Shortlist der Jury

SCHREIBWETTBEWERB "DIE FREIHEIT, DIE ICH MEINE"

Wir haben 670 Texte aller Gattungen zum Thema Meinungsfreiheit von euch zugesandt bekommen. Die Jury hat daraus folgende Shortlists zusammengestellt, aus denen die Gewinnertexte gewählt wurden.

Auf der Preisverleihung am 28.04.23 auf der Leipziger Buchmesse wurde in den Kategorien 16-26 Jahre und Ü26 Jahre der erste bis dritte Platz ausgezeichnet. Ein Sonderpreis ging an eine Schüler*in der Sekundarstufe aus Sachsen. Außerdem vergab die Jury zwei Sonderpreise für besonders herausstechende Texte

Und auch ihr habt gewählt! Die Gewinnerin des Publikumspreises steht fest!

Shortlist der Kategorie 16-26 Jahre

Stellt euch vor, wir wären Millionen - von Mascha Krupka

Was willst du mal werden, was willst du mal sein, ich mein, du bist doch immerhin schon Mitte zwanzig, und ich denk mir so, ich kann's nicht...

Nur nicht stolpern - von Emily Berger

Und wieder reden wir aneinander vorbei, kommen nicht auf einen gemeinsamen Nenner...

Freie Meinung oder doch Meinungsfrei? - von Luke Marten Keller

Hier in Deutschland leben wir in der Staatsform der Demokratie und das ist auch gut so...

So viel anders - von Sidney Eisenbart

Ihr sagt Meinungsfreiheit, aber ihr meint nicht das gleiche...

Das Wort in deinen Händen - von Julia Friedrich

Er wollte Schreiben. Aber er wusste, wenn er auch nur einen einzigen willkürlichen Strich auf das kühle Weiß setzen würde, wäre er schon verloren...

Der Puppenspieler - von Sophia Haberpeuntner

Die meine Meinung und die Deine, wie frei ist die? Und in welchen Händen liegt sie, diese Freiheit?

„Meinungsfreiheit“- und schon ist es okay? - von Greta Jakstadt

Ein großes Wort. Seit dem ich denken kann, assoziiere ich dieses Wort negativ...

"Ich glaube nicht mehr an die Demokratie" - von Artemis Lindewind

1. Platz der Kategorie 16-26 Jahre!

brennesselsalat - von Kathrin Thenhausen

3. Platz der Kategorie 16-26 Jahre!

Gedicht zur Meinungsfreiheit - von Nina Hann

Fall der Mauer, Fall der Spaltung, Fall der Dauer, Fall der Haltung...

Du stehst da - von Franziska Busmann

Und in diesem Moment setzt mein Herz kurz aus, denn jetzt sehe ich mich aus deinen Augen. Bewerte meine eigenen Brüste, meinen eigenen Hintern aus deinen Augen...

Unerhört - von Kathrin Thenhausen

Münder, mit dem Öffnen abgeschlossen. Die Zunge hat sich im Gaumen verfangen, dem Arzt sage ich, ich hätte meine Stimme verschluckt.

Im Fadenkreuz - von Lea Hartmanns

2. Platz der Kategorie 16-26 Jahre!

Ich sag’ ja bloß!… - von Mathilda Boehm

Der Teufel fliegt mit dem Privatjet über hungernde Menschen, vermarktet Kleidung gemacht von ausgebeuteten Händen...

Atemluft - von Felix Erdmann

Wir leben in den Trümmern der Geschichte. Das weißt Du nicht?

Shortlist der Kategorie Ü26 Jahre

Letzter Tag - von Rita Janaczek

Wir werden uns nicht einmal von ihnen verabschieden. Das ist der Preis, den wir zahlen. Zum zigtausendsten Mal wankt mein Entschluss, der doch so unumstößlich zu sein schien.

Das Hängebauchschwein - von Antonia Spohr

„Die Sieflinger sind wutenbrannt – Wir grillen für den Widerstand“ lasen wir nun, wenn wir auf dem Weg zu unseren Bürgerversammlungen durch den Park gingen.

Zwei am Fenster - Robin Bergauf

2. Platz der Kategorie Ü26!

Auf der Mauer, auf der Lauer - von Bernd Großmann

"...schaut euch mal den Atze an, wie der Atze schießen kann, auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt der hier als Wache", summte Andreas, seines Zeichens Stabsgefreiter der NVA, leise vor sich hin.

Commitment schafft Freiheit - von Daniela Caixeta Menezes

Die Bereitschaft zu radikaler Meinungsfreiheit hängt davon ab, wie sehr wir uns selbst zu etwas in unserem Leben verpflichtet fühlen.

Martin und die Apfelkiste - von Marcus Straßer

Nach sieben Jahren kehrt Martin zurück. Sieben Jahre, in denen er nichts über seine Heimat gehört oder gelesen hat...

Nie wieder Sorgen - von Erik Wunderlich

„Das ist mal wieder typisch für die Rückwärtsgewandten“, sagte er mit leiser, fester Stimme. „Wenn ihnen nichts mehr einfällt, machen sie den Hennen Angst.“

Schießübung - von Peter Hönig

Leo redet viel. Er weiß eigentlich alles. Das zeigt er gern den anderen. Da ist schnell Schweigen angesagt.

Nieder mit Hans-Rüdiger! - von Maike Suter

1. Platz der Kategorie Ü26!

Antwort ohne Frage - von Josephine Kullat

Frauen wiegen Kinder, Männer die Demokratie. Sie stellen die Fragen, die Bühne, die Urne. Nach meiner Antwort wurde nicht gefragt.

Roberts Revival - von Renate Wüsthoff

Du kennst doch bestimmt den Fliegenden Robert aus dem Struwwelpeter. Warum ist der kleine Robert vor seiner Familie weggelaufen?

Burka - von Christine Corlett

Ingrid hat 1 Mann, 1 Haus und ein eigenes Auto. Das ist klein und praktisch. Mehr braucht Ingrid nicht. Sagt Robert.

Stereo-Typen - von Jan Lammertz

„Wieso warst du so spät dran heute?“ Eigentlich ist mir das zu doof und ich will nicht antworten. Doch dann rechtfertige ich mich erneut, dass ich meiner kleinen Tochter auch mal die Flasche gebe, sie wickele und die Wäsche aufgehängt habe, bevor ich hierhin gekommen bin.

Kaffee - von Ilka Kloudas

Alle russischen Muttersprachler*innen wussten sofort, dass Jaroslawa einen ukrainischen Akzent hatte. Es spielte nie eine Rolle, bis der Krieg ausbrach.

Die Kunst, auch morgen noch eine Meinung zu haben - von Raphael Kroneisen

Erst haben sie die Bibliotheken geschlossen, weil sie die im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz für überflüssig halten, und jetzt die Hochschulen.

Beziehungskrise - von Alina Dudek

Freiheit meine Geliebte, hab Dich neu kennengelernt im Internet, bist dort ja in aller Munde...

Die Freiheit, die ich meine - von Melanie Rahimpour

3. Platz der Kategorie Ü26!

Berauschende Einsichten - von Heiner Lekszas

Eine Studie über das Sozialverhalten des europäischen Schlupfmolches, war mir widerwillig Anlass, die heimischen Gefilde für einige Tage zu verlassen. Folgenreich entschied ich mich zur Bahnreise...

Heimat tut weh - von Ute Schmerbauch

Diese junge Geschichte steckt der Stadt in den Knochen. Eine Geschichte von vielen in Ostdeutschland. Meine Region wählt blau.

Hochverrat an Vater Staat - von Tatjana-Larissa Franzen

Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt! Sagt der Vater zum Sohn. Der Vater bleibt unverschont. Der Sohn bleibt unverschämt, ungezähmt...

Gewinnertext der Kategorie Schüler*innen aus Sachsen

Der Text “Sturmbeschwörer” von Carlotta Oertel beeindruckte die Jury, weil er es schafft, das komplexe Thema “Meinungsfreiheit” prägnant und poetisch zu fassen. Herzlichen Glückwunsch!

Sturmbeschwörer - von Carlotta Oertel

1. Platz der Kategorie "Schüler*innen der Sekundarstufe aus Sachsen"!

Kandidaten für eine Sonderehrung

Diese Texte stechen heraus und haben die Jury aus unterschiedlichen Gründen beeindruckt. Zwei der acht nominierten Texte werden zur Preisverleihung durch die Jury mit einer Sonderehrung ausgezeichnet.

Ich meine was, was du nicht meinst - von Clara Lösel

Gewinnerin des Publikumspreises und einer Sonderehrung!

Freiheit, Baby. - von Paula Krujatz

Meinungsfreiheit. Das Wort ist groß und unförmig in meinem Mund, wie eine mehlige Kartoffel, die beim kauen immer mehr wird.

Meinungsfreiheit oder das Recht, Dylans Kuchen zu kritisieren - von Janina Lara Makowe

Ich finde es durchaus wichtig, über Kuchen zu diskutieren. Möglicherweise ist der Diskurs um Kuchen sogar der Wichtigste, den wir führen können.

Brief an C. - von Sharon Mwihaki

Du weißt sicherlich, dass unsere Familie viele Opfer gebracht hat, damit wir unseren Weg gehen und unsere Stimme erheben können.

Das geht jetzt wirklich zu weit. Oder? - von Anna Richter

"Wir haben ja um vorurteilsfreie, respektvolle und nicht-diskriminierende Beiträge gebeten." - "Was? Wirklich? Beim Thema Meinungsfreiheit?"

Iran ist FR(AU)EI - von Nadja Köpplin

Wirf ab den schwarzen Stoff, verlass den versperrten Hof, versteck dich nicht...

Brief an meine Tochter - von Nadine K.

Bis zu meiner Entscheidung, dass ich einen Segen wie Dich empfangen möchte, war es ein langer Weg und dann warst Du plötzlich da.

Menschen aller Nationen, hört meine Rede! - von Jacqueline Roussety

Gewinnerin einer Sonderehrung!

Publikumspreis

Mit mehr als 10% der Stimmen hat Clara Lösel mit ihrem Text “Ich meine was, was du nicht meinst” (siehe Sonderehrungen) den Publikumspreis gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!

Danke, dass ihr beim Voting mitgemacht habt! Es sind über 1200 Stimmen eingegangen.

Weil wir begeistert von der Vielzahl an beeindruckenden Texten sind, wollen wir euch die Möglichkeit geben, einen Publikumsliebling zu küren. Ihr dürft über das untere Formular eure Stimme abgeben – nur einmal pro Text, aber gerne für mehrere Texte. Die Angabe eurer Emailadresse dient nur der Stimmerfassung und wird nach dem Voting nicht weiter verwendet oder weitergegeben, außer ihr möchtet gerne den Newsletter erhalten. (Die Abstimmung ist bis zum 27. April möglich.)

Die Gewinner*innen

Artemis Lindewind

1. Platz in der Kategorie 16-26 Jahre mit “Ich glaube nicht mehr an die Demokratie”

"Manchmal ist es am schwierigsten, über ein Thema zu schreiben, das einem besonders am Herzen liegt. Viel sagen zu wollen, kann einen regelrecht sprachlos machen, und genauso schwierig ist es, hinterher damit gehört zu werden. Ich bedanke mich herzlich über die die Möglichkeit, meinen Text der Öffentlichkeit zu präsentieren, und freue mich über die große Beteiligung am Wettbewerb, die zeigt, wie vielen Menschen Meinungsfreiheit wichtig ist. Ich hoffe, mein Beitrag kann etwas bewegen."

Lea Hartmanns

2. Platz der Kategorie 16-26 Jahre mit “Im Fadenkreuz”

"Ein Blick in die Zeitung zeigt: Es gibt genügend tagesaktuelle Anlässe, sich einmal näher mit einem unserer grundlegendsten Rechte – der Meinungsfreiheit – auseinanderzusetzen. Themen wie Hassnachrichten im Netz, Angriffe auf Lokalpolitiker oder Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit finden sich fast täglich in den Schlagzeilen. Ich hoffe daher, dass über unsere Texte diskutiert und debattiert wird und sie letztendlich zu einer erhöhten Wertschätzung unseres Art. 5 I GG beitragen!"

Kathrin Thenhausen

3. Platz in der Kategorie 16-26 Jahre mit “brennesselsalat”

"Die eigene Meinung zu äußern, braucht Mut, Selbstvertrauen und vor allem ein horchendes und offenes Umfeld. Ich freue mich daher sehr über diesen Wettbewerb, der sich mit einem der wichtigsten Pfeiler unserer Gesellschaft beschäftigt: Die Freiheit, seine Meinung zu äußern und damit immer wieder eine ganz kleine oder große Veränderung zu schaffen."

Clara Lösel

Gewinnerin des Publikumspreises und einer Sonderehrung mit “Ich meine was, was du nicht meinst”

(c) Bundesregierung/Jürgen Kornaker

"Ich meine was, was du nicht meinst, und das ist rot - manche Menschen sind wegen Meinungen anderer Menschen tot." Es ist für mich eine große Ehre mit diesem Preis ausgezeichnet zu werden, der all denjenigen Menschen gebührt, die sich (auch trotz teils harter Konsequenzen) nicht den Mund verbieten lassen. Gerade ist keine Zeit zum Schweigen - das ist das, was ich versuche, in meiner Arbeit mit Mädchen und meinem eigenen Leben zu zeigen.

Carlotta Oertel

1. Platz in der Kategorie Schüler*innen der Sekundarstufe aus Sachsen mit “Sturmbeschwörer”

"Ich freue mich sehr, dass ich die Jury mit meinem Sonett überzeugen konnte und damit einen Teil dazu beitragen kann, den öffentlichen Diskurs zum Thema Meinungsfreiheit zu bereichern. Denn nur wenn wir uns mit Offenheit und Toleranz begegnen, können wir als Gesellschaft gemeinsam Lösungen für die Probleme von Gegenwart und Zukunft finden."

Maike Suter

1. Platz in der Kategorie Über 26 Jahre mit “Nieder mit Hans-Rüdiger!”

"Das Konzept und das Thema für diesen Schreibwettbewerb haben mich auf Anhieb angesprochen. Allein an den tollen Texten, die es auf die Shortlist geschafft haben, zeigt sich, wie viele verschiedene Blickwinkel auf das Thema "Meinungsfreiheit" möglich sind. Ich danke den Organisatoren und der Jury und freue mich sehr über diese Anerkennung für meinen Hans-Rüdiger..."

Robin Bergauf

2. Platz in der Kategorie Über 26 Jahre mit “Zwei am Fenster”

"Ich bin unter einer Regierung aufgewachsen, die ihre eigene geistige Beschränktheit allen Menschen aufzwang, deshalb schätze ich die Meinungsfreiheit, die wir genießen, über alle Maßen. Wie schön, ein Wettbewerb zur Meinungsfreiheit, dachte ich beim Lesen der Ausschreibung, dazu will ich gern meine Meinung schreiben. Leider sind mir dabei meine Figuren dazwischengeraten."

Melanie Rahimpour

3. Platz in der Kategorie Über 26 Jahre mit “Die Freiheit, die ich meine”

"Mir ist es in meinem Schreiben ein großes Anliegen, die Geschichten und Perspektiven von ganz unterschiedlichen Menschen zu erzählen. Deshalb freue ich mich sehr über den Preis und fühle mich geehrt, dass mein Text so gewürdigt wird."

Jacqueline Roussety

Sonderehrung mit “Menschen aller Nationen, hört meine Rede!”

"Laut Unicef werden jährlich 12 Millionen Mädchen zwangsverheiratet, 20 % sind davon minderjährig! Ihre Meinung zählt nicht, ihre Rechte – permanent missachtet. In meinem Dramolett hebt Mehtap ihre Stimme, um auf diese Katastrophe aufmerksam zu machen. Das Genre „Drama“ bietet die Möglichkeit, über das Loslassen der Gefühle eine Katharsis zu erzeugen, die Mehtap die Kraft gibt ihr Erlebtes zu verarbeiten."

Die Jury

Nina George

Autorin und Präsidentin des European Writers’ Council

© Helmut Henkensiefken
© Michael Freitag

Robert Dobschütz

Journalist und Herausgeber der Leipziger Internetzeitung

Susanne Tenzler-Heusler

Inhaberin der Agentur brandvorwerk-pr und Projektleitung des Schreibwettbewerbs

Thomas Bärsch

Journalist beim ZDF

Lena Falkenhagen

Autorin und Bundesvorsitzende des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller VS

© Stefan Gelberg

Tilman Spreckelsen

Literaturredakteur der FAZ und Autor

Birgit Schulze Wehninck

Geschäftsführerin des Buchkinder Leipzig e.V.

Bernd Oettinghaus

Autor und Vorsitzender von 3. Oktober Deutschland singt und klingt e.V.

Kontakt

Organisationsbüro
Michelle Brückner

Telefon:  069 247478330
Mail: office@3-oktober.de

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Grußwort des Bundesratspräsidenten und Bodo Ramelow, MdB im diesjährigen Liederheft

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Mitmusizierende,

„Musik allein ist die Weltsprache und braucht nicht übersetzt zu werden.

Diese zeitlose Beobachtung des jüdischen Schriftstellers Berthold Auerbach drückt nicht nur aus, dass Musik und ihre Botschaft überall verstanden werden, sondern sie ist zugleich Verheißung und Einladung zu aktiver Teilhabe.

Auch in diesem Jahr lädt der Verein „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“ republikweit die Menschen unseres Landes dazu ein, in über 300 Städten gemeinsam mit Chören und Instrumentalisten vor Ort zu musizieren. Vielen wird die bewegende und bewegte Zeit der friedlichen Revolution in der DDR, die schließlich in der Wiedervereinigung unseres Landes gipfelte, gewiss noch in persönlicher und lebhafter Erinnerung sein. Im Gedenken an diese Zeit stiftet das gemeinsame Singen mit Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft ein ähnliches Gemeinschaftsgefühl, wie es in jenen Jahren des Aufbruchs schon einmal fühlbar war. Von dieser Veranstaltung als einem Stück gelebter Demokratie heute geht somit auch ein starkes Signal gegen rassistische und soziale Ausgrenzung in unserer Gesellschaft aus.

Der Freistaat Thüringen hat in diesem Jahr die Bundesratspräsidentschaft inne. Am 3. Oktober findet in Erfurt die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit statt. Sie steht wie die Bundesratspräsidentschaft unter dem Motto „zusammen wachsen“. Auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist die Annäherung zwischen den Alten und Neuen Bundesländern noch immer ein Prozess. Die Überwindung gegenseitiger Ressentiments sowie gefühlter und tatsächlicher Ungleichheit bedarf in Ost wie West weiterer Anstrengungen und Bemühungen auf dem Weg zu einem echten Zusammenwachsen. Erst durch eine wirklich gelebte Einheit ergibt sich die Chance zu weiterem Wachstum und Fortschritt in Deutschland.

Die Erfahrung des gemeinsamen Singens von Liedern aus ganz unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen gibt ein lebendiges Beispiel vom Ideal der Einheit in Vielfalt. Die hier abgedruckten Lieder vermitteln uns einen Begriff von den Werten und Vorstellungen, auf die wir uns besinnen sollten und denen wir uns verpflichtet sehen, angefangen von Westernhagens „Freiheit“ über das bekannte israelische Friedenslied „Hevenu Shalom Alechem“ bis hin zu Bonhoeffers „Von guten Mächten“, das Hoffnung und Trost in schwieriger Zeit spendet.

Ich danke allen Mitwirkenden und sage mit Beethoven: „Von Herzen – möge es zu Herzen gehen!“

Ihr

Bodo Ramelow

Präsident des Bundesrates, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen

Bodo Ramelow

Bundesratspräsident, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen

Schirmherr von “3. Oktober – Deutschland singt und klingt” 2022

Anmeldung zur Planungsbereitschaft für ein Offenes Singen am 3. Oktober 2023 in meinem Ort

Diese Anmeldung ist zunächst ein Ausdruck deiner/eurer Bereitschaft ein Offenen Singen bei dir vor Ort zu planen oder eine bereits angemeldeten Gruppe zu unterstützen. Es besteht jederzeit die Möglichkeit abzusagen. Nach der Anmeldung erhältst du von uns alle Infos zum weiteren Vorgehen per Email.

Diese Anmeldung dient der Erfassung von Veranstaltern!

Für Kontaktanfragen bitte HIER klicken.

Wir waren schon einmal dabei(erforderlich)
Wir sind bereit mit anderen Gruppen vor Ort zusammenzuarbeiten(erforderlich)
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Ort/Stadtteil wo am 3.10.2023 das Offene Singen Open Air um 19.00 stattfinden soll.(erforderlich)
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Stellt euch vor, wir wären Millionen!

von Mascha Krupka

Was willst du mal werden, was willst du mal sein,
Ich mein,
Du bist doch immerhin schon Mitte zwanzig,
Und ich denk mir so, ich kann’s nicht.
Dabei will endlich auch Fuß fassen
In diesem Gesellschaftswahnsinn,
In dem alle von uns gefangen sind,
In dem sich viele nicht trauen sich zeigen,
Statt zu handeln lieber schweigen
Und warten…
Und warten…
Und warten was passieren wird,
Dabei zusehen, wie die Welt abschmiert.
Denn so viel Krieg und Leid und Not,
Die unseren Frieden gerad bedroht,
Ja, wir leben wohl in Krisenzeiten,
Wir leben wohl in miesen Zeiten,
Aber trotz allem glaub ich wir können noch was bewegen,
Aber wir müssen handeln, aufhören zu reden!

Die Politiker*innen sehen es meist sachlich,
Man hat das Gefühl Emotion prallt an ihnen ab,
Und ich hab das Gefühl, dass egal was ich mach, ich
Einfach nicht genug Einfluss hab.
Um diese Welt mit zu verändern,
Ich wohn doch nur in einem von vielen Ländern
Bin nur ein kleiner Mensch auf diesem Planeten,
Habe kein Geld, keine Moneten.
Habe nur Worte und meine Emotionen,
Aber stellt euch mal vor, wir wären Millionen,
Die sich trauen diese zu teilen,
Sich engagieren, und Kante zu zeigen,
Die eine Vision von einer besseren Welt
Leben, damit man diese erhält.

Meine Meinung ist meine Stimme,
Mit der ich Vision und Handlung verbinde.
Die Freiheit diese kundzutun ist ein Privileg,
Und deshalb lasst uns handeln,
Es ist noch nicht zu spät.

Aber verhallt meine Meinung,
Wie der Wind in Bäumen,
Wenn keiner sie hört
Keiner was tut?
Denn egal wie laut ich rede, egal was ich sage,
Ich hab das Gefühl es ist nie laut genug.
Aber stellt euch mal vor wir wären Millionen,
Die ihre Stimmen laut werden lassen,
Die ihre ganzen Emotionen
Durch Handlungen in Worte fassen.

Lüzerath wird geräumt,
Es wird auf Energien gesetzt, die langfristig nicht zählen,
Die Politik hat es versäumt,
Die einzig sinnvolle Entscheidung zu wählen.

So viele Leute leben ihre Meinungsfreiheit,
Und zeigen, was sie denken.
Trotzdem gibt es diesen Räumungsbescheid,
Es ist als würde man gegen Windmühlen kämpfen.

Die Lobby scheint das Ding zu drehen,
Politiker*innen scheinen nicht zu verstehen,
Wie weh es tut, zu wissen, es wird weggesehen,
Denkt dran, der Mensch als solcher kann vergehen.

Und es erfüllt mich wahrlich mit Grauen,
Dass man dabei ist nur zuzuschauen,
Wie Klimaaktivist*innen als Linksextrem betitelt werden,
Obwohl wiederum durch rechte Hetze Menschen sterben.
Wie die Gesellschaft immer weiter nach rechts rückt,
Wie Diskriminierung immer mehr Randgruppen erdrückt.

Die Leute, die es bereits wagen,
Die Politik zu hinterfragen
Werden als Extremistisch dargestellt,
Dabei kämpfen sie nur um den Erhalt der Welt
Tomatensuppe auf Bildern? Sich ankleben auf Straßen?
Ich finde das weitaus weniger schlimm, als andere Menschen zu hassen,

Wir müssen darüber sprechen,
Gucken was dahinter liegt
Und dieses verdammte Schweigen brechen,
Damit endlich die Menschlichkeit siegt.

Der Klimawandel ist das Resultat ständigen Wachstums,
Alles größer, schneller, besser,
Am besten immer noch gestresster,
Laufen wir ins offene Messer.

Er ist der Tumor in unserer Gesellschaft,
Die wenn wir keine Therapie machen, es schafft,
Unser Dasein zu beenden,
Und ihr wollt ernsthaft unsere Zeit damit,
Verschwenden,
Einen friedlichen Ort gewaltvoll zu räumen?
Friedliche Menschen, die einfach nur träumen,
Von einem Leben in einer besser Welt,
Dass wir überleben, ist für uns nicht das was zählt?

Ich bin nur eine kleine Person,
Ich habe nicht viel Ahnung, habe das ja nicht studiert.
Nachrichten gucke ich kaum noch an,
Weil mich dieses Wissen
um den Stand dieser Erde deprimiert.
Aber ich habe Worte, und diese braucht unsere Welt schon,
Weil sonst einfach alles ohne Konsequenzen passiert.

Aber stellt euch mal vor wir wären Millionen,
Die ihre Stimmen laut werden lassen,
Die ihre ganzen Emotionen
Durch Handlungen in Worte fassen.

Stattdessen macht ihr Politik für vier Jahre,
Danach sind die Versprechen nicht mehr relevant,
Wie kann das sein, dass ich mit 25 kaum noch Vertrauen in euch habe?
Wir fahren gegen eine Wand.

Aber Tempolimit auf Autobahnen? – Nicht genug Schilder…
Stattdessen Bilder,
Von Naturkatastrophen und Kriegen,
Gleichzeitig mal nach Malle fliegen,
Die Winterspiele am Persischen Golf,
Er dreht sich und dreht sich unser Fleischwolf…

Wir sind privilegiert, in der westlichen Welt,
Doch es ist so wichtig, dass man die restliche hält.
Aber ihr handelt so als seien wir unsterblich
Und ihr merkt nicht,
Wie beeinflusst ihr seid von Macht und Geld,
Von dem Kapitalismus auf dieser Welt.
Unser Kapitalismus beutet andere Menschen aus,
Die Frage ist doch wie kommt man daraus?
Aus diesem System, was Menschen unterdrückt,
Es macht mich wahnsinnig, es macht mich verrückt.
Ich kann diese ganze Verantwortung kaum halten,
Und dann ist sich hier noch die Gesellschaft am Spalten.

Aber stellt euch mal vor wir wären Millionen,
Die ihre Stimmen laut werden lassen,
Die mit ihren Emotionen,
Ihre Komfortzone verlassen.
Die sich trauen, gemeinsam Verantwortung zu tragen,
Die statt stummer Akzeptanz beginnen zu hinterfragen.
Die handeln, statt schweigen,
Für den Erhalt des Menschlichen Seins,
Anstatt sich aneinander aufzureiben,
Werden wir lieber eins.

Ich möchte hier niemanden anprangern,
Will es nur mal erwähnen,
Weil ansonsten kann man,
Auch einfach nur gähnen,
Sich zurücklehnen und sagen wozu,
Wir sterben doch alle, du und du und du.

Aber vorher habe ich zumindest noch was zu erledigen,
Ich gebe nicht kampflos auf,
Wir müssen es wohl immer weiter predigen,
Dass wir gerade den Lauf
Einer Pistole an unsere Brust
Haben
Ein Warnschuss
Muss doch reichen,
Stattdessen sagen
wir, die Sonne scheint schön,
Aber die Pistole sitzt trotzdem auf unsere Brust,

Die sagt, dass man endlich handeln muss.
Ich bin nur ein kleiner Mensch, ja, das stimmt,
Aber ich habe Emotionen,
Und wenn uns bewusst wird, was wir wollen wer wir sind,
Ich glaub, dann werden wir Millionen!
Und dann fragt ihr mich, was ich werden will
Ich bin ja schließlich schon Mitte zwanzig.
Die Frage machte mich lange so still,
Weil ich dachte einfach, ich kann’s nicht.
Ich will ein Mensch werden, der glücklich leben kann,
Weil er für Gerechtigkeit kämpft
Ich will sagen, ich hab alles gegeben, man,
Auch wenn die Zeit gerade rennt

Denn ich glaube daran, wir sind Millionen,
Die diese Welt verändern können.
Ich glaube daran, es wird sich lohnen,
Wenn wir aufhören vor der Realität wegzurennen
Und deshalb werden wir laut!

Nur nicht stolpern

von Emily Berger

Und wieder reden wir aneinander vorbei
Kommen nicht auf einen gemeinsamen Nenner
Und du nennst meine Meinung Bullshit
Und ich nenne deine Meinung gefährliches Halbwissen
Und du nennst mich dein Meinungskorrektiv
Auch wenn ich mich eher als -objektiv verstehe
(Ich will deinen Blickwinkel ändern)

Und wir kommen vielleicht nicht auf einen gemeinsamen Nenner
Aber du kannst auf mich zählen
Nenn mich deinen freiheitlich-demokratischen Leitfaden
(Und ich bin nicht aufgespannt, um dich zum Stolpern zu bringen)

Und wenn du dann sagst
Dass du nicht (mehr) an die Demokratie glaubst
Dann sage ich dir, dass ich nicht glaube
Dass man über einen roten Faden wirklich stolpern kann
Doch du hältst schon das Messer in der Hand
Oh, du hast solche Angst vor dem Stolpern
(Ich möchte dir diese Angst gerne nehmen)

Aber du faselst in fadenscheinigen Deklarativen
Und setzt das Messer an
Du willst, dass aus dem Leitfaden eine rote Linie wird
(Die du dann ganz leicht übertreten kannst, nicht wahr?)

Freie Meinung oder doch meinungsfrei?

von Luke Marten Keller

Hier in Deutschland leben wir in der Staatsform der Demokratie und das ist auch gut so. Ich würde nicht unbedingt behaupten, dass ich stolz darauf wäre, in Deutschland zu leben, aber sehr wohl, in einer Demokratie leben zu dürfen. Von gewissen politischen Geschehnissen und Entscheidungen wie Maskendeals, kollektives Keine-Ahnung-haben oder dem viel zu langsamen und zu späten Handeln gegenüber dem Klimawandel kann man halten, was man will, aber einen Kanzler zu haben, der ein Gedächtnis wie ein Schweizer Käse hat, ist auch nicht gerade der Hit. Und davon, dass einige Politiker sich mit Leuten, die offensichtlich ein oder zwei Sprünge in ihrem moralischen Kompass besitzen, geradezu auf Kuschelkurs begeben, möchte ich gar nicht anfangen. Seht ihr; persönliche Meinung, Kritik und Beschwerde so nah beieinander. Warum auch nicht, ist schließlich in einer Demokratie erlaubt. Die Freiheit, das zu tun und zu sagen, was auch immer man möchte, einzig und allein beschränkt durch die Richtlinien des Gesetzes. Die Freiheit des Menschen im Allgemeinen ist eines der höchsten und wichtigsten Güter in einem demokratischen Rechtsstaat. Die Freiheit, heute mal mit dem linken und nicht mit dem rechten Fuß den Tag zu beginnen, drei anstatt der üblichen zwei Croissants zu kaufen oder in einem pinken Ballettoutfit die Straße herunterzulaufen und fröhlich dein Lieblingslied zu singen. Gut, eigentlich nichts besonderes und beim letzten Punkt stellt sich eher die Frage, ob man von seinen Nachbarn für verrückt erklärt oder polizeilich angezeigt wird, aber diese Dinge sind es, die bedeutsam sind. Niemand schreibt dir vor, was du zu denken, zu sagen oder zu tun hast. Ist doch erstmal egal, ob du so etwas machst oder nicht. Die reine Möglichkeit der Aktion, du könntest, wenn du wolltest, das ist es, was Freiheit für mich ausmacht. Wie ich immer als mein Alter Ego „Jesus“ auf Partys zu predigen pflege: „Lebe so, wie du es für richtig erachtest. Dabei ein bisschen an die Gesetze halten, deinen Mitmenschen nicht komplett auf den Sack gehen und ihnen helfen, wenn sie Hilfe brauchen.“ Ich möchte meine Meinung niemandem aufzwingen, aber überlegt doch einmal, was diese Philosophie mit sich brächte: Das Ende von Rassismus, Antisemitismus, vielen Kriegen und was weiß ich noch alles. Der Beginn einer friedlichen und freien Welt. Entscheidungen bezüglich der eigenen Person treffen und dann auch tatsächlich ausführen zu können, das ist Freiheit. Und diese Freiheit, die Möglichkeit sich zu entfalten und wirklich zu leben, ist ein Recht, das jeder sollte beanspruchen können, aber leider nicht jeder tatsächlich besitzt. Es gibt Orte auf der Welt, an denen du dafür hingerichtet wirst, wenn du deine Meinung äußerst. Und wenn diese dann auch noch irgendetwas kritisiert oder hinterfragt, wird das keine langsame Hinrichtung. Erdachte Konzepte wie die Menschenrechte sind das, was sie sind, nämlich von Menschen erdachte Konzepte. Sie wurden erfunden, um das Leben der Menschen untereinander zu regeln. Rechte und daraus resultierende Freiheiten und Pflichten sind eine Idee, aber was, wenn dir diese Idee nicht gefällt? Was passiert, wenn du eine andere Idee hast und du in deinem Land deine Idee umsetzt und nicht die andere? Dann gelten in deinem Land keine Menschenrechte mehr, dein Wort ist Gesetz. Die Menschen in diesem Land müssen nun in Unterdrückung damit leben, flüchten (und das Risiko eingehen, dabei verletzt oder getötet zu werden) oder sich dagegen wehren (und das Risiko eingehen, dabei getötet zu werden). Für welche dieser drei Optionen man sich entscheidet, sei jedem frei gestellt… Was ich damit zu erklären versuchte: Meiner Meinung nach sind rechtliche Freiheiten und Pflichten eine nichtgreifbare Vorstellung in unseren Köpfen. Wir können Freiheiten, wie die der Meinungsäußerung, nicht anfassen, sondern nur ausführen und nutzen. Gesetze sind nichts weiter als ein bedrucktes Stück Papier. Es sind wir, die Bevölkerung, die diesen Gesetzen Macht verleihen, in dem wir uns an sie halten. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn wir das auf einmal nicht mehr täten…

Bedauerlicherweise hat, wie alles auf diesem Planeten, auch die Freiheit ein Ende. Nicht, weil sie nicht mehr gültig ist. Sondern weil es schlicht nicht nur einen, sondern mittlerweile  acht Milliarden anderer hirnloser Sauerstoffkonsumenten auf der Erde gibt, die alle ihren rechtmäßigen Teil der Freiheit ergattern wollen. Noch schlimmer, sie wollen alle ihre eigene Freiheit haben. Dabei ist es eigentlich genauso, wie es uns von klein auf erzählt wird: Die Freiheit des einen hört dort auf, wo die Freiheit des anderen anfängt. Warum es uneigentlich auch anders ist, habe ich bereits beschrieben. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, der die Freiheit nicht direkt beschneidet, aber deutlich in ihre Schranken weist. Es ist zwar ein legitimes Argument, jedoch auch eine Karte, die (meines Erachtens nach) manchmal zu oft und zu schnell gespielt wird. Es ist der Punkt, an dem sich eine oder mehre Personen von der Meinung eines anderen angegriffen oder verletzt fühlen. Dies ist wie gesagt ein verständlicher Punkt, etwa wenn die geäußerte Meinung ganz klar eine Beleidigung oder gezielte Formulierung enthält, die als Beleidung aufgefasst werden kann. Zudem kann diese Meinung inhaltlich aus verfassungswidrigen Aussagen oder Aufforderungen zu Straftaten bestehen. Allerdings kann man, wenn man sich nur lange genug mit ihr beschäftigt, in jeder Aussage irgendwo irgendeine negative Meinung über irgendjemanden finden. Dieses künstliche Hineininterpretieren wird oft genutzt, um Menschen zu Unrecht zu beschuldigen, sie hätten etwas gegen Person X oder Gruppierung Y gesagt. Um sie zu „canceln“, wie man heutzutage gerne dazu sagt. Wenn du deine Meinung äußerst, solltest du das also gefälligst bedenken, du unsensibler und asozialer Mensch. Manche werden jetzt aufbegehren („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“), aber dazu gibt es keinen Grund. Deine Meinung sollte keine direkte Beleidung oder Aufforderung zum Mord sein und Kritik bitte sachlich und konstruktiv wiedergeben. Kann sein, dass ich etwas verpasst habe, aber sollte das nicht eigentlich der normale Umgang der Menschen miteinander sein? Ja, Unterschied zwischen eigentlich und uneigentlich, ich weiß… Natürlich darfst du das noch sagen. Solange es eben keine Beleidung, Aufforderung zu einer Straftat oder unsachgemäße Kritik ist, darfst du das noch sagen. Das Einzige, das du nicht darfst, ist anzunehmen, dass dir niemand widersprechen wird, dass niemand versuchen wird, mit dir zu diskutieren. Es wird immer jemanden geben, der deiner Meinung nicht zustimmen wird, oder glaubst du, dass alle acht Milliarden Homo Sapiens immer derselben Meinung sind? Spoiler Alarm: Nein. Tja, das ist die Eine Millionen Euro Frage: Wie stellt man sicher, dass meine Meinung auch als Meinung und nicht als Beleidigung verstanden wird? Lasst die Frage mal auf euch wirken und beantwortet sie selbst. Fertig? Gut, hier kommt meine Antwort: Kommunikation und gegenseitiges Verständnis. Wenn du denkst, jemand hat dich mit seiner Äußerung beleidigt, dann frag die Person, wie sie ihre Aussage gemeint hat. In den meisten Fällen hast du nämlich die Beleidung nur in die Aussage hineininterpretiert, obwohl sie gar nicht vorhanden war. Und wenn du einmal die genauere Erläuterung der Aussage hast, kommt das Verständnis ins Spiel. Du musst verstehen und akzeptieren, was die andere Person dir gesagt hat. Wenn du etwas falsch verstanden hast, musst du zu deinem Fehler stehen. Wenn du jedoch recht hattest und die Beleidung sehr wohl vorhanden war, musst du das logischerweise nicht mehr einfach so hinnehmen. Ich will hier aber nicht die ganze Schuld an den Hörer der Meinung abschieben, einen Teil der Schuld trägt nach wie vor die Person, die ihre Meinung geäußert hat, siehe Beleidung. Wenn die Menschen einfach mal nachfragen, denken und vor allem mal mit- und nachdenken würden, wäre die Welt ein so viel besserer Ort. Entspannter, besonnener, umweltfreundlicher und vielleicht sogar freier. Frei von Cancel-Culture, frei von den meisten Ungerechtigkeiten, frei von Vorurteilen, frei von der Unfreiheit. Und dann schaut man aus dem Fenster bzw. aus der eigenen Meinungsbubble heraus und sieht die Wirklichkeit. Armut, Hungersnöte, Klimawandel, diese verdammte Pandemie, Krieg und dann auch noch ein ganz besonderer Krieg: Der Ein-Mann-Feldzug gegen die Ukraine, gestartet von einem Vodka saufendem Clown in Moskau. Mal ehrlich, es gibt keinen Grund mehr, nüchtern zu sein. Dann wäre jetzt doch ein guter Zeitpunkt, das mit der Legalisierung von Cannabis und so… Okay, scheint so, als wäre ich da ein bisschen abgeglitten. Aber hey, dank der Meinungsfreiheit ist es vollkommen mir überlassen, was ich schreibe. Andernfalls würde ich hier gerne anmerken, mein Honorar für diesen Propagandabeitrag bitte in bar, ich akzeptiere keine Schecks.

