachvollziehen, welche Herausforderungen Menschen in schweren Lebenssituationen bewältigen müssen. Eine empath ische Gesellschaft reagiert nicht nur auf die offensichtlichen Bedürfnisse, sondern versucht auch, verborgene Schmerzen zu verstehen und zu lindern.
Kollektive Verantwortung bedeutet, dass jeder Einzelne dazu beiträgt, eine unterstützende und fürsorgliche Gemeinschaft zu schaffen. Dies kann durch ehrenamtliches Engagement, Aufklärungskampagnen oder die Förderung von Hilfsangeboten geschehen. Eine starke Gemeinschaft ist in der Lage, individuelle Krisen zu bewältigen und gleichzeitig das Bewusstsein für den Wert des Lebens zu stärken.
Die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft erfordert auch die Integration von spirituellen und kulturellen Perspektiven. Verschiedene Weltanschauungen und Glaubensrichtungen tragen dazu bei, die Vielschichtigkeit des Lebens zu verstehen und zu akzeptieren. Es ist wichtig, Räume zu schaffen, in denen Menschen ihre spirituellen Überzeugungen ausdrücken können, um Trost und Unterstützung zu finden.
Schließlich erinnert uns diese Auseinandersetzung daran, dass die Diskussion über den assistierten Suizid nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie ist ein Teil eines größeren Dialogs über die Bedeutung von Leben, Menschlichkeit und Mitgefühl. Indem wir Bildung fördern, Empathie stärken und kollektive Verantwortung übernehmen, können wir eine Gesellschaft schaffen, die nicht nur das Recht auf Leben schützt, sondern auch eine Kultur der Fürsorge und Unterstützung fördert.
In diesem umfassenden Diskurs über den assistierten Suizid haben wir uns auf eine Reise begeben, die über die rein juristischen und ethischen Aspekte hinausgeht. Es wurde deutlich, dass die Frage nach dem assistierten Suizid tiefe Wurzeln in unserem Verstä ndnis von Menschlichkeit, Lebensqualität und Fürsorge hat.
Das Fazit dieser Reflexion ist eine Einladung zur Schaffung einer Gesellschaft, die nicht nur individuelle Freiheiten schützt, sondern auch eine Kultur des Respekts, der Empathie und der Unterstützung fördert. Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle, um e in umfassendes Verständnis von psychischer Gesundheit, palliativer Pflege und alternativen Möglichkeiten zu fördern.
Empathie wurde als Schlüsselqualität identifiziert, die es ermöglicht, die komplexen Emotionen und Herausforderungen, die mit dem assistierten Suizid einhergehen können, besser zu verstehen. Eine empathische Gesellschaft erkennt nicht nur die offensichtlichen Bedürfnisse an, sondern bemüht sich auch um ein tiefes Verständnis für verborgene Schmerzen.
Die Idee der kollektiven Verantwortung hebt hervor, dass jeder Einzelne dazu beitragen kann, eine unterstützende und fürsorgliche Gemeinschaft zu gestalten. Dies kann durch ehrenamtliches Engagement, Aufklärungskampagnen und die Förderung von Hilfsangeboten geschehen.
Insgesamt betont diese Reflexion die Notwendigkeit, nicht nur Gesetze zu gestalten, sondern auch eine kulturelle Veränderung herbeizuführen. Der assistierte Suizid wird zu einem Anstoß, eine Kultur der Achtsamkeit und des Respekts zu fördern, die das Leben in all seinen Facetten wertschätzt. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder nicht allein lässt, sondern in Zeiten der Krise unterstützt und dabei die Würde jedes Einzelnen bewahrt, könnte ein Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen sein, die der as sistierte Suizid aufwirft.