So viel anders

von Sidney Eisenbart

Ihr sagt Meinungsfreiheit
Aber ihr meint nicht das gleiche
Wenn ihr mich dabei anseht
Ihr könnt frei sein für die Meinung
Frei euch auszudrücken
Ich soll frei sein von der Meinung
Soll sie nicht euch aufdrücken
Frei ist nur die Mehrheitsmeinung
Die Mindermeinung nicht

Wie kann etwas auch frei sein
Wenn es doch minder ist

Das Wort in deinen Händen

von Julia Friedrich

Das dünne Stück Holz in seiner Hand fühlte sich vertraut an. Fast beängstigend vertraut. Schmerzhaft. Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit. Einer Vergangenheit, die gerade einmal 3 Jahre zurücklag. Und plötzlich sah er sie wieder: die Farben, Buchstaben, die eckigen und kantigen Formen, die auf dem kühlen weiß ein Eigenleben zu entwickeln schienen. Er glaubte fast, das beruhigende Kratzen des Stifts über das dicke Papier zu hören. Farbe, Leben, Hoffnung, dachte er. Und spürte, wie seine Augenlider aufgeregt zu zittern begannen. Wie hauchdünne Schmetterlingsflügel, die sich treiben lassen wollen im Wind der Unbeschwertheit und kindlichen Naivität. Doch er war kein Kind mehr und der Wind war längst verebbt. Da war nichts mehr. Nichts außer Leere. Ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier. Makellos. Seine abgekauten Nägel krallten sich krampfhaft in das Holz zwischen seinen Fingern. Die normalerweise glatte Oberfläche war übersät von kleinen, braunen Halbmonden. Narben, dachte er. Narben der Seele. Er spürte ein Brennen in seiner Brust, spürte das Pulsieren seiner Adern, das Kribbeln in seinen Fingern und jede Zelle seines zerbrochenen Körpers drängte danach: Er wollte Schreiben. Aber er wusste, wenn er auch nur einen einzigen willkürlichen Strich auf das kühle Weiß setzen würde, wäre er schon verloren. Denn er wusste, er würde die innere Flut nicht stoppen können. Die Worte, der tiefe Schmerz, das Leid würden einfach so aus ihm herausprudeln und sich selbstständig ihren Weg auf das Blatt Papier bahnen. Eine Welle der ungesagten Worte. Alles, was er seit Monaten unterdrückt hatte.

Sie saß auf ihrem Bett in dem kleinen dunklen Zimmer, dass sie sich mit ihren zwei jüngeren Brüdern teilte. Die windschiefen, grauen Wände schienen immer näher zu kommen, schienen sie zu erdrücken. So wie die Last der letzten Wochen. Eine Last, die sie unwissentlich eigentlich schon ihr ganzes Leben lang mit sich herumtrug. Nervös rieb sie ihre Handflächen an dem rauen Fasergeflecht ihrer Unterlage. Ihre Hände wurden wund und fast schon blutig, aber es war ihr egal. Sie spürte nichts mehr. Aber sie konnte sich noch an das Gefühl erinnern. Das Gefühl, einen Willen zu haben. Den Drang, seine Meinung zu äußern. Sie hatte doch Pläne gehabt. Sie wollte weiter zur Schule gehen, studieren, die Welt verändern. Und jetzt war sie in ihrer eigenen Welt gefangen. Die „graue Höhle“, wie sie ihr Zuhause als Kind liebevoll nannte, war von einem sicheren Rückzugsort, zu einem Gefängnis geworden. Sie hatten ihr und den anderen Mädchen und Frauen alles genommen: Zugang zu Bildung, Sicherheit und vor allem eines – Hoffnung und Mut. Zuerst war es nur ein Vorwand – ein angebliches, „technisches Problem“. Doch dann wurden die Frauen auch ohne Vorwand nach Hause geschickt. Die Bücher wurden verbrannt, die Hefte zerrissen und die Frauen in ihren Häusern versteckt. Sie hatte es doch miterlebt, wie sie ihre Cousine schikaniert hatten, wie sie verächtlich auf sie herabsahen und sie diskriminierten, weil sie eine Frau war. Nur weil sie studieren wollte und ein Ziel vor Augen hatte. Eine kühle Träne rollte über ihre Wange. Was war aus diesem Land geworden, dass sie ihre Heimat nannte?

Dunkelheit und ein bläuliches Leuchten in der Finsternis. Die Buchstaben auf dem Display verschwammen vor ihren Augen zu einem leblosen Gemisch aus Schwarz und Weiß. Immer und immer wieder las sie die Worte, hoffte die Buchstaben würden sich neu zusammensetzen, ihre Bedeutung verändern, weniger weh tun. Doch die Buchstaben blieben wo sie waren und die fremden Stimmen hallten weiter durch ihren Kopf, ließen sie nicht los, schienen sie von innen heraus aufzusagen, bis da nichts mehr war. Nur Leere. Eine leere Hülle um einen toten Körper. Und dann wieder der Fall ins schwarze Nichts.

Sein Bruder hatte den Mut gehabt. Er hatte sich getraut zu schreiben und seine Artikel zu veröffentlichen. Aber die Öffentlichkeit akzeptierte seine Meinung nicht. Wörter werden gestrichen, Artikel gesperrt, Apps verboten. Regimekritische Äußerungen werden verworfen und Vorwürfe von außerhalb als scheinheiliger Versuch gesehen, das Land politisch zu schwächen. Die Menschenrechte gehören zu den „inneren Angelegenheiten“. Ein systematischer Überwachungsstaat, dachte er im Stillen und seine Fingerknöchelchen traten weiß hervor. Was im Verborgenen stattfinden soll, bleibt auch geheim. Meinungen, die das System gefährden oder anzweifeln könnten, kommen niemals an die Oberfläche. Die große Mauer stoppt alles.

Sittlich verdorben, dachte sie. Sie hatten ihre Cousine als Prostituierte und Schlampe beschimpft. Hatten sie geschlagen, ihr Elektroschocks verabreicht…an der Schulter, im Gesicht, im Nacken, wo immer sie konnten. Der Mann mit der Pistole, drohte sie umzubringen und sie zu verscharren. Das letzte, was sie von ihrer Cousine sah, war das Zucken ihrer Muskeln. Ein letztes Aufbäumen und dieser gläserne, wässrige Blick in ihren blutunterlaufenen Augen. Alle Stärke, alle Zuversicht war verblasst. Das Einzige, was sich in ihren Augen widerspiegelte war Angst. Pure Hilflosigkeit und Angst. Und dann nahmen sie ihre Cousine fest und schleiften sie weg. Ob sie noch lebt? Sie weiß es nicht.

Wie es seinem Bruder geht? Er weiß es nicht. Aber er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie ihn abgeholt hatten und mit ihm einige andere. Er dachte oft an seinen Bruder, fragte sich, wo er wohl gerade war. In einen von diesen Arbeitslagern? Im Gefängnis? Würde man ihn gerade wohl verhören und vielleicht sogar körperlich oder psychisch unter Druck setzen? Er spürte den Schmerz, der ihn wie eine Welle überrollte. Er wollte schreien, er wollte schreiben, wollte gehört werden. Wollte aufschreiben, was ihm seit Monaten auf der Seele brannte. Wollte in Worte fassen, was mit seinem Bruder geschehen war. Aber er durfte nicht. Seine Stimme interessierte niemanden. Und wenn sie seine Worte gehört hätten, hätten sie auch ihn weggebracht.

Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Und zum ersten Mal seit Wochen glaubte sie wieder wirklich etwas zu spüren. Schmerz, Trauer, Wut. Sie konnte ihre Cousine nicht vergessen. Und sie wollte diesen Mann nicht heiraten, der auch zu diesen Männern gehörte. War er nicht sogar dabeigestanden, als sie ihre Cousine abgeführt hatten? Beißender Ekel überkam sie und plötzlich hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Wie ihr Vater sie gerade angesehen hatte: Mit diesem Blick. Dieses hoffnungsvolle Zunicken und dieses beschwörungsvolle Glänzen in seinen Augen. Aber war es wirklich Stolz? Womöglich war es eher das Vertrauen und die Zuversicht, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde. Aber ist eine Frage, bei der man nur zustimmen kann – zustimmen muss – wirklich eine Entscheidung? Sie fühlte sich wie ein kleines, hilfloses Lämmchen, dass man einer Horde voller Raubkatzen vorgeworfen hatte. Mit Gewehren über den Schultern standen sie im Wohnzimmer ihres Vaters. Ihre Raubtieraugen funkelten gierig und besitzergreifend, als würden sie sich zurückholen, was sowieso schon ihnen gehörte. Und alle nickten sie zustimmend, als ihr Vater mit einem von ihnen über sie verhandelte. Wieviel würde sie ihnen wert sein?

Wieviel war sie denn schon eigentlich wert? Sie war doch ein nichts, ein niemand. Konnte nichts und wusste nichts. Der ganze Hass schien sie innerlich zu zerfressen, sie aufzulösen. Was war eigentlich noch von ihr übrig? Sie hatte keine Kraft mehr, keine Stimme mehr, um sich gegen die Beleidigungen und Hasskommentare zu wehren, keinen Willen, um sich den Anschuldigungen und Gewaltandrohungen zu widersetzen. Vor ihren Augen sah sie die schemenhaften Gesichter derer tanzen, die ihr den Tod wünschten. Bloße schattenhafte Fratzen, die sie verhöhnten und auf sie herabsahen. Eine graue, anonyme Masse. Ohne Gesicht, ohne Namen, aber mit einer Stimme. Nein, nicht mal einer Stimme. Sie kommunizierten nur mit geschriebenen Buchstaben. Sie rollte sich in sich zusammen, zog ihre Knie dicht an ihr Gesicht, versuchte sich zu verstecken, vor sich und der ganzen Welt. Vor der Öffentlichkeit des Internets.

Von draußen hörte er den Lärm protestierender Menschen. Sie werden die nächsten sein, die sie wegsperren, dachte er. Noch immer saß er auf dem Boden in seinem Zimmer. Langsam spürte er die kühle Schwere, die langsam seinen hageren Körper hinaufkroch und jedes Glied seines Körpers erfasste. Kühle, schwere Regungslosigkeit.

Wollte man sie mundtot machen? Weswegen? Wegen diesem einen Post? Weil sie ihre Meinung gesagt hatte? Weil sie eine Frau war?
Und jetzt durfte man sie klein machen. Sie zum Schweigen bringen. Und alle schauten sie zu, verkrochen sich hinter den Tastauren ihrer übergroßen Bildschirme.

Ein Schauder überkam sie, als der fremde Mann mit seiner groben Hand über ihren Oberschenkel striff. Die anderen Männer im Wohnzimmer lachten höhnisch und ihre Gesichter verzogen sich zu hämischen Grimassen. Und ihr Vater schaute sie einfach nur an. Er sagte nichts. Sie spürte den Drang etwas zu sagen, zu schreien, zu fluchen, aufzuspringen und diese Männer einfach stehen zu lassen. Aber sie konnte nicht. Sie fühlte sich wie im Taumel. Eine eisige Klammer aus Angst und Beklommenheit, die sie gefangen hielt und ihr die Kehle zuschnürte. Sie spürte ihren Atem nicht mehr, nahm nur von weitem das mechanische Heben und Senken ihres Brustkorbs war. Ihre Ohren waren taub geworden, genauso wie ihr Herz?

Aber da war noch etwas anderes außer Regungslosigkeit. Ein Wille? Ein menschliches Bedürfnis? Der Stolz und die Bewunderung gegenüber seinem Bruder? Er hatte das Gefühl, er musste etwas sagen. Er konnte nicht länger schweigen. Langsam drückte er sich vom Boden, spürte, wie wieder Blut durch seine Adern floss. Das Papier und den Stift ließ er hinter sich auf den Boden fallen. Und er rannte. Rannte hinaus durch seine Kinderzimmertür, die steilen Stufen im Treppenhaus hinab und auf die Straße. Er spürte den groben Asphalt unter seinen nackten Füßen und zum ersten Mal seit Wochen spürte er wieder dieses Etwas in sich. Leben? Einen Willen? Den Mut, seine Meinung zu sagen?

Sie wollte nicht mehr. Wollte kein Opfer mehr sein. Sich nicht mehr von der grauen Masse der Namenslosen unterkriegen lassen. Sie wollte damit aufhören, sich von der Meinung fremder Menschen dominieren zu lassen. Menschen, die sie nicht einmal kannten, nicht einmal wussten, wer sie war.
Sie wollte leben. 

Sie legte ihr Handy neben sich auf den Boden, stützte sich langsam vom Boden auf und öffnete das Fenster. Gierig sog sie die kühle Luft in sich auf, verdrängte die Stimmen aus ihrem Kopf. Atmete ein.

Eine Träne ran über ihre Wange. Die letzte, dachte sie und ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie wusste, sie würde einen Preis zahlen. Einen hohen Preis sogar. Aber war es das wert? War ein kurzer Ausspruch – ein kleines Wort – ein ganzes Leben wert? Ja, dachte sie. Ein letztes Mal blickte sie ihrem Vater in die Augen, betrachtete das bernsteinfarbene Funkeln, die kleinen goldfarbenen Sprenkel in seiner Iris. Augen, die sie seit ihrer Kindheit kannte, die immer auf sie aufgepasst hatten, sie beschützt hatten. Doch jetzt lag noch etwas darin. Entschlossenheit? Entschlossenheit gepaart mit Angst. „Nein“, sagte sie mit betont fester Stimme. „Ich werde diesen Mann nicht heiraten.“ Im Augenwinkel sah sie noch die schockierten Blicke der bewaffneten Männer im Raum. Doch dann rannte sie schon, ohne sich noch einmal nach ihnen umzudrehen. Im Laufen zog sie die Kopfbedeckung von ihren Haaren und spürte zum ersten Mal seit Monaten wieder, wie ihre dunklen Haare unkontrolliert vom Wind zerzaust wurden. Dann hörte sie Schüsse. 

Sie spürten den festen Boden unter ihren Füßen. Asphalt, Staub oder Parkett. 
Und noch etwas anderes. Mut. Hoffnung.
Endlich hatten sie wieder eine Stimme bekommen und sie schrien.
„Und ich meine –“

Der Puppenspieler – Wie frei können Worte sein?

von Sophia Haberpeuntner

Die meine Meinung und die Deine, wie frei ist die? Und in welchen Händen liegt sie, diese Freiheit? Wer entscheidet über den Zustand der Abhängigkeit, in welchem sich so viele von uns bewegen, und welche Rolle spielt Angst im Ensemble der Beeinflussung?
Kaum etwas ist prägender für uns Menschen als das permanente Streben nach Sicherheit. Denn wenn wir es nicht vermögen uns diese selbst zu geben, so suchen wir im Außen begierig nach Ersatz. Wie eine Puppe den Faden braucht, um den Halt nicht zu verlieren, ketten wir uns selbst an Vorstellungen und Archetypen, um unserem Weltbild und folglich uns selbst, Bestätigung zu verschaffen. Hängen wir erst einmal fest, so ist es an dem Puppenspieler, seine Bühne zu gestalten. Je mehr Ideale, je mehr Einteilung entsteht, desto einfacher wird es für ihn die Puppen durch die Spirale der Abhängigkeit zu dirigieren. Er braucht lediglich die Schablonen zu sortieren. Zu sortieren In anständig und obszön. In bewundernswert und abstoßend. In links und rechts.
So kommt es, dass sich der innere Punkt der Orientierung mit nahtlosem Übergang nach außen kehrt, in eine endlose Frage des Standes. Ist es noch angesehen genug? Oder schon zu verpönt? Anstelle sich der Stimmigkeit des Wortes zu berufen, wird nunmehr versucht sich mit dem Prestige des Satzes zu identifizieren. Demgemäß schweben wir vorbei am roten Samt des Theaters, getrieben von der Überzeugung der eigenen Moral und dem Wunsch, dem Guten, der Wahrheit zu folgen. Und alles geschieht exakt in der Reihenfolge, in der es sich der Puppenspieler erträumt, ohne auch nur einen der unbemerkten Fäden selbst zu berühren.
Nicht die Möglichkeit auf freie Äußerung ist es, was Meinungsfreiheit ausmacht. Vielmehr ist es die Gewissheit, dass auf jenes Kundtun der Gedanken keine Konsequenz folgen wird, die uns selbst in unserem weiteren Handeln einschränken könnte. Und nicht die Gebote sind es, die diese Freiheit einschränken, nicht das Gesetzt, welches uns die Sprache verschlagen lässt. Einzig und allein die Angst vermag es, uns unsere ursprüngliche Freiheit vergessen zu lassen und Halt an den dargebotenen Regeln zu suchen. Wegzuhören wenn es nicht den willkommenen Erwartungen entspricht und zu applaudieren, wenn doch. Und so hält der die Schnüre der Puppe in der Hand, der es versteht, die Samen der Angst in den Köpfen der Menschen zu säen.
Ist die meine Meinung und die Deine also frei? Solange wir den Zuspruch der Menge ersehnen und die Reaktion auf die Worte höher werten als die Intention, mit der wir sie sprachen, befinden wir uns fernab jeglicher Freiheit. Doch der Angst zum Trotz vermögen wir es uns von unseren Fäden zu lösen und die Freiheit anzunehmen. So liegt die Freiheit deiner Worte, die Freiheit deines Seins zuletzt doch immer in deinen eigenen Händen.

„Meinungsfreiheit“- und schon ist es okay?

von Greta Jakstadt

Meinungsfreiheit. Ein großes Wort. Seit dem ich denken kann, assoziiere ich dieses Wort negativ. Eigentlich ist das sehr schade. Die Meinungsfreiheit ist etwas, über das wir glücklich und dankbar sein sollten. Doch dieses Wort wurde über die Jahre in gewisser Weise durch den Dreck gezogen. Wir verwenden es viel zu schnell und viel zu leichtsinnig. Hinter jede Aussage packen wir dieses Wort. Ziemlich clever oder nicht? Aber auch ziemlich dumm. Wir benutzen dieses Wort in Situationen, in denen wir wissen, dass wir mit der eben getätigten Aussage auf Protest stoßen können, was ja erstmal kein Problem ist. Doch meist benutzen wir es, wenn wir wissen, dass das was wir sagen ethisch oder moralisch fraglich ist. Noch bevor wir unsere Aussage getätigt haben wissen wir also, dass irgendetwas daran falsch ist. Falsch, wie ich dieses Wort hasse. Das irgendetwas daran nicht richtig ist. Ist das besser? Wir stellen dies also fest, und packen hinter unsere Aussage schnell das Wort „Meinungsfreiheit“. Die Umstehenden Menschen haben dann genau zwei Möglichkeiten. Zu schweigen… oder zu widersprechen. Die zweite, ist meist die beliebteste Wahl. Und schon bricht eine Diskussion aus. Und zwar nicht nur über die Ansicht, welche gerade geäußert wurde, sondern über das Wort, welches als Rechtfertigung hinten dran gehangen wurde. Man kann förmlich sehen, wie die Stimmung kippt, spüren wie die Luft heißer wird und hören wie sich die Menschen gegenseitig die Argumente um die Ohren hauen. Alle Blicke richten sich auf die Person, welche das Wort als Rechtfertigung benutzt hat. Und selbst wenn wir es nicht zugeben, warten wir nur auf diesen Moment. Auf einen Moment, in dem sich die ganze Aufmerksamkeit auf diese Aussage und die Person richtet. Solang wir selbst nicht im Zentrum der Argumentation stehen hören wir gern zu und beobachten, wie sich die Argumente, Ansichten und Meinungen der Anderen zugerufen werden. Es ist als würden wir dieses Drama für uns brauchen. Als wäre das eine Möglichkeit die Ansichten der Anderen zu erfahren, ohne sie zu fragen. Aber nicht nur der Anderen. Auch von sich selbst. Eine Diskussion über jegliche Themen hilft herauszufinden, welche Ansichten man selbst vertritt. Dafür muss man an ihr noch nicht einmal aktiv beteiligt sein. Aktiv zuhören trifft es eher. Beim Hören anderer Ansichten merkt man relativ schnell, bei welchen Aussagen man mitgeht und bei welchen man am liebsten einschreiten würde um ein Gegenargument darzulegen. Selbst wenn eine Aussage, und eine dadurch herbeigeführte Diskussion, ausartet kann sie deshalb durchaus produktiv sein. Doch oftmals ist genau das das Problem. Eine, leichtsinnig getätigte, Aussage stößt auf Protest und die Situation artet aus. Wie lässt sich dies verhindern? Eine perfekt ausgetüftelte Lösung gibt es dafür wohl nicht. Zu unterschiedlich sind wir mit diesem Wort, aber auch mit unseren Werten und Normen aufgewachsen. Die wenigsten von uns nehmen sich Zeit, intensiv über die eigenen Ansichten nachzudenken und abzuwägen, hinter welchen Dingen sie vielleicht doch nicht mit einer hundertprozentigen Sicherheit stehen. Unser Elternhaus, unser soziales Umfeld, unsere Kontakte auf Social Media, sie alle beeinflussen unser Denken und Handeln. Nur schwer kommen wir von ihnen los, da es uns viel Kraft und Energie kostet, die Ansichten unserer Nächsten in Frage zu stellen, und so auch unsere Eigenen. Doch vermutlich ist genau das die naheliegende Lösung auf diese Frage. Eigene Ansichten hinterfragen, die Ansichten des engsten Umfeldes hinterfragen. Ist das was ich hier tue richtig? Oder besser, kann ich mein Denken und Handeln mit meinem Gewissen vereinbaren? Allein, wenn man das Gefühl hat, sich vor sich selbst rechtfertigen zu müssen kann das ein Zeichen dafür sein, dass etwas in einem danach schreit gehört zu werden. Das man selbst mit seinen eigenen Ansichten zu kämpfen hat, da man sie vielleicht doch nicht so unterstützt, wie man gedacht hatte. Ich denke das ist das Schwierigste. Sich selbst einzugestehen, dass die eigene Meinung eigentlich eine andere ist. Sich selbst gegen erlernte Werte richten, mit welchen man aufgewachsen ist. Dies ist ein sehr schwieriger Schritt. Doch es ist ein notwendiger, um näher zu sich selbst und seinen Mitmenschen zu finden. Wenn sich jeder von uns für diese Fragen ein wenig Zeit nehmen würde, besteht Hoffnung darauf, dass wir im Reinen mit uns sind. Dass wir offen für andere Meinungen sind. Dass wir andere anhören und die Fähigkeit besitzen, richtig zu diskutieren. Und wenn uns eine andere Meinung mal nicht gefallen sollte, können wir eventuell auf uns selbst vertrauen. Darauf, dass es okay ist eine andere Meinung zu haben, solang man hinter ihr steht und niemandem Schaden zufügt. Und solang wir das von uns selbst behaupten können haben wir einen großen Schritt erreicht.

„Ich glaube nicht mehr an die Demokratie“

von Artemis Lindewind

CN: Dieser Text enthält Darstellungen von demokratiefeindlichen Positionen, Hatespeech, sowie deren Wirkung auf Opfer wie Paranoia, Depressionen und Suizid. Quellen, die zur Inspiration dienten, sind im Anschluss angegeben.

„Ich glaube nicht mehr an die Demokratie.“
Die Blicke, die sich auf Yaren richteten, ließen ihn noch starrer zu dem gläsernen Kuppeldach emporblicken. Einschüchternd groß war alles an dem Gebäude. Die Treppe, die Fenster, die klassizistischen Säulen, die das Vordach stützten, sogar die Rasenfläche ließ einen auf die Größe eines Kindes schrumpfen. Zu dritt standen sie vor dem Landtag in Berlin. Katja, Noah und zwischen ihnen Yaren. Es war früher Abend, die Sonne war verschwunden. Eine schwache Spur aus Licht hatte sie am Horizont zurückgelassen. Je dunkler sie wurde, desto heller brannten die Lichter von Berlin.
„Wie meinst du das?“ Katja hatte den verständnislosen Tonfall, den Yaren erwartet hatte.
„Ich meine genau das“, erwiderte Yaren, „Macht dir eine Regierungsform, an deren Rechtmäßigkeit niemand mehr zweifelt, keine Angst? Glaub nicht, dass ich daran zweifeln will. Es passiert einfach. Ich will daran glauben, aber genau weil ich will, kann ich nicht. Ich frage mich, ob die Menschen einmal mit der gleichen Selbstverständlichkeit an die Rechtmäßigkeit ihres Königs geglaubt haben. Ich frage mich, ob es bessere Regierungsformen gibt, die wir nicht finden, weil wir nicht suchen.“
„Spinnst du?“ Noah schien nicht sicher zu sein, ob er seine Worte für einen Scherz halten sollte. „Was willst du denn stattdessen? Eine Diktatur? Es kann doch wohl nur am gerechtesten sein, wenn die Mehrheit regiert.“
„Wirklich? Schau dir die Mehrheit der Menschen an. Die Mehrheit liegt auf dem Sofa, lässt sich von ihren Lieblingsinfluencern die neusten Trends setzen und denkt ungefähr bis zum nächsten Feierabend. Die Mehrheit kennt sich mit Automarken besser aus als mit den Parteien in unserem Bundestag. Womit verdient die Mehrheit das Recht über eine Zukunft zu entscheiden, die sie überhaupt nicht interessiert?“
„Und deswegen willst du ihnen das Wahlrecht nehmen?“
„Wenn ich ganz ehrlich bin? Ich höre, wie Menschen mit den unvernünftigsten Argumenten gegen die vernünftigsten Entscheidungen demonstrieren. Es käme mir falsch vor, ihnen dafür das Wahlrecht zu entziehen. Aber es macht mir auch Angst, es ihnen zu erlauben. Es macht
mir Angst, unsere Zukunft in die Hände einer Masse zu legen, die mich selber an der Demokratie zweifeln lässt.“
„Aber was die Demokratie kaputt macht, bist doch du, wenn du so denkst.“
„Das weiß ich ja. Das weiß ich. Und denk nicht, dass ich mich nicht dafür schäme. Aber genau da liegt die Krux. Je mehr ich mich schäme, desto mehr fürchte und verabscheue ich eine Mehrheit, die mich so denken lässt. Wer hat die Diktatoren dieser Welt denn gewählt? Oft genug die Mehrheit.“
„Und dann lieber gleich Diktatur?“
Yaren schwieg. „Ich weiß es nicht. Ich kenne keine guten Diktaturen. Aber angenommen, ihr wärt Alleinherrscher. Keine Gremien, die euch zustimmen müssen. Alle Macht ruht auf euren Schultern. Was würdet ihr entscheiden? Sagt mir nicht, dass die Vorstellung nicht verlockend ist. Und zwar nicht, weil alles euch gehört, sondern weil ihr die Möglichkeit habt, alles besser zu machen. Ihr könnt gerechte Löhne einführen, Tempolimits, verbesserten Datenschutz, ihr könnt das ganze Internet von Hasskommentaren bereinigen lassen und Massentierhaltung verbieten. Stellt euch vor, jemand wie ihr wäre Diktator …“
„Das würde vielen nicht gefallen“, bemerkte Katja, „Und sie hätten kein Recht, das zu sagen?“
„Du bist nicht gezwungen, es ihnen zu verbieten.“
„Warum machen es dann alle Diktatoren?“, fragte Noah, „Alle Diktatoren haben die Meinungsfreiheit eingeschränkt und keiner hat die Massentierhaltung verboten. Wieso glaubst du, ist das so?“
„Das habe ich mir auch gesagt. Aber denkbar wäre eine gerechte Diktatur zumindest. Denkbar wäre eine Diktatur, die viel besser funktionieren würde als die Demokratie und es ist immer leicht, zu sagen, dass eine Möglichkeit nicht funktioniert, weil sie noch nicht aufgetreten ist. Zu leicht, um mich zu überzeugen. Ich sage es noch mal: Ich will euch doch glauben. Ich führe diese Diskussion nur, weil ich hoffe, sie am Ende zu verlieren. Wenn ihr es irgendwie könnt, dann widerlegt mich.“
Eine Pause trat ein. Yaren blickte hinauf zu den Fahnen, die im Wind flackerten wie Feuer. Hinter ihnen in der Stadt glühten wie Funken die Lichter. Der Feierabendverkehr ließ nach und die Gemütlichkeit erleuchteter Fenster kehrte in den Straßen ein. Hochhäuser aus mehr Wohnungen und mehr unterschiedlichen Leben, als jemand sich vorstellen konnte. Straßen knüpften sich zu einem dichten Netz, Brücken schwangen sich über die Spree. Das Tag- gab dem Nachtleben die Klinke in die Hand.
Vanessa stieg in die Bahn Richtung Bernau. Fröstelnd schüttelte sie die abendliche Kälte von sich. Der Wagen war mäßig voll. Leere Blicke, die an der Welt vorm Fenster hingen oder an Displays, die sie die Welt eine Weile vergessen ließen. Vanessa setzte sich auf einen freien Platz und zog ihr eigenes Handy aus der Tasche. Tausend Posts, tausend Nachrichten in den wenigen Sekunden, die ein Mensch brauchte, um eine Bahn zu betreten. Die wenigsten davon sagten mehr, als dass sie wütend waren. Warum macht es dir Spaß, sie zu lesen? Es war nicht so, dass sie sich die Frage nicht stellte, während sie durch den bissigen Spott der Netzwerke scrollte. Es war nicht so, dass die Antwort sie nicht interessierte. Es war nur so, dass eine zweite Frage lauter wurde, bevor die erste zu einer Lösung fand: Warum stellst du dir die Frage? Niemand fragte sich, was Menschen an Boxkämpfen, Ringen oder Hahnenkämpfen interessierte. War es nicht ein Fortschritt, wenn sich Gewalt verbal im Netz entlud? Meinungsfreiheit. Das war eben Meinungsfreiheit. Vanessa mischte sich in Diskussionen nicht ein. Sie bevorzugte es, die Eskalation von weitem zu beobachten. Es war wie kultivierter Katastrophentourismus. Sauberer als die Jagd nach einem Tornado. Keine Verletzten, keine Toten, aber die Gesellschaft schenkte einer beleidigten Seele inzwischen mehr Aufmerksamkeit als einer gebrochenen Nase. Schlägereien, Gebrüll, das war die primitive Sprache der Wut. Schrift war ihr feineres Instrument. Wer konnte nicht mit dem Internet umgehen? Waren es wirklich die Hater oder die labilen Gestalten, die es nicht schafften, ein Handy auszuschalten, wenn es ihnen besser getan hätte? Hass gehörte zur Menschheit wie Trauer oder Ekel. Nur seine Form änderte sich und das schien einigen Angst zu machen. Glaubten Politiker, ihr Volk hätte vor dreißig Jahren nicht dasselbe gesagt, was es ihnen jetzt unter ihre Posts warf? War es falsch, wenn jeder eine öffentliche Stimme hatte?
Das ist Meinungsfreiheit. Das größte Maß an Meinungsfreiheit und ausgerechnet diejenigen, die sich für besonders gewissenhafte Demokraten halten, kommen damit nicht zurecht. Die bissigste Spötterin ist und bleibt die Wirklichkeit.

Maya versuchte, ruhig zu atmen. Sie versuchte, nicht auf ihr pochendes Herz zu achten. Das beunruhigte sie nur. Ein Herz war so ein verletzliches Ding. Kein Organ bot mehr Widerstand als die Haut einer Nacktschnecke. So viel Blut in einem Menschen und nur ein einziger Muskel musste ausfallen, damit jedes dieser empfindlichen, wurmweichen Bauteile in Sekundenschnelle verendete. Die Vorstellung ließ sie würgen.
Maya stand im Bad vorm Spiegel. Mit geschlossenen Augen. Sie ertrug es nicht, sich anzusehen.
Abfall! Abfall bist du! Und was passiert mit Abfall?
Am liebsten hätte sie sich auf der Müllkippe entsorgt, um jemand anderes sein zu dürfen. Das halbe Land kannte bestimmt schon ihr Gesicht, ihren Namen, ihre Adresse. Wie viele Einwohner hatte Deutschland noch mal? Ach was, Deutschland. So ein Post konnte doch um die ganze Welt gehen.
Als ob sich irgendjemand im Ausland für eine kleine, deutsche Politikerin interessiert.
Und wenn doch? Es war die Unsicherheit, die Angst vor dieser winzigen Chance, dass es passieren könnte. Was sollte sie machen? Sich verstecken? Wo? Welcher Ort, an dem sie absolut niemand kennen konnte? Wer wusste denn, was diese Hater anstellten? Ihre Netzwerke durchseuchten das Internet wie Schimmelsporen. Hatten sie einem ihren Shitstorm vor die Füße gespuckt, war es wie eine Reviermarkierung für die restliche Meute. Sie teilten Bilder, rissen Sätze aus dem Kontext und entstellten dich, bis du dich selbst nicht mehr in dem wiedererkanntest, was die Welt von dir hielt.
Ruhig atmen. Ruhig atmen.
Zitternd sank sie auf den Boden. Das Bad hatte kein Fenster. Niemand konnte sie sehen. Absolut sicher. Zu was konnte man verkommen? Zu was konnten Worte einen machen? Diese leeren Accounts, hinter denen ab und zu nicht einmal Menschen steckten.
Hinter einigen doch. Hinter manchen stecken Menschen, die sich einen Dreck um dich scheren.
Mit einem Hass, vor dem Maya selbst erschrak, dachte sie an jene Menschen. Wie sie jetzt vor ihren Handys, Computern und Fernsehern saßen. Sie schauten Filme und gingen dann ins Bett. Sie trieben andere in den Selbstmord und starben am Ende ihres Lebens mit reinem Gewissen.

„Ich bin nicht der Ansicht, dass Kunst alles darf.“ Cem überquerte den Alexanderplatz, an seinem Ohr ein altmodisches Tastenhandy.
„Dafür ist Kunst da“, quäkte es aus dem Lautsprecher, „Kunst soll provozieren. Sie soll zum Nachdenken anregen.“
„Wirklich? Ist es in dieser Zeit nicht die größte Kunst, niemanden zu provozieren? Ich sag dir: Brände haben wir da draußen genug. Ein bisschen Feuer hält den Verstand wach. Aber es gibt eine Zeit, um Öl in die Flammen zu gießen und es gibt eine Zeit, die Wasser braucht. Lass uns die Inszenierung noch mal überdenken.“
„Sollen wir etwa vor genau denen einknicken, die daran schuld sind? Sollen wir uns von diesen Brandstiftern jetzt auch noch unsere Kultur diktieren lassen? Dann aber gute Nacht, Deutschland.“
„Merkst du nicht, wie wir denen in die Hände spielen, indem wir sie angreifen? Die wollen sich doch als Widerstand fühlen. Machen wir sie einfach nicht dazu.“
„Mach ich auch nicht. Denn wir sollten deren Widerstand sein. Stattdessen kriechen wir denen in den kackbraunen Arsch!“
„Klasse. Wir benehmen uns lieber auch wie die Kleinkinder, anstatt zu zeigen, wie es vernünftig laufen kann. Es geht hier doch nicht um Wiederstand oder keinen Widerstand. Es geht um das Ziel, das wir damit erreichen. Immer noch mehr Dreck in die Schlammschlacht werfen. Soll das unsere Zukunft sein?“
„Wo siehst du unsere Zukunft denn?“
Cem seufzte und merkte, wie seine Finger instinktiv nach der Zigarettenpackung in seiner Tasche tasteten. Er dachte, er hätte sich das abgewöhnt. „Auf dem Friedhof“, antwortete er leise genug, um durchs Telefon nicht verstanden zu werden. „Manchmal sehe ich sie nur noch auf dem Friedhof.“

Seine Finger flitzten über die Tastatur. Es war nicht verboten. Er tat, was jeder tun konnte.
Um dich ist es auch nicht schade, wenn dich der IS in die Luft sprengt, du Opfer. Tut mir den Gefallen und sterbt alle als Märtyrer eurer linken Multikulti Ideologie.
Sascha82 schickte den Kommentar ab und lehnte sich zurück. Der Mann im Video betete weiter brav seine Parolen gegen Rassismus runter. Sollte er. Unter Saschas Kommentar plinkten schon die ersten Likes. Weitere Kommentare folgten. Von spitzem Sarkasmus bis zu stumpfen Drohungen war alles dabei. So funktionierte moderner Wahlkampf und nur um den Sieg ging es dabei. Der Inhalt des Videos war unwichtig. Wichtig war, dass es von einem Gegner kam. Jedem Troll ihrer Armee war das klar. Im Krieg waren alle Mittel erlaubt. Selber schuld, wenn die links-grünen Spacken keinen Gebrauch davon machten. Tja, wenn andere sich beim Fahrradfahren die Augen zubinden, bin ich dann unfair, wenn ich auf den Verkehr achte?
Sascha82 schämte sich nicht. Das hier war Routine. Die Pflicht eines guten Soldaten.

„Heut zu Tage darf man doch gar nichts mehr sagen. Was schaust du so? Seien wir ehrlich: Alle denken es und kaum einer traut sich, es auszusprechen.“ Kai öffnete sich eine Cola. „Kein Wunder. Weil nur Vollidioten vom rechten Rand die Gegenpositionen zum linken Mainstream gekapert haben. Und jetzt will keiner mehr deren Meinung sein. Versteh’n kann ich‘s. Aber muss da nicht jemand mutig sein?“
Lasses Mundwinkel zuckte undefinierbar. Die beiden Brüder saßen auf dem Balkon und schauten dem Himmel beim Dunkler- und der Welt darunter beim Hellerwerden zu. Berlin glich einem Feld funkelnder Edelsteine. Ketten aus Gold, Setzkästen voller Quarzwürfel. Im gegenüberliegenden Hochhaus ließen sich die Silhouetten von Menschen beobachten wie eingeschlossene Insekten. Die Partymeile war eine Schlucht auf deren Grund Saphir und Spinell glitzerten. Karneol glühte neben strahlendem Topas. In der Spree trieb das Licht wie in einem fließenden Spiegel.
„Da muss doch jemand mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen, dass es so nicht weiter geht“, brummte Kai, „Wir können doch nicht zu einem politischen Inselstaat zerfasern, auf dem du nur noch sagen darfst, was deine kleine Sandbank hören will. Und wehe du stehst zwischen den Inseln. Wer dazwischen steht, fällt ins Wasser. So ist es doch. Sei ehrlich.“
„Was willst du machen?“, brummte Lasse.
„Weiß nicht, aber wir können die Debatte doch nicht den Trotteln überlassen. Ich kenn da Blogs, die beschreiben dir haarklein, wie du Schwarze, Frauen und Homos mit Samthandschuhen anzufassen hast und schreiben auf der gleichen Seite, dass es voll okay ist, weiße Männer zu beleidigen, weil die sind ja nicht marginalisiert, oder wie das heißt. Muss doch noch ‘ne Möglichkeit geben, dagegen zu sein, ohne dass du gleich dafür bist, alle Flüchtlinge abzuschieben und so.“
„Moderat ist halt nicht mehr hip“, meinte Lasse, „Glaub allerdings, die meisten Menschen sind‘s immer noch. Also kein Grund zur Sorge. Moderat fällt bloß nicht so auf. Darum haben alle das Gefühl, ganz alleine in der Mitte zu stehen.“
„Kann man nur hoffen.“ Kai reichte seinem Bruder eine zweite Flasche.

Jan blockte den Account.
Miri_der_Zwerg: Ich finde gendergerechte Sprache grundsätzlich gut, aber…
Jan blockte den nächsten Account. Das Thema war nicht diskutabel. Selfcare. In den Netzwerken herrschte ein raues Klima. Wer seine Bubble nicht reinhielt, konnte schnell unter konservativem Müll ersticken. Mit denen lohnte sich die Auseinandersetzung sowieso nicht. Null Toleranz für rechts. Wer Frauen sprachlich ausschloss, hatte Jans Energiereserven nicht verdient. Ich bin ja grundsätzlich deiner Meinung… So fingen sie alle an. Dann kam das Aber und dahinter entpuppten sich die User*innen doch als Nazi. Durfte er solche Leute nicht Nazi nennen? Sie waren eben welche. Sie begriffen es bloß nicht. Das war das Schlimme.
Obereinhorn: Aber wenn du eh alle blockst, die nicht 100 % deiner Meinung sind, was bringt es dir denn dann, deine Meinung zu schreiben, wenn sie nur von Leuten gelesen wird, die das sowieso denken?
Jan blockte den Account.

Lieber Gott,
Der Kugelschreiber kratzte auf dem Papier eines Notizblocks.
Ich war mir nie sicher, ob ich an dich glauben kann. Wenn ja, dann bist du eine abstrakte Gewalt für mich, die sich so wenig anfassen lässt oder mir zuhören kann wie die Physik. Ich weiß nicht, warum ich dir schreibe. Wahrscheinlich, weil sonst auch niemand zuhört. Ich habe der Welt so viel zu sagen. Ich sehe so viel Ungerechtigkeit, Feindschaft, Vorurteile, Intoleranz und Unverständnis in unserer Gesellschaft und ich weiß, dass meine Ideen etwas bewirken können, selbst, wenn sie vielleicht nicht den ganzen Planeten retten. Ich habe es versucht. Aber wo lässt sich noch sachlich über Ideen reden, wenn sogar diejenigen, die wie du für eine bessere Welt zu kämpfen meinen, eigentlich nichts ändern, sondern nur recht haben wollen? Wo wird Vernunft nicht zwischen Extrempositionen zerfetzt, von Häme zertreten und zur Unterhaltung aufbereitet? Wo in dieser Gesellschaft suchen die Menschen ernsthaft nach gedanklicher Tiefe unter dem Entertainment? Ich habe den Eindruck, die Kinos machen nur deshalb so schlechte Einnahmen, weil die politische Eskalation zum neuen Kino geworden ist. Und weil das so ist, kippen diejenigen, die nichts davon verstehen, Spiritus ins Feuer. Nicht, weil sie sich plötzlich für unsere Zukunft interessieren, sondern, weil sie ihr gerne beim Brennen zuschauen. Es ist wie beim Rugby: Ein Knäul aus Menschen liegt am Boden und der Ball ist längst weggerollt. Aber die Vernünftigen trauen sich nicht, ihn aufzuheben aus Angst, als nächstes unter dem wilden Haufen begraben zu werden. Das soll heute Politik sein? Das nennen sie Meinungsfreiheit? Wenn jene, die wirklich etwas zu sagen haben, es nicht mehr sagen können, weil andere lauter schreien? Einen Staat, in dem nur die Stärksten gewinnen, nenne ich Barbarei. Einen Staat, in dem nur die Lautesten gewinnen, ebenfalls. Ja, wir verkommen zur Barbarei. Im Namen der Freiheit.
Die Tabletten schmeckten bitter. Sie schmeckten genau, wie man sich den Tod vorstellte. Sollte er? Ein kurzes Zögern. Ein kurzer, unabsichtlicher Blick auf die Fotos an seiner Pinnwand. Seine Eltern. Nikolas. Hand in Hand mit ihm an der Spree. Als noch alles gut gewesen war.
Tut mir leid, Nik. Ich habe mein Bestes gegeben. Aber die Welt lässt sich nicht besser machen. Die Welt macht dich nur schlechter, wenn du dich zu tief mit ihr beschäftigst.
Er griff nach dem Wasserglas.

Yaren stand immer noch auf der Wiese. Die Sterne auf der Europafahne verblassten im Dunkel der Nacht. Der Himmel zeigte auch keine. Die Lichter der Stadt waren zu hell dafür. „Ich habe Angst, dass die Meinungsfreiheit an der Meinungsfreiheit zu Grunde geht“, meinte er, „Nein, eigentlich habe ich keine Angst vor der Meinungsfreiheit. Eigentlich habe ich Angst vor den Menschen.“


Quellen:
Beim Verfassen des Textes wurde sich um die Abbildung eines möglichst breiten Meinungsspektrums bemüht. Zur Orientierung wurden folgende Quellen herangezogen:
https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/angst-vor-hetze-im-internet-hat-folgen-fuer-meinungsfreiheit-15832646.html
https://www.iwd.de/artikel/interview-ein-mensch-kann-jederzeit-in-eine-meinungsblase-abdriften-511162/
https://www.youtube.com/watch?v=jG1Uy3rSqSc
https://www.youtube.com/watch?v=uI6FgAE-gpM
https://www.youtube.com/watch?v=TsWXwS5qjRk
https://www.youtube.com/watch?v=nAd87WiKZnA (interessant sind auch die unter der Doku geposteten Kommentare)
https://www.sueddeutsche.de/bayern/hate-speech-internet-hass-hetze-georg-eisenreich-verfahren-1.5545841
Und persönliche Erfahrungen.

brennesselsalat

von Kathrin Thenhausen

ist unantastbar. sie zu achten und zu schützen ist
verpflichtung. freie entfaltung.(1)
ich verstehe bis jetzt nicht, wieso so aggressiv gegen uns vorgegangen wurde.“ lfdn. 6938
„verstärkung wurde mit den worten: „wir haben hier ein problem mit linken zecken.“ angefordert.“ lfdn. 10710 (2)
ausdrucksweisen, gepresste umfelder in alltagstöne:
ich habe nur meine meinung gesagt.
gewählte polizeigewalt, deine meinung produkt aus
hautfarbe, kleidungsstil, furcht. zweitausendzweiundzwanzig
mindestens neunzehn menschen tot nach polizeieinsätzen. (3) doch „im dienst werden meine kollegen und ich häufig angegriffen, bespuckt, bepöbelt.“ (4) die welt eine scheibe mit zwei seiten. unkraut eine frage der interpretation.
meinung,
wertende kommunikationsbeiträge, wir schützen gleichberechtigt die hässlichen seiten einer gesellschaft, kennen keine „wertlose“ oder „wertvolle“ freiheitsausübung. (5) 

eine wiese wächst ihrer vielfalt entgegen. im brennpunkt: das mähen. ansprechen, sich aussprechen, erlaubtes versprechen, laut sein. 

politischer gegenentwurf: es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ meinungen. (6)

ich lasse meinen unmut auf papier,
du lässt deinen unmut dem gehör,
er lässt seinen unmut im internet frei und
des einen meinung bricht des anderen stimme, silencing. so schüchtern heute,
eingeschüchtert.
sich wiegende, biegende wörter.
du sagst, lass uns abhauen, sie sagt
nichts mehr. sie sagen
viel mehr, als wir hören. du lachst.
unkraut verwächst den stacheldrahtzaun,
meinungsfreiheit. grenze 1: persönlichkeitsrecht, verschoben im strömungsverlauf des internets. §5 Abs. 2 GG grenze 2: machbarkeitsbeschränkung: allgemein zugänglichen quellen. (7)
grundgüter seien chancen und wohlstand (8), verteilungsgerechtigkeit von bildung bleibt
wunschtraum in fadenkreuzen des kinderzimmers neuköllns. dem osten bleibt st.gallen fremd,
dabei ist die bibliothek dort doch täglich geöffnet.
ich meine,
du meinst,
er meint ja bloß,
woanders wird unkraut kultiviert. doch
auch der wunsch nach mehr ‚politisierung‘ klingt nur solange schön, wie er nicht in erfüllung geht. (9)
ich meine ja bloß,
dass grenzen schwer zu ziehen sind,
es braucht dafür mehr meinung,
toleranz und gespür. die frage, warum. mut.
komm, sag ich zu dir,
morgen ernten wir
brennesselsalat, nimm meine hand,
wir pflanzen gemeinsam die saat.

 

(1) §1,2 GG

(2) Abdul-Rahman, L., & Singelnstein, T. (2022). Rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung: Interaktionen, Risikofaktoren und Auslöser. In Handbuch polizeiliches Einsatztraining (S. 483–502). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34158-9_26

(3) Bogner M. & Thurm F. (2023). Die Polizei weiß nicht, wie viele Menschen sie tötet. Zeit Online. https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-02/polizeigewalt-tote-einsatz-debatte

(4) Diehl J. & Siemens A. (2018). So schätzen Polizisten die Sicherheitslage ein. Spiegel. https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kriminelle-migranten-was-sagen-polizisten-und-wie-ist-das-einzuschaetzen-a-1237348.html

(5) Gärditz, K. F. (2020). Neue Herausforderungen für die Meinungsfreiheit in Europa. In Islam – Meinungsfreiheit – Internet (S. 101–116). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-59426-1_6 

(6) Müller-Franken, S. (01 Jan. 2013). Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat. Leiden, Niederlande: Brill | Schöningh. doi: https://doi.org/10.30965/9783657778805 

(7) §5 Abs. 2 GG

(8) Podschwadek, F. (2022). Die Erziehung der Vernünftigen. Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6 

(9) Möllers C., (2017). Wir, die Bürger(lichen), Merkur 71 (818), 5 (6 f.).

Gedicht zur Meinungsfreiheit

von Nina Hann

Fall der Mauer
Fall der Spaltung
Fall der Dauer
Fall der Haltung

Ruf nach Freiheit
Ruf nach Frieden
Ruf nach Einheit
Ruf nach Lieben

Zeit des Neuen
Zeit des Menschen
Zeit des Freuen
Zeit des Denken

Meinungsfreiheit bindet
Meinungsfreiheit bildet
Meinungsfreiheit bittet
Meinungsfreiheit bietet

Du stehst da

von Franziska Busmann

Mit deinem zehnten Glas Rum-Cola in der Hand
Mit deinem dicken Bauch und deinem glänzend roten Gesicht
Und erzählst mir was, von dem Mädchen, das du magst
Das du vorgibst zu mögen
Denn wenn du sie wirklich mögen würdest
Müsstest du dann zu mir sagen, dass du sie toll findest, und mit toll meinst du vor allem gutaussehend
OBWOHL sie weder dicke Titten noch einen großen Arsch hat?
Und in diesem Moment setzt mein Herz kurz aus
Denn jetzt sehe ich mich aus deinen Augen
Bewerte meine eigenen Brüste, meinen eigenen Hintern aus deinen Augen
Und das ist so ein ekliges Gefühl
So verdammt eklig.
Und mein Herz setzt aus und meine Mimik entgleist
Weil das Gefühl so echt ist, dass ich es nicht kontrollieren kann
Aber das ist nur so kurz, dass du es nicht sehen kannst
Denn du bist erstens besoffen
Und zweitens achtest du nicht auf sowas
Warum auch
Du bist ja ein Kerl, der seit einer halben Stunde ununterbrochen redet
Dir reicht es, wenn ich ab und zu nicke und dich angucke
Deine Wahrnehmung ist überhaupt nicht geschult darin zu erkennen, wenn jemand etwas in seiner Mimik verrät, dass er oder sie nicht zeigen will
Du bist überhaupt nicht geschult darin, darauf zu achten, was andere fühlen und denken, aber nicht sagen
Weil das ist dir doch egal
Du bist ja ein Kerl, der seit einer halben Stunde ununterbrochen redet und besoffen ist
Und du bist stolz
So stolz
Darauf, dass es dir EGAL ist, dass das Mädchen, dass du vorgibst zu mögen keine dicken Titten oder einen fetten Arsch hast
Du scheinst zu denken, dass das toll ist
Das du damit weniger oberflächlich bist

Und mein Herz klopft und ich will weinen.
Ich will weinen, weil ich wütend bin.
Ich will weinen, weil ich wütend bin und nie gelernt habe, meine Wut zu zeigen.
Weil ich stattdessen gelernt habe, wie ich erkennen kann, was jemand wirklich fühlt oder denkt.
Wenn seine oder ihre Mimik entgleist.
Weil ich gelernt habe, anderen ein gutes Gefühl zu geben.
Also auch dir.
Und ich hab das so gut gelernt, dass ich es nicht mehr steuern kann.
Ganz automatisch weiß ich, dass du dir nach diesem Satz ein bewunderndes Lachen wünschst.
Und schon kommt es.
Wenigstens haben meine echten Gefühle mich kurz so umgehauen, dass es nur noch ein Lächeln wird und ich aktiv Geräusche hinzufügen muss, damit es sich anhört, als würde ich Lachen.
Aber das merkst du ja nicht.
Es ist dir wahrscheinlich auch egal.
Genauso egal, wie dir das Mädchen ist, was du vorgibst zu mögen.
Denn würdest du wirklich ein Mädchen mögen, dann wüsstest du vielleicht, wie scheiße Männer wie du sind.
Und ich bin sauer und traurig und unsicher.
Ich fühle mich entwertet.
Denn erstens habe ich keine dicken Titten und keinen fetten Arsch.
Und zweitens sollte mir das eigentlich egal sein.
Denn ich habe einen Freund, der mich so liebt wie ich bin. Dem es wichtig ist, wie es mir geht und nicht wie ich aussehe. Der mich fragt, ob ich mich wohlfühle, wenn er mich berührt.
Und weil es mir mittlerweile wichtiger ist, wie es mir geht als wie ich aussehe. Weil ich langsam anfange, mich zu lieben und zu akzeptieren. Weil ich langsam anfange, für mich einzustehen. Herauszufinden was ICH will und was ich fühle. Statt nur zu überlegen, was andere wollen und was andere fühlen und was es heißt, wenn ihre Mimik entgleist.
Weil ich versuche, nicht mehr hervorzusehen, was andere wollen und mich daran anzupassen.
Weil ich versuche, das zu tun, was ich will.
Aber genau jetzt, hier in diesem Moment geht es nicht.
Denn du bist der Freund von meinem Freund.
Und ich will, dass du mich magst.
Cool findest, witzig.
Obwohl ich dich weder cool noch witzig finde. Sondern unhöflich, ungepflegt und irgendwo steckengeblieben.
Also stehe ich hier und übergehe mich selbst. Ganz automatisch.
Weil es das ist, was ich kenne, was ich gelernt habe.
Ich, 23, erfolgreiche Bachelorabsolventin, Abschlussarbeit Thema Objektifizierung der Frau. Ich, die ich Simone de Beauvoir lese und meiner kleinen Schwester erklären will, dass es egal ist wie groß ihre Brüste sind.
Ich, die sich doch eigentlich verändert hat, werde genau in diesem Moment überrollt von meinem anderen Ich, das jahrelang gelernt hat ja zu sagen und zu nicken und bestätigend zu lachen.
Und das ist viel schlimmer als das, was du bist.
Das ist der Grund, warum ich eigentlich weinen will.
Weil nicht DU mir das antust.
Weil ich es mir selbst antue.

Unerhört

von Kathrin Thenhausen

Münder, mit dem Öffnen
abgeschlossen.
Die Zunge hat sich im Gaumen verfangen,
dem Arzt sage ich,
ich hätte meine Stimme verschluckt.
Sie suchen im OP vergeblich nach Worten.
Gipsen mein Herz ein, Prophylaxe, die
Notlandung der Lungenflügel.
Meinen Eltern im Warteraum empfehlen sie
Zimmerruhe, wir teilen uns die Stille:
jeder eine Gabel mit Sahnebelag.

Monate lag ich und Jahre der Adoleszenz
auf dem Gras, das einst Wiese war, da habe ich als Kind
mal mit der Ehrlichkeit gespielt.
Einmal dann nachts, schlich ich mich raus,
einer sprühte seine Stimme an die Wand,
malte sie aus.
Schenkte mir Gehör und da war mir,
als hätte ich Worte.
Nun verdichte ich
nachts des Tages Bedeutungslosigkeit
in das, das niemand sagt,
die Ärzte sind überrascht und sagen,
ich sähe gesund aus.
(Stand heute: Das Graffiti wurde noch nicht übermalt.)

Im Fadenkreuz

von Lea Hartmanns

Sie standen vor ihrem Haus, wie viele es waren, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, dafür war es bereits zu dunkel. Dagegen hob sich das gelbe Licht der Fackeln umso heller von der Dunkelheit ab. Die Schatten standen dicht aneinandergedrängt, blieben jedoch vollkommen stumm. Das Weiß ihrer Gesichter dem Haus zugewandt. Die meisten von ihnen hatten die Kapuze über ihren Kopf gezogen. Andere zeigten mutwillig ihr Gesicht. Das Licht der Fackeln tanzte auf den kahlen Schädeln.

Haut ab!, wollte sie ihnen am liebsten zuschreien. Lasst uns in Ruhe! Wir haben euch nichts getan! Doch sie traute sich nicht einmal, näher an das Fenster zu treten. Mit zitternden Händen wählte sie die Nummer von Amir.

Wo bist du?!, dachte sie voller Verzweiflung, als er auch nach mehrfachem Klingeln nicht an sein Handy ging und sie nur die Mailbox erreichte. In ihrem Magen bildete sich ein Knoten. Ihr Puls schnellte nach oben. War Amir etwas zugestoßen? Er wollte doch schon längst wieder zuhause sein.

Sie presste die Hand vor den Mund, ihr war übel. Erneut rief sie ihn an. 
Geh ran, bitte geh ran! Er durfte jetzt auf gar keinen Fall nach Hause kommen.

Er würde ihnen geradewegs in die Arme laufen und was dann passieren würde, wollte sie sich nicht vorstellen…  
Sie durfte jetzt nicht die Selbstbeherrschung verlieren, musste einen kühlen Kopf bewahren. Doch sie merkte, wie mit jeder weiteren Sekunde ihre Angst stieg und ihr die Kontrolle über ihren Körper entglitt. Ihre Hand bebte, sie hatte das Handy so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Hatten sie ihn
womöglich schon erwischt? Lag er dort unten blutend am Straßenrand?

Sie musste die Polizei rufen, bevor es zu spät war!
In diesem Moment leuchtete das Display ihres Handys auf.

Wir wollen Taten sehen, stand dort. Ihre Beine gaben nach. Sie sackte auf den Boden und klammerte sich mit einer Hand an der Lehne des Sofas fest. Die andere Hand presste sie fest auf den Mund, um die Übelkeit zu bekämpfen. Der Boden unter ihr schien zu schwanken.

 

Wie hatte es nur so weit kommen können? Vor einigen Wochen noch war ihr Leben nahezu perfekt gewesen. Jetzt stand sie kurz vor dem Abgrund. Was würde sie dafür geben, noch einmal diesen Moment der Hoffnung, der Vorfreude und der Leichtigkeit spüren zu können. Diesen Moment, in dem noch alles möglich schien, sie noch vollkommen unbeschwert war. Jetzt lag eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern. Sie wünschte, sie könnte noch einmal anders entscheiden. Wären sie und Amir doch nie hierhergezogen.

Gerade erst hatte sie das Studium der Politikwissenschaften abgeschlossen. Ihr Professor hatte sie im Anschluss von einer Promotion überzeugt. Während sie promovierte schloss Amir sein Ingenieursstudium an der TU Dresden ab.

In dieser Zeit wohnten sie zusammen in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss eines Dreiparteienhauses. Ihr Freund arbeitete halbtags in einem Unternehmen für die Herstellung von Windkraftanlagen und es bestanden gute Chancen, dass er nach seinem Master dort übernommen werden würde.

Dann war plötzlich ihre Tante gestorben. Sie hatte ihrer Familie gegenüber verheimlicht, dass sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war. Zu ihrer großen Überraschung erfuhr sie, dass ihre Tante ihr das Haus vermacht hatte.

Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Nach einigem Überlegen waren sie und Amir zurück in ihre kleine Heimatstadt gezogen. Amir fand die Idee großartig, dass ihre Kinder später nicht zwischen grauem Beton aufwachsen würden, sondern frische Luft atmen und draußen im Wald spielen konnten.

Sie wiederum erinnerte sich gerne an ihre Kindheit. Damals hatte sie im gleichen Ortsteil wie ihre Tante gewohnt. Zudem pflegte sie noch Kontakt zu Freunden von früher, die weiterhin dort lebten. Es war ihr daher wie Schicksal vorgekommen, als sie von den Wahlen erfuhr. Demnächst würde über die Besetzung des Kreistages entschieden werden. Die Kreisräte wurden für die Dauern von fünf Jahren, direkt von den Bürgern des Landkreises gewählt. Nun hatte sie die Chance, all ihr theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen. Sie brannte vor Energie und Ideen und wollte sich für ihren Heimatkreis einsetzen.

Ihre anfängliche Begeisterung begann jedoch zu wanken, als sie erfuhr, dass sich in der Gegend hauptsächlich ältere Männer um einen Sitz im Kreistag bewarben.

In der letzten Wahlperiode hatte nur eine Frau kandidiert – und diese war zu dem Zeitpunkt bereits über sechzig gewesen. Amir hatte sie jedoch in ihrem Vorhaben bestärkt. Er war von Anfang an von der Idee begeistert.

„Es wird Zeit, dass auch die junge Generation eine Stimme bekommt. Außerdem hast du einen Doktor in Politikwissenschaften! Wer, wenn nicht du, ist für diesen Posten wie geschaffen?“. Sie hatte ihre Kandidatur bekannt gegeben.

Gleichzeitig wusste sie, dass noch eine ganze Menge Arbeit vor ihr stand. Einige der Ortsansässigen kannte sie noch aus ihrer Jugendzeit, auf ihre Stimmen konnte sie daher mit großer Wahrscheinlichkeit zählen. Als parteilose Kandidatin benötigte sie jedoch zunächst Unterschriften von Wahlberechtigten des Kreises, die ihre Kandidatur unterstützen. Zudem musste sie den gesamten Wahlkampf selbst organisieren und finanzieren.

Zu ihrer eigenen Überraschung zahlte sich die Arbeit aus. Umfragen der lokalen Zeitungen zufolge hatte sie gute Chancen gewählt zu werden. Ihr geringes Alter – welches sie zunächst als Nachteil empfunden hatte – verschaffte ihr in Wahrheit einen Vorteil. Anders als die älteren Kandidaten war sie mit Social Media aufgewachsen. Sie konnte daher Plattformen wie Instagram und Facebook in geschickter Weise in ihren Wahlkampf einbinden. Während sie mit vielen der Stammwählern auf Marktplätzen und an Ständen ins Gespräch kam, nutzten vor allem die jungen Erstwähler das Internet als Informationsplattform. Sie baute auf die Unterstützung der jungen Wählerinnen und Wähler. Abends arbeitete sie daher für gewöhnlich von ihrem Laptop aus an ihrem Profil. 

Öffentlichkeitsarbeit war im Wahlkampf besonders wichtig. Jeder konnte ihr folgen. Sie musste für eine möglichst große Anzahl an Personen erreichbar sein. Ihr Ziel war es, die potenziellen Wähler an ihrem Leben weitestgehend teilhaben zu lassen und möglichst transparent zu sein. Sie wollte zeigen, wofür sie stand und wofür sie sich einsetzte. Daher postete sie ein Bild von sich auf einer Demo gegen rechts und fügte dazu einen Link zu einem Zeitungsartikel ein, in dem sie zu ihrer Kandidatur interviewt worden war.

Mit einem Lächeln las sie anschließend einen alten Beitrag, den sie auf Instagram gepostet hatte. Es handelte sich dabei um eine Stellungnahme von ihr in der lokalen Zeitung, in der sie sich zu den Herausforderungen der heutigen Zeit und der Entscheidung von Angela Merkel, im Jahr 2015 hunderttausende Flüchtlinge über die Grenzen nach Deutschland einreisen zu lassen, äußerte. Sie hatte nicht nur alles in einem schönen Licht darstellen wollen, sondern sich auch ernsthaft mit den Herausforderungen von Integration und vor allem der Kritik in der Gesellschaft an der aktuellen Migrationspolitik auseinandergesetzt. Sie hatte gezeigt, dass sich noch vieles ändern müsste, aber dass Immigration und kulturelle Vielfalt eine Chance waren und nicht eine Krise, die es zu bewältigen galt. 

Ihr Ziel war es, Optimismus zu verbreiten und gleichzeitig nicht die gegenwärtigen Probleme zu leugnen. Ihr war bewusst, dass die Gesellschaft gespalten und immer mehr Menschen für rechte Botschaften empfänglich waren. Sie wollte die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen und sie nicht gleich in die rechte Ecke stellen, wenn sie Zweifel äußerten. Ihrer Ansicht nach war die fehlende Kommunikation, der fehlende Diskurs zwischen links und rechts eines der Hauptgründe, weshalb sich die Gesellschaft immer mehr entzweite. Wo es keinen Dialog mehr gab, konnte auch keine gemeinsame Lösung gefunden werden. 

Sie las den Artikel zu Ende und schaute sich anschließend die Kommentierungen an.

Endlich eine Frau, die kandidiert!, hatte eine Userin geschrieben.

Ich stimme nicht mit allem überein, was sie sagt, schrieb ein anderer. Aber im Großen und Ganzen hat sie mich überzeugt. Werde ihr meine Stimme geben.

Der nächste Kommentar ließ sie zusammenzucken. Dieser kleinen Hure sollte man das Maul stopfen! Ekelhaft. Wenn es nach ihr ginge, leben hier bald mehr Flüchtlinge als Deutsche. Merkel 2.0. sag ich nur.

Obwohl sie mit solcher Kritik gerechnet hatte, verletzte es sie dennoch. Zudem stellte sie erschrocken fest, dass weitaus mehr Personen dieselbe Meinung vertraten. Dort, wo die User Kritik äußerten, aber ansonsten sachlich blieben, verfasste sie eine Antwort. Den Dialog zu suchen, war schließlich ihr oberstes Ziel. 

Den ganzen Abend saß sie dort, las und beantwortete Kommentare, bis Amir ihr einen Kuss auf die Wange drückte und „Schlafenszeit“ in ihr Ohr flüsterte. „Genug gearbeitet“, sagte er, woraufhin sie den Laptop zugeklappte.

Als sie an dem Abend ins Bett gegangen war, hatte sie nicht ahnen können, was sie am nächsten Tag erwartete.

Noch am Frühstückstisch war ein wahrer Shitstorm über sie hereingebrochen. Die Flut der Nachrichten nahm keinen Abbruch. Eine hasserfüllte Nachricht folgte der anderen. Gegen Mittag hatte jemand ihre E-Mail-Adresse entdeckt und veröffentlicht. Ihr Postfach zeigte zu dem Zeitpunkt bereits 103 neue E-Mails an.

Der Appetit war ihr längst vergangen. Den ganzen Tag verbrachte sie damit, Nutzer zu melden und auf den Social Media Kanälen zu blockieren. Gegen Abend war sie den Tränen nahe.

„Schalt es ab“, sagte Amir. „Am besten, du stellst dein Profil auf privat.“

„Aber wie soll ich dann weiterhin die Wählerinnen und Wähler erreichen?“, entgegnete sie. Sie beschloss, fürs Erste das Handy ausgeschaltet zu lassen und zunächst einmal abzuwarten.

Am nächsten Tag versuchte sie, sich von dem Schock zu erholen. Es war Sonntag und sie verbrachte den Vormittag damit, die Fenster zu putzen und die alte Abstellkammer zu entrümpeln. Amir ging seine übliche Runde laufen und abends machten sie es sich auf dem Sofa gemütlich. Amir legte den Arm um sie und ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Ihr Handy blieb weiterhin ausgeschaltet. Mit halb geschlossenen Lidern verfolgte sie die Bilder auf dem flimmernden Bildschirm und versuchte, sich zu entspannen. Dann leuchtete Amirs Handydisplay auf.

Sie bemerkte, wie er das Handy leicht zur Seite drehte, damit sie die Nachricht nicht lesen konnte. Gleichzeitig schien sich sein Körper kaum merklich anzuspannen. Sie hatte es befürchtet. Auch ihn hatten sie ins Visier genommen.

„Zeig sie mir“, sagte sie leise. Widerwillig reichte er ihr sein Handy, damit sie die Nachrichten lesen konnte. Eine schlimmer als die andere.

„Schau mal“, sagte er, in einem Versuch, sie aufzumuntern. „Die können noch nicht einmal Klein- von Großschreibung unterscheiden. Und hier!“, Amir lachte und zeigte auf die Nachricht. „Hurenson ohne H!“

Sie konnte nicht mitlachen. „Mir macht das Angst“, sagte sie schließlich und seine Miene wurde schlagartig wieder ernst.

„Das sind Idioten, lass dich von denen nicht beeindrucken. Die haben einfach nichts Besseres zu tun, als im Netz schlechte Stimmung zu verbreiten. Die wollen sich selbst groß machen, indem sie andere klein machen.“

Doch seine Worte halfen nicht. In der folgenden Nacht träumte sie unruhig.

Um drei Uhr nachts schreckte sie hoch. Ihr T-Shirt war ganz verschwitzt und die Haare klebten ihr seitlich an der Stirn. Anschließend dauerte es Stunden, bis sie wieder in den Schlaf fand.

Als sie nach vier Tagen ihre Social Media Accounts erneut geöffnet hatte, war ihr klar geworden, dass Hassnachrichten jetzt einen Teil ihres alltäglichen Lebens ausmachen würden. Es machte sie wütend, doch gegen die Flut an Nachrichten hatte sie keine Chance. Sie zu ignorieren, war die einzige Möglichkeit.

Sie versuchte, sich abzulenken und nahm den Kontakt zu alten Freunden aus ihrer Schulzeit wieder auf. Susanne, die damals mit ihr in eine Klasse gegangen war, zeigte sich erfreut, nach so langer Zeit wieder von ihr zu hören.

„Lad sie doch zu einem Abendessen bei uns ein“, schlug Amir vor. Susanne war von dem Vorschlag begeistert und versprach am darauffolgenden Freitag zusammen mit ihrem Freund vorbeizukommen. Amir, mit dem Kochtalent seiner Mutter ausgestattet, beschloss, eine Vielzahl an türkischen Spezialitäten zu servieren. Es sollte Köfte mit Bulgursalat, Lahmacun und Sigara böreği geben. Und zum Nachtisch ihr persönliches Highlight: Baklava.

Um 19.00 Uhr, pünktlich auf die Minute, klingelte es an der Haustür. Susanne hatte sich kein bisschen verändert, stellte sie erleichtert fest. Sie war immer noch herzlich und lachte viel. Ihr Freund Timo war ihr ebenfalls auf Anhieb sympathisch. Es gab keine unangenehmen Gesprächspausen und es versprach ein guter Abend zu werden. Gemeinsam mit Amir trug sie die dampfenden Speisen in das Wohnzimmer, als es plötzlich erneut klingelte.

Obwohl sie nicht ahnen konnte, was sie erwartete, hatte sie bereits zu diesem Zeitpunkt ein ungutes Gefühl gehabt. Vorsichtshalber spähte sie daher zuerst durch den Spion, bevor sie die Tür öffnete. Draußen war es dunkel, weit und breit keine Person zu sehen. Obwohl ihr dabei mulmig war, rief sie in die Dunkelheit hinein: „Hallo, ist da jemand?“

Sie erhielt keine Antwort und wollte gerade die Tür schließen, als ihr Blick auf einen hellen Gegenstand am Boden fiel. Auf ihrer Türschwelle lag ein Brief. Ein Absender war nicht zu erkennen. Auch ein Poststempel fehlte. Einzig und allein ihr Name stand auf dem Brief. Sie zögerte kurz, dann öffnete sie ihn.

Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Hände zitterten. Kalte Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Die drei schauten ihr erwartungsvoll entgegen, auf den Tellern dampfte das heiße Essen.

„Ich, ähm …“, sie räusperte sich und versuchte, ihre zittrige Stimme unter Kontrolle zu bekommen. „Ich würde gerne einmal kurz mit Amir sprechen“, sagte sie und versuchte ihm mit Blicken zu vermitteln, dass es ernst war. Unter keinen Umständen wollte sie ihren Gästen Angst einjagen, schließlich trafen sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie versuchte zu lächeln, doch ihr Gesicht war wie versteinert. Amir folgte ihr in die Küche. Wortlos reichte sie ihm den Umschlag.

„Das geht zu weit, wir informieren sofort die Polizei“, war seine erste Reaktion.

Sie konnte nur nicken und starrte hinunter auf das weiße Papier. Man hatte ihr eine Todesanzeige zukommen lassen. Nicht irgendeine, sondern ihre eigene.

Dazu hatten die Täter ein Bild von ihr geheftet, auf dem ein Fadenkreuz auf ihre Stirn gemalt war. Tränen schossen ihr in die Augen.

„Ich hätte niemals kandidieren sollen“, brach es aus ihr hervor.

Zum ersten Mal hatte sie in Gänze realisiert, dass sie eine Zielscheibe war, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Sie war weiblich und besaß eine politische Meinung. Außerdem hatte sie einen Freund mit ausländischen Wurzeln. Damit war sie für rechte Kreise ein gefundenes Fressen.

„Wir dürfen jetzt auf keinen Fall nachgeben“, sagte Amir. „Dann haben die doch gewonnen! Du stehst für so vieles. Du bist jung, weiblich, gebildet und schlagfertig. Du trittst für Weltoffenheit ein. Und es ist wichtig, dass jemand solche Ziele verfolgt, gerade hier in Sachsen.“ Die Sache lag ihm wirklich am Herzen, er konnte seine Wut kaum unterdrücken.

„Wir leben in Deutschland, verdammt noch mal! Einer Demokratie! Die Meinungsfreiheit ist eines unserer grundlegendsten Rechte! Wir lassen uns nicht mundtot machen!“ Er holte tief Luft und entschuldigte sich dann.

„Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht anschreien.“

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und lächelte ihr beruhigend zu.

„Das ist alles nur ein Bluff“, sagte er in sanftem Ton. „Die wollen dir Angst machen, dich kleinmachen.“ Sie nickte und konnte doch nicht verhindern, dass ihr eine Träne die Wange hinunterlief.

„Und was, wenn nicht? Wenn du dich irrst?“

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und zog sie an sich. „Wir schaffen das schon“, murmelte er in ihr Haar und in diesem Moment hatte sie tatsächlich noch dran glauben können.

Nachdem ihre Gäste das Haus verlassen hatten, riefen sie die Polizei. Unerwarteterweise war daraufhin Ruhe eingekehrt.

Es waren zwei Wochen vergangen, und sie wog sich beinahe in Sicherheit. Das schlimmste schien überstanden. Die Flut an Hassnachrichten ließ sie mittlerweile kalt. Nach einem weiteren ruhigen Wochenende startete sie mit neu gefundener Energie in die Woche. Sie war von einer der größten lokalen Nachrichtenagenturen zu einem Interview eingeladen worden. Sie hatte sich vorab gut vorbereitet, sich Notizen gemacht und einige überzeugende Argumente zurechtgelegt. Amir war zusammen mit einem Arbeitskollegen zur Arbeit gefahren, damit sie ihr Auto benutzen konnte. Sie öffnete die Tür und blieb noch auf der Türschwelle wie angewurzelt stehen. Über Nacht musste jemand auf ihr Grundstück eingedrungen sein und ihr Auto beschmutzt haben.

In gelber Farbe hatte jemand das Wort „Schlampe“ auf die Heckscheibe gesprüht. Als sie um das Auto herumging, erblickte sie den Schriftzug auf der Frontscheibe. „Türkenfickerin“, stand dort.

Der Polizist am Telefon hatte sie kaum verstanden. Es dauerte einen Moment, bis sie sich gesammelt hatte und in ruhigerem Ton ihre Lage schildern konnte.

Nun waren es bereits zwei Anzeigen, die sie in den letzten Wochen erstattet hatte. „Gibt es schon Neuigkeiten bezüglich der Todesanzeige, die man mir geschickt hat?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Wir arbeiten dran“, erwiderte der Polizeibeamte. „Solche Angelegenheiten sind teils nur schwer zurückverfolgbar, aber wir geben unser Bestes.“

Sie rief Amir auf der Arbeit an und er nahm sich den Nachmittag frei. Als er zuhause ankam, hatte er zwei Einkaufstaschen dabei. In der ersten befanden sich Lebensmittel, welche sie zusammen in den Kühlschrank einräumten. Die andere ließ er unberührt. Sie musterte die Tasche.

„Und was hast du noch mitgebracht?“, fragte sie.

„Nur ein paar Sachen“, sagte er wage und in einem bewusst ruhigen Ton. Sie ließ sich von so etwas nicht täuschen. Es war offensichtlich, dass er ihrer Frage auswich. Mit verschränkten Armen forderte sie ihn auf, ihr den Inhalt der Tasche zu zeigen. Amir griff in die Tasche und zog eine Schusswaffe hervor.

„Bist du wahnsinnig?“, war ihre erste Reaktion. „Eine Waffe, hier im Haus?! Ist das überhaupt erlaubt? Du hast doch gar keinen Waffenschein!“

„Diese hier fällt nicht unter das Waffengesetz“, entgegnete er. „Das ist nur eine Schreckschusspistole, deren Besitz ist erlaubnisfrei.“

„Du glaubst also, es könnte jemand in das Haus eindringen, stimmt’s?“

„Dazu wird es nicht kommen“, erwiderte er, doch zum ersten Mal konnte sie leichte Zweifel in seiner Stimme entdecken. Sie wollte nicht schon wieder mit ihm streiten. Nachdenklich strich sie mit dem Finger über die Tischkante und wich seinem Blick aus.

„Ich könnte die Kandidatur zurückziehen“, sagte sie dann leise. „Ich bin mir sicher, dann hören sie damit auf.“ Seine Reaktion war wie erwartet.

„Auf gar keinen Fall! Ich hab dir doch bereits gesagt, wie wichtig es ist, dass wir jetzt nicht aufgeben!“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Auch mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Diese Leute sind weiter gegangen, als ich es gedacht hätte. Aber die Polizei ist am Ermitteln. Wir werden das weitere Vorgehen mit ihnen absprechen. Möglicherweise gibt es noch andere Optionen, uns besser zu schützen.“

„Ich möchte keinen Personenschutz vor unserem Haus!“, erwiderte sie. „Ich fühle mich jetzt bereits gefangen hier. In meinem eigenen Haus!“

Er nahm ihr Hand. „Wir müssen nur bis zu den Wahlen durchhalten. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Ihr Ziel ist es, dich von der Kandidatur abzuhalten. Wenn du es erst einmal geschafft hast, wird es mit der Zeit bestimmt ruhiger werden. Außerdem können wir uns währenddessen eine Strategie für die Zukunft überlegen. Bis dahin hat die Polizei sicherlich einige der Täter gefasst. Das wird die anderen abschrecken. Bitte fass jetzt keine vorschnelle Entscheidung!“

Sie holte tief Luft. „Wir sprechen noch einmal mit der Polizei“, gab sie sich dann geschlagen. Damit war das Thema zunächst vom Tisch gewesen und sie hatten den restlichen Abend lang bewusst über andere Dinge gesprochen. Doch die Anspannung hatte sie nicht losgelassen. Sie war den ganzen Abend lang greifbar gewesen. Erneut hatte sie kaum Schlaf gefunden. Schon seit Wochen stand sie nun unter Strom.

Das war gestern. Jetzt hielten Rechtsradikale eine Mahnwache mit Fackeln vor ihrem Haus ab und sie konnte Amir nicht erreichen. Sie realisierte wage, dass sie eine Panikattacke bekam. Ihre Atmung war viel zu schnell, sie hatte Herzrasen und ein Engegefühl in der Brust. Noch immer kauerte sie auf dem Boden. Sie hielt es nicht mehr länger aus. Mit aller Kraft zog sie sich am Sofa hoch. Ihr Blick durchstreifte den Raum. Dort, wenn sie das Handy senkrecht auf die Anrichte stellte … ja, das würde gehen. Sie schaltete die Kamera ein, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und versuchte, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Erschrocken blickte sie auf das Bild, dass ihr die Innenkamera anzeigte. 

Sie erkannte sich selbst kaum wieder. In den letzten Wochen hatte sie stark abgenommen. Der mangelnde Schlaf und die Appetitlosigkeit hatten ihr zugesetzt. Wo soll das alles noch hinführen?, fragte sie sich. Amir hatte eine Waffe gekauft, sie traute sich abends nicht mehr allein aus dem Haus, hatte Angst vor dem Einkaufen. Angst davor, das sichere Auto zu verlassen oder länger als nötig in der Stadt zu verweilen. Sie fühlte sich verfolgt und beobachtet.

Joggen ging sie schon seit Wochen nicht mehr. Nicht einmal ihre Freunde wollte sie erneut einladen, aus Furcht, sie könnten ebenfalls ins Visier geraten. Vor wenigen Wochen noch war sie voller Energie und Ideen gewesen. Hatte etwas bewegen wollen. Nun fühlte sie sich leer und ausgelaugt. Alles kostete unends viel Mühe und ständig hatte sie Angst. So gerne sie sich für die Allgemeinheit einsetzen wollte, sie musste auch an ihre eigene Zukunft denken. Wie würden sie künftig leben? Unter dauerhafter Beobachtung, mit Polizeischutz?

„Es tut mir Leid, Amir“, sagte sie leise und drückte auf Aufnahme.

Dann erklärte sie vor laufender Kamera den Rückzug ihrer Kandidatur.

Ich sag’ ja bloß!…

von Mathilda Boehm

Der Teufel fliegt mit dem Privatjet über hungernde Menschen, vermarktet Kleidung gemacht von ausgebeuteten Händen, liebt die Waren, die auf neue Waren warten, unser Essen kommt aus dem Laden, was für Garten?!
Tiere werden nicht gegessen, sondern Fleisch, schau dir die lachende Kuh auf meiner Milch an, was erzählst du für einen Scheiß über Leid?!
Die Klimakrise, dafür hab’ ich echt keine Zeit, aber hast du die neue TikTok Challenge gesehen, die ist so im Hype.
Menschenrechte und Rassismus gehören zur Spalte der Meinungsfreiheit, du bist nicht depressiv, dein Smartphone vermindert bloß deine Zufriedenheit, eigentlich bin ich ja nicht so, aber das war die perfekte Gelegenheit, nach deinem Einverständnis fragen, warum? Es genügt doch deine Anwesenheit.

Es gibt nur zwei Geschlechter, eine zu schützende Rasse und keinen Klimawandel. Darf ich nicht einmal mehr meine Meinung sagen? Warum durchlöcherst du meine Meinung, denn nun mit fragen? Meine Quelle? Die brauch’ ich dir doch nicht zu verraten. Vertrau mir, Bruder, das Nachdenken musst du nicht wagen.! Die Lügen, der Reptilienmeschen, möchte ich nicht mehr ertragen, deshalb erst einmal ein paar Flüchtlinge schlagen.

Lächelnd berichtet er über seine neusten Taten und erläutert, warum diese doch gar nicht soooo grausam waren, ihre Gehorsamkeit war P”icht, du hast sogar versucht sie
zu warnen, aber selbst nach dem Ermahnen wollte sie einfach kein Kopftuch tragen.

Krieg, ich wollte keinen Krieg, ich wollte bloß alles, was du besitzt und du wolltest es mir nicht geben, also muss ich es mir nehmen, das ist doch selbstverständlich auf dem Planeten, auf dem wir leben. Das Leben ist ein Geben und Nehmen, deshalb gib mir,
sonst werde ich dir das Leben nehmen.

Ungerechtigkeit? Ich sehe keine weit und breit, denn der Privatjet fliegt zu hoch, um etwas zu erkennen, die Kleidung ist zu schön, um die Bedingungen zu nennen und eigentlich möchte ich doch bloß entspannen, denn ich liege gerade so schön auf dem
Plastik im Sand.

Man darf doch wirklich gar nichts mehr sagen!!

Was tust du denn gerade, muss ich dann wohl fragen? Redefreiheit und Meinungsfreiheit sind zwei verschiedene Karten, dein Wort darf klingen, doch du brauchst dich dann nicht über die Wörter anderer zu beklagen.

Letztendlich sind manche Dinge einfach keine Meinungsfragen.

Oh Teufelchen, oh Teufelchen, du hast so viele Bewunderer, oh Teufelchen, oh Teufelchen, es wird der Tag kommen, an dem auch du erkennen musst, dass das wärmer Werden dieser Welt deine „Meinungen“ ganz schön (k)alt aussehen lässt.

Atemluft

von Felix Erdmann

Wir leben in den Trümmern der Geschichte.
Das weißt Du nicht?
Man übersieht es leicht, denn ihre Dichte
ist so, dass sie der Luft zum Atmen gleicht.
Sie strömt uns ständig stickig ums Gesicht,
um jeden Stein, aus jedwedem Gedicht,
und wenn sie schließlich aus den Lungen streicht,
dann krümmt sie wie der Wind die alte Fichte
als faule Luft, die uns zum Leben reicht.
Durch alle Orte streut sie die Gewichte
und doch verfliegt sie eilig mit dem Licht,
als wäre sie vor allen Dingen leicht –
erst wenn die Sonne stehen bleibt
und sticht und wenn die Luft zu sehr der Hitze weicht,
merkt man, wie sehr sie uns das Denken bricht.
Die ganze Welt erscheint in ihrem Lichte
und während sie uns Trümmerzöpfe flicht,
vermacht sie uns wie ihrer kleinen Nichte,
die vor der Last der Erbschaft schier erbleicht,
die kollektive, korrumpierte Sicht,
die sich in unsre trägen Seelen schleicht
und trotz konstant verbesserter Berichte
als unbewusste, unsichtbare Gicht
in unserem Veränderungswillen laicht.
Und doch: Wir sind auf Progression geeicht
und durch die Trümmerlöcher weht die schlichte,
doch stetig auf Enttrümmerung erpichte
und lindernd kühle, kollektive Pflicht,
auf deren frische Luft man nicht verzichte:
Dass man sie, sei sie sperrig, sei sie seicht
zu allen Zeiten weiterhin bespricht –
als Atem in der dicken Trümmerschicht.

Letzter Tag

von Rita Janaczek

Valentina ist leichenblass. Schon jetzt, Stunden bevor es losgeht. Wie ein weggesperrtes Tier streift sie durch unsere kleine Wohnung. Sie steuert um den Teppich herum, quert ihn, umgeht ihn, verschwindet in die Küche, kehrt zurück. Eine Weile beobachte ich sie dabei, dann schaue ich aus dem Fenster. Mein Blick folgt der von Plattenbauten gesäumten Straße bis zum Laden an der Ecke. Das Gesträuch, das den Gehweg säumt, zittert bei jeder Windböe. Monatelang haben wir mit uns gerungen, wochenlang eine Entscheidung immer wieder vor uns hergeschoben. Dennoch wussten wir, dass sie unumgänglich werden würde. Die Beobachtung schnürte unser Leben immer weiter ein. Die Gängelung beschnitt all unsere  Möglichkeiten. Die Luft zum Atmen war nur noch der Gnade des Staatsapparates geschuldet. Unsere Situation war am Ende durch die Vorbereitungen hochbrisant.

Nicht mehr lang, dann wird sich unser letzter Tag hier verabschieden. Ich gehe kurz auf den Balkon. Es ist windig und es ist kalt. Schlechte Bedingungen für unser Vorhaben, zumindest, wenn es übers Wasser gehen sollte. Doch die  Umstände haben wir nicht auszuhandeln, nicht das Wie, und nicht das Wann. Wir haben sie zu akzeptieren. Ich schließe die Balkontür, das vertraute Knarzen klingt auf einmal wie eine Warnung. Wie gelähmt verharre ich neben der gelb-grün gemusterten Gardine. Wir wissen nichts. Ich stelle mir einen alten Kahn vor, ein Spielzeug der Wellen. Ich rudere mit den zwei Menschen, die mir am meisten bedeuten in dieser Nussschale durch die Dunkelheit. Es regnet und von Weitem kann ich die Lichter der Patrouillenboote sehen. Wir haben keine Schwimmwesten und Lotta weint. Ich atme schwer, hier, jetzt. Das wird mir erst bewusst, als Valentina mich aus großen Augen ansieht. Während ich um meine Beherrschung kämpfe, legt sie ihre Hand auf meine Schulter. Nur das. Es gibt nichts zu bereden, wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen. Ein Konglomerat widersprüchlicher Gefühle begleitet mich seit diesem Moment. Ich versuche mich gedanklich auf die positive Seite zu schlagen. Wir werden woanders leben, mit der Möglichkeit über uns selbst zu entscheiden. Valentina kann endlich wieder in dem Beruf arbeiten, den sie liebt, der ihr versagt wurde, weil sie Position bezogen hat. Lotta wird sich entfalten können. Sie wird zu einer Frau heranwachsen, die nicht anhand ihrer Linientreue bewertet wird.

Ich befürchte, dass unser Weg tatsächlich über das Meer führen wird. Wer würde einen Grenzübertritt mit einem versteckten Säugling im Fahrzeug riskieren? Da müsste das Kind schon sediert sein. Doch das kommt nicht in Frage, da waren wir uns von Anfang an einig.  

Es ist jetzt dämmrig. Die Zeit scheint sich rückwärts von uns wegzubewegen. Wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa und schweigen. Vielleicht kämpft Valentina gerade mit genau den Gedanken, die auch mich gerade beschäftigen. Wir werden sie  nicht wiedersehen. Karla und Paul, Kiki und Herbert, Tante Eva, Omi Ostsee und Omi Schwerin, Gerhard den Witzbold und Norbert. Auch Tobi nicht mit seinem dreibeinigen Schäferhund Wolle. Wir werden uns nicht einmal von ihnen verabschieden. Das ist der Preis, den wir zahlen, es ist ein exorbitant hoher Preis. Zum zigtausendsten Mal wankt mein Entschluss, der doch so unumstößlich zu sein schien. Mit einem ruhigen Atemzug recke ich meinen Körper und verbiete mir jeden Zweifel. Ich stehe auf und gehe zum wiederholten Mal zum Fenster. Dunkle Wolken ziehen vom Horizont auf die Stadt zu und schieben ein gelbliches Grau vor sich her. Ich wende mich von diesem Schauspiel ab. Auf einmal scheint alles irreal. Der Raum, in dem ich stehe, der blaue Rucksack, der auf dem Sessel bereitsteht, die eng verschnürten Decken, Valentinas bleiches Gesicht und das Zittern ihrer hageren Gestalt. Abwägen? Das Ganze noch einmal überdenken? Jetzt noch? Ich kann meiner Frau die Sorge ansehen, sie spricht nicht nur aus ihrem Blick, sie schreit aus jeder ihrer Regungen. Bereut sie unsere Entscheidung? Sicher nicht. Ich kenne sie und ihren Widerwillen gegen Zwang, ihre Wut auf das System. Ihr loses Mundwerk hat uns mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht. Ich liebe sie dafür. Aber ich kenne auch ihre Skrupel. Was wird geschehen, mit unseren Verwandten und Freunden? Reicht es, dass sie völlig ahnungslos zurückbleiben? So ahnungslos wie nur irgend möglich? Sicher nicht! Die Menschen, die uns am nächsten sind, stürzen wir in eine irrwitzige Situation. Das ist für mich der schlimmste Gedanke. Ich quere sinnlos das Zimmer und starre eine Weile auf das Muster der Tapete.

Die Zeiger der Plastikwanduhr quälen sich vorwärts. Valentina hat ein paar belegte Brote im Rucksack verstaut. Der Rest wartet auf dem Teller, doch jeder Biss würde in meinem Inneren protestieren. Ich gehe zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Abend ans Fenster. Es ist jetzt dunkel. Ob sie uns beobachten? Ich spüre den heißkalten Schub in der Magengrube und trete einen Schritt zurück. Schon möglich, dass sie uns bereits im Visier haben, obwohl wir uns die letzten Wochen wie immer verhalten haben. Aber vielleicht ist gerade das Unauffällige auffällig. Das leise Weinen macht mir den Wahnsinn der Situation noch bewusster. Wir schauen uns einen Moment lang in die Augen. Wenn ich mir jemals eingebildet habe, die Gedanken meiner Frau lesen zu können, habe ich mich mit dieser Annahme übernommen. Die stille Explosion zurückgehaltener Gefühle lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Valentina dreht sich schweigend von mir weg. Mit Lotta auf dem Arm und einem Fläschchen in der Hand kehrt sie zurück. Ich fixiere die beiden. Eine Einheit, aneinandergeschmiegt in einer Blase, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Reine Gegenwart, ein Augenblick liebevoller Stille, ein Strudel warmer Emotionen.

Lotta schläft wieder. Meine Frau räumt alles zurecht, beinahe so, als würden wir Besuch erwarten. Das Fläschchen ist gespült, die Kissen liegen dekorativ auf dem dunkelgrünen Sofa. Die Vorhänge sind zugezogen, sie zupft eine Weile daran herum. Ich nicke ihr zu und sie lächelt. Es ist ein warmes Lächeln, ich nehme sie kurz in die Arme. Am liebsten würde ich jetzt mit ihr so stehen bleiben, stundenlang, das Vorhaben einfach vergessen. Ich räuspere mich und schiebe sie vorsichtig von mir. Wir wissen beide was zu tun ist. Immer und immer wieder sind wir diesen Tag durchgegangen, haben jede Minute geplant, miteinander und jeder für sich. Der wirkliche Moment übersteigt die Vorstellung, die sich monatelang in mir entwickelt hat. Wie es weitergeht, wenn wir am Treffpunkt angekommen sind, liegt in den Händen anderer.

Es ist Mitternacht.

Alles ist vorbereitet, verstaut. Es gibt nichts mehr zu tun. Wir sind bereit. Noch eine Stunde Galgenfrist bleibt uns. Darauf hätte ich gern verzichtet. Dreitausendsechshundert Sekunden, die noch vor uns liegen und jede einzelne wird sich zäh wie Klebstoff vor uns ausbreiten. Mein Gedankenkarussell wirft sich einmal mehr ungefragt an und beschert mir einen Puls, den ich im ganzen Körper zu fühlen glaube. Es ist durchaus möglich, dass wir geradewegs in eine Falle laufen. Diese Bedenken habe ich nie laut ausgesprochen, aber wozu auch? Valentina kennt das Risiko so gut wie ich.

Ruhig, beinahe gelassen, wickle ich das Tragetuch um meinen Körper, dass meine Frau für Lotta genäht hat. Die Kleine passt perfekt hinein, ihr Köpfchen liegt an meiner Brust. Ich atme ihren cremigen Duft. Ich schließe die weite Jacke um mich und ihren Körper und ergreife den Rucksack.

Valentina schafft es nicht, mit mir zu gehen, ohne vorher noch einmal in unsere drei kleinen Räume zu blicken. Dann schließt sie die Wohnungstür ab und wir steigen leise die Treppe hinunter. Wie besprochen wickelt sie den Schlüsselbund in ein Taschentuch und lässt ihn vorsichtig in den Briefkasten gleiten. Er fällt kaum hörbar auf das Metall. Draußen schlägt mir der Wind scharf ins Gesicht. Valentina blickt zu Boden, während wir auf unseren Trabant zugehen. Er wartet zuverlässig auf seinem Parkplatz, papyrusweiß mit schilfgrünem Dach. Rucksack und Decken legen wir auf den Rücksitz. Valentina setzt sich hinters Steuer und ich lasse mich mit Lotte neben ihr in den Sitz sinken. Der Zweitakter war nie vorher so laut wie in dieser Nacht. Ich weiß, dass es mir nur so vorkommt, doch es beunruhigt mich zutiefst. Ich sehe die Gardine, die im zweiten Stock zur Seite geschoben wird, ein Streifen Licht. Ich weiß, wessen Wohnung das ist. Der Nachbarin habe ich noch nie über den Weg getraut. Valentina setzt rückwärts auf die Straße und fährt los. Der gleichmäßige Rhythmus, den die Nähte der Betonplatten erzeugen, beruhigt mich. Lotta liegt warm und entspannt an meinem Körper. Mehr als alles andere wünsche ich mir, dass wir den Treffpunkt unbehelligt erreichen.

 

Seit wir die Stadt hinter uns gelassen haben, ist uns kein Auto mehr begegnet. Über das Kopfsteinpflaster geht es nur langsam voran, doch die Route scheint uns sicherer. Die schmale Straße ist von Bäumen gesäumt und die Scheinwerfer des Wagens leiten uns wie durch einen Tunnel. Es ist ein skurriler Anblick. Meine Müdigkeit, begleitet vom vertrauten Motorengeräusch, fixiert uns auf der Stelle, während sich die Landschaft bewegt und die Buckelpiste scheinbar unter uns durchrutscht. Ich blinzle und bemühe mich, wieder in die korrekte Wahrnehmung zurückzufinden. Inzwischen sehe ich weit vor uns einen kleinen Stern, der wohl auf die Straße gefallen ist. Valentina steigt vehement auf die Bremse, das holt mich in die Wirklichkeit zurück. Sie schaltet das Licht aus und setzt im Blindflug rückwärts. Es holpert und ruckelt, ich höre es splittern, Plaste und Elaste. Vermutlich haben wir einen Rückspiegel eingebüßt. Als der Wagen hält und der Motor aus ist, höre ich Valentinas schweres Atmen. Lotta bewegt sich auf Tuchfühlung mit meinem rasenden Herzen. Es dauert eine Weile, bis das Licht an uns vorbeifährt. Vielleicht Volkspolizei, vielleicht auch nicht. Wir sind weit genug entfernt, zwischen den Bäumen. Es ist stockdunkel um uns herum. Ich habe keine Ahnung, ob hier überhaupt ein Weg ist, oder ob meine Frau uns geistesgegenwärtig einfach in die Wildnis katapultiert hat. Nach diesem Schrecken verharren wir noch im Nichts, ohne ein Wort, bis Valentina den Wagen wieder anlässt und das Gefährt zur Straße zurückbugsiert.  

Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, als wir endlich das abgebrochene Gatter erreichen. Valentina biegt in den Feldweg ab und wir holpern einige hundert Meter über eine grasbewachsene Piste. Im Licht der Scheinwerfer können wir die baufällige Halle erkennen. Auch den Lieferwagen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern davor wartet. Ein Mann steht rauchend daneben, ich kann sehen, wie er die Kippe zu Boden wirft und darauf tritt. Er gestikuliert und weist uns an, hinter das Gebäude zu fahren. Es beginnt zu nieseln und auf den letzten Metern schaltet meine Frau die Scheibenwischer ein. Der Wagen winkt uns nochmal zum Abschied. Als ich aussteige merke ich jeden Knochen. Ich schiebe Lotta vor meinem Körper ein wenig zurecht und greife den Rucksack. Valentina lässt den Schlüssel des Trabant einfach stecken. Sie klemmt sich das Bündel mit den Decken unter den Arm und wir gehen vorsichtig los. Der Boden ist uneben und im schwachen Mondlicht kaum zu erkennen. Eine Windböe erfasst uns, der Regen wird stärker und als der Mond hinter den Wolken verschwindet stehen wir in völliger Dunkelheit. Ein Lichtkegel tanzt von der Seite über den Boden. Der Mann, der uns hierher gelotst hat, schaut um die Ecke der Halle und leuchtet uns mit einer Taschenlampe den Weg. Ich setzte erstaunliches Vertrauen in diesen wildfremden Menschen, der genauso gut unsere Endstation sein könnte. Doch ich will daran glauben, dass er unser Ausweg ist. Er kommt auf uns zu. Jetzt sehe ich auch einen weiteren Unbekannten direkt hinter ihm. Als sie nur noch wenige Schritte von uns entfernt sind halte ich inne. Es gibt kein zurück. Ich spüre Lotta warm an meinem Körper, greife Valentinas Hand und presse mit heiserer Stimme das Codewort hervor.

Das Hängebauchschwein

von Antonia Spohr

Wer über den zugigen Friedrichsauer Platz eilt, sieht moderne Bänke ohne Rückenlehne, minutiös verlegten Granit und Mülleimer aus feuerverzinktem Stahlblech. Wuchtige Glaskuppeln ragen aus dem Boden; Hunde heben hier gerne ihr Bein. Rumpelt man mit der Rolltreppe zu den unterirdischen Bahnsteigen des Sieflinger Bahnhofs hinab, erkennt man den Sinn dieser gläsernen Riesenpickel. Es sind Oberlichter, die das trübe Licht des Friedrichsauer Platzes einfangen und auf die Bahnsteige weiterleiten. Oft liegen Essensreste neben diesen Kuppeln. Meist sind es Äpfel, manchmal auch Karotten oder Chips.

Ein renommierter Architekt hat lange über die Platzierung von Rolltreppen und Verbotsschildern nachgedacht und manch europäische Metropole beneidet uns um unsere indirekt beleuchteten Anzeigetafeln. Wir Sieflinger aber meiden die Bahnsteige, denn früher war hier kein Bahnhof, sondern ein Park: Ein Park mit einem Teich zum Entenfüttern, einem Restaurant, einem Mini-Golf-Parcours, einem Spielplatz mit Rutsche und Seilbahn, zwei Biergärten und sogar einem kleinen Tierpark.

Wir fütterten Enten, sahen unseren Kindern beim Schaukeln zu oder trockneten ihre Tränen nach einer verlorenen Mini-Golf-Partie. Wir bestaunten die Streifen der Zebras und die buschigen Ohren der Koalas, die im Tierpark träge an ihren Eukalyptuszweigen herumkauten. Wir tranken Radler und Hefeweizen in den Biergärten und gingen an Hochzeitstagen ins Restaurant. Manchmal saßen wir einfach nur auf einer Bank und sahen zu, wie die Schwäne im herbstlichen Nebel des kleinen Sees verschwanden.

Dann lasen wir in der Zeitung von dem geplanten unterirdischen Bahnhof. Wir hielten das für einen schlechten Scherz. Milliarden ausgeben, um im beschaulichen Sieflingen einen Bahnhof unter die Erde zu legen? Doch als Gerüchte über Immobilienspekulationen laut wurden, gründeten wir, nachdem wir es eine Zeit lang vergeblich mit dem Schreiben von Leserbriefen versucht hatten, ein Aktionsbündnis.

Einer der Biergartenpächter bastelte aus Bettlaken ein großes Transparent, besprayte es mit großen Lettern und befestigte es zwischen zwei alten Kastanien.

„Die Sieflinger sind wutenbrannt – Wir grillen für den Widerstand“ lasen wir nun, wenn wir auf dem Weg zu unseren Bürgerversammlungen durch den Park gingen. Bauzäune tauchten über Nacht auf und wurden von uns mit Plakaten verhängt.

Dann stand ein Minibagger neben einem Stapel Baustahlmatten. Ein winziger Bagger nur, gewiss. Doch für uns ein untrügliche Zeichen. Wir gingen mit unseren Unterschriftenlisten in die Fußgängerzonen, die Schwimmbäder und die Seniorenheime. Unsere Forderung nach einer Volksabstimmung der Sieflinger Bürger wurde vom Gemeinderat niedergeschmettert. Die regelmäßigen Montagsdemonstrationen vor dem Sieflinger Münster schienen weder Stadt, Land noch Bahn von der Unsinnigkeit ihres Großprojekts zu überzeugen. Wir kauften einem Stuttgarter Umweltschützer drei Pärchen Juchtenkäfer ab und fotografierten sie in ihrem neuen Habitat als Beweis für die Schutzwürdigkeit unseres Parks. Junge, im Demonstrieren erfahrene Menschen hielten kostenlose Workshops ab, in denen sie uns beibrachten, wie man sich von der Polizei wegtragen lässt, ohne sich zu verletzen.

Als die Baumfäller an einem nebligen Oktobermorgen anrückten, setzten wir unseren Schlachtplan in die Tat um. Unser Aktionsbündnis formierte sich. Über Sms, Telefonketten und soziale Netzwerke informierten wir uns gegenseitig. Wir waren perfekt organisiert: Vormittagskaffeekränzchen brachen geschlossen auf, Lehrer brachten ihre Schulklassen mit, und einige arglose Spaziergänger wurden von unserer Euphorie angesteckt und schlossen sich mitsamt ihren Vierbeinern unserem Protest an. Noch ein bisschen zögerlich stellten wir uns um die Bäume. „Oben bleiben! Oben bleiben!“ Innerhalb kürzester Zeit hatten wir einen Großteil des Parks okkupiert. Es war kalt, aber wir waren guter Laune und wir wurden immer mehr. Um keine Blasenentzündung zu bekommen, hatten wir uns für die Sitzblockade Kissen mitgebracht. Wir ließen Chipstüten und Gummibärchen kreisen, Sprechchöre skandierten Schmähverse auf Bahn und Bürgermeister, Entwürfe für Pressemitteilungen und Flugblätter machten die Runde, bekannte Lieder wurden zu Gitarrenbekleitung umgedichtet, sodass die Unsinnigkeit des Tiefbaubahnhofs offensichtlich wurde.

Die Mitarbeiter der Baumfällerfirma hatten sich vor ihren Lieferwagen gestellt und berieten sich. Unschlüssig stiegen sie von einem Bein aufs andere, rieben sich frierend die Hände. Einer telefonierte. Um sie herum standen ungefähr zehn Polizisten. Breitbeinig aber ebenso ratlos warteten sie in der nebeligen Kälte. Auch einer von ihnen telefonierte. Offenbar forderte er Verstärkung an, denn keine halbe Stunde später sprangen Kampftruppen aus gepanzerte Polizeibussen, angetan mit einer Montur, als wollten sie zum Eishockey.

Der Anblick von schwarzen Helmen und kugelsicheren Westen verunsicherte uns kurz, dann wurden wir von unserer eigenen Courage überrascht. Adrenalin flutete unsere Blutbahnen und ließ unsere Herzen schneller schlagen.

Jetzt erst recht. Gemeinsam waren wir stark und wir würden nicht weichen. Motorsägen heulten auf, wir hielten dagegen: „Oben bleiben, oben bleiben!“

Wir hakten uns unter. Kampfbereit. Die Kinder sammelten Kastanien und begannen, sie in Richtung der Polizisten zu werfen. Als die sich schwarze Atemschutzmasken überzogen, wussten wir, dass es nun ernst werden würde.

Dann sahen wir ihn: aus dem Nebel tauchte unter dem Transparent des Biergartens ein Wasserwerfer auf. Kurz diskutierten wir, ob wir eine Bewaffnung mit Schlägern aus der Minigolfanlage organisieren sollten, entschieden uns aber dagegen; der Weg war bereits abgeschnitten. Megaphondurchsagen der Polizei forderten uns auf, den Park zu räumen. Wie ein mechanisches Urzeittier kroch das Kriegsgerät auf uns zu. Noch hielten wir die Handykameras in die Höhe. Wer hatte, spannte seinen Regenschirm auf. Die Polizisten kesselten uns von der Seite ein. Vorne der Wasserwerfer, rechts die Polizisten mit Tränengas, links der Ententeich. „Oben bleiben! Oben bleiben!“, schrien wir und griffen nach unseren Kindern. Aber wir waren schon im Zurückweichen begriffen.

Vielleicht war es Zufall. Aber genau zu dem Zeitpunkt als der Wasserwerfer tatsächlich von einem Kind mit einer Kastanie getroffen wurde, schoss er los. Die Regenschirme wurden uns aus den Händen gerissen. Ja, die ganzen vorderen Reihen wurden nach hinten geschleudert. Panik brach aus. Wir wollten fliehen, stürzten aber übereinander, hatten Angst, von der reißenden Menschenflut erdrückt zu werden, kamen nicht schnell genug aus der Schusslinie. Auf der Flucht mussten wir Sitzkissen, Proviant und Musikinstrumente zurücklassen. Freunde und Familien wurden auseinandergerissen. Unsere Schreie gingen in den Schreien der anderen unter. Die Verwundeten, über die wir stolperten, wurden untergehakt und mitgeschleift.

Als der Wasserwerfer mit dem Schießen aufgehört hatte, wandelte sich unsere Angst in Wut. Noch nie waren wir so aufgebracht gewesen. Dieses Unrecht! Ohne Grund und Verstand auf friedlich demonstrierende Demonstranten zu schießen! Diese Ungeheuerlichkeit konnten wir nicht auf sich beruhen lassen. Niemand lässt sich von einem Wasserwerfer niederschießen und geht dann friedlich nach Hause, um sich einen Gurkensalat zu machen. Wir waren fassungslos. Wir waren entsetzt. Wir waren wütend.

Wir eröffneten ein notdürftiges Lazarett, in dem Augen ausgespült und erste Hilfe bei jeglicher Art von Quetschungen, Zerrungen und Brüchen geleistet wurde.

Aus dem Geräteschuppen der städtischen Gärtnerei hatten wir einen Sitzrasenmäher entwendet und nutzten ihn als Krankentransporter. Schon kamen Kamerateams, um Großaufnahmen von den tränenden Augen zu machen. Motive boten sich ihnen reichlich, denn der vom See aufsteigende Nebel vermischte sich mit dem Tränengas, so dass unsere Netzhäute nirgends mehr sicher waren. Trotzdem wurde der Nebel zu unserem stärksten Verbündeten. In seinem Schutz wuchs ein brillanter Plan:

Im Nachhinein wusste niemand mehr, wer auf die geniale Idee kam, die Tiere aus dem Tierpark freizulassen. Fakt ist aber, dass wir den Maschendraht aufschnitten und die Tierpfleger nötigten, die Käfige aufzuschließen.

Die Koalas verkrochen sich lieber in ihren Gehegen und wir mussten sie aufscheuchen und nach draußen jagen. Die Zebras hingegen schienen auf diese Chance schon ihr Leben lang gewartet zu haben und galoppierten begeistert ihrem Leithengst hinterher in die Freiheit. Die Flamingos machten sich sofort auf zum Teich, wo sie von den alteingesessenen Schwänen angefaucht und wieder vertrieben wurden. Das Hängebauchschwein schob seinen dicken Bauch interessiert in das Gestrüpp des Parks und versuchte, die Krümel aus liegengelassenen Chipstüten zu lecken.

Per Funk wurden die Polizisten angewiesen, sofort den Einsatz von Tränengas einzustellen, um die Tiere nicht zu gefährden. Die Zebras kannten kein Halten mehr. Besonders der junge Deckhengst konnte sich kaum mehr beruhigen und nutzte die Gunst der Stunde, um seine Stuten durch den ganzen Park zu jagen. Glücklich, dem Streichelzoo entkommen zu sein, ließen sich die Ziegen wiederkäuend auf einer kleinen Anhöhe nieder. Die Koalas reagierten zuerst skeptisch auf die vegetabile Artenvielfalt. Dann entschlossen sie sich, es mit einer Ulme zu probieren. Anscheinend ließ sich auf deren Ästen ganz besonders gut ein Verdauungsschläfchen halten. So war sofort klar, dass die Baumfällarbeiten wegen der Koalabären bis auf weiteres eingestellt werden mussten. Denn ob sie tatsächlich nur auf den Ulmen saßen und nicht mittlerweile auch auf Platanen und Rosskastanien, konnte aufgrund des Nebels niemand genau sagen. Die Einsatzleitung versammelte sich vor den Wasserwerfer, um über einen geordneten Rückzug zu beratschlagen.

Und wir? Wir lagen uns jubelnd in den Armen. Wir umarmten Rentner, Studenten, Kinder, Bäume und im Freudentaumel und weil der Nebel so dicht war, erwischten wir auch versehentlich den ein oder anderen Polizisten.

Die Einsatzkräfte, die näher am See standen, hatten weniger Glück. Der Nebel kesselte sie ein und weil sie Tränengas und Nebel nicht unterscheiden konnten, hatten sie ihre unbequemen Schutzmasken abgenommen und litten nun ebenfalls unter Atemnot und tränenden Augen. Sie hatten unterschätzt, dass sich aufgrund der Kessellage des Parks das Tränengas nicht sofort verflüchtigt hatte.

Die Flamingos interessierten sich nicht für den nun folgenden Volksentscheid und die auf Phoenix live übertragene Schlichtungsrunde, für deren Leitung Heiner Geißler, ein Mann mit mittlerweile sehr viel Erfahrung, gewonnen werden konnte. Die Ziegen tollten noch eine kurze Weile am Ufer des Sees umher und die Koalas ließen sich von der Feuerwehr mit langen Leitern von den Bäumen holen. Andere Tiere trieb der Hunger in ihre Käfige zurück. Selbst die Zebras kamen nach gutem Zureden wieder in ihren Stall getrottet.

Wir sind uns deshalb alle einig, dass das Hängebauchschwein der Robin Hood unter den Tieren ist. Es blieb unauffindbar. Selbst die Suchtrupps der Hundestaffel kamen erfolglos zurück.

Seitdem legen wir Äpfel, Karotten und Chips neben die überirdischen Glaskuppeln des Bahnhofs und manchmal in der Dämmerung, wenn es sich im Schutz des Nebels sicher fühlt, kann man ein leises Schmatzen hören.

Zwei am Fenster

von Robin Bergauf

Ein 89er Freiheitskämpfer schaut montags aus dem Fenster

Da demonstrieren sie wieder. Die Gegner. Die ewig Betrogenen.
Sind das da unten nicht Katrin und Thomas? Aus der Gemeinde? Bring mir doch mal bitte das Fernglas, Silke.
Tatsächlich, das sind sie. Wollten die sich nicht scheiden lassen? Tja, ein gemeinsames Ziel bringt sie wieder zusammen.
Und da drüben Kerstin und Ralf. Hand in Hand. Einig wie nie. Das hast du noch nie gesehen, Silke!

Was brüllen sie da? Frieden, Freiheit, Souveränität?
Ja, aber die Freiheit haben wir doch jetzt!? Sonst könnten die doch gar nicht auf die Straße gehen, mit ihren Parolen!
Sind wir dafür damals auf die Straße gegangen, neunundachtzig? Hinter uns die Wasserwerfer. Wir wussten nicht, ob wir den Montag zuhause oder im Knast beenden. Die Gefahr! Die Angst! Damit die jetzt hier ihre idiotischen Parolen rumbrüllen können? Und dabei sogar vergessen, dass sie sich scheiden lassen wollen?
Was ist denn das hier? Eine Partnerverkittungsaktion oder was?

Wen wollen sie unterstützen? Putin? Ja, merken die es noch? Wissen die nicht, dass man mit Diktatoren nicht reden kann? Die sind gefährlich, brandgefährlich sind die.
Sie sind bestimmt bezahlt, vom KGB oder wie der jetzt heißt. Es ist kaum auszuhalten.
Silke, reich mir doch mal ein Bier. Das alkoholfreie. Ja, ich weiß, dass es zieht. Ich mache das Fenster gleich zu.
Jetzt kommen die Schwurbler. Die nun auch noch. „Die Verbrechen der Coronahetze aufklären“.

Und jetzt die Kriegsgegner. „Frieden schaffen ohne Waffen.“ Für diese Parole ist Bernd in den Knast gegangen, damals, als Putin und sein KGB noch hier in der Angelikastraße herumschnüffelten! Und jetzt wollen sie ihm sein Großreich wiedergeben! Mit derselben Parole, für die dich Putin und seine Kumpels damals hinter Gitter gebracht hätten! Es ist abartig!

Nein, das ist nicht zu ertragen. Silke. So viel Blödheit. Ich halte das nicht aus.
Ich? Da runtergehen? Zur Gegendemo? Silke, seit 33 Jahren war ich auf keiner Demo, und das weißt du. Ich habe damals für die Freiheit gekämpft. Freiheit, verstehst du? Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Redefreiheit. Und jetzt kommen diese Idioten und missbrauchen sie.

Silke. Komm doch mal gucken. Das sind welche, die haben noch nicht mal kapiert, dass man auf die Schilder etwas schreibt, wofür man kämpft. Vor lauter Dagegensein haben die draufgeschrieben, wogegen sie sind. „Krieg und Verrat“! Da demonstriert einer für Krieg und Verrat! Und dort die beiden Steppjackenträger demonstrieren für „Medien- und Staatshetze gegen das eigene Volk“.
Wie bekloppt sind die denn eigentlich?

Und denen laufen Tausende hinterher.
Wozu brauchen wir denn Meinungsfreiheit? Dafür, dass diese Idioten auf der Straße herumbrüllen?
Jaja, Silke, ich weiß, Katrin und Thomas sind keine Idioten. Katrin jedenfalls nicht. Bei Thomas bin ich mir da nicht so sicher.

Silke, jetzt klingt es wie in der Kirche. So eine Litanei mit Wiederholungen.
Gegen blablabla!
Auf die Straße!
Gegen blöblöblö!
Auf die Straße!
Ja, ich mache das Fenster zu. Gleich.

Silke, was machst du denn da? Auf den sozialen Medien siehst du doch auch nichts anderes als hier am Fenster. Mach doch den Computer aus, der verbraucht nur Putins Energie, und komm mal rüber. Und bring mir doch mal ein alkoholfreies Bier. Bitte.

Silke. Jetzt mal ehrlich. Brauchen wir die Meinungsfreiheit wirklich, wenn das, was herauskommt, dieser Schwachsinn ist?
Ich ertrage das nicht. Haben wir doch noch Bier mit Alkohol da? Oder besser einen Korn?
Silke? Da war doch vorigen Montag noch eine halbe Flasche Korn …?

Silke? Was hast du da? Ist das ein Schild? Willst du zur Gegendemo? Ich komme mit. Irgendwas muss passieren. Man muss was machen. Dagegen. Gut, dass du den Korn nicht gefunden hast, sonst könnte ich jetzt doch nicht mehr runtergehen.
Was steht da drauf? Auf deinem Schild?

Silke. Das ist jetzt nicht dein Ernst. Das ist das Dümmste, was ich jemals… Du kannst doch nicht wirklich Putin… Nur weil wir Meinungsfreiheit haben, heißt das doch nicht…
Silke!
Du gehst da nicht hin! Wenn du mit diesem Schild da runtergehst und mit diesen Leuten …
SILKE! Lass sofort das Schild los!
Nein!! Dazu ist Meinungsfreiheit eben NICHT da!
Du gehst da nicht mit! Nur über meine Leiche!
Oder über deine.
Silke.


Ein Unzufriedener schaut montags aus dem Fenster

Sie demonstrieren wieder. Endlich. Endlich erwacht Deutschland.
Sind das da unten nicht Katrin und Thomas? Aus der Gemeinde? Bring mir doch mal das Fernglas, Sandra.
Tatsächlich, das sind sie. Wollten die sich nicht scheiden lassen? Tja, ein gemeinsames Ziel bringt sie wieder zusammen.
Und da drüben Kerstin und Ralf. Hand in Hand. So hab ich die noch nie gesehen. Neue Zeiten brechen an.

Was rufen sie da? Frieden, Freiheit, Souveränität?
Jawohl. Lauter!
Das versuchen sie uns alles zu nehmen. Die Regierung. Alles Weicheier, gekauft vom Ami.

Gut dass Kathrin und Thomas wieder zusammen sind. Eine deutsche Frau muss auch mal verzeihen können.

Sandra, reich mir doch mal ein Bier. Das Fenster bleibt offen! Ja, ich weiß, dass es kalt wird. Aber in solchen Zeiten muss man auch mal Opfer bringen. Dreh die Heizung hoch.
Sandra! Die Heizung bleibt an! Das wollen die da oben ja nur, dass wir frieren, mit ihren Gaspreisen versuchen die uns fertigzumachen, und sie sitzen mit ihren Ärschen auf dem Gas und bereichern sich. Und uns versuchen sie das letzte Hemd abzunehmen.

Das Fenster bleibt auf!! Ich will das hören. Endlich erwacht jemand. Hör doch mal die Trommeln!

Nein, Sandra, red keinen Quatsch, das sind doch keine Kriegstrommeln. Frieden wollen wir!
Hör doch mal hin: Frieden Freiheit, Souveränität! Nicht die da unten mit unseren schönen Waffen versorgen, damit dieser Konflikt ewig noch so weitergeht, und der ami sich bereichert. Und die Kriminellen, die sich bei uns Regierung nennen. Da! Guck! „Frieden schaffen ohne Waffen“! Da hast du es schwarz auf weiß! Komm doch mal her, wenn du es nicht glaubst! Und bring mir noch ein Bier mit. Geiler Sound. Frieden, Freiheit, Souveränität! Frieden, Freiheit…

Freiheit, verstehst du, Sandra? Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Redefreiheit. Dafür sind wir damals auf die Straße gegangen. Und jetzt wollen sie uns das wieder nehmen.
Was? Ich war nicht auf der Straße? Klar war ich auf der Straße! Natürlich nicht am Anfang. Das war doch viel zu gefährlich, Sandra! Aber dann, als die Massen kamen! Da waren wir doch beide auf der Straße! Mindestens zweimal! Was für ein Gefühl! Weißt du es nicht mehr, Sandra?

Sandra. Komm doch mal gucken. Und das Bier ist auch schon wieder alle. Bring mal gleich zwei mit.
Guck mal, die Schilder!
Da! „Krieg und Verrat“! Genau! Das ist es!
Was? Wieso? Natürlich ist der GEGEN Krieg und Verrat. Nicht dafür! Sieht man doch.

Sandra, jetzt klingt es wie in der Kirche. Eine Litanei. Herrlich.
Gegen Verrat!
Auf die Straße!
Gegen den Staat!
Auf die Straße!

Sandra, was daddelst du denn da die ganze Zeit rum? Auf den sozialen Medien siehst du doch auch nichts anderes als hier am Fenster.

Was hast du da? Ist das ein Schild? Willst du zur Demo? Ich komme mit. Endlich wehrt sich mal jemand. Deutschland wacht auf. Aber ich muss erst noch pissen.
Was steht da drauf? Auf deinem Schild?
„Dresden gegen Rechts“? „Wir haben Meinungsfreiheit, deshalb könnt ihr ja hier herumbrüllen“?
Was meinst du denn damit? Wen…

Sandra. Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du kannst doch nicht wirklich…
Sandra!
Du gehst da nicht hin! Wenn du jetzt zur Gegendemo gehst…
SANDRA! Lass sofort das Schild los!
Du verdammte Nutte! Triffst du dich da mit diesem…? Glaubst du, ich merke das nicht? Du gehst da nicht hin! Nur über meine Leiche!
Oder über deine.
Sandra…

Auf der Mauer, auf der Lauer

Ansichten eines Stabsgefreiten

von Bernd Großmann

Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt er hier in Wandlitz,
auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt er hier in Wandlitz,
schaut euch mal den Atze an,
wie der Atze schießen kann,
auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt der hier als Wache.

summte Andreas, seines Zeichens Stabsgefreiter der NVA, leise vor sich hin. Im Nieselregen, auf einem fünf Meter hohen Wachturm hockend, starrte er stumpfsinnig auf die von Regen-schwaden grau getönte Grünfront der Waldfläche, die sich wie eine undurchdringliche Mauer vor ihm auftat. So hatte er in dieser Einöde schon Stunde um Stunde, Tage um Tage, ja, Woche um Woche auf den anderthalb Quadratmetern verbracht, unweit des Forsthauses am Liebnitzsee und des schweren Eisentores, der Einfahrt aufs Gelände der Waldsiedlung Wandlitz. Vereinzelt hörte er, gedämpft durch den dichten Nadelwald, einen knatternden Trabi auf der Oranienburger Chaussee vorbeiröhren, aber ansonsten drangen in dieser märkischen Abgeschiedenheit kaum irgendwelche Geräusche an sein Ohr. Wachposten in Bonzenhausen, dem bestgesichterten Dorf der DDR. Was für eine dröge, Geist und Seele tötende Tätigkeit, besonders für einen Freigeist wie ihn, den Atze, der schon in der Schule unter Klassenkameraden dafür bekannt war, sich in kurzen Versen über die Lehrer lustig zu machen oder bei den FDJ-Freizeiten auf der Gitarre Lieder am Lagerfeuer anzustimmen. Natürlich musste er schon damals aufpassen, keine „rote Linien“ zu überschreiten, natürlich wusste er, dass er Staat und Staatsgewalt nicht allzu arg verhohnepiepeln durfte, natürlich war ihm klar, dass er nach jedem frechen westlichen Schlager seiner Gitarre ein linientreues „Auf, ihr Kameraden“-Lied entlocken musste. Aber er konnte sich einiges erlauben, war doch sein Vater gelernter Werkzeugmacher und hoch dekorierter, parteiergebener SED-Sekretär und seine Familie in Sachen Staatsräson stets über alle Zweifel erhaben. Daher saß er, wie man ihm zugeflüstert hatte, vor seinem Maschinenbaustudium auch hier und heute im priviligierten Wachbataillon der grenzsichernden Truppen. Als Stubenhocker vertrieb er sich die sich endlos dahinziehenden Stunden und Tage damit, Lieder umzuschreiben oder Songs selbst zu dichten, auch wenn er sie nie mit seiner Gitarre zu Gehör bringen konnte.

Meine Lieder, die sind frei,
im Kopfe geboren.
Sie fliegen vorbei
an tauben Stasi Ohren.

Kein IM wird’s wissen,
kein VoPo sie schießen.
Und so bleibt es dabei:
Damit fühl ich mich frei.

1958 hatte man begonnen, das Projekt „Waldsiedlung Wandlitz“ unter strenger Geheimhaltung auf 160 Hektar der Hinteren Heide zu erbauen. Zunächst wurden Wände, Zäune und Mauern, insgesamt acht Kilometer lang, errichtet, um den Blick aufs eh etwas abgelegene Areal vollends zu versperren. Diese Umgrenzung wurde grün gestrichen, damit die Siedlung noch mehr im Schutze des Waldes versank. Selbst Hänsel und Gretel, in der Hinterheide verlaufen, hätten sie nie gefunden, feixte Atze oft für sich, wenn er mutterseelenallein den Wald um sich herum betrachtete. Wenn’s Wetter gut war, erfreute er sich an der herrlich würzigen Waldluft und kam sich wie in der Sommerfrische vor. Wenn’s aber nass und kalt wurde, war’s arg zugig auf seinem Posten. Dann sah er diesen Dienst am Vaterland nicht als Privileg an. Und doch. Er wollte und konnte sich nicht beklagen, denn seit dem 13. August 61 stand der antifaschistische Schutzwall in Berlin. Und er kannte eine Reihe von Mitschülern, die, kurz nach dem Abitur, dort an der Mauer ihren Dienst antreten mussten. Von einigen wusste er jedoch, dass sie eher „durften“ statt „mussten“ sagen würden. Der Dienst an der Waffe und die Verteidigung des Staatsgebietes der DDR gegenüber den Übergriffen der imperialistischen Westmächte war ihnen so etwas wie eine heilige Pflicht. So gesehen war er froh, dass er, der kleine Atze, hier im Herbst 63 eine ruhige Kugel hinter der Wand der Wandlitzer Waldsiedlung schieben konnte. „Ditt ham wa wieda janz jut hinjekriecht, wa?“ konnt’ sich Andreas schmunzelnd selbst auf die Schulter klopfen.

Dennoch, öd’ war’s auf die Dauer schon, auch wenn die 200 Offiziere und Soldaten des Wachbataillons Zugang zum ‘Ladenkombinat Sonderversorgung’ hatten. Da sah man Sachen in den Regalen, die man für gewöhnlich nur aus dem Westfernsehen kannte. Lecker saftige Südfrüchte wie Ananas, goldgelbe Bananen, dass einem schon beim bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammenlief. Sogar Persil, Jeans und andere Westklamotten waren da zu erwerben, wenn man das nötige Kleingeld in der richtigen Währung hatte. Nun gut, fürs Obst und eine Schweizer Toblerone reichte es gerade, aber ihnen wurde auferlegt, diese Sonderversorgung quasi als „Staatsgeheimnis“ zu betrachten. Die Arbeiter und Bauern jenseits der Wand könnten ja auf dumme Gedanken kommen und glauben, dass die 23 SED-Mitglieder des Politbüros mit ihren Familien wie in der „Farm der Tiere“ womöglich privilegiert wären und solch abstruse Hirngespinste wollte man unbedingt vermeiden. Doch auch in den stillen Stunden hoch über der „Farm“ fielen Andreas dazu stets ein paar gereimte Zeilen ein, die er, wie heute, schnell in sein kleines Poesiealbum schrieb.

Um Wandlitz sind die Mauern hoch,
Dahinter steht der Futtertrog.
Im Arbeiter- und Bauernstaat
gibt’s Grapefruit nur in Volvograd.

Andreas rieb sich vergnügt die Hände auf den Schenkeln. Auch wenn der Reim noch etwas holprig daherkam, passte er doch gut auf die Melodie der langen Hamburger Nächte, die ihm als Zehnjährigen irgendwie ins Ohr gesetzt worden war. Seine Mutter, eine gebürtige Hamburgerin, hatte das Lied oft ein wenig wehmütig gesummt oder gar gesungen. Jetzt hätte er allzu gern zur Gitarre gegriffen und den Saiten einige Akkorde entlockt. Aber in Ermangelung seines Zupfinstruments – das Einzige, was ihm zur Verfügung stand, war seine ungeliebte „Braut“, sein Gewehr – spitzte er die Lippen und pfiff das Lied so vor sich hin, wobei er gleich wieder über sich schmunzeln musste, klang’s doch wie’s Pfeifen im Walde. Er hatte aber Lust und Mut bekommen, sich mit weiteren poetischen Versuchen von seiner langweiligen und eh unsinnigen Wachtätigkeit ablenken zu lassen. Er wollte noch frecher werden, zumal er wusste, dass während der NS-Zeit der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels seinen Wohnsitz in unmittelbarer Nachbarschaft hatte und seine Kinder in Wandlitz zur Schule gegan-gen waren. Hatten sich etwa alle Führungskader hierhin zurückgezogen und hinter Mauern und Zäunen verbarrikadiert, nur dass grad mal zwanzig Jahre dazwischen lagen?

In Wandlitz gibt’s ein Altersheim
umgeben von ‘nem Zaun.
Von draußen kommt man da nicht rein
und drinnen will kein Mensch abhau’n.
Im SEnilen Dorf lebt’s sich halt froh –
Ein Hoch aufs ‘SED-Ghetto’.

Wenn Andreas sich die Schutzanlagen aus der Eichhornperspektive seines Postens ansah, kam unweigerlich das Gefühl auf, er würde Lagerinsassen bewachen. Die Anlage glich einem Ghetto, auch wenn dort drinnen viel fürs angenehme Leben getan wurde. Ein großer Park, eine Schwimmhalle, ein Kino waren die sichtbaren Vorzüge. Die, wie man munkelte, westlichen Wasserhähne und Badeinrichtungen bis zur Kloschüssel waren die unsichtbaren. Das Gewusel von 650 Bediensteten, vom Koch über’n Chauffeur zur Putzfrau, die meisten täglich aus dem zehn Kilometer entfernten Bernau mit dem Bus rangeschafft, waren auch Ausdruck für den nicht zu übersehenden Luxus der Bewohner, der Führer im Arbeiter- und Bauernstaat. Mit an der Spitze der Führungsriege stand Erich Honeker. Dieser bieder wirkende Mann war als Sekre-tär des Nationalen Verteidigungsrates für Sicherheitsfragen zuständig. Und für die ZKler diente der antifaschistische Schutzwall der Sicherheit. Bezeichnenderweise wohnte der Architekt der Mauer im Habichtweg und hatte auch den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze zu ver-treten. Beim makaberen Gedanken an „Wer schießt? Er, ich?“ griff Andreas zum Bleistift und brachte ein paar Zeilen zu Papier. Er nahm sich die Freiheit, seine Meinung lyrisch zu ver-klausulieren.

Bonzen reisten jüngst zu Pfingsten
nach Wandlitz war ihr Ziel.
Ja, die Herrn war’n nicht die Jüngsten,
Ü-80 vom Gefühl.
Ein Boss, der trug als Krone
‘nen Strohhut auf der Birn’.
Doch der Rest war oben ohne,
ihr Stroh war unten drin.
Doch der Rest war oben ohne
das Stroh war in der Birn’.

Zufrieden blickte Andreas auf den schnell heruntergeschriebenen Vers. Er trug so viel Wahres in sich und zugleich schwang ein wenig Heimatgefühl mit. Denn der Berliner Bolle wollte in diesem Gassenhauer ja nach Pankow und im Ortsteil Niederschönhausen war er, der Atze, zu Hause. Dort hatte er seine Wurzeln. Und allein schon beim Gedanken an Pankow fing er an, das Lied zu pfeifen und seinen Bolle, der sich trotz aller Widrigkeiten immer köstlich amüsiert hat, summend hochleben zu lassen. ‚Kopf hoch, lass’ dich nicht unterkriegen, behalte immer den Humor‘, das war Bolles wahrhaft nachahmenswerte Lebenseinstellung. Natürlich kannte Andreas alle sieben Strophen auswendig und freute sich beim Singen und Pfeifen über die Keilerei, in die Bolle verwickelt war, über das zerknickte Nasenbein und die Dresche, die er, schließlich nach Hause gekommen, auch noch von seiner Ollen bezog. Köstlich.

Plötzlich wurde hinter ihm die Tür des Wachraumes aufgerissen. Der scharfe Klang eines heftig aufgesetzten Stiefelabsatzes ließ ihn erschreckt herumfahren und er blickte in die strenge Miene des Vorgesetzten seines Wachkommandos, Leutnant Macke. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern sprang Andreas auf, schlug die Hacken zusammen, nahm Haltung an und brachte die rechte Hand zum Gruß an den Kopf. „Hiermit melde ich, Stabsgefreiter Kranz auf Wachposten 3, keine besonderen Vorkommnisse.“ „Rühren, Stabsgefreiter. Ich hab’ Sie von unten am offenen Fenster singen und pfeifen gehört. Da wollte ich mal nachschauen, was es hier im Wachturm so Lustiges gibt.“ „Nichts, Herr Leutnant, absolut nichts,“ antwortete Andreas beim Versuch, sich vor sein offenes Poesiealbum zu schieben. „Ich habe mir nur erlaubt, meine Gedanken etwas schweifen zu lassen.“ „So, ‘Gedanken schweifen lassen’, nennen Sie Ihr’n Singsang also. Sie werden, das ist Ihnen hoffentlich klar, nicht umsonst wöchentlich unter-wiesen, die vollste Konzentration auf den Wachdienst zu lenken. Der Feind lauert überall. Daher hat unser Arbeiter- und Bauernstaat diese Schutzwälle. Staatszersetzende Kräfte müssen unbedingt daran gehindert werden, unser Territorium zu betreten, und das gilt insbesondere für den sensiblen Bereich der Wohnsiedlung hochrangiger Politfunktionäre. Ist das klar, Stabs-gefreiter Kranz?“ „Jawoll, Herr Leutnant, sehr klar!“ „Kranz, aber was verstecken Sie da eigent-lich hinter Ihrem Rücken. Das ist doch sicher nicht die Dienstvorschriften, was? Zeigen Sie mal her.“ „Herr Leutnant, nichts Besonderes. Nur ‘n paar Gedichte.“ Verstohlen schlug Andreas das Album zu und wollte es in der Schreibtischschublade verschwinden lassen. Doch der Leutnant hatte schon eine Hand ausgestreckt, ergriff es und öffnete es an der eben noch offenen Seite. Er überflog die Zeilen, klappte das Büchlein zu und blickte Andreas mit steinerner Miene an. „Dieser schäbige Gedichtband, wie Sie’s nennen, ist hiermit als Beweismittel konfisziert. Sie meinen also, dass unsere verdiente Staatsführung aus lauter alternden Strohköppen besteht, die ‘s wohl nicht wert wären, bewacht zu werden, was? Mein lieber Kranz, da ham Sie sich ja in was reingeritten. Sie, und nur Sie, sind der Strohkopp! So einen wie Sie können wir hier ganz und gar nicht gebrauchen. Der Staatsapparat wird Ihnen schon zeigen, was eine Harke ist. Studieren wollense? Dass ich nicht lache. Ich nehme Sie wegen staatsgefährdender Schriften und subversiver Haltung im Dienst vorläufig fest.“

Doch Atze fand den Mut, sich aufzurichten, nochmals die Hacken zusammenzuschlagen und seinem Vorgesetzten zu widersprechen. „Aber Herr Leutnant, darf ich Sie untertänigst darauf aufmerksam machen, dass die Verfassung der DDR jedem, auch mir, Meinungsfreiheit gewährt. Nach Artikel 27 wird jedem Bürger der Deutschen Demokratischen Republik das Recht zuge-standen, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Und demzufolge darf niemand benach-teiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. Das gilt auch für Kunstschaffende.“ „Mannomannomann, Kranz, das tritt ja dem Fass endgültig den Boden aus. Sie wollen sich mit Ihren Schmierereien auch noch auf die Kunstfreiheit berufen, was? Sie tragen das Ehrenkleid der NVA und dienen Ihrem Arbeiter-und-Bauern Staat als Soldat und nicht als Schmierfink! Haben Sie das schon vergessen, Stabsgefreiter Kranz? Sie haben sich grad als Teil der sozialistischen Gesellschaft deklassiert. Selbst abgeschossen, sozusagen. Dieser Blattschuss war ein absoluter Querschläger, Kranz! Aber da gibt’s glücklicherweise genug Mittel und Wege, Typen wie Ihnen die bourgeoise Meinung auszutreiben. Das kann ich Ihnen versichern. Warten Sie mal ab: Wir nehmen uns die Freiheit, Ihnen Ihre Gedichte den Arsch hochzuschieben! Aber bis zum Anschlag! Meinungsfreiheit – meine Fresse! Wo kommen wir denn da hin? Und jetzt Abmarsch!“

Das Disziplinarverfahren unter Leitung des Bataillonskommandeurs Oberst Ramke führte – und auch nur, weil Atzes Vater noch Einfluss nehmen und einige mildernde Gründe anführen konnte – zur sofortigen Versetzung zum Grenzsicherungs-Wachbataillon nach Boizenburg/ Elbe. Andreas Kranz’ Fehlverhalten wurde mit einem strengen schriftlichen Tadel gerügt und fand Eingang in die Personalakte. Zudem wurde ihm der Dienstrang des Stabsgefreiten aberkannt und er wurde zum Gefreiten degradiert. Es wurde deutlich gemacht, dass man sehr milde mit ihm verfahren wäre, der nächste Fehltritt ihn aber das Maschinenbaustudium kosten würde. Er könne sich aber im Kreise der Kameraden an der Waffe bewähren. Eine sozialistische Gesinnung zeigen. Und abtreten. Der nächste bitte.

Wenn Andreas, den seine Freunde nur Atze nannten, im September 63 nicht sorglos gepfiffen hätte… Ja, wenn, wenn, wenn… ja, hätte, hätte, Fahrradkette. Dann würde Oliver P., der nur den Zaun zur Freiheit überwinden wollte, heute wohl noch leben. Oliver, den seine Freunde nur Olli nannten, war gerade 20 Jahre alt geworden. Aber Andreas K. hatte Streifendienst. Und er war da. Zum falschen Zeitpunkt. Auf dem Posten, auf der Lauer. Und konnte sich kein weiteres Versagen mehr leisten. Er hatte nicht die Freiheit, sich zu entscheiden. Sein Leben stand auf dem Spiel. Er wollte doch Ingenieur werden. So musste der Atze, verdammt noch mal, schießen.

Commitment schafft Freiheit.

Ein Essay.

von Daniela Caixeta Menezes

Die Bereitschaft zu radikaler Meinungsfreiheit hängt davon ab, wie sehr wir uns selbst zu etwas in unserem Leben verpflichtet fühlen.

Die Freiheit, die eigene Meinung ohne Furcht vor Repressionen kundtun zu können, ist zweifelsohne ein Privileg, das global betrachtet nur den wenigsten Menschen zu Gute kommt. Wer in autoritären Systemen die Stimme erhebt, lebt gefährlich.

Aber auch in Demokratien nimmt die Bereitschaft zu radikaler Meinungsfreiheit ab. Was einst als Grundvoraussetzung für ein streitbares, aber friedliches und partizipatives Miteinander galt, wurde erst als Selbstverständlichkeit verkannt und schließlich immer wieder in Frage gestellt.

Die Ursachen dafür sind vielfältig und werden seit Längerem hinlänglich diskutiert. Insbesondere die – spätestens mit Aufkommen der Sozialen Medien – zunehmende Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft gilt als Wurzel allen Übels: Wo sich Lebenswirklichkeiten fundamental voneinander unterscheiden, spricht Person A Person B das Recht auf ihre – in A’s Augen falsche – Meinung ab.

Doch gibt es meiner Auffassung nach noch einen weiteren Grund dafür, warum ein Mensch einem anderen dieses, für unsere Demokratie so fundamentale Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt: Mangel an commitment.

Commitment, das heißt “Verpflichtung, Einsatz, Engagement”. Im Deutschen klingt es groß, sperrig, etwas angestaubt. Jemand ist einer Sache verpflichtet, setzt sich für etwas ein, ist engagiert.

Im angelsächsischen Kulturraum geht die Bedeutung von commitment darüber hinaus. To be committed to someone or something: sich bekennen, zu etwas oder jemandem. Um bekennen zu können, muss zunächst eine Kenntnis erlangt werden, die dann zu einer bewussten Entscheidung führt.

Unsere moderne Gesellschaft ist nicht nur eine fragmentierte, sondern auch eine in Weiten Teile un-bekennende. Während die Welt um uns herum komplexer wird und sich viele verschiedene Krisen überlagern, zieht sich das Gros der Menschen ins Private zurück.

In der Öffentlichkeit bleiben nur jene, die (sich)bekennen. Es sind Menschen, die angesichts der Komplexität der Herausforderungen nicht resignieren, sondern gerade darin Orientierung finden; die mit sich selbst auf Tuchfühlung gehen und sich schließlich zu einer Sache oder einem Menschen bekennen, sich dadurch verletzlich zeigen und angreifbar machen.

Dieser deliberative Prozess stärkt die Meinungsfreiheit: indem wir uns nach gründlicher Auseinandersetzung mit uns selbst und unseren Überzeugungen jemandem oder etwas widmen, fühlen wir uns weniger von anderen Meinungen – dem Fremden – bedroht. Im Gegenteil: Wir sind in der Lage, konträre Ansichten besser auszuhalten, weil wir unseren Ankerpunkt identifiziert haben.

Zugegebenermaßen: Dieser Logik folgend kann sich jemand freilich auch zum “Falschen” bekennen und dadurch wiederum die Meinungspluralität gefährden.

Damit die liberalen, progressiven Kräfte auf lange Sicht die Oberhand behalten, braucht es deshalb Zukunftsnarrationen, die alle Teile der Gesellschaft einschließen und für jede und jeden Anknüpfungspunkte bieten.

Denn: der Mangel an Meinungsfreiheit bzw. die Obstruktion derselbigen fußt immer auf einer großen – persönlichen wie kollektiven – Orientierungslosigkeit. Wer sich nirgends verorten kann und für nichts brennt, wird leicht zum Mitschwimmer – oder gleich zum Täter, der ohne Überzeugung neidvoll gegen jene wettert, die voller Überzeugungen sind.

Für Außenstehende beinhaltet dieses commitment folglich ein zutiefst polarisierendes Element – und zwar unabhängig davon, ob sich der/die Betrachtende mit den

Zielen und Überzeugungen des sich Bekennenden übereinstimmt. Entscheidend ist vielmehr der Akt des Bekennens an sich, der beim Empfangenden eine Reaktion hervorruft. Denn die Botschaft der Person, die commitment zeigt, fordert zwangsläufig heraus: “Sieh her, ich bekenne mich! Und du?”

Ein Beispiel: Seit einigen Monaten werden in Deutschland wieder hitzige Debatten über den Klimaschutz geführt. Oder besser gesagt: über die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen. Politiker_innen, Jurist_innen und Geschäftstreibende aller Couleur, aber auch Bürger_innen echauffieren sich über die sogenannten Klimakleber, die für ihre Überzeugungen und Forderungen (9-Euro-Ticket und Tempolimit) auf die Straße gehen und damit für Verkehrsbehinderungen sorgen. Umfragen zeigen, dass sie dabei die Mehrheit der Deutschen auf ihrer Seite haben, die wahlweise von der extremen Protestform (oder Akten zivilen Ungehorsams generell) abgeschreckt werden, sich grundsätzlich nicht für Klimaschutzthemen interessieren oder Sorge davor haben, selbst einer Straßenblockade zum Opfer zu fallen.

Entsprechend energisch werden gesellschaftliche Debatten geführt, die interessanterweise überwiegend juristischer Natur sind (ohne dass es dafür allem Anschein nach besonderer juristischer Expertise bedarf) und häufig von eben jenen angefacht werden, die jede Form des Bekennens fürchten.

Unbestritten ist: Diese Debatten müssen geführt und Urteile zeitnah gefällt werden, insbesondere in Fällen, in denen Straftaten verübt worden sind. Der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Von den vier Gewalten (Legislative, Judikative, Exekutive und die Medien) ist die Rechtsprechung für die Meinungsfreiheit womöglich die wichtigste. Sie legt Gesetzgebung aus und schafft Präzedenzfälle, auf die sich folgende Urteile berufen können.

Aber wir müssen auch fragen, inwieweit solche Formen der kollektiven Erzürnung der Meinungsfreiheit nicht auch schaden können. Und dafür müssen wir die Mechanismen verstehen, die dahinter stecken: wann sich Teile der Gesellschaft auf welche Weise und wieso empören – und wie sich das auf die Bereitschaft von Minderheiten auswirkt, die für ihre Überzeugungen einstehen.

Warum haben große Teile der Gesellschaft ein Problem mit zivilem Ungehorsam, wie die jüngste Klimakleber-Debatte gezeigt hat? Weil sie sich davor fürchten, zugeben zu müssen, nicht commited genug zu sein; keine Überzeugungen zu haben, für die sie bereit wären, auf die Straße zu gehen.

Auch diese Debatte müssen wir führen, wertfrei und ergebnisoffen.

Martin und die Apfelkiste

von Marcus Straßer

Nach sieben Jahren kehrt Martin zurück. Sieben Jahre, in denen er nichts über seine Heimat gehört oder gelesen hat, nichts hat hören oder lesen wollen, nur einfach vergessen wollte: Wieder und wieder dieses gleiche Schauspiel der zum Schweigen verdammten, dieser Ort, an dem Menschen mit Angst und mit gesenktem Kopf durch die Straßen schlichen, diese Zeit, in der niemand es wagte, auch nur ein falsches Wort auszusprechen, in jedem Gesicht nur versuchte zu erkennen, ob er verraten wurde oder er verraten würde.

Aber dann war es irgendwann mehr als das. Natürlich war es das. Es ist immer mehr, nicht wahr? Es muss mehr sein, damit es zu viel wird. Es war persönlicher. Viel. Der eine Tag, an dem er seinem Vater nicht in die Augen schauen konnte, weil dieser nicht einmal mehr den Mut aufbrachte, in seinen eigenen Räumen die verdammte Wahrheit auszuflüstern. Das bleiche Gesicht eines alten Mannes, die zitternden Lippen, die unruhigen Augen, die es nicht wagten, Martin anzusehen. Zwei Menschen, die nur mir Furcht und Scham aneinander vorbei starrten.

Damals wusste Martin, dass er gehen müsse.

Also war er gegangen.

Aber nach sieben Jahren ist er zurück. Es spielt keine Rolle warum, denn jetzt ist er ja hier. Hier, in der alten Gasse, die zu Bernds Kneipe führt. Es scheint, als hätte sich nichts verändert. Vielleicht ist es aber auch nur die Erinnerung, die ihm einen Streich spielt. Vielleicht erinnert er sich nur an wenige Dinge, und die sind halt noch immer da: Die alte Litfaßsäule mit den zerrissenen Plakaten, die schiefe Regenrinne am Laden vom geraden Frank und die vom Sonnenlicht ausgebleichten Zeitungen am alten Kiosk an der Ecke. Martin erscheint zunächst alles grau, wie in einem zu langsam laufenden Schwarz-Weiß-Film, aber wenn er genau hinschaut, dann ist es das natürlich nicht. Auch wenn die Menschen Angst haben, bleibt die Welt bunt. Farben kümmern sich nicht um das Leid.

Er überlegt kurz, ob es sich diesen klugen Satz merken solle, den mit dem Leid und den Farben, aber dann schüttelt er nur den Kopf und fährt sich mit der rechten Hand durch das müde Gesicht.

Viel zu viele Gedanken für einen frühen Morgen.

Er ist froh, dass die alte Frau im Kiosk schläft. Er hat bisher mit niemandem gesprochen. Es war wie ein Schalter, der umgelegt wurde, in dem Moment, da er diesen Ort betrat. Die Angst war wieder da. Er hatte sie doch längst vergessen. Das Lauschen. Das Sich-selbst-zuhören, um sicher zu sein, nichts falsches gesagt zu haben. Also sprach er lieber gar nicht. Nicht mehr als nötig. Und auch jetzt will er nicht reden.

Sein Blick fällt auf die Zeitung. Auf die breite, schwarze Überschrift: “Unser glorreicher Präsident weiht unseren großartigen und einzigartigen Staudamm ein – ein Zeichen für den unbändigen Willen und fortschrittlichen Geist unseres geliebten Landes.”

Martin grinst müde, er kennt diese albernen Geschichten, die Lügen, die Worte, die immer gleichen Floskeln.

Daneben hängt ein glänzendes Plakat mit einem alten Mann im weißen Kittel. Da steht etwas in dünnen Buchstaben: „Wir brauchen diesen Staudamm nicht. Unsere geographischen und seismologischen Obduktionen kamen ohne Zweifel zu der Erkenntnis, dass an dieser Stelle ein derartiges Objekt keinesfalls einer sinnvollen Verwendung zugeführt werden kann, es…“

Der Text scheint endlos. Martin versteht kein Wort. Es passt auch irgendwie nicht. Was ist das? Er schüttelt nur den Kopf, schaut sich dann erschrocken um. Hat ihn jemand gesehen? Nein, niemand hier. Die Frau schläft. Oder tut sie nur so? Beobachtet die Menschen, die an der Zeitung vorbeigehen, notiert ihre Reaktionen, ihre zustimmendes Nicken oder das verräterische Kopfschütteln. Nein, nein, sie schläft ganz sicher.

Unten auf dem sonst so leergefegten Boden sieht er jetzt noch einen kleinen, weißen Zettel. Eine schwache Kopie einer handgeschriebenen Botschaft: „Traut denen da oben nicht! Keine Politik! Keine Wissenschaft! Keine Kirche! Nur wir wissen, was gut für uns ist!“

Martin fasst sich unbewusst an die zugekniffenen Augen, als wolle er einen plötzlichen Gedanken vortäuschen. Das passt alles nicht. Irgendetwas passt nicht. Dann dreht er sich um.

Was? Da drüben! Ganz sicher, am anderen Ende der Straße, im Schatten des flachen Schuhgeschäfts.

Der Magistrat.

Er schaut zu Martin hinüber.

Natürlich ist er kein echter Magistrat, Martin weiß nicht einmal, was das genau sein soll, aber früher haben sie ihn so genannt, es war der einzige Begriff, der ihnen einfiel für jemanden, der alles sah, sich an alles erinnerte und alles meldete, alles verriet, jede Geste, jede Bewegung, jedes Wort.

Wie damals bemerkt Martin, wie er verzweifelt versucht, sich an das zu erinnern, was er in den letzten Sekunden getan hat. War er verdächtig? Er tastet unsicher über seinen Anzug, seine Hose. Ist da irgendetwas, das falsch sein könnte? Nein, nein, Unsinn. Als ob ein Kleidungsstück falsch sein könnte. Kann es nicht. Oder? Oder? Aber Martin hat zu lange geschaut, hat er gestarrt? Er wusste, dass der Magistrat es gar nicht mochte, wenn man ihn anstarrte, er sagte einmal, dass Menschen etwas zu verbergen hätte, die starren.

Nur unauffällig. Er greift in seine Innentasche, als würde er etwas suchen. Dann schlendert er zur Bernds Kneipe hinüber. Er weiß gar nicht, ob er dorthin möchte, aber warum nicht? Nur nicht auffallen. Menschen, die nicht wissen, wohin sie möchten, fallen auf. So einfach ist das. Also zur Kneipe. Früher war er dort fast jeden Tag, also kein Problem.

Die schwarze Holztür steht halb offen. Martin tritt hindurch und muss sich kurz an dem Zigarettenautomaten festhalten, der hier am Eingang steht. Er kann nicht glauben, dass sich hier nichts verändert hat.

Die Kneipe ist ein eckiges Quadrat, was immer das auch sein soll, so nannte es Bernd zumindest immer: ‘Mein eckiges Quadrat’. An der Rückseite steht die Theke wie ein Strich vor einer Wand aus Flaschen und Gläsern. Davor exakt drei runde Tische mit jeweils exakt vier runden, furchtbar unbequemen Stühlen. An der Decke hängen gelbe Lampen in grünen Fassungen, deren Licht noch immer auf die verstörend bunten Kopien alter Gemälde fallen. In der Ecke liegen immer noch die Apfelkisten.

Apfelkisten.

Apfelkisten.

“Martin?”

Erst jetzt sieht er Bernd hinter der Theke. Er scheint nun doch tatsächlich sieben Jahre älter zu sein. Das Haar noch weißer, die Falten noch tiefer und das Grinsen noch schräger.

Zum ersten Mal muss Martin lächeln. Er geht hinüber.

Er nickt Bernd zu: “Ja, ich bin zurück. Nur kurz, aber… zurück.”

Es befreit, zu sprechen, wenn auch nur ein paar belanglose Worte. Es fühlt sich an, als hätte er bis jetzt die Luft angehalten.

Greta und Heinz sind auch hier. Auch sie sind älter. Greta scheint jedoch immer noch dasselbe grelle Kleid zu tragen, ein einziger runder, kleiner Farbflecks mit grünen Blumen auf gelbem Grund unter langen, roten Haaren. Heinz hockt am hintersten Ende der Theke. Immer. Auch jetzt. Martin hat nie verstanden, warum er hier ist. Er sitzt in seinem grauen Anzug auf einem der viel zu hohen Barhocker, liest in einem furchtbar dicken Buch und schlürft hin und wieder an einem einzigen Glas Bier. Martin würde es nicht wundern, wenn es immer noch das gleiche Buch ist wie damals vor sieben Jahren.

Beide lächeln Martin flach und unsicher an, als würden sie verzweifelt versuchen, sich an seinen Namen zu erinnern.

“Wer ist das?”

Erst jetzt sieht Martin das kleine Mädchen, das sich hinter Gretas buntem Kleid versteckt.

Greta streicht ihr beiläufig über den Kopf: “Das ist Martin…” Sie kennt seinen Namen also doch noch. “…er war… früher hier.”

“Früher?”

Greta antwortet nicht weiter.

Bernd schlägt plötzlich begeistert auf den Tresen. Der Knall lässt alle zusammenfahren.

“Ganz großartig, dass du wieder hier bist, Martin. Etwas zu trinken?”

Martin stellt sich ein wenig abseits an die Theke. Er nickt freundlich. “Ja, gerne, vielleicht ein Wasser.”

“Ein Wasser?”

“Ja, bitte.”

Bernd kramt eine Flasche hervor, füllt ein hohes, dünnes Glas und reicht es Martin.

“Was bringt dich wieder hierher?”

Martin trinkt und hofft, so der Frage aus dem Weg gehen zu können.

Greta legt den Kopf schief: “Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal hier zu sehen.”

Martin beginnt, sich unwohl zu fühlen. Vielleicht hätte er nicht hierher kommen sollen. Er versucht, das Mädchen anzulächeln: “Wie heißt du?”

Das Kind versteckt sich wieder hinter dem Rock ihrer Mutter und Greta streichelt ihr wieder über den Kopf. “Sie heißt Elli.”

Elli lugt hinter ihrer Mutter hervor.

“Wie alt bist du, Elli?”

Diesmal grinst das Kind: “Schon sieben.”

Greta kneift skeptisch die Augen zusammen: “Sie ist hier aufgewachsen, seit dem du dich aus dem Staub gemacht hast.”

“Ich habe mich nicht aus… ich…”

Martin sollte gehen.

Bernd legt seine dürre Hand auf Gretas Schulter: “Jetzt ist doch alles gut.”

„Ha! Ganz richtig, jetzt bekommen wir sogar einen schicken Staudamm.“ Heinz schaut nicht auf.

Bernd seufzt deutlich: „Was hat das jetzt damit zu tun?“

„Nichts, nichts, du sagtest nur, dass alles gut sei.“

„Jawohl, was wohl sonst? “

Greta schüttelt nachdenklich den Kopf: „Vielleicht ist es auch nur unnütz.“

„Unnütz?“

„Was die Politik sagt, ist alles Unsinn.“

„Unsinn? Welchen Grund gäbe es noch, uns anzulügen!“

„Ja, welchen wohl?“

„So viele Berichte, Artikel, Geschichten in Zeitungen und auf Plakaten.“

„Als ob die es wüssten.“

„So viele Lügen kann es gar nicht geben.“

„Es gibt immer genug Lügen.“

„Das ist doch…“

Etwas zerspringt auf dem Boden.

Elli hat ein Glas umgeworfen. Greta seufzt und Bernd beginnt, die Scherben aufzusammeln.

Greta zuckt nur mit den Schultern und trinkt etwas aus einem breiten Weinglas. Heinz hat wieder begonnen, sein Buch zu lesen.

Bernd lässt die Scherben in einen blauen Eimer fallen, dann stellt er sich wieder hinter die Theke und beugt sich zu Martin hinüber.

„Also, was bringt dich zurück?“

„Dinge.“ Etwas besseres fällt ihm nicht ein. „Es spielt auch keine Rolle. Jetzt bin ich ja hier.“

Bernd grinst breit und Martin sieht, dass ihm noch immer der rechte Schneidezahn fehlt.

„Richtig, jetzt bist du hier.“

Martin zeigt auf die Apfelkisten: “Die Kisten sind immer noch da.”

Bernd lacht laut: “Ja, sicher. Äpfel kommen in Kisten.”

Er greift nach einem nassen Tuch und beginnt, die Theke abzuwischen, obwohl sie bereits vollkommen sauber ist.

Martin trinkt wieder. Dann seufzt er: „Erinnerst du dich an damals? Die Kisten?“

„Ja sicher, du wolltest auf die Kiste steigen. Du sagtest, eines Tages, eines Tages, wenn es zu viel wäre, dann würdest du eine dieser Kisten nehmen, würdest sie einfach umdrehen, würdest dich drauf stellen und endlich alles sagen… einfach alles.“

Jetzt grinst auch Martin: „Ja, genau. Ich wollte von dort oben endlich alles aus mir heraus brüllen. Alles was sich in den vielen Jahren aufgestaut hat, wie in einem verrosteten, verstopfen Kessel.“

„Jawohl!“ Bernd grinst bei dieser Vorstellung wieder sein Lächeln ohne Schneidezahn.

„Aber ich war einfach zu feige.“

„Zu feige? Damals? Nein, nein.“ Bernd betrachtet das Tuch, schüttelt kurz den Kopf und wirft es in den Eimer zu den Scherben.

„Martin. Wenn ich sage, dass alles gut ist, dann ist alles gut. Heute wäre es kein Problem. Also das mit der Meinung sagen.“

Martin ist nicht sicher, ob er ihn verstanden hat. Oder doch? Was war das gerade? Die Sache mit dem Staudamm.

„Kein Problem?“

Bernd nickt und breitet die Arme aus – wie ein Priester: „Martin, es hat sich alles verändert. Wir können sagen, was wir wollen, immer und jederzeit. Eben kein Problem. Hast du es denn nicht gehört? Geh auf die Kiste und schreie heraus, was du willst.“

Martin lächelt und trinkt noch etwas. Er glaubt kein Wort. Oder?

Für einen Moment fragt er sich, ob er deshalb hier ist. Um endlich, endlich auf diese verdammte Kiste zu steigen. Aber das ist natürlich auch Unsinn.

Vermutlich zumindest.

Und eigentlich ist es auch egal, nicht wahr?

Martin rutscht von seinem Hocker und schleicht zu den Apfelkisten. Er greift unsicher die oberste, dreht sie herum und stellt sie auf den glatten Boden. Dann steigt er hinauf.

Er muss kurz die Augen schließen. Nur dreißig Zentimeter höher, aber alles ist kleiner. Die Menschen da unten. Die nach oben schauen. Zu ihm hier hinauf. Die Kiste ist etwas wackelig. Alle schweigen jetzt und warten auf seine Worte.

Was wollte sagen? Ja, richtig. Er hasst den Präsidenten und er hasst die Angst. Er hasst den Präsidenten. Aber vor allem die Angst. Und er hasst den Magistrat. Er hasst sie alle so sehr, weil sie ihm Angst machen. Menschen sollten einander keine Angst machen. Darum hasst er alle, den Präsidenten, den Magistrat. Man sollte sie abschaffen, wegbringen und jeder sollte sagen können, was er will oder sie will, und es sollte sich alles ändern, er wisse zwar nicht wie genau, aber es solle sich ändern, denn alles sei besser als diese Angst, als das Schweigen, als das Herumtasten an der eigenen Jacke, ob nicht etwas falsch sei, deswegen müssen sich alle zusammenschließen, einfach alle, sie müssten sagen, dass sie nicht an das glauben, was der Präsident sage, die Lügen, die Versprechen, dass sie es alle satt hätten, bewacht, beobachtet, kontrolliert und aufgezeichnet zu werden, dass das alles ein Ende haben, dass es egal sein müsse, was ein jeder denkt, fühlt, sagt, ausspricht, redet, schwafelt oder auch laut aus sich heraus brüllt, wenn er auf einer albernen Apfelkiste steht, dass sie ihn auslachen sollten, den da oben auf der Kiste, denn Auslachen ist besser als Angst, alles ist besser als Angst, einfach alles…

Das sollte er sagen, nicht wahr?

Viel ist das nicht.

Eher erbärmlich.

Irgendwie einfallslos.

Aber das will er doch sagen. Soviel ist klar.

Warum sollte er eigentlich?

Nur weil er auf der Kiste steht und die anderen da unten? Reicht so eine Kiste? Muss jemand auf einer Kiste stehen, damit man ihm zuhört? Sollten nicht alle auf einer Kiste stehen? Aber wenn alle auf Kisten stehen, bräuchte man ja keine Kisten mehr.

Kiste.

Kiste.

Noch so ein albernes Wort.

Als Martin die Augen wieder öffnet, sieht er eine Gestalt am anderen Ende der Kneipe.

Natürlich.

Es ist der Magistrat.

Er steht hinten im Schatten, aber Martin erkennt ihn sofort.

Der Magistrat hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schreitet langsam nach vorne.

Martin spürt nur noch sein Herz. Poch. Sein Herz glaubt in diesem Moment Bernd kein Wort mehr. Alles ist gut? Er steigt vorsichtig von der Kiste hinab, als würde er glauben, dass der Magistrat vielleicht gar nicht gesehen hätte, dass er da oben stand.

Darf man auf Apfelkisten stehen? Welchen Grund gibt es für das Stehen auf einer Kiste? Welchen Grund, außer der Welt seine Meinung entgegen zu brüllen?

Der Magistrat aber schüttelt nur kurz den Kopf, dann geht er hinüber zu einem der Tische und setzt sich umständlich. Bernd grinst und zwinkert Martin zu.

Was jetzt? Martin steht immer noch vor der Kiste. Wie ein Idiot.

Greta kämpft mit Elli um einen alten Aschenbecher und Heinz liest in seinem Buch.

Der Magistrat hebt einen Finger: „Ein dunkles. Und…“, er dreht sich um, „Martin… das ist doch dein Name. Setz dich zu mir.“

War das ein Befehl? Muss Martin gehorchen? Könnte er einfach weglaufen?

Er sieht sich, wie er zu dem Tisch hinübergeht und sich dem Magistrat gegenüber setzt. So nah war er ihm noch nie. Der Magistrat ist alt, älter sogar als Bernd. Sein Gesicht sieht aus, als wäre es früher einmal gesund und dick gewesen, jetzt aber ist es nur noch dürr und eingefallen. Die wenigen, grauen Haare sind kurz und nur der dünne Schnurrbart hat noch etwas Würde. Aber die Augen sind müde. Waren sie das schon immer? Vor diesen Augen hatte doch jeder Angst.

Martin spürt Schweiß auf der Stirn. Sein Körper ist ganz sicher noch nicht überzeugt, dass jetzt alles gut ist. Was hat er auch hier verloren? Warum ist er nur zurückgekommen? Er ist ja selbst schuld.

Diese verdammte Apfelkiste.

Der Magistrat sagt nichts, sondern sein Blick hängt an dem hohen Glas mit schwarzem Bier, das Bernd bringt. Er nimmt es ihm direkt aus der Hand und trinkt lang.

Dann zum ersten Mal ein Lächeln auf den blassen Lippen.

Er stellt das Glas zurück auf den Tisch, faltet die Hände und blickt Martin an.

Was?

„Martin, ich bin so froh, dich noch zu treffen. Ich habe dich auf dem Markt gesehen. Ich weiß, dass du lange fort warst, und als ich dich sah, da überkam es mich, da wurde mir klar: Du bist der einzige, der verstehen kann, mit dem ich reden kann, ich muss einfach reden, ich…“

Er schweigt plötzlich und starrt nur auf seine gefalteten Hände.

Martin ist sprachlos. Was soll das? Ist das ein Witz?

„Was haben Sie dir erzählt, Martin?“

„Erzählt?“

„Die Leute hier, Bernd und Gabi und…“

„Greta.“

„Greta, was auch immer. Was haben sie erzählt? Über die Stadt, das Land, was sich verändert hat.“

Martin blickt zu Bernd, Greta und Heinz, als stände er kurz davor, er ein wertvolles Geheimnis zu offenbaren.

„Sie… sie sagten, es wäre jetzt gut. Alles wäre gut, es hätte sich alles geändert.“

„Ha!“ Der Magistrat nimmt noch einen Schluck und faltet die Hände neu.

„Siehst du, Martin, du erinnerst dich noch an früher, nicht wahr, ich habe deine Angst gesehen, so wie früher, daher wollte ich mir dir sprechen, ich wollte mich mit dir erinnern, an die bessere Zeit. Darum bin ich hier.“

„Die bessere…“ Martin spricht nicht weiter.

Der Magistrat seufzt: „Ich hatte gehofft, du würdest verstehen.“

„Verstehen? Die Zeit war nicht gut, sie war nicht besser, sie war voller Angst, wir durften nicht denken, nicht reden, nicht unsere Meinung sagen, wir…“

Hat er das wirklich alles gesagt? Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Jetzt würde der Magistrat grinsen, sich erheben und ihn abführen. So einfach ist das. Alles nur eine alberne, kleine Falle.

Er sieht, wie Bernd umständlich auf die Kiste steigt, sich schwerfällig auf dem rechten Knie abstützt, um nach oben zu klettern. Er grinst breit und hebt die rechte Hand, den Zeigefinger ausgestreckt: “Auch wenn es manch’ Ungläubige nicht wahrhaben wollen, werden wir einen großartigen und einzigartigen Staudamm bauen. Mit fortschrittlichem Willen und unbändigem Geist. Jawohl!”

Er nickt sich selbst begeistert zu.

Der Magistrat schaut Martin nur aus seinen müden Augen an: „Weißt du, was ein Orchester ist?“

„Ein…? Natürlich weiß ich, was ein… was soll das?“

„Die Menschen, dieses Land, Martin, sie sind wie ein Orchester. Oder besser… sie waren wie eines. Wir können die wunderbarste Musik erschaffen, aber wir müssen zusammen spielen und ganz vorne, da muss jemand stehen, da muss ich stehen, der euch sagt, wie ihr spielen sollt. Wenn nur einer sich nicht an die Noten, an die Regeln, die Vorgaben und Gesetze hält, dann zerfällt die gesamte Musik. Dann ist da nur Lärm und Chaos. Eine eigene Meinung hat in einem Orchester nichts verloren.“

Martin versucht einen Gedanken zu fassen und zu begreifen, warum das alles Unsinn sein muss, aber er hat Kopfschmerzen: „Die Menschen sind doch kein Orchester. Wir sind einzelne Wesen. Jeder hat eine Meinung. Jeder sollte sie sagen dürfen!“

„Ha!“ Der Magistrat lacht so laut, dass Elli vor einen kurz Moment erschrocken zu ihnen herüberschaut.

Heinz hat Bernd von der Kiste geschoben und klettert nun selbst hinauf. Er lächelt nicht, sondern schaut ernst von oben in die Runde und hebt ebenfalls beschwörend den rechten Zeigefinger: “Ungläubige? Wir glauben an uns selbst. Nur wir wissen, was gut für uns ist! Wie trauen niemandem da oben! Vergesst die Politik! Vergesst die Wissenschaft! Und die…” Er stutzt kurz, als er nicht weiter weiß.

„Sieh es dir doch an!“ Der Magistrat zeigt mit einer weiten Bewegung durch den ganzen Raum: „Ja, so ist es jetzt. Jeder darf sagen, was er möchte, oder sie möchte, oder es möchte, oder was auch immer. Es stört niemanden. Und dann braucht man auch einen alten Mann wie mich nicht mehr.“

Darum geht es also.

„Sie sind verärgert, weil sie nicht mehr beobachten und verraten können?“

Greta ist erst unsicher, aber als Heinz sich wieder hinter sein Buch verkrochen hat, steigt auch sie hinauf, hebt auch sie den Arm: “Ich glaube, also ich bin der Meinung, dass wir den Staudamm nicht brauchen. Ich glaube, also ich weiß, dass es nicht sinnvoll ist, das kann man beweisen, mit Obduktionen am Objekt und das ist es, was wichtig ist, also das, was man wirklich messen kann.”

Der Magistrat sieht Martin wieder direkt ins Gesicht. Seine Augen sind feucht: „Siehst du es denn nicht? Hörst du es denn nicht? Martin! Du! Bitte! Hör’ die Leute auf deiner Apfelkiste an!“

Er trinkt noch einen letzten Schluck und schiebt das leere Glas dann langsam zur Seite.

„Früher dachten sie, dass jeder Mensch in diesem Land eine Meinung, unsere Meinung haben muss. Wie in einem Orchester.“

Er lächelt kurz und leise.

„…wie in meinem Orchester. Aber dann wurde ihnen klar, dass es viel einfacher geht. Viel, viel einfacher. Damals brauchte es Regeln und Gesetze und Menschen, die diese Regeln und Gesetzte einfordern und überwachen. Alles furchtbar kompliziert. Sie mussten Menschen in Gefängnisse stecken. Alles ein lästiger Aufwand. Aber jetzt?“

Martins Kopf beruhigt sich langsam und er fürchtet, zu verstehen.

Der Magistrat winkt Bernd herbei und zeigt auf sein leeres Bierglas. Dann schaut er wieder zu Martin: „Es ist viel einfacher, wenn jeder Mensch seine Meinung sagen kann, aber niemand eine Meinung hat!“

Er nickt, aber es scheint, als nicke er sich nur selbst zu.

„Es ist so viel einfacher. Und für mich nichts mehr zu tun.“

Er flüstert jetzt fast nur noch.

Martin spürt einen Knoten im Magen und ihm gefällt die Vorstellung nicht, woher der Knoten kommt.

Er sieht, wie die kleine Elli auf die Kiste steigt.

Sie schaut stolz von oben herab und hebt ebenfalls bedeutsam den rechten Arm. Sie öffnet den Mund, um zu sprechen, aber dann hält sie plötzlich inne. Martin sieht, wie sich ihre Stirn in Falten legt. Sie senkt den Arm und kratzt sich nachdenklich an der Nase.

Martin lächelt.

Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.

Dann dreht er sich um und sieht den Magistrat, der auch das Kind beobachtet. Der alte Mann lächelt ebenfalls.

Diabolisch.

„Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.“

Nie wieder Sorgen

von Erik Wunderlich

„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht“, deklamierte Herr Nesselbacher, „werde ich dafür sorgen, dass ihr anständig zu essen bekommt. Ich fordere: zehn Prozent mehr Weizen für alle!“

„Zehn Prozent für alle“, gackerten die Zuhörerinnen, einige von ihnen zustimmend mit den Füßen scharrend. Herr Nesselbacher plusterte sein Brustgefieder noch ein wenig auf, nickte fortgesetzt vom Podest herab in die geröteten Gesichter der Schar.

„Auf den Mist mit dem ewigen Weizen“, krähte Herr Kraienkopp neben ihm und wartete, bis das allgemeine Gackern verebbt war. „Tagein, tagaus der gleiche Fraß! Er macht euch fett und träge und eure Eier minderwertig. Wollt ihr nicht mal etwas Neues, oder besser gesagt: etwas Altes?“

Herr Kraienkopp schickte sich an auf dem Podest hin und her zu stolzieren, um die blau schillernden Federn seiner Flügel und am Schwanz besser zur Geltung zu bringen.

„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht, werde ich dafür sorgen, dass man euch mit der guten Kost unserer Vorfahren füttert: Gras, Insekten, Würmer, Schnecken. Körner aller Art!“

„Schnecken aller Art“, skandierte ungefähr die Hälfte der Hennen am Boden.

„Ich liebe diesen Hahn“, seufzte Frau Becherkamm und musste, offenbar einer Ohnmacht nahe, von einigen Umstehenden gestützt werden.

„Glaubt ihm kein Wort“, rief Frau Haubenstrupp von der anderen Seite des Geheges. „Wie, bitteschön, sollen wir mit unseren Schnäbeln die alte Kost aufpicken? Können Sie mir das erklären?“

Teils beipflichtendes, teils abschätziges Gegacker. Herr Kraienkopp war schon an den vorderen Rand des Podests getreten um zu einer Antwort anzusetzen, als ihm Herr Nesselbacher zuvorkam: „Danke für diesen Beitrag, Verehrteste, Sie haben vollkommen recht! Die Ausführungen meines so hochgeschätzten wie hochbetagten Mitbewerbers zeigen mal wieder, dass er in der Vergangenheit lebt.“

Während des darauffolgenden Gelärmes bedachte Herr Nesselbacher seinen Kontrahenten mit einem langen Seitenblick, auch um den Hennen unten die sieben Zacken seines Kamms zu präsentieren.

„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht“, fuhr er fort, „werde ich dafür sorgen, dass etwas vollkommen Neues eingeführt wird: das Kupierverbot. Nie wieder gestutzte Schnäbel!“

Jetzt wurde es so laut im Gehege, dass kaum einzelne Worte herauszuhören waren. „Nie wieder“, gackerte Frau Haubenstrupp ungläubig vor sich hin, „gestutzte Schnäbel“, und dann so laut, dass sie alle anderen übertönte: „Auf den Mist mit den gestutzten Schnäbeln!“

Herr Nesselbacher nickte selbstzufrieden in die Menge. Herr Kraienkopp dagegen lief wieder auf dem Podest umher, einigermaßen hektisch diesmal und ohne auf seinen Stil zu achten. Mehrmals musste er ein wüstes Krähen von sich geben, bis er sich Gehör verschaffen konnte.

„Ich danke meinem Mitbewerber, der offenbar so enthusiastisch ist wie gelb an den Federn, für seine jugendliche Fantasie. Leider missachtet er die Weisheit unserer Vorfahren: Jedes halbwegs gebildete Huhn weiß, dass ungestutzte Schnäbel zu gegenseitigem Behacken führen, zu schlimmen Verletzungen bis hin zum Tod!“

Dieses letzte Wort Herrn Kraienkopps ließ die vor sich hin gackernde Hennenschar schlagartig verstummen. Aus runden Augen glotzten sie einander an, oder ins Leere. Nur Frau

Becherkamm, die sich inzwischen durch beständiges Flügelfächeln von ihrem Ohnmachtsanfall erholt hatte, ergriff das Wort: „Ich bin zu jung zum Sterben. Ich habe dir noch so viele Eier zu schenken!“

Herr Kraienkopp achtete nicht auf sie, zu sehr war er damit beschäftigt, um Herrn Nesselbacher her zu tänzeln und ihn mit angedeuteten Schnabelhieben zu traktieren, wie um seine Aussage zu untermalen. Der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, abgesehen vom Herausdrehen seines linken Fußes mitsamt mäßig ehrfurchtgebietendem, da halb abgeschliffenem Sporn.

„Das ist mal wieder typisch für die Rückwärtsgewandten“, sagte er mit leiser, fester Stimme. „Wenn ihnen nichts mehr einfällt, machen sie den Hennen Angst.“

Nach einer Pause, in der das Gehege noch immer von betretener Stille erfüllt war, sprach Herr Nesselbacher weiter: „Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht, werde ich dafür sorgen, dass es kein unangebrachtes Hacken mehr gibt. Ich werde dafür sorgen, dass ihr nach draußen könnt, wann und so viel ihr wollt.“

Mit erhobenem Flügel wies er auf das Gitter, dessen Maschen die Welt in winzige Quadrate zerlegte. Tausendfach drang der fahlgraue Schimmer des bald beginnenden Tages ins Gehege. „Wenn die Tür erst einmal offensteht, liebe Mithühner, könnt ihr da draußen herumlaufen und flattern, picken und scharren, wie es euch gefällt!“

Weiterhin herrschte nachdenkliche Stille unter den Hennen, doch das zarte Leuchten, das Herr Nesselbacher in einigen Augen zu erkennen glaubte, belebte seinen Schwung: „Wer will, kann sich dann in die Luft erheben bis auf den Apfelbaum, um darauf zu schlafen wie – unsere Vorfahren. Ist es nicht so, Herr Kraienkopp? Und weiter, über den Gartenzaun hinaus bis ans Meer, bis nach Malaysia!“

Von den eigenen Worten berauscht nickte Herr Nesselbacher vor sich hin, schweigend, um dem Publikum Gelegenheit zu geben, sie zu wiederholen. Während der Eifer seine Kehllappen in tiefstem Rot hatte anschwellen lassen, war ihm die schamhafte Blässe in den Gesichtern der Hennen völlig entgangen.

„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht“, rief er auf der Suche nach einer möglichst griffigen, gut nachgackerbaren Parole, werde ich dafür sorgen, dass ihr – euch nie wieder Sorgen machen müsst. Nie wieder Sorgen!“

Anhaltendes Schweigen in der Schar. Selbst die Schnäbel von Frau Haubenstrupp und Frau Becherkamm, sonst nie um ein vorlautes Gackern verlegen, blieben wie zugeklemmt. Auch Herr Kraienkopp schwieg: Seine Erfahrung lehrte ihn, dass es manchmal das Beste war, einfach den Schnabel zu halten und abzuwarten. So hatte er im ganzen Verlauf der Rede seines jungen Nebenbuhlers still und aufrecht dagestanden und in sich hineingelächelt. Jetzt aber kam wieder Bewegung in sein Gefieder, scharrten die Zehen seiner Füße ungeduldig übers Podest. Als er schließlich den Schnabel öffnete, drang nur ein einziger Laut daraus hervor, dafür umso prägnanter und herrischer: „Gack!“

Ein Zucken ging durch die Menge, wie von einem elektrischen Schlag. „Gack“, machte Frau Haubenstrupp, „gack-ack“, echote Frau Becherkamm mit sich überschlagender Stimme. Eine nach der anderen wurden die Hennen von einem Schütteln erfasst, als wüte unter dem Gehege ein Erdbeben. „Gack-ack-ack, gackack-aaack!“

Nicht davon anstecken ließ sich eine Henne, die schon während des gesamten Geschehens reglos in der Ecke gesessen hatte. Man hätte meinen können, sie habe geschlafen oder vor sich hin geträumt, in Wahrheit aber war ihr kein Wort entgangen, vor allem nichts davon, was zwischen all den Worten lag und womöglich weit größere Wichtigkeit besaß.

Der Name dieser Henne war Frau Bankiva. Sie war alt, so alt, dass sie ihr jährliches Soll von 300 Eiern längst deutlich unterschritt. Der einzige Grund, aus dem sie noch am Leben gelassen wurde, war die Zuneigung des kleinen Bauernsohnes: Als Dreijähriger hatte er sie aus dem Ei schlüpfen sehen, war mit ihr zusammen groß geworden, schaute noch heute jeden Tag bei ihr vorbei.

Frau Bankiva also saß reglos in der Ecke des Geheges, während alle anderen, bis auf Herrn Nesselbacher, aus vollen Kehlen gackerten. Plötzlich erhob sie sich, ging langsam, angesichts des allgemeinen Gelächters unbeachtet, auf das Podest zu. Erst als sie mit einem beherzten Satz nach oben sprang, in die Mitte zwischen die beiden Streithähne, wurde es wieder still, und alle Köpfe drehten sich ihr zu.

„Weshalb lacht ihr“, fragte Frau Bankiva. „Weil eure Nebenhenne lacht?“

Die Hennen unten musterten ihre Flügelspitzen oder ihre Füße, oder warfen einander vorwurfsvolle Blicke zu.

„Findet ihr so lustig, was Herr Nesselbacher gesagt hat?“

Bei der Erwähnung seines Namens zuckte dieser zusammen, wie ein geprügelter Hund in Erwartung des nächsten Tritts.

„Habt ihr euch schon mal gefragt“, sprach Frau Bankiva weiter, „warum euch fast alle Eier genommen werden, sobald sie gelegt sind? Oder, was mit euren männlichen Kindern geschieht?“

Einige Hennen wackelten verständnislos mit den Köpfen, andere ließen noch ein „Gack-aack“ hören, als hätten sie einen besonders gelungenen Scherz vernommen.

„Das ist der Lauf der Dinge“, sagte Frau Becherkamm etwas konsterniert. Frau Haubenstrupp nickte eifrig: „Den Lauf der Dinge kann man ein wenig lenken, aber nicht aufhalten!“

Herr Kraienkopp, der mal wieder in eine zeitweilige Starre verfallen war, begann nun von Neuem über das Podest zu stolzieren, um Frau Bankiva herum.

„Verehrteste“, sprach er sie von der Seite her an, seine überlegene Körpergröße präsentierend. „Kommen Sie lieber schnell zum Punkt, bevor ich Sie eigenschnäbelig hier herunterhacke!“

„Wenn ihr diesen Hahn hier zum Ersten Gockel macht“, sagte sie ruhig, „oder den da drüben oder sonst einen, ändert das nichts daran, dass ihr selbst für euer Wohlergehen sorgen müsst. Wie wäre es zum Beispiel, wenn ihr alle unbefruchteten Eier gleich nach dem Legen zerstören würdet? Dann könntet ihr alles fordern, was ihr wollt. Ihr legt die Eier, ihr habt die Macht!“

Auf diese Worte folgte ein lautes Durcheinandergackern, sodass es schwierig war, einzelne Sätze oder gar Argumente herauszuhören. Offenbar wurden Variationen folgenden Vorwurfs an Frau Bankiva herangetragen: Nur deshalb fordere sie zum Eierstreik auf, weil sie selbst kaum noch in der Lage sei welche zu legen. Am meisten Zuspruch fand letztlich die Aussage Herrn Kraienkopps, jede Henne, die ihre Eier zerstöre, werde früher oder später getötet.

Zwei Nächte später war es dann so weit: Eine Henne nach der anderen verschwand im Verschlag, um ihr Wahlei zu legen. Frau Bankiva hatte sich schon am Nachmittag, beim Besuch des Bauernsohns, sehr unwohl gefühlt, mit Übelkeit und pochenden Schmerzen in der Seite. Jetzt schaffte sie es nur aus letzter Kraft und dank ihrer immensen Willensstärke, ein Ei aus sich herauszupressen.

Am Ende der Nacht lagen vier Eier in Herrn Nesselbachers Ecke, vierzehn in der von Herrn Kraienkopp. Mit gerecktem Kamm schritt er aufs Podest und dann darauf hin und her, hin und her, als wolle er seinen Triumph möglichst lange wortlos auskosten, bevor er sich mit der Antrittsrede seinen Hennen stellen musste.

Frau Bankiva bekam von dieser Rede nichts mit. Sie hatte noch die achtzehn Eier in den Ecken des Verschlags gesehen, und ihr eigenes, etwas kümmerliches in der Mitte. Direkt daneben lag ein nackter, im Mondlicht glänzender Dotter zwischen den Bruchstücken seiner Schale. Das war das letzte, was Frau Bankiva sah, und es ließ sie mit gelöstem Schnabel, mit einem Gefühl von Wärme in der Brust hinwegdämmern.

Schießübung

von Peter Hönig

Der See gibt die Fische und die Gespräche.

Achtzehn.

Passe.

Jetzt schon?

Hab nichts. Scheiß Blatt.

Kalle ist das. Eigentlich Karl-Heinz, aber Kalle, schon seit der Krippe.

Dreißig, der Bernd. Er ist der dritte.

Leo, er denkt sich sein Zeug zusammen, überprüft sein Blatt, den Pik-Buben hat er selbst und ein einziges Herz dazu. Also ohne zweien, au Backe! Und überhaupt, ohne zu reizen, gleich seine Grenze mir zeigen. So’n Schwachsinn.

Spiel man.

Die drei spielen ihren Skat, Nachmittags-Skat, was tun auch, wenn man arbeitslos ist und überhaupt, das schöne Wetter. Bier steht auf dem Tisch. Und der Tisch steht am kleinen See der Gemeinde. Alles ist gut, wenn nicht das Geld wäre. Ewiger Gesprächstoff, das Karussell, das sie alle fahren, jeden Tag, haste ‘n Euro, die Pizza, die sie sich teilen, die Chips oder das Bier. Und wenn sie Glück haben, ‘ne kleine Arbeit, Taschengeldaufbesserung, mehr ist das nicht.

Vor drei Monaten, da haben sie ‘ne Tanke. Na was schon? So schnell mal, die Maske übers Gesicht, das Stückchen Stoff, der eine vor der Kasse, der andere dahinter, dem Kerl das Messer an´Hals, nu mach schon. Die Kasse auf, was denkst du denn, aber dalli! Wir woll’n hier nicht labern oder Kaffee trinken. Der dritte an der Tür, Schmiere, schauen und warnen, den Überblick haben, das hat er gemacht, der Leo.

Überblick ist immer gut, sagt er sich. Und Leo redet viel. Er weiß eigentlich alles. Das zeigt er gern den anderen. Da ist schnell Schweigen angesagt.

Die können eh‘ nicht denken, so ein tolles Blatt, ´n Gran hätt‘ er spielen können, ich fass’ es nicht.

Und in der Kasse? Da war fast nichts drin. Ein Geldbote, vor ‘ner halben Stunde muss er da gewesen sein, hat alles hübsch mitgenommen und auf die Bank gebracht, oh Mann!

Hab’s mir auch nicht ausgedacht, ich nicht.

Aber lass man fünfe gerade sein, Bernd, das nächste Mal, da holen wir uns die dicke Marie. Er grinst siegessicher, er weiß das.

Die dicke Marie!

Und plötzlich hat Leo diese große Armbewegung. Den Wischer, die Karten vom Tisch, die Gläser dazu, dass es klirrt und schwappt. Die beiden anderen sind sprachlos, also hör mal.

Haste nicht alle? Das schöne Bier!

Aber, sagt er nur, der Leo.

Und dann liegt sie auf dem Tisch, der ist jetzt frei von allem Karten-Krams und Bierflaschen und Aschern und Chips, komplett frei, dafür den Boden eingesaut, aber oben, auf der Tischplatte liegt sie, eine Walther, eine echte Nullacht.

Manno!

Bernd ist sprachlos. Nur dieses Wort hat er rausgebracht.

Leo grinst.

Da schauste, was? Hab sie auf dem Dachboden gefunden, drüben beim Olli. Sein Alter, vom Krieg noch, hat sie da wohl versteckt. War wie ein Wink vom lieben Gott, den gibt‘s also manchmal auch. Hab’s gern angenommen. Da!

Er greift in die Hosentasche, holt die Faust heraus, geballt wie beim Jahrmarkt, wenn sie den Lukas hauen. Aber den haut heute keiner, auch er nicht und schon gar nicht hier, dafür öffnet er sie, seine große Faust, wie eine Freude. Über der Pistole macht er das und lässt es gelb und kalt herauspurzeln. Munition, mit schönem metallenem Geklirr und Geklapper! Munition und das und die ohne Ende. Er greift in die Hosentasche, hat noch mehr davon.

Die beiden anderen sind immer noch sprachlos. Die Münder weit auf. Hallo, der Leo.

Bernd hat zwar außer seinem Manno noch ein Uiii herausbekommen, so einen heftigen Sprachgesang, eine Art Hohelied auf alle Zauberei, denn normal ist das nicht. Und Kalle? Der schweigt und starrt auf das schwarze Stück Metall. Dann langt zögernd auf den Tisch, schiebt mit seinen dicken Fingern langsam die Munition beiseite und berührt vorsichtig die Pistole.

Schwarz ist sie und etwas ölig. Echt geil.

Na, nu fass mal an. Los, nimm sie doch richtig.

Leo ermuntert den Freund.

Keine Bange, die ballert nicht von alleine los, ist gesichert. Und nicht mal geladen. Ich bin doch nicht wahnsinnig. Du kennst mich doch.

Er fasst den Freund an der Schulter, als müsste er ihm dafür eine Stütze sein.

Da nimmt Kalle sie wirklich in die Hand, ganz vorsichtig, als könnte er sie mit seinen dicken Fingern zerquetschen, so wie wenn man Weißbrot anfasst, das gerade aus dem Ofen kommt.

Kalle macht also weiter.

Ehrfurcht, Schweigen. ’ne echte Nullacht.

Er hält sie in der Hand, hebt sie hoch, zielt auf die Lampe.

Ist absolut gesichert? Er fragt das noch mal. Der Leo, manchmal, da weiß man nicht bei dem.

Absolut. Und nicht geladen. Er nickt dazu.

Kalle zielt wieder, macht puuuu, ganz laut und sicher puuuu und drückt ab. Nichts ist.

Musst es richtig machen, sagt der Leo ihm. Entsichern.

Er zeigt es ihm, sichert dann wieder, nun du.

Kalle macht, genauso wie es der Leo ihm vorgemacht hat. Den kleinen Hebel herum. Dann zielt er wieder, langsam und sicher, denkt sich die Baumspitze dort drüben als Ziel und zieht den Abzug durch, dass es klick macht, wenn Metall auf Metall schlägt, der Bolzen, ein Geräusch, das wie ein Signal wirkt und echt begeistert. Man könnte frieren.

Hört nur, wie echte Musik!

Oh, was ein Ding!

Leo nimmt ihm die Waffe aus der Hand, grinst.

Unsere dicke Marie ist das, sagt er und kein Küchenmesser mehr, ‘ne echte Wumme! Von wegen noch reden. Die Hosen wird er vollhaben der Tankwart, beim nächsten Mal, wenn er die sieht und wir, wie’n Wind dann raus und weg! Und die Taschen voll mit dem schönen Geld!

Er schaut den Bernd dabei an, als würden sie gerade ´ne Bank stürmen, oder die Tankstelle schon wieder. Unsere dicke Marie. Er wiegt die Waffe schwer in der Hand und lächelt.

Heute abend, um sechs im Steinbruch, da ballern wir.

Er grinst noch immer.

Dann steckt er die Pistole wieder in den öligen Leinenbeutel, in dem sie gewesen war und sammelt die Munition ein.

Kartenspielen ist jetzt nicht mehr. Mann, schießen, richtig, mit scharfer Munition. Kalle hält die Luft an. Sechse, denkt er, das wird ein Spaß! Er hat schon ganz heiße Backen. Nur Bernd, dem ist das ein wenig viel, aber mitmachen will er schon. Sind doch Freunde.

Dann treffen sie sich. Ein jeder mit anderer Erwartung. Kalle, der ist nur scharf aufs Echte. Ballern will er, mit ´ner richtigen Knarre. Was für Männer ist das. Der Rückstoß, soll ´nem Schwächling glatt den Arm auskugeln, hat er gehört. Aber er nicht, nicht bei ihm. Macht deshalb gleichmal fünfzehn Liegestütze, für alle Fälle. Bernd ist vorsichtiger, wie beim Kartenspielen. Er wartetab, sagt alles, macht alles und wenn es nichts zu tun gibt, als zu kommen und zu warten, wie heute, da macht er auch das. Und Leo? Der beobachtet sie, weiß, dass die beiden nicht von der besonderen Klasse sind, von wegen starke Gespräche führen. Das macht er lieber selber und gleich für sie mit. Über was können die schon quatschen?

Nee mein Lieber, das Sprechen, das machen die Fische am besten, sagt Leo gern, denn, wer hat schon Fische sprechen hören?

Da lässt sich also Vieles drüber sagen.

Recht hast du immer. Handeln musste aber auch, sagt er, tun, was andere nicht machen, weil sie nur quatschen, so sagt er. Überlegen ist schon, und reden auch. Aber das allein reicht nicht. Davon wird keine Kasse voll, das bezahlt kein Bier. Also überlegen und tun, was du dir zurechtgelegt hast. Gehört einfach zusammen. Und wenn man das noch verteilen kann, denken und handeln, schön aufteilen, dann geht’s noch schneller und besser.

Das leuchtet Kalle und Bernd auch ein, wenn jeder seinen Teil macht. Weil der Leo doch so gut denken kann. Ist doch Vertrauenssache, oder nicht?

Alles klar, sagen sie und machen und denken an die dicke Marie. Geld bis zum Abwinken. Und jetzt mit ´ner richtigen Knarre, Mann!

Kalle kommt mit dem Rad, er wohnt auch nicht weit weg. Auch Bernd kommt mit dem Rad.

Sprit sparen, sagt er und Leo, der kommt erst mal gar nicht. Die beiden sind im Steinbruch, sind dort schon lange vor der Zeit, weil das ja so irre ist und warten sehnsüchtig auf die sechse hin. Aber Leo ist auch um halbsieben noch nicht da.

Ob er Muffe hat?

Bernd schielt zu Kalle.

Nee, mein Lieber, Leo und Muffe? Da muss was passiert sein. Leo hat keine Muffe. Denk doch nur, was der alles im Kopf haben muss, bis das durchdacht ist. Da ist was passiert, sag ich dir. Hat er die Knarre oder nicht? Hat er, na siehste. Also schön warten.

Sie sitzen weiter auf dem großen Stein und schauen auf die Zeiger ihrer Uhren und die Fliegen und die Käfer, die im Moment ihre Schuhe erobern.

Dann, als Bernd gerade sagen will, dass es ihm jetzt reicht und er gehen will, hören sie das Auto.

Endlich. Wird auch Zeit.

Mal sehen, was er sagt.

Aber als Leo dann wirklich kommt, sagt er nichts, knurrt nur irgendetwas, lässt den Bernd nicht zu Wort kommen, winkt den beiden zu, sich zu beeilen.

Da hinten, sagt er nur und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf eine Ecke des Steinbruchs, in dem die Felsen steil nach oben ragen.

Endlich.

Die beiden haben das Warten schon wieder vergessen, die Verspätung, die sich der Leo erlaubt hat. Er aber nicht. Hat sie gut einkalkuliert. Er grinst.

Die fressen mir noch aus der Hand.

Dann wird es ernst.

Sie hocken am Boden, die Waffe in ihrer Mitte, die Munition dazu, alles ausgebreitet auf dem Tuch, in dem es eingewickelt war.

Leo nimmt die Pistole hoch, erklärt, nimmt das Magazin heraus, lädt es, demonstriert alles, entlädt und macht alles gleich noch einmal, redet und erklärt, alles mit wichtiger Stimme.

Dann drückt er die Patronen wieder aus ihrer Halterung, bis das Magazin leer ist.

Du bist dran.

So üben sie, laden und entladen und auch Zielen und Abdrücken, das noch ohne Munition. Das Klick des aufschlagenden Bolzens ist der Anfang für den Nächsten.

Nun mach schon, du bist dran.

Wieder sitzen sie am Boden, merken, wie sich der Knoten schnürt und spannt, wie sie dem Zielpunkt immer näherkommen, ihrem ersten Schuss.

Jetzt.

Leo sagt es, steht auf und geht zum Auto zurück. Einen Blecheimer holt er. Den stellt er auf einen großen Stein, direkt vor der Felswand. Dann geht er vom Eimer auf sie zu, geht an ihnen vorbei und zählt.

Zehn, sagt er und bleibt stehen. Zehn große Schritte hat er gemacht der Leo, das wird schon richtig sein, denkt der Kalle und Bernd denkt gar nicht, er fügt sich nur.

Leo winkt die beiden zu sich heran.

Von hier, sagt er, dann nimmt er die Waffe, füllt das Magazin, schiebt es in den Magazinkanal und entsichert. Er steht da, wie vielleicht einmal Ollis Vater, der ja bei der Waffen SS. Breitbeinig steht er und sicher. So hebt er die Waffe und dann lässt er sie langsam sinken, hält die Luft dabei an und zielt über Kimme und Korn. Drückt ab.

Der Rückschlag reißt ihm den Arm leicht hoch, der Knall ist trocken und laut, für die drei dort wirkt er wie ein Donner. Mann!

Der Eimer taumelt, dreht sich und fällt! Getroffen!

Kalle ist begeistert und schreit wie blöd.

He, das Ding ist drin!

Er rennt zum Eimer und bringt ihn im Laufschritt her. Noch im Laufen untersucht er ihn, findet die Delle an der Seite.

Streifschuss, sagt er, schreit er. Irre!

Jetzt bist du dran.

Leo hat es gesagt, schaut ihn an dabei, sichert die Pistole und gibt sie Kalle. Schaut sich auch den Eimer noch mal an. Ist weniger zufrieden, na ja, getroffen immerhin. Zehn Meter, so ein kleiner Eimer, schlecht ist das nicht. Getroffen ist getroffen.

Haste alles gesehen?

Leo fragt ihn.

Klaro, von oben, langsam runter, Kimme und Korn, null die Luft und dann los, peng! Kalle grinst.

Na, dann mach man.

Kalle nimmt jetzt die Pistole schon sicher in die Hand, war gut, dass sie vorhin diese Übung gemacht haben, die beiden anderen beobachten ihn.

Dann steht er da, hat alles dem Leo abgeschaut, breitbeinig, entsichert die Waffe, Luft holt er, tief Luft und hebt dabei den rechten Arm, gestützt und umklammert vom linken, lässt ihn sinken, langsam, wie nasses Holz, das nicht schwimmen will und nicht kann und deshalb untergeht, genauso bedächtig, zielt er und lässt die Luft dabei laut heraus.

Pfffft macht er und drückt ab. Der Rückschlag schlägt auch ihm den Arm etwas hoch, noch weniger als beim Leo. Der Eimer taumelt nicht, er ist weg! Kalle brüllt, drückt Leo die Pistole in die Hand und rennt zur Felswand. Der Eimer liegt etwas von seinem Stein entfernt direkt vor den Felsen und ist eingedrückt. Und dort, wo er ein wenig flach ist, hat er ein kleines rundes Loch. Links unten, kurz vorm Rand. Vorn und hinten.

Atemlos und glücklich kommt er bei den beiden an.

Getroffen schreit er, schon von weitem, getroffen!

Und reißt dabei den Eimer hoch, um seinen Sieg nochmals zu verkünden und zu bestätigen. Immerhin war sein Schuss besser als Leos. Die beiden empfangen ihn gebührend, klopfen ihm auf die Schulter.

Mann, was ein Schuss! Durch den Eimer durch! Echt gut.

Bernd ist dran. Macht alles nach, äugt nach links, schielt nach rechts, alles richtig? Schaut zum Eimer und drückt ab. Der Rückstoß reißt ihm die Waffe fast aus der Hand, der Knall ist noch zu hören, die beiden sehen Bernd an, besonders Kalle, da fällt er um. Knickt wie ein Streichholz ein und liegt flach.

Die beiden stehen wie erstarrt.

He, was’n los, Kalle! Mensch, sag doch was!

Sie sagen es, sie flehen es, schreien. Liegen mit ihren Augen, ihren Köpfen über ihm. Die Angst macht sie laut, Mensch Kalle!

Aber Kalle sagt nichts, stöhnt nicht mal, liegt am Boden, so merkwürdig verdreht, zumindest das Bein und die Augen. Und er sagt immer noch nichts. Bernd kniet schon neben ihm, rüttelt und schüttelt ihn, da sieht er das Blut. Ach du Scheiße, das Bein!

In dem Moment kommt Kalle wieder zu sich, schreit und schreit.

Wo ist Leo?

Ja, wo ist Leo. Der hatte gesehen und erkannt und gehandelt.

So schnell war er selten wie fast nie im Leben gewesen.

Was für ein Esel ist er doch! Stellt die beiden immer als blöd hin und nun das. Er, er hat es vermasselt, er war und ist der Blöde.

Ein Querschläger, von der Steinwand abgeprallt und nicht irgendwohin, nein, der suchte sich sein Ziel. Kalles Bein. So schlimm das ist, was wäre wenn? Dieses purzelnde, sich überschlagene Stück Metall, und das in den Bauch von einem von uns, da ist Feierabend, meine Herren, absolut nichts mehr zu machen. Und er selbst hatte es doch vorgeschlagen.

Steinbruch, hatte er gesagt, und da hinten, auch das, direkt vor der Wand, schön nah dran. Wo die Dinger nur so rumschwirren. Mein Gott, was ein Irrsinn! Wo er doch immer alles weiß und so sicher ist. Was’n Scheiß!

Von wegen dicke Marie, von wegen die Taschen voll Geld. Ein Hornochse ist er, aber ein dreimaldurchgeknallter. Was kann er dem Krankenhaus nur sagen. Schießübungen? Da steht die Polizei gleich bei Fuß. Kein Waffenschein, fahrlässige Körperverletzung, unberechtigter Besitz von, ja überhaupt, woher denn die Knarre ist, und die Kosten dann!

Sehr geehrter Herr Kippun, weil er doch so heißt, die Kosten übernimmt keine Krankenkasse, weil es sich um eine Straftat doch handelt und weil Körperverletzung, da ermittelt schon die Staatsanwaltschaft. Die Kosten, die werden Ihnen in Rechnung gestellt. Ach du grüne Scheiße.

So oder ähnlich denkt er, der Leo und rennt. Zum Auto rennt er, den Erste-Hilfe-Kasten will er holen und während er rennt, bittet er den lieben Gott und das ist nicht oft in seinem Leben, wo er doch Atheist ist, aber er bittet ihn wirklich, glatter Durchschuss, bittet er noch, weil der schnell verheilt und wenig Schaden anrichtet, und nicht so viel erzählt, wie wenn sie die Kugel da rausholen müssen. Das bisschen Fleisch, na ja. Wenn nur das Knie, bitte das Knie nicht, lieber Gott, aber da ist er schon zurück. Er kniet sich hin und öffnet den Kasten, mit schnellen, geschickten Händen, als würde er eine Waffe zerlegen, öffnet das Kästchen und holt die Schere heraus, die große, abgewinkelte Stoffschere. Dieses heftige Ding nimmt er zur Hand und dann schneidet er sich durch das Hosenbein vom Kalle. Aber wendet sich ihm gleichzeitig zu.

Mann Kalle, ist gar nicht so schlimm, verspricht er, obwohl er noch gar nicht weiß.

Und dann lächelt er sogar. Aber der Kalle weiß ja gar nicht, warum das der Leo macht, mit diesem schönen Lächeln, denn dass es die beiden nur beruhigen soll, obwohl er selbst ganz verunsichert ist, das wissen die gar nicht, die kriegen nur das Gefühl, so schlimm ist doch alles nicht, kann nicht sein. Nein wirklich, so schlimm nicht.

Und während er lächelt und während er mit dem Kalle was quatscht, ihm diesen blöden Witz mit der Heuschrecke erzählt und dann sogar der Bernd lacht, währenddessen hat er die ose von dem kaputten Bein aufgeschnitten. Da hat er es gleich gesehen. Das Knie ist es nicht! Es gibt noch eine Gerechtigkeit, der liebe Gott, ach Quatsch, der. Jedenfalls glatt durch, nichts Ernstes, vorn rein und an der Seite raus, etwas Blutverlust, die große Arterie, die dort ist, auch unverletzt, was ein Bammel. So’n Glück. Kalle, so’n Glück!

Da redet er sich frei und glücklich, wo er schon sich hinter Gittern gesehen hat, den ganzen kleinen Weg bis zum Auto, er im Knast. Redet, als würde das Bein ein wenig davon heilen. Und verbindet ihn. Druckverband, dass die rote Brühe nicht noch mehr raus will.

Den Kalle bringen sie so zum Auto, mit dem gesunden Bein kann er ja auftreten. Der stöhnt nur, aber es geht schon.

Dann muss der Bernd die Räder heimbringen und die Klappe halten.

Kein Wort, nirgends und zu niemandem, hat ihm der Leo gesagt und zum Kalle sagt er nur, Mann, was musste auch klettern, immer die Berge rauf, sogar die Felsen und dann mit Sandalen, auch hier im Steinbruch. Bist einfach’n Ochse. Da musste es doch passieren. Abgerutscht biste, hörst du, abgerutscht und runtergeknallt. Ich hab dich gefunden, was ein Glück für dich, ja dort bei dem Stein und das Holz, so’n Ast, ist glatt durch. Rein ins Fleisch und raus an der anderen Seite. Zeugen? Kenn ich nicht.

Haste gehört, Kalle? Alles Klar?

Er holt tief Luft und schaut dem bleichen Kalle fest ins Gesicht.

Kalle sagt nichts. Nickt nur. Na klar, wie blöd auch von ihm, klettern und hier und nur mit Sandalen. Was ihm da bloß eingefallen ist.

Ach du lieber Augustin singt der Bernd, das schöne Geld, die dicke Marie, die ist erst mal weit weg. Aber der Leo denkt nur, der Knast auch.

Dann doch lieber die Karten und nur der See. Und die dicke Marie? Na ja, es geht auch ohne. Hauptsache der Kalle, dass der wieder laufen kann.

Und die Knarre?

An die will er gar nicht erst denken. So’n Scheiß. Sicher nicht noch’n mal. Und das mit dem vielen Gequatsche ist auch vorbei.

Maul halten. Lass die andern auch reden.

Nieder mit Hans-Rüdiger!

von Maike Suter

Hannah konnte den Geduldsfaden in ihrem Körper spüren. Das hatte sie immer schon gekonnt. Er befand sich direkt über dem Zwerchfell. Sie konnte auch jederzeit genau benennen, wie straff er gerade gespannt war, und zwar anhand einer Skala aus Tönen: Sie stellte sich vor, wie es klingen würde, mit dem Finger an dem Faden zu zupfen. Wie an einer Saite: Ping! Im Moment war es ein dreigestrichenes E, aber die Spannung stieg. Bald schon würde es ein F sein.

Ihr Schüler Niklas starrte angestrengt in das Notenbuch. Dann auf die Tastatur des Klaviers. Suchte, fand – und hämmerte entschlossen mit seinem kleinen Zeigefinger auf die G-Taste.

Hannah zuckte zusammen. Nicht schon wieder. Er musste es doch irgendwann begreifen.

„Na so was“, sagte sie in bemüht fröhlichem Ton. „Da ist er ja wieder, unser Freund. Erinnerst du dich? Den hatten wir vorhin doch schon einmal.“ Von wegen einmal. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft sie diesen Fehler jetzt schon gehört hatte. „Schau noch mal genau hin. Welcher Ton ist das?“ Sie deutete auf das H im ersten Takt.

„Ein G!“ Selbstbewusst war er ja, der Kleine.

Sie seufzte. „Überleg noch mal. Auf der dritten Linie. Siehst du? Eins, zwei, drei. Die dritte Notenlinie. Das ist doch kein G. Sondern …“

„Doch, ist ein G.“ Er nickte bekräftigend und streckte schon wieder den Finger nach der Taste aus.

„Warte, ich spiele es dir noch mal vor.“ Sie begann, mit ihrer linken Hand die Melodie des Kinderlieds zu spielen und sang leise mit. „Hans-Rüdiger, der Hamster …“

Niklas blickte sie verständnislos an.

„Siehst du, bei ‚Hans‘ – und da, bei ‚Hamster‘, das ist derselbe Ton“, versuchte sie es weiter. „Auf der dritten …“

Er schob die Unterlippe vor und machte ein finsteres Gesicht.

„Schau mal, du willst das doch lernen“, erklärte sie. „Deshalb bist du ja hier. Es ist gar nicht schlimm, wenn du mit dem Notenlesen nicht so sicher bist. Dann üben wir das einfach noch ein bisschen. So macht man das in einer Musikschule. Und jetzt sag mal ‚Hans‘. Oder ‚Hamster‘. Dann fällt dir bestimmt ein, wie die Note heißt. Hör mal: ‚Haans …‘“

„Ist mir egal“, verkündete er. „Ich finde, das ist ein G.“

Ping! Da war es, das dreigestrichene F. „Ich aber nicht. Und ich bin die Lehrerin. Also: Auf der dritten Linie steht das H. Verstehst du?“

Wortlos rutschte er von der Klavierbank und trottete in Richtung Tür.

„Halt! Niklas! Wo willst du denn hin?“

„Zu meiner Mama. Hier ist es doof.“ Schon riss er die Tür auf und verschwand nach draußen.

Vom Flur drangen Stimmen zu ihr herein. Zuerst die von Niklas, dann eine Frauenstimme. Seine Mutter. Hannah verstand die Worte nicht, aber der Tonfall genügte. Hoffentlich gab das nicht noch ein Nachspiel! Als sie sich die pochenden Schläfen massierte, fiel ihr Blick auf das achtlos zurückgelassene Notenbuch, aus dem sie das Bild eines dicken Hamsters angrinste.

Lange ließ der Ärger nicht auf sich warten. Schon am nächsten Morgen klingelte ihr Telefon. Es war die Musikschulleiterin. „Mensch, Hannah, was war denn da los? Eben hat die Mutter von deinem

Schüler Niklas angerufen und sich über dich beschwert. Die war richtig sauer. Angeblich ist das Kind völlig verstört.“

Hannah verdrehte die Augen. „Wir haben ‚Hans-Rüdiger, der Hamster‘ gespielt, und ich habe ihm erklärt, welche Noten …“

„Die Mutter meinte, du seist übergriffig geworden.“

„Wie bitte?“

„Na ja, nicht körperlich, aber sie hat gesagt, du hättest ihm deine Sichtweise aufgezwungen und ihm überhaupt keinen Raum gelassen, seine eigenen musikalischen Erfahrungen zu machen.“

„Das ist doch Blödsinn. Ich habe einen Fehler korrigiert, dabei ging es nicht um ‚meine Sichtweise‘. Ein falscher Ton ist nun mal ein falscher Ton!“

„So was Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Aber du musst die Wogen jetzt irgendwie glätten. Sie ist unsere Kundin. Und sie besteht darauf, dass du dich bei dem Kind entschuldigst.“

„Ich soll was?“

„Ihm das Recht zugestehen, seine eigene Vision zu entwickeln. Das waren ihre Worte. Seine Meinung respektieren.“

„Wie soll das denn gehen? Ihn spielen lassen, was immer er will? Egal, wie falsch es ist?“

„Hannah, ich war nicht dabei. Ich bin ja auf deiner Seite. Aber versuch bitte, einen Kompromiss zu finden. Vielleicht könntest du nächste Woche mit ihm einfach mal ein bisschen improvisieren? Lass doch die Noten erst mal raus. Und dann, in ein paar Wochen, schwenkst du vorsichtig wieder auf deine Linie um. Ich bin sicher, du kriegst das hin.“

„Ich denk drüber nach.“ Hannah stöhnte leise. Eines stand fest, sie würde sich auf keinen Fall entschuldigen. Hans-Rüdiger war immer noch ein Hamster und kein Gamster.

Eine Woche später starrte sie ungläubig auf die Tageszeitung, die neben ihrem Frühstücksbrett lag. Sie ließ ihr Brötchen sinken und las: „Unhaltbare Zustände an der städtischen Musikschule. Eltern berichten von überholten Methoden und fragwürdigen Unterdrückungspraktiken im Instrumentalunterricht.“ Dann folgte ein langer Artikel. Natürlich kam Niklas‘ Mutter ausgiebig zu Wort. „Es kann nicht sein, dass unseren Kindern die Chance genommen wird, sich künstlerisch zu entfalten“, wurde sie zitiert. Und: „Gerade ein Medium wie die Musik, das im Kern so subjektiv und individuell ist, muss doch frei erlebt werden können. Mit welchem Recht nimmt eine Lehrkraft sich heraus, ihre Meinung als allgemeingültig hinzustellen und den Schülern zu verbieten, sich musikalisch so auszudrücken, wie es ihnen entspricht? Ist es nicht mehr erwünscht, dass Kinder eigene Vorstellungen äußern?“

In den folgenden Wochen überschlugen sich die Ereignisse. Am erstaunlichsten, fand Hannah, war das Tempo, in dem sie geschahen. Es war, als würde alles im Zeitraffer ablaufen: Die Musikschule schrieb eine Gegendarstellung, mehrere Eltern schickten Leserbriefe, die Stadtverwaltung forderte Lösungsvorschläge von der Schulleitung, die wiederum beteuerte, ihre Lehrer in Zukunft noch besser durch Fortbildungen über moderne Lehrmethoden für die Erfordernisse der Zeit rüsten zu wollen. Der Landesverband thüringischer Musikschulen spürte irgendwo einen Dozenten auf, der ein neues pädagogisches Konzept namens „Musikunterricht mit Respekt vor kreativen Spielräumen“ – kurz: „MuRkS“ – entwickelt hatte. Er wurde für mehrere Wochenenden engagiert, um das Kollegium der Musikschule anzuleiten.

Der MuRkS-Dozent war ein schmächtiger Mittfünfziger mit einem grauen Pferdeschwanz und einer leisen, singenden Stimme. „Unser wichtigster Grundsatz ist: Jeder Ton verdient Respekt!“ Seine Augen leuchteten. „Es bedeutet, dass unsere musikalische Vorstellung nicht besser oder richtiger ist als die unserer Schüler. Was meine ich mit ‚Vorstellung‘? Alles! Alles, was Sie zu wissen glauben: Die Noten, die Sie da lesen können in Ihren Büchlein – sie haben keine Bedeutung für Ihre Schüler. Warum soll es wichtig sein, wie die Töne heißen? Und Rhythmusnotation – ein abstraktes Konstrukt, das niemandem hilft! Lassen Sie Ihre Schüler noch den Takt zählen? Ernsthaft? Wie kann man Musik abzählen? Wer von Ihnen verwendet ein Metronom im Unterricht?“ Er verzog angewidert das Gesicht, als einige Kollegen sich verschämt meldeten. „Derlei Disziplinierungswerkzeuge haben in einem modernen künstlerischen Unterricht nichts zu suchen.“

Dann erläuterte er sein Konzept. Im Wesentlichen bestand es darin, den Kindern ihre Freiheit zu lassen. Instrumentalunterricht sollte hauptsächlich aus Improvisation bestehen, wobei es wichtig war, dabei keine Skalen oder Akkorde zu verwenden. Diese sollten höchstens als Zufallsprodukte vorkommen. Auf keinen Fall aber sollten sie von den Schülern vorher erlernt und gezielt eingesetzt werden. Das würde die Freiheit einschränken, und die war schließlich das Wichtigste. Wenn ein Schüler Lieder oder Stücke spielen wollte – zwingen durfte man ihn dazu selbstverständlich nicht –, dann geschah das am besten weitgehend ohne Noten. Viel besser war es, ihn nach Gehör und Gefühl spielen zu lassen. Natürlich entstanden dabei immer neue, herrlich individuelle Versionen der Stücke, befreit von jeglichen Schablonen. Keinesfalls sollte ein Lehrer auf rhythmischer Genauigkeit bestehen. Die Kinder hatten ihr eigenes Gespür dafür, wie lang die Töne für sie eben zu sein hatten – auch darin äußerte sich ihre Individualität. Da schließlich jedes Kind einzigartig war, musste es auch der rhythmische Ausdruck sein.

„Ein Musikstück hat keinen eigenen Rhythmus!“, rief er aus. „Das Kind aber hat einen! Und der muss ausgelebt werden!“

Einer von Hannahs Kollegen hob zögernd die Hand. „Aber wenn dann immer neue Fassungen entstehen und man die eigentlichen Stücke gar nicht mehr erkennt …“

„Das Eigentliche sind doch nicht die Notizen irgendwelcher Komponisten, die meistens schon längst tot sind“, unterbrach ihn der Dozent. „Das Eigentliche sind unsere Schüler! Und das, was in ihren Köpfen entsteht! Wenn sich das an ein altes, totes Stück Musik anlehnt – meinetwegen! Dann ist das eine Stütze – mehr aber auch nicht. Das Neue muss sich Bahn brechen. Die Kinder müssen frei sein, zu sagen, was sie wollen. Mit Tönen, Worten, was auch immer. Und wir haben jeden Ton, jedes Wort von ihnen zu akzeptieren. Alles hat seine Berechtigung!“

Hannah versuchte, sich einen solchen Unterricht vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Sie musste irgendetwas falsch verstanden haben. „Führt das aber dann nicht dazu, dass jeder einfach macht, was er will?“, fragte sie verwirrt. „Ohne jede Hilfestellung oder Steuerung?“

Begeistert strahlte der Dozent sie an. „Wunderbar! Sie haben die Sache verstanden! Genau darum geht es – und das, liebe Kollegen, ist MuRkS!“

Zwei Monate später erschien ein Artikel über die MuRkS-Fortbildung in einer überregionalen Musikzeitschrift, die Hannah abonniert hatte. Der Autor lobte das Konzept in den höchsten Tönen. „Bahnbrechend“ nannte er es, einen „längst überfälligen Entwicklungsschritt hin zu einer modernen, demokratischen Gesellschaft“. Hannah begriff nicht gleich, was Musikunterricht mit Demokratie zu tun hatte. Doch der Zusammenhang wurde noch weiter ausgeführt: „Demokratie braucht Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit aber braucht Kunstfreiheit! Die Kultur einer Gesellschaft ist die Grundlage, die ein wirklich freies Miteinander erst ermöglicht. Vor allem die Musik, die auf das gesprochene Wort verzichtet, ist gerade deswegen die tiefste und unmittelbarste Kommunikationsform. Sie ist die Keimzelle von allem, da sie direkt auf das Unterbewusstsein und die Gefühlsebene wirkt. Schreibt man Menschen vor, wie sie zu musizieren haben oder wie sie Musik zu verstehen haben, wird es brandgefährlich – es ist der Anfang vom Ende der Demokratie.“

Vielleicht lag es vor allem an dem Wort „Demokratie“, dass die Diskussion nun eine politische Dimension annahm. Die Landtagswahl in Thüringen stand unmittelbar bevor, und man stürzte sich begierig auf alles, was sich als Wahlkampfthema eignete.

Auf einer Landtagssitzung wurde der Antrag, MuRkS als verbindliche Richtlinie für alle kommunal geförderten Musikschulen des Landes zu etablieren, mit großer Mehrheit angenommen. Einige private Musikschulen versuchten zunächst noch, sich dem neuen Trend zu verweigern. Daraufhin liefen mehrere Elternverbände Sturm, und es gab ein paar Demonstrationen, über die dann in den Zeitungen berichtet wurde. Fotos zeigten Demonstranten mit Plakaten, auf denen stand: „Freiheit für unsere Kinder“, „MuRkS für alle!“ und auf einem sogar „Nieder mit Hans-Rüdiger, dem Hamster!“ Darunter war ein rot durchgestrichener Hamsterkopf gezeichnet.

Längst war in den Medien der „Hans-Rüdiger-Skandal“ ein Begriff geworden – war dieser Vorfall doch der Auslöser für eine Bewegung gewesen, die sich nun in ganz Deutschland auszubreiten begann. Nach dem Beispiel Thüringens führte ein Bundesland nach dem anderen MuRkS in den Musikschulen ein, und auch die privaten Schulen und Lehrer mussten sich nach und nach dem Druck beugen, um weiter existieren zu können.

Ungefähr ein Jahr nach dem Hans-Rüdiger-Skandal bildete sich innerhalb der MuRkS-Reformbewegung ein Kern von Hardlinern heraus. Die Ideen, die von dieser Gruppe kamen, waren noch deutlich radikaler. Sie betrachteten MuRkS nur als eine Übergangslösung. Ihr Ziel war, letzten Endes das ganze überholte System Musikunterricht abzuschaffen, denn, so sagten sie, Musik überhaupt lehren zu wollen, sei schon im Ansatz manipulativ. Menschen dürften in ihrem musikalischen Empfinden und Tun in keiner Weise beeinflusst werden, alles andere sei ein Angriff auf die persönliche Freiheit. Im Namen der Demokratie starteten sie eine Petition nach der anderen. Sie forderten die vollständige Abschaffung der Notenschrift in Bildungseinrichtungen, ein Verbot von Musikwettbewerben, die Schließung von Musikbibliotheken sowie eine strenge Kontrolle der Medien – insbesondere ihrer musikpädagogischen Inhalte. Auch die Symphonieorchester und Opernhäuser mit ihren hierarchischen Strukturen und ihren musikalischen Traditionen wurden von ihnen natürlich argwöhnisch beäugt. Immer lauter wurden die Stimmen, die verlangten, derlei Institutionen, wenn sie schon nicht verboten wurden, wenigstens nicht noch mit Steuergeldern zu finanzieren.

Ohnehin war ja abzusehen, dass die klassischen Orchester ein Auslaufmodell darstellten. Ein Großteil der Jugendorchester war bereits aufgelöst worden, denn seit die Musikschulen mit MuRkS arbeiteten, war es kaum noch möglich, größere Stücke mit so vielen Schülern gemeinsam aufzuführen. Musizieren mit anderen war in diesem Konzept auch eigentlich nicht vorgesehen, schon allein weil es der Freiheit des Einzelnen im Wege stand, immerzu auf andere zu hören und sich in ein Ensemble einzufügen. Es schien also nur eine Frage der Zeit, dass die professionellen Orchester irgendwann an Nachwuchsmangel eingehen würden.

Noch aber gab es sie, und noch versuchte man an den Musikhochschulen, Berufsmusiker auszubilden, so gut es eben ging. Natürlich waren auch hier Veränderungen spürbar: Es wurde immer schwieriger, einen gewissen Qualitätsstandard aufrechtzuerhalten. Nachdem es in Nordrhein-Westfalen dem ersten Musikstudenten gelungen war, das Ergebnis seiner missglückten Bachelor-Prüfung gerichtlich anzufechten, zogen viele andere nach. Man argumentierte, die Prüfungsordnungen seien nicht mehr zeitgemäß und musikalische Kompetenz ohnehin kaum prüfbar. Vor allem aber müsse das Prinzip der Kunstfreiheit geschützt werden. Jeder habe schließlich das Recht auf seine eigene künstlerische Auffassung. Daher dürfe eine musikalische Darbietung nicht einfach als mangelhaft bewertet werden, denn das sei diskriminierend.

Wenig später sorgte ein Vorfall in einem bayrischen Symphonieorchester für Schlagzeilen. Ein Musiker, der schon öfter durch disziplinarische Verstöße aufgefallen war, erhielt seine Kündigung, nachdem er ein Konzert fast ruiniert hatte – er hatte in volltrunkenem Zustand kaum noch einen geraden Ton herausgebracht. Daraufhin zog er vor Gericht. Dort legte sein Anwalt überzeugend dar, dass man heutzutage einen festangestellten Mitarbeiter nicht auf die Straße setzen könne, nur weil seine künstlerische Interpretation von der seiner Vorgesetzten abwich. Dabei berief er sich auf diverse Prozesse, in denen Musikstudenten erfolgreich gegen ihre Hochschulen geklagt hatten. Der Musiker musste wieder eingestellt werden. In der Urteilsbegründung hieß es: „Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür, eine bestimmte künstlerische Interpretation für gültig und eine andere für ungültig zu erklären. Alle Töne sind gleich gültig.“

Der letzte Satz schaffte es ein halbes Jahr später in das Buch „MuRkS in Theorie und Praxis“, das binnen kürzester Zeit zu einem der wichtigsten Standardwerke für Musikpädagogik wurde.

Hannah verfolgte die Entwicklung mit zunehmender Fassungslosigkeit. Manchmal glaubte sie, zu träumen. Ihr ganzes Leben geriet ins Wanken. Wie schnell sich allein ihr Arbeitsplatz veränderte! Die einst so vertraute Musikschule wurde ihr immer fremder. Es waren nicht nur die neuen Methoden, das rapide sinkende Niveau und die fehlende Ensemblearbeit. Auch der Ton im Kollegium hatte sich verändert. Zu oft hatte es schon hässliche Szenen gegeben. Kollegen schwärzten einander bei der Schulleiterin an, wenn nicht genau nach den neuen Richtlinien gearbeitet wurde, und irgendwann war das freundschaftliche Klima einem beklemmenden Misstrauen gewichen. Man erzählte sich nichts mehr. Einigen Lehrern war bereits gekündigt worden, nachdem Schülereltern sich über ihren Unterricht beschwert und damit gedroht hatten, sich ebenfalls an die Presse zu wenden. Über dem Eingang der Musikschule prangte jetzt ein Banner mit der Aufschrift: „Wir machen MuRkS – hier sind alle Töne gleich gültig!“

Als Hannah eines Abends müde auf ihrem Sofa saß und lustlos durch die Fernsehsender zappte, blieb sie bei einer Talkshow hängen. Es ging um demokratische Werte im Kulturbetrieb. Der Moderator kündigte anscheinend gerade einen neuen Gast an. „Ich freue mich ganz besonders, dass sie die Zeit gefunden hat, heute bei uns zu sein, denn ihr ist es maßgeblich zu verdanken, dass unsere Musikwelt zu dem werden konnte, was sie heute ist. Begrüßen Sie mit mir …“ Der Name ging im Applaus des Publikums unter.

Neugierig blickte Hannah auf den Fernseher. Im nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen, als das Gesicht der Mutter ihres Schülers Niklas in Großaufnahme auf dem Bildschirm erschien. Ihres ehemaligen Schülers, genauer gesagt, denn seine Eltern hatten ihn bereits vor längerer Zeit abgemeldet.

Der Moderator strahlte seinen Talkgast begeistert an. „Lassen Sie mich Ihnen zunächst ganz herzlich gratulieren. Erst letzte Woche wurden Sie mit der Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet – eine angemessene Ehre, denn die Arbeit des von Ihnen gegründeten Vereins ‚Musik ohne Fesseln e. V.‘ ist aus unserem kulturellen Leben nicht mehr wegzudenken. Am Anfang stand, wenn ich richtig informiert bin, ein persönliches Erlebnis – Sie wurden als Mutter eines betroffenen Kindes mit Problemen konfrontiert, die Sie nicht hinzunehmen bereit waren. In kürzester Zeit hat Ihr couragiertes Aufdecken von Missständen im Bereich der Musikausbildung dann zu entscheidenden Veränderungen geführt. Offensichtlich war die Zeit reif dafür – es musste nur die richtige Vorkämpferin daherkommen.“

Hannah brauchte eine Weile, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Als sie ihren Mund wieder zugeklappt hatte, war Niklas‘ Mutter schon mitten in ihrem Redebeitrag.

„Sicher – einer Mutter blutet das Herz, wenn sie sieht, wie ihr Kind leidet. Aber es ging mir damals nicht nur um meinen eigenen Sohn. Ich sah einfach, dass so vieles im Argen lag. Es waren so viele Kinder! So viel verhindertes Potenzial, so viele unterdrückte Persönlichkeiten. So viel Unrecht! Da musste ich einfach etwas tun.“

Der Moderator nickte ernst. „Viel Unrecht, in der Tat. Die unseligen Traditionen, die sich über Jahrhunderte, kann man sagen, gehalten haben …“

„Genau. Ich denke, man hat den Musikschulen all die Jahre über viel zu viel Freiheit gelassen. Man hätte früher eingreifen müssen, ein verbindliches Regelwerk schaffen müssen. Dieser Wildwuchs, dass jede Schule und jeder Lehrer einfach unterrichtet hat, wie er wollte … also das hätte man schon längst verbieten müssen. Im Interesse unserer Kinder und ihrer freien Entfaltung.“ Sie lächelte freundlich in die Kamera.

„Wenn ich hier mal einhaken dürfte …“, meldete sich der Gast neben ihr zu Wort. Unten wurde sein Name eingeblendet mit der Information, dass er Intendant eines Opernhauses in Baden-Württemberg war. „Die freie Entfaltung der Kinder ist unerlässlich, keine Frage. Wie aber sieht es denn im professionellen Bereich aus? Die Kulturorchester erfüllen doch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Momentan gibt es deutschlandweit eine regelrechte Welle von Arbeitsgerichtsverfahren mit folgenschweren Urteilen gegen Orchester und Musiktheater, nachdem diese personelle Entscheidungen getroffen hatten, um ihr musikalisches Profil und ihr qualitatives Niveau zu schützen. Ich meine, das ist doch auch ein Eingriff in unternehmerische und künstlerische Freiheiten …“

„Papperlapapp!“, fiel ihm Niklas‘ Mutter ins Wort. „Personelle Entscheidungen, wenn ich das schon höre! Was Sie meinen, ist Diskriminierung! Das Entfernen unliebsamer Mitarbeiter, deren Vorstellungen einfach nicht akzeptiert werden, obwohl unser Grundgesetz jedem das Recht zugesteht …“

„Verzeihung, ich war noch nicht fertig.“ Über der Nase des Intendanten bildete sich eine senkrechte Falte. „In Niedersachsen gibt es gerade mal ein einziges Orchester, das zur Zeit nicht in entsprechende Rechtsstreitigkeiten verwickelt ist. In Hessen mussten mehrere Häuser bereits schließen, weil die Sache komplett aus dem Ruder gelaufen ist. Dort kann ein Orchestermusiker mittlerweile praktisch machen, was er will – es gibt keine Möglichkeit mehr, jemandem rechtswirksam zu kündigen. Aus Sachsen hören wir, dass mehrere Konzerte abgebrochen werden mussten, weil es Tumulte auf der Bühne gab – die Musiker konnten sich nicht auf gemeinsame Tempi, Intonation und Dynamik einigen. Das sind doch Zustände, die künstlerisches Arbeiten unmöglich machen.“

„Nun, vielleicht sind Institutionen wie die Ihre einfach nicht mehr zeitgemäß! Warum muss es denn solche vordefinierten, einheitlichen Interpretationen überhaupt geben? Wir haben doch am Beispiel der Musikschulen gesehen …“

„Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaft professionelle Kulturorchester mit Musikschulen vergleichen!“ Der Intendant verlor langsam die Geduld. „Wenn Sie zum Beispiel eine Opernaufführung besuchen – stellen Sie sich das doch mal vor: Wenn nun jeder Musiker dort einfach singt und spielt, was und wie er gerade möchte …“

„Was wollen Sie denn damit bitte sagen? Soll etwa nicht jeder spielen dürfen, wie er will? Wo bleibt denn da die Demokratie?“

Für einen Moment herrschte völlige Stille. Das Wort „Demokratie“ schien unbeweglich in der Luft zu hängen wie eine Wolke an einem windstillen Tag. Es besaß eine Autorität, die man fast körperlich spüren konnte – hier war jede Entgegnung ausgeschlossen.

Dann brandete stürmischer Beifall auf.


25 Jahre später

Hannah konnte den Geduldsfaden in ihrem Körper spüren. Ping! Ein dreigestrichenes Fis. Eigentlich hätte sie schon vor zwanzig Minuten Pause gehabt. Doch die Schlangen an den Kassen des kleinen Supermarktes wollten kein Ende nehmen, und außer ihr war heute nur noch eine andere Kollegin da – die im Übrigen gerade ihre Nerven zu verlieren schien. Eine Kundin mit hochrotem Gesicht zeterte auf die Arme ein, und obwohl Hannah nicht verstehen konnte, worum es ging, verspürte sie sofort Mitleid mit der verzweifelt wirkenden Kassiererin.

„Hallo! Geht das jetzt mal voran hier, oder sollen wir morgen wiederkommen?“ Sie zuckte zusammen. Vor ihr stand ein älterer Mann und wedelte mit seiner Brieftasche vor ihrer Nase herum. Ein ungefähr sechsjähriger Junge stand grinsend neben ihm und stopfte sich eine Handvoll Gummibärchen in den Mund. Die aufgerissene Tüte lag zwischen den anderen Waren auf dem Förderband. Ihr bunter Inhalt war überall verstreut.

„Guck mal, Opa!“ Zielsicher warf der Kleine Hannah ein Gummibärchen an den Kopf.

Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, drang von irgendwoher eine dünne Kinderstimme an ihre Ohren. Was war das? Sang da ein Kind? Das war selten heutzutage. Ja, jetzt hörte sie es deutlich: „Hans-Rüdiger, der Hamster, ist dick und kugelrund …“

Schlagartig wurde es still an der Kasse. Alle Köpfe drehten sich nach hinten. Hannahs Blick fiel auf eine erschrocken dreinblickende junge Frau, die ein singendes Mädchen an der Hand mit sich zog. Reflexartig hielt der alte Mann seinem Enkel die Ohren zu und zischte: „Unerhört!“

Die Kundin an der Nachbarkasse vergaß ihre Beschwerde und starrte mit offenem Mund herüber. Das kleine Mädchen sang unbeirrt weiter: „Und alles, was er kriegen kann, stopft er sich in den Mund.“

„Na hör mal“, empörte sich eine mürrisch dreinblickende Frau. „Solche Lieder singen wir aber nicht mehr! Weißt du das etwa nicht?“

„Richtig“, pflichtete ihr der Großvater bei. „Und zwar schon lange nicht mehr! Die Zeiten sind zum Glück vorbei!“

Mehrere Kunden nickten zustimmend, und die Mürrische schob hinterher: „Mich würde ja mal interessieren, von wem das Kind diese Lieder gelernt hat!“

Die junge Frau, anscheinend die Mutter des Mädchens, wurde knallrot und blickte zu Boden.

Hannahs Geduldsfaden erreichte das dreigestrichene G. Dann riss er.

„Halten Sie doch alle Ihren Mund!“, brüllte sie los. „Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden! ‚Diese Lieder‘? Sie meinen, die unerwünschten Lieder? Die man uns damals verboten hat – im Namen der Freiheit? Großartig! Und jetzt? Wenn ich mich hier umschaue, sehe ich einen Haufen Leute, die sich nicht zu benehmen wissen, weil sie meinen, die ganze Welt müsse sich um ihren Bauchnabel drehen! Und dann wird auf einem Kind herumgehackt, weil es ein Lied singt! Klar, so was passt natürlich nicht in Ihr vermurkstes Weltbild! Sie sollten sich alle was schämen! Und du“, fuhr sie den immer noch kauenden Jungen an, „du sammelst jetzt auf der Stelle deine Scheißgummibärchen ein!“

Kurz darauf saß sie in dem kleinen Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter und atmete tief durch. So viele Bilder stiegen in ihr auf. Erinnerungen aus ihrem früheren Leben. Sie hatte geglaubt, das hinter sich zu haben, doch es war alles noch da. Oder wieder da? Nein. Es war nie wirklich weg gewesen. Während sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatte, war ja für alle anderen das Leben auch weitergegangen. Irgendwo mussten sie alle noch sein!

Plötzlich wollte sie es wissen: Was war aus ihnen geworden – aus all diesen Menschen, die sie damals gekannt hatte?

Sie griff nach ihrem Handy und begann zu googeln.

Die städtische Musikschule gab es natürlich längst nicht mehr. Die Musikschulleiterin hatte sich noch eine Zeitlang mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, war inzwischen Rentnerin und leitete manchmal noch Töpferkurse an der Volkshochschule.

Der MuRkS-Dozent war damals durch sein Konzept, das den Nerv der Zeit getroffen hatte, im Rekordtempo zum mehrfachen Millionär geworden und lebte nun auf einem luxuriösen Anwesen an der Côte d’Azur.

Der bayrische Orchestermusiker, der als erster im Zuge der Reformbewegung seine verlorene Stelle wieder eingeklagt und damit eine Prozesslawine ausgelöst hatte, trat noch immer auf – als Solokünstler für Improvisation. Sein Orchester war mittlerweile aufgelöst worden, wie so viele andere.

Die Mutter ihres Schülers Niklas hatte ihre Vereinsarbeit noch lange unermüdlich weitergeführt, bis sie an einem Burnout erkrankt war und sich zurückgezogen hatte. Sie lebte jetzt in einem Ashram in Indien.

Der kleine Niklas war erwachsen geworden und in die Nähe von Saarbrücken gezogen. Er hatte mit großem Erfolg eine politische Karriere eingeschlagen und war erst kürzlich zum Kultusminister des Saarlandes ernannt worden.

Antwort ohne Frage

von Josephine Kullat

Angesehene Frau. Säugling wird zum Mädchen, zum Mutter-Mädchen, wird niedliche Alte.

Ich stricke. Das Strickzeug ist älter und schmutzig. So soll es sein. Ich folge einem schlechten Rapport, begeistert. Meine Stricknadel ein Dorn, die Wolle drahtige Hysterie.

Frauen spielen auf. Trompeten, Posaunen und Brassen. Samtgedämpfter Klang. Verborgene Orchester-Bewerber. Heimlich Bewerberinnen. Abgesehen.

Mein Maschenhalter führte schon Viele in die Schlinge. Ungehaltene, unberingte Hände wie Schlangen um apfelfarbenem Faden.

Freie Frauen meinen Dinge. Männer besitzen die Wahrheit und schreiben Geschichte. Frauen wiegen Kinder, Männer die Demokratie. Sie stellen die Fragen, die Bühne, die Urne.

Nach meiner Antwort wurde nicht gefragt. Mein Maschenmarkierer findet sie trotzdem. Simone-ensauer, breitbeinig, laut.

Männer teilen (mit) uns, teilen aus. Ein Teil der Frauen arbeitet Teil. Weise behalten sie frei-Zeit für Putzen, Erziehen, Gebären, Stillen, Pflegen, Belehren, Kaufen und Kochen. Auf Augenhöhe, gerahmt und eingefangen, dokumentiert, gesehen. So gerne gesehen.

Sie bewirbt sich also ohne Foto um den ausgeteilten Job. Denn das ist gerecht. Der menschliche Fehler weicht künstlichem Wissen, allwissender Vater der gerechten KI. Endlich unfehlbar, Meinungsbefreit. Intelligenz speist aus tausenden Fotos, Büchern, Artikeln und Träumen von Männern ihr Wissen. Sie, die Spitze der Gaußschen Verteilung, findet die heilige Mitte. 

Mit „Mann“ ist die Frau jetzt mitgemeint. KI filtert unfehlbar den besten Bewerber heraus. Die Zensur der inneren Höfe, das Unverständnis der hohen Tonlage und die Größe der Wagen – ein Hall aus alten Zeiten trifft schwingendes Silizium.

Das Nadelmaß quillt über mich, fängt mich aus mir heraus und spricht. Niemand wird den roten Faden je zu Ende spinnen. Auch ich werde ein Teil der weibischen Wolle. Wir bilden eine Binde für Frauenleiden, legen uns eng um Männerköpfe.

Dann ziehen wir uns aus oder an, lange oder kürze Röcke, Tücher oder Glatzen, alt und jung, hässlich oder schön. Wir finden uns selbst in allen Herrenländern, sogar im Vaterland. Wir sprechen nie wieder in Augen.

Die Orchesterbewerberinnen treten hinterm Vorhang hervor und spielen auf.

Roberts Revival

oder: Auf der Suche nach der Meinungsfreiheit

von Renate Wüsthoff

Mach es dir bequem, Mark! Du ahnst gar nicht, wie dankbar ich dir bin, dass du heute Abend deinen Stammtisch ausfallen lässt, um mir beim Verfassen meiner Rede auf die Sprünge zu helfen. Ich hatte – wie man so sagt – den totalen „Durchhänger“.

Kein Problem, Simon! So wichtig sind die Gespräche unserer Tennis-Gruppe nicht, und bei dir gibt es auf alle Fälle den besseren Rotwein. Aber du musst mir erst mal genau erklären, worum es eigentlich geht. Am Telefon habe ich nur verstanden, dass du demnächst etwas zum Thema Meinungsfreiheit vortragen sollst.

So ist es! Im Mai findet die Woche der Meinungsfreiheit statt; sie reicht vom 3.5. – dem Tag der Pressefreiheit – bis zum Tag der Bücherverbrennung am 10.5. Wie du weißt, bin ich Gründungsmitglied unseres Literaturforums, und deshalb hat man ausgerechnet mich gebeten, zum Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen eine Rede zu halten.

Du hast dich eben schon durch originelle Laudationen auf Preisträger und die Begrüßung internationaler Gäste bewährt – wo liegt also der springende Punkt?

Diesmal fehlt mir einfach noch die zündende Idee, vor allem für den Anfang. Ich habe mir etliche Zitate ‘runtergeladen, denn die Berufung auf Autoritäten kommt häufig gut an und sorgt für Abwechslung. Aber irgendwie muss noch der „rote Faden“, also der passende Kontext, her.

Verstehe – wir beide sollten es mal mit so einer Art Brainstorming versuchen!….. Ich habe spontan einen vielleicht etwas sonderbar wirkenden Einfall: Was hältst du davon, den Fliegenden Robert sozusagen als „Aufhänger“ für deine Rede zu wählen?

Na ja, ich finde den Balanceakt, den unser Wirtschaftsminister ständig zwischen ökonomischen und ökologischen Ansprüchen leisten muss, durchaus bewundernswert. Er verfügt außerdem über beträchtliche rhetorische Fähigkeiten und jettet zu Verhandlungen durch die Welt, doch das ergibt nur einen sehr schwachen Zusammenhang mit unserem Thema.

Eine interessante Variante, an die ich noch gar nicht gedacht habe! Mir kam etwas völlig anderes in den Sinn. Du kennst doch bestimmt den Fliegenden Robert aus dem Struwwelpeter.

Na klar, aber du empfiehlst mir doch wohl nicht ernsthaft, mich auf eine Gestalt aus einem Kinderbuch zu beziehen, das für viele als Musterbeispiel der Schwarzen Pädagogik gilt. Was schwebt dir also vor?

Schweben ist schon das geeignete Verb! Überleg mal, Simon! Warum ist der kleine Robert aus oder eventuell sogar: vor seiner Familie weggelaufen?

Wenn ich mich richtig erinnere, wollte er nicht wie die anderen Kinder brav und artig zu Hause bleiben, sondern das Regenwetter und der Sturm lockten ihn nach draußen.

Genau! Er widersetzte sich also den elterlichen Anordnungen, folgte seinen eigenen Wünschen und suchte die Freiheit.

So lässt sich sein Verhalten sicherlich deuten, etwa nach dem Motto: „Wenn du deine Flügel nicht ausbreitest, hast du keine Ahnung, wie weit du fliegen kannst.“ Nur, dass bei ihm der Regenschirm die Flügel ersetzte! Mir fällt sogar noch der letzte Vers des Gedichts ein. Dort heißt es nämlich von Kind, Schirm und Hut: „Wo der Wind sie hingetragen,/ Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.“

Und wir spinnen jetzt die Geschichte weiter, um aufzuzeigen, wo es ihn „hingetragen“ hat. Wahrscheinlich hat er es irgendwann aufgegeben, die Jahre zu zählen, die er in den Lüften verbracht hat, und die dabei zurückgelegten Kilometer nachzuhalten. Von oben – aus einer gewissen Distanz heraus – blickt er auf die Menschen hinab und wundert sich, was aus ihnen geworden ist.

Langsam merke ich, worauf du hinauswillst! Er hat sich seine kindliche Neugierde und seinen Freiheitsdrang bewahrt und verfolgt mit großem Interesse, wo und inwieweit sich das Bestreben nach Unabhängigkeit und freier Meinungsäußerung inzwischen durchsetzen konnte.

Dann sag doch mal spontan, was dir dazu einfällt: Wen oder was beobachtet er?

Hm, das hängt natürlich ganz davon ab, welche Gegend er gerade überfliegt. Bei der momentanen Nachrichtenlage denken wir z.B. an Russland.

Wie du willst, Simon! Einer der prominentesten russischen Vorkämpfer gegen die Hexenjagd der Regierung auf Oppositionelle ist wohl der Dokumentarfilmer und Aktivist Nawalny. Nur mühsam überlebte er einen Giftanschlag und wurde zu neun Jahren Haft verurteilt.

Verzeih mir den Zynismus, doch in dem Zusammenhang kann ich mir den Hinweis auf Nietzsches Behauptung „Überzeugungen sind Gefängnisse“ nicht verkneifen.

Diese Äußerung ist ja wohl nicht wörtlich zu verstehen, so als käme man wegen einer festen Anschauung hinter Gitter. Nietzsche will vielleicht eher zum Ausdruck bringen, dass verhärtete Ansichten und Ideologien die Akzeptanz abweichender Positionen verhindern und den Geist förmlich „einmauern“.

Eine plausible Interpretation, Mark, doch in Verbindung mit Russland denken die meisten momentan weniger an Dissidenten als an den brutalen Überfall auf die Ukraine und den Versuch, eine ganze Nation auszulöschen.

Du hast vollkommen Recht, und dabei spielt die Manipulation der Bevölkerung durch Kontrolle der Medien, einseitige Berichterstattung und Sprachregelung ebenfalls eine zentrale Rolle. Putin ging ja sogar so weit, die Verwendung des Wortes Krieg unter Strafandrohung zu verbieten.

Wundere dich nicht, doch auch dazu gibt es in meiner Zitatensammlung etwas Passendes. Du erinnerst dich bestimmt an Orwells 1984.

Na klar, eine der wenigen Lektüren in unserem Englischunterricht, die mich wirklich berührt hat! Aber einzelne Textstellen sind mir nicht mehr geläufig.

Warte mal kurz – hier hab ich‘s! In einem Dialog heißt es: „Begreifst du denn nicht, dass Neusprech nur ein Ziel hat, nämlich den Gedankenspielraum einzuengen? Zu guter Letzt werden wir Gedankendelikte buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Wörter mehr geben wird, um sie auszudrücken.“

Der gute Orwell verfügte offensichtlich über hellseherische Fähigkeiten, und unser Robert wird das russische Gebiet schnellstens verlassen. Begleiten wir ihn weiter auf seiner virtuellen Reise – wohin begibt er sich dann?

Nun, er könnte z.B. aus der Vogelperspektive den Iran betrachten, der zu seiner Zeit noch Persien hieß.

Okay, ich folge euch! Dort sieht er die Protestaktionen, die nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod der jungen Mahsa Amini das Land erschüttern.

Ja, und es sind vor allem mutige Frauen, die gegen das Mullah-Regime protestieren, indem sie u.a. als Zeichen des Aufbegehrens gegen die Repressalien ihre Kopftücher wegwerfen.

Was für eine bewundernswerte Entschlossenheit! Nur leider wird der öffentliche Widerstand durch eine Welle von Gewalt, Inhaftierungen und Folter unterdrückt und schwelt inzwischen eher im Untergrund weiter.

Zur Abschreckung wurden ja sogar Demonstranten nach Scheinprozessen hingerichtet – die erschütternden Bilder gingen durch alle Medien. Benjamin Franklin sagt zwar treffend: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“, aber hier verlieren Menschen für ihr beherztes Auftreten und ihre Überzeugung das Leben.

Bleiben wir noch einen Moment bei den mutigen Frauen, Simon! Glaubst du, dass unser Robert es bis nach China schafft?

Aber locker! Wenn Saint-Exupérys Petit Prince mehrere Planeten besucht, dürfte diese Distanz für Robert kein Problem sein. Worauf willst du hinaus?

Ich habe vor Kurzem in der Tageszeitung eine aufschlussreiche Reportage über die Zivilcourage junger Chinesinnen gelesen. Sie nahmen an einem Trauermarsch gegen die rigide Null-Covid-Politik teil, doch die meisten wollten sich auch gegen die Überwachung durch Nachbarschaftskomitees und die ideologische Kontrolle durch die Regierung zur Wehr setzen.

Von diesen Kundgebungen habe ich Fotos gesehen: Als Symbol ihres Protestes hielten sich die Studentinnen ein weißes Blatt vor das Gesicht. Für viele dieser engagierten, emanzipierten Frauen hat sich damit der Traum von einer beruflichen Karriere wohl erledigt.

Ja, leider – und ähnliche Verhältnisse herrschen in den meisten Diktaturen und sozialistischen Systemen. Aber bevor wir immer weiter in die Ferne schweifen, sollten wir mit Robert einen Abstecher in seine Heimat unternehmen. Ihn wird es bestimmt besonders interessieren, wie es Kindern und Jugendlichen dort heutzutage ergeht.

Eine gute Idee und endlich mal was Erfreuliches! Robert sähe mit Genugtuung, dass absoluter Gehorsam und Unterordnung unter Autoritäten bei uns nicht mehr als Erziehungsideale gelten.

Gott-sei-Dank! Er hätte sich vielleicht der Fridays-for-future-Bewegung oder den Klima-Aktivisten angeschlossen, die seit Monaten für die Rettung der Natur und die Bewahrung einer lebenswerten Umwelt auf die Straße gehen.

Auf diese Weise haben sie auch bei vielen Erwachsenen ein stärkeres Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels und einen veränderten Umgang mit den Ressourcen bewirkt.

Darüber hinaus sähe Robert viele andere Aktionen und Demos mit unterschiedlichsten Zielsetzungen. Einige der Teilnehmer nutzen diese Gelegenheiten leider, um ihren Aggressionen und ihrer Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Sie sind eher auf Krawall aus als auf die Durchsetzung sinnvoller, realisierbarer Programme und übernehmen unreflektiert populistische Parolen.

Das Gefühl habe ich leider auch oft. Unter uns wage ich mal die provokante These, dass es fast schon ein Überangebot an abstrusen Standpunkten gibt und viel – verzeih mir den Ausdruck – „sprachlicher Müll“ produziert wird.

Diesmal fällt ausnahmsweise mir ein treffendes Zitat ein, und zwar von Karl Kraus: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“

Das spricht mir aus der Seele! Den Aphorismus werde ich gleich meiner Sammlung einverleiben.

Da wir gerade bei den Auswüchsen der Meinungsfreiheit und -vielfalt sind, sollten wir den Missbrauch in den sozialen Medien nicht vergessen, also die fast unbegrenzten Möglichkeiten, andere unter dem Deckmantel der Anonymität zu bedrohen oder mit Hasstiraden einzuschüchtern.

Ein wichtiger Punkt! Die Kehrseite dieser Netzwerke liegt tatsächlich darin, dass man sich kaum gegen die Verunglimpfungen wehren kann, weil es sehr schwer ist, Fehlinformationen zu widerlegen oder zu tilgen, wenn sie erst mal in die Welt gesetzt sind.

Dazu passt ein Ausspruch von Mark Twain, auch wenn der unsere modernen Kommunikationsmittel noch gar nicht kannte: „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“

O je! Wir können unserem Robert also selbst hier keine richtige Wohlfühlatmosphäre bieten. Was bleibt dann noch? Soll der arme Kerl etwa in die Geschichte zurückkehren, aus der er stammt?

Jetzt enttäuschst du mich aber, alter Freund! Wir können ihm doch auf gar keinen Fall zumuten, wieder in die spießbürgerlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts einzutauchen, denen er so tollkühn entronnen ist! Und um es mit Adorno auszudrücken, spürt er: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Über diesen Satz lohnt es sich bei Gelegenheit ausführlich zu diskutieren. Aber wir sollten nicht nur Pessimismus verbreiten. Wir haben ja eben schon einige positive Entwicklungen angesprochen, und es gibt zahlreiche Persönlichkeiten, deren Vorbild Mut und Hoffnung weckt und andere mitreißt.

Natürlich! Martin Luther King, Nelson Mandela oder ….

Stopp, Simon! Wir können nach unserer tour d’horizon heute Abend nicht auch noch die vergangenen Jahrzehnte nach berühmten Freiheitskämpfern und Bürgerrechtlern durchforsten, das müssen wir auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Ich brauche jetzt erst mal ein Glas von deinem vorzüglichen Bordeaux.

Kommt sofort! Ich habe schon kurz vor deinem Eintreffen eine Flasche aus dem Keller geholt und entkorkt.

Wunderbar! Aber sag mir noch eins, bevor wir – wieder mal – auf unsere Freundschaft anstoßen: Hat dir unser Gespräch denn ein paar brauchbare Ideen für deine Rede geliefert?

Auf alle Fälle! Ich werde einige Aspekte modifizieren, vertiefen oder hinzufügen, doch das Entscheidende ist: Ich weiß endlich, wie ich anfangen muss.

Ich habe da so eine Ahnung…. lass hören!

Die einleitende Frage an meine Zuhörer lautet natürlich: „Erinnern Sie sich eigentlich noch an den Fliegenden Robert?“

Burka

von Christine Corlett

Ingrid hat 1 Mann, 1 Haus und ein eigenes Auto.

Ingrid geht es gut. Es geht ihr nicht gut, wenn sie Nachrichten im Fernsehen sieht: den Frauen im Iran, Afghanistan, Saudi-Arabien geht es nicht so gut wie ihr. Sie dürfen nichts. Nicht Autofahren, nicht lernen, nicht allein ausgehen. Nicht denken. Sie denken trotzdem.

Ingrid denkt, dass sie alles darf.
Ingrid hat 1 Mann, 1 Haus und ein eigenes Auto. Sie hat Abitur.
Der Mann (Robert) hat Ingrid einen blöden Kosenamen gegeben: Mäusi.
Ingrid hat dem Mann (Robert) den gleichen blöden Kosenamen gegeben: Mäusi.
Ingrid fühlt sich gleichberechtigt.

Ingrid hat ein eigenes Auto. Das ist klein und praktisch. Mehr braucht Ingrid nicht. Sagt Robert.
Robert hat ein großes, komfortables Auto. Das braucht Robert. Sagt Robert.
In den Urlaub fahren Ingrid und Robert im großen komfortablen Auto. Robert fährt. Ingrid fährt nicht. Sie sitzt daneben. Sie ist froh, dass Robert fährt. Sie würde ohne Robert nicht in den Urlaub fahren.

Ingrid hat 1 Haus. Robert hat dasselbe Haus. Ingrid kocht, putzt, wäscht im Haus. Täglich. Robert plant den Umbau und stellt die Mülltonnen raus. Einmal in der Woche.

Ingrid sieht gern politische Talkshows. Robert hasst politische Talkshows. Robert sieht gern Actionfilme. Ingrid hasst Actionfilme. Ingrid schaut mit Robert Actionfilme, auch wenn er dabei einschläft. Ingrid schaut politische Talkshows immer erst dann, wenn Robert zum Schlafen ins Bett gegangen ist.

Robert ist dick und macht eine Diät. Ingrid war noch nie dick und macht eine Diät. Ohne Ingrid würde Robert die Diät nicht machen, sagt Ingrid.

Wenn Ingrid sich unterhält, kommt Robert dazu und unterhält sich noch mehr.
Ingrid lacht am lautesten, wenn Robert zum hundertsten Mal den gleichen blöden Witz erzählt. Sie hasst den Witz.

Wenn Ingrid über Politik spricht, sagt sie manchmal: „Das muss ich doch noch sagen dürfen…“ Und Robert sagt: „Nein.“

Ingrid ist froh, dass sie nicht in Afghanistan, Iran oder Saudi-Arabien lebt. Ingrid findet, es ist ein großes Glück, in einem freien Land zu sein.

Stereo-Typen

von Jan Lammertz

Ich bin mal wieder in Hundekot getreten. Kein Wunder, denn hier auf dem Dorf sind die Straßen nur spärlich beleuchtet. Ich laufe die wie ausgestorben wirkende Gasse zwischen Kirche und Gemüsehof entlang. Im Schein der einzigen Laterne weit und breit trete ich die Sauerei am feuchten Gras einer Grünfläche so gut es geht ab.
Mein Ziel liegt unweit entfernt hinter der nächsten Straßenecke. Durch das kleine gekippte Buntglasfenster höre ich die vertrauten Geräusche aus dem Gastraum: durcheinandergehende Stimmen, klirrende Gläser, die in aufreizendem Lachen und seichtem Schlager-Gehämmer aus den kratzigen Musikboxen untergehen. Ich schaue auf meine Uhr – 20:35 Uhr. Sportlich, wenn schon jetzt die ersten ordentlich getankt haben. Wobei, in ein paar Stunden werde ich in der Masse der Betrunkenen mitschwimmen – um es in dieser bräsigen Atmosphäre der aufgesetzten guten Laune überhaupt auszuhalten.
Ich ziehe die Eingangstür des 74er auf und der vertraute Geruch nach abgestandenem Bierdunst und modriger Nässe schlägt mir aus der Kneipe entgegen.
„Wat is‘ denn mit dir passiert, Wagner?“
Ich liebe es ja, wenn man mich mit Nachnamen anspricht…
„Biste unter‘n Rasenmäher geraten?“
Was er meint, ist wohl mein kurzer Haarschnitt, den ich so noch nie getragen habe.
Es ist ausgerechnet Ralf, der in seiner großkotzigen Art in meine Richtung raunzt. Er lacht dabei lauthals und blickt nach Anerkennung heischend in die Runde.
Köpfe, die sich zu mir drehen. Ich versuche schief zu grinsen. Schallendes Gelächter der anderen am Tisch folgt. Die unsympathischen Fratzen, die mir entgegenglotzen, gehören den jungen Männern, mit denen ich meine halbe Jugend verbracht habe. Ralf, der Großkotz, der sich für unwiderstehlich und den geistreichen Wortführer dieser Runde hält; Philipp, der Schüchterne (ab dem zehnten Kölsch wird er gesprächiger); Oliver, der erste Mitläufer von Ralf (wenn Ralf nicht dabei ist, ist er auch ganz in Ordnung) und schließlich Daniel, mein bester Freund.
Sie alle sehe ich durch meine plötzlich beschlagenen Brillengläser nur schemenhaft am Tisch links vom Eingang hocken. Dennoch erkenne ich, dass sie ausnahmslos Karohemden tragen. Die restlichen Gestalten, die vor der Theke oder an den anderen Tischen lungern, sehen mindestens genauso langweilig, austauschbar und selbstgefällig aus.
Was ich jetzt brauche, ist tatsächlich erstmal ein Kölsch, denke ich.
Ich lasse die kalte, abendliche Novemberluft hinter mir und betrete den Kneipenraum, werfe meinen Parker auf das Jackenknäuel an der Wand und weiß schon jetzt, dass ich ihn für die nächsten drei Tage nach draußen zum Lüften werde hängen müssen.
„N’abend“, sage ich und nicke in Richtung Tommi. Tommi lächelt zurück und zeigt auf die Zapfanlage, um mich so über die lauten Stimmen hinweg zu fragen, ob ich auch ein Kölsch wolle. Ich nicke. Damit wäre geklärt, welches Getränk ich bis zum Verlassen der Kneipe trinke. Sonderwünsche sind hier nicht so gerne gesehen.
Ich gehe zum Tisch meiner Freunde und kremple die Arme meines neuen fliederfarbenen Rollkragenpullovers zurecht.
„Drei Kölsch musste aufzuholen, Zuckerpüppchen!“ Ich bemerke seinen Blick auf mein neues Oberteil. Er grinst.
„Schicke Pelle haste da an. Aus dem Kleiderschrank von deiner Frau?“
Seine dreckige Lache übertönt den Rest der trinklustigen Leute. Er knufft Oliver in die Seite. Dann lacht auch er.
Das wird ein großartiger Abend, denke ich.
„Bist aber spät dran“, sagt Daniel zu mir als ich mich links neben ihn an unseren Tisch setze.
„Kleine Zündung heute?“, fragt er und meint damit, ob wir heute mit Ansage besoffen werden wollen.
„Klar!“, höre ich mich sagen. Dabei hatte ich mir vorgenommen, heute nicht viel zu trinken. Morgen habe ich meinen Abgabetermin. Und ich muss das Manuskript nochmal durchgehen.
Wie auf Kommando kommt Tommi mit einem Tablett an den Tisch, auf dem fünf Gläser Kölsch und fünf klare Schnäpse hin- und herschwappen.
„Ah, endlich!“, sagt Oliver, nimmt die Getränke vom Tablett und stellt jedem ein Kölsch und einen Schnaps hin.
„Was macht der Nachwuchs?“, fragt Tommi mich.
„Ach, es läuft ganz gut. Die Kleine hält uns natürlich auf Trapp. Aber wir haben uns langsam eingespielt.
„Klingt doch gut“, sagt Tommi mit einem Lächeln und klopft mir auf die Schulter.
„Tommi, machsse mir no einss‘?“, lallt jemand hinter mir und verlangt Kölsch-Nachschub.
„Ich komme gleich“, sagt er. Tommi zwinkert mir zu, dann verschwindet er wieder hinter seinem Tresen.
„So, genug gelabert!“, bestimmt Ralf.
„Hallo! Anstoßen! Sind ja schließlich nich‘ zum Spaß hier! Prost!“
Er hebt Schnaps- und Bierglas vor sich. Dann kippt er beides nacheinander auf Ex in sich hinein. Die anderen tun es ihm nach. Ich auch.
Daniel fragt mich, was denn meine „Schreiberei“ macht.
„Läuft ganz gut“, antworte ich. „Hier und da ein Schreibwettbewerb – außerdem sitze ich immer noch an einem Roman.“
Er nickt, doch meiner Antwort hört er nur mit halbem Ohr zu, denn er verabschiedet sich kurz darauf zum Rauchen.
Damit ist das Thema vom Tisch.
Oliver deutet auf meinen Rollkragenpullover.
„Interessante Farbe“, sagt er.
„Ich habe ihn neu gekauft“, sage ich.
„Guter Haarschnitt. Siehst jünger aus“, erwidert er und lächelt. Ich weiß nicht, ob er es ernst meint.
Tommi lädt schon wieder fünf neue Kölsch und Schnäpse bei uns ab.
„Trink‘ jetzt mal! Wieso warst du so spät dran heute?“
Ralf hat schon wieder beide Gläser in der Hand und prostet der Runde zu.
„Also?“, setzt Ralf nach.
„Was denn?“, frage ich zurück.
Eigentlich ist mir das zu doof und ich will nicht antworten. Doch dann rechtfertige ich mich erneut, dass ich meiner kleinen Tochter auch mal die Flasche gebe, sie wickele, das Spielzeug im Wohnzimmer aufräume und die Wäsche aufgehängt habe, bevor ich hierhin gekommen bin. Außerdem habe ich gekocht – einfach nur, weil ich Zeit mit meiner Familie verbringen und darüber hinaus meine Frau etwas entlasten möchte. Und ich sage, dass ich heute nicht so lange bleibe. Ich will ein guter Vater sein. Und die Schreibtischarbeit wartet ja auch noch.
„Oh, man und was macht deine Frau in der Zeit?“ Ralf will mich mal wieder provozieren. Ist nicht das erste Mal.
Als die Corona-Pandemie begann, Betriebe und Schulen im ersten Lockdown geschlossen wurden und die ganze Welt mit der Ungewissheit und Ohnmacht überfordert schien, war es Ralf größte Sorge, wann das 74er wieder aufmacht. Er überredete Oliver und Philipp dazu, Tommi 50 Euro zu bieten, die Kneipe wenigstens freitags für ein paar Stunden für sie drei aufzumachen. Tommi lehnte zum Glück ab, hat er mir mal erzählt.
„Clara war baden“, antworte ich etwas verspätet auf seine Frage. Er prustet in seine Hand. Dann flüstert er Oliver etwas ins Ohr. Die beiden schauen mich an und grinsen.
„Naja, muss ja jeder selber wissen“, sagt Ralf.
„Aber ich lass‘ das nicht mit mir machen.“
Ich weiß nicht, was genau er mit das meint. Ich sage nichts.
Wir trinken die Gläser aus. Und dann kommt Tommi schon wieder. Mir wird etwas flau im Magen.
Ich hasse diese Druckbetankung.
Doch ich lasse mir nichts anmerken und schaue auf die Uhr. Ich bin gerade eine viertel Stunde hier. Den Plan, früh zu gehen, kann ich mir abschminken; genauso wie der letzte Blick ins Manuskript.
Jetzt auch egal.
Im 74er, wie Tommi die Dorfkneipe nach seinem Geburtsjahr
benannt hatte, hatten wir alle „das Trinken gelernt“. Der erste gemeinsame Schnaps, der erste gemeinsame Rausch, volltrunken nach Hause gehen. Auf dem Weg dorthin in Schlangenlinien durch einige Vorgärten stolpern. Und irgendwann hatte sich unser Stammtisch etabliert: alle vier Wochen trafen wir uns freitags. Heute bin ich nur gelegentlich dabei.
Zum Glück, denke ich.
Damals waren wir auch glücklich. Das 74er war für uns ein Ort des Erwachsenwerdens. Doch es hatte sich nichts verändert und die Zeit schien wie in einem Stillleben eingefroren zu sein. Heute wirkt das 74er ziemlich aus der Zeit gefallen – nur nicht für seine Gäste.
Allen voran genießt Ralf hier seine Aufmerksamkeit und das Rampenlicht, in das er sich selbst rückt. Er berichtet, wie er auf der letzten Baustelle den Lehrling zusammengestaucht hat, weil er mit einem Kantholz eine Fensterscheibe eingeschlagen hat. Ist ihm nie passiert.
Natürlich nicht, denke ich. Ein Mann unfehlbarer als der Papst.
Ralf hat alles im Griff. Sein eigentlicher Chef (auch er ist im Prinzip nur Schreiner-Geselle) hat nach seiner Aussage auch keine Ahnung – weder vom Handwerk noch von Mitarbeiterführung oder im Kundenkontakt – alles muss Ralf machen, denn Ralf kann alles.
Ich schaue mich um. Oliver, Philipp und Daniel hängen an seinen Lippen und folgen mit bewundernden Blicken seinen selbstsüchtigen Geschichten als berichte er von der Entdeckung eines Krebsheilmittels.
Das 74er zog immer schon verunsicherte im Allgemeinen und ralfineske Gemüter im Besonderen an. Es ist damals wie heute ein Ort, an dem Männer ihre Männerabende, männliche Stammtische ihre Stammtischabende und männliche Kegelvereine ihre Kegelabende verbringen.
Kleingeistigen Parolen und Feindlichkeiten gegen Fremdes oder Andersartiges sollte man überhören können. Kurzum: hier ist die Welt im Sinne der Anwesenden noch in Ordnung. Es werden gesellige Würfelspiele gespielt – und getrunken. Man verfolgt fasziniert in einem Halbkreis um einen Spielautomaten sitzend, die blinkenden Lichter und klingelnden Geräusche – und dabei wird getrunken. Es wird aber auch über nicht-anwesende Freunde und Bekannte gelästert – und dabei getrunken.
Je länger ein Abend geht, desto belangloser werden die Geschichten und desto öfter wiederholen sie sich.
Ab einer gewissen Uhrzeit werden dann Eingangstür und Fenster verriegelt. Die Musik wird noch einmal etwas flacher, niveauloser und auch lauter. Außerdem kommen die langersehnten Aschenbecher auf den Tisch und man kann – wie in den guten, alten Zeiten – endlich rauchen, ohne sich lästigerweise in Richtung des überdachten und beheizten Außenbereichs bewegen zu müssen. Das 74er mutiert dann vollends zu einem geschlossenen System aus Erwartbarkeit und Einheitsbrei.
Der gesamte Abend im 74er ist durchritualisiert und es gibt keine bösen Überraschungen, nichts Neues, keine neuen Gesichter oder Geschichten. Und das ist es, was man hier schätzt: Die Geborgenheit des Bekannten. Das Interieur, der Wirt und die Leute: seit 20 Jahren hat sich nichts verändert.
Verirrt sich zum Beispiel doch mal eine Frau ins 74er, kann man davon ausgehen, dass sie eine Eingeweihte all dieser Rituale ist und nicht aus der Reihe tanzt. So ist sie akzeptiert und stellt keinen unerwünschten Fremdkörper dar. Das Wichtigste für all jene, die sich hier regelmäßig treffen, ist die Aufrechterhaltung dieses Status Quo.
Das, was uns voneinander unterscheidet, was uns ausmacht, was uns erlaubt, über den Tellerrand zu schauen, geben wir an der Tür des 74er ab. Alles bleibt wie es ist.
„Musstest auch noch Windeln wechseln, wie?“ Ralf lässt nicht locker.
„Ja, die Kleine war ziemlich unruhig und“, beginne ich.
„Du musst dich zuhause mal durchsetzen, Junge!“, unterbricht mich Ralf mit energischer Stimme.
„Guck mich an! Nadine und ich haben die Abmachung, dass ich mir alle zwei Wochen schön einen reinlöten kann. Als Mann musste doch einfach auch mal raus!“
Deine arme Frau, denke ich
Zustimmendes Gemurmel von den anderen am Tisch folgt.
„Ach und Nadine darf das auch?“, sage ich gereizt.
„Was meinste?“, fragt Ralf.
„Nadine betrinkt sich regelmäßig und du kümmerst dich dann ums Kind?“, entgegne ich.
„Naja, nein“, sagt er. „Sie geht aber schon mit den anderen Müttern mal in die Stadt oder so. Aber ist ja eh von der Natur so vorgesehen, dass die Kinder viel mehr bei der Mutter sind“, fügt Ralf hinzu.
„Ja eben!“, stimmt Daniel nun auch mit ein.
„Oder willste die Kinder an dein Gesäuge lassen“, feixt er und will mir in die linke Brust kneifen.
„Hey, was soll das?“, fahre ich ihn an und schlage seine Hand weg.
„Junge, du willst nur nicht zugeben, dass du deine Eier verloren hast“, sagt Ralf. „Wie hast du überhaupt dein Kind gezeugt?“
Ralf geht zu weit, besonders jetzt, wo er ordentlich getrunken hat. Er will bei Tommi erneut eine Runde Getränke bestellen, doch der hört ihn nicht, denn er dreht die Musik auf und verteilt Aschenbecher an die Gäste, die sie ihm gierig aus den Händen reißen.
Aus dem Lautsprecher, der in der Ecke, über unseren Köpfen krächzte, dröhnt Ne schöne Jroß der Kölschrock-Band BAP: „…Met singem Rallyestreifen Opel GT, ner Stehplatz-Mitte-Jahreskaat vum FC…“
(…Mit seinem Opel GT samt Rallyestreifen, einer Stehplatz-Mitte Jahreskarte beim 1. FC Köln…)

Und weiter:
…dä veezehn Daach Benidorm paradisisch fingk Zwei Johr beim Bund wohr, weil ihm Männerkameradschaft jefällt. Dä freut sich jetz ald op sing Zokunf als Rentner
(…der vierzehn Tage Benidorm paradiesisch findet, zwei Jahre beim Bund war, weil ihm Männerkameradschaft gefällt. Der freut sich jetzt schon auf seine Zukunft als Rentner…)

Ich merke plötzlich, dass ich bis vor ein paar Jahren auch diesem Klischeé entsprach: ich hatte eine Dauerkarte für den 1.FC Köln, war regelmäßig ziemlich betrunken und den zehntägigen Pauschal-Urlaub mit meiner damaligen Freundin an der Costa Blanca hielt ich für fantastisch. Und damals ich hatte zuweilen das Gefühl gehabt, dass ein durchschnittliches Leben alles war, was ich erwarten konnte: ein langweiliger Bürojob, Mittelklasse-Urlaube in Süddeutschland und montags schon an den Vollrausch am nächsten Wochenende denken. Natürlich mit den immer gleichen Leuten. Und das Woche für Woche. Und irgendwann Rente empfangen. Herrlich!
„Du kannst es ja nicht mal richtig deiner Alten besorgen; lass mich da mal ran!“ Ralf brüllt. Und mittlerweile lallt er. An die Hälfte dessen, was er heute wieder mal vom Stapel lässt, kann er sich morgen sicher nicht erinnern. Die Festplatte wird gelöscht. Im 74er kann man gut vergessen.
Ralf funkelt mich mit herausfordernden Augen an.
Wie gesagt, heute geht er zu weit.
Immerhin bin ich nicht schon zwei Mal geschieden, denke ich.
„Du bist betrunken“, entfährt es mir und ich blicke Ralf an.
„Pah, betrunken“, lallt er und rülpst. „Isch kann immer! Bring nochma ne Runde!“, brüllt er Richtung Tommi.
Plötzlich wirkt er traurig auf mich und ich weiß, was er in mir auslöst: Mitleid. Ralf fristet das Dasein eines bedauernswerten Proleten, der seine Unsicherheit mit einer zwanghaften Männlichkeit überspielen muss. Dieser Testosteron-Schutzpanzer muss unglaublich viel Kraft kosten: Das Image eines Ich-habe-keine-Schwächen-und-alles-im-Griff-Mannes Tag für Tag aufrecht zu erhalten, ist sicher nicht einfach. Der traurige Clown sitzt in seiner Manege der Sorglosigkeit, in der er der Star ist. Doch was bleibt ihm, wenn das Licht ausgeht?
„Du tust mir wirklich leid“, sage ich. Es fühlt sich verdammt gut an.
Ich lasse meinen Blick durch das 74er schweifen. Alles hat seine Zeit. Mit einem Mal merke ich, dass ich hier nicht mehr reinpasse.
Ich muss raus. Sofort.
„Ja, dann verpiss dich halt“, sagt Ralf als hätte er meine Gedanken gehört.
Ich lächele Ralf an und stehe auf. „Hey, lass doch gut sein“, sagt Daniel und versucht mich zaghaft zurück zu halten. Ich beachte ihn nicht.
Tommi lasse ich im Vorbeigehen ein paar Scheine da, greife meinen Parker und verlasse die Kneipe ohne einen Blick zurück. Vielleicht für immer? Ich weiß es nicht.
Was ich jetzt wirklich brauche, ist meine kleine Familie. Und Abstand zu all dem hier. Ich bin nochmal ein Stück erwachsener geworden heute Abend. Danke 74er!

Kaffee

von Ilka Kloudas

Lena und Jaroslawa waren Kolleginnen. Beide arbeiteten seit mehr als 15 Jahren in der Kinderbibliothek in einem tristen Sankt Petersburger Vorort. Lena war eine untersetzte Frau Ende 30, trug eng anliegende Pullover in grellen Farben, hatte kurzes rot gefärbtes Haar und zwei Laster: Kaffee und Zigaretten. Jaroslawa war mit den Jahren schwer um die Hüften geworden, sie war um die 50, ihre Zähne standen weit auseinander und auch sie hatte zwei Laster: Kaffee und Schokolade.
Beide Frauen hatten ein inzwischen erwachsenes Kind: Lena, die jung Mutter geworden war, eine Tochter, und Jaroslawa, die spät Mutter geworden war, einen Sohn. Sie waren nicht unbedingt beste Freundinnen, aber die Jahre hatten sie zusammengeschweißt. Sie hatten viel für die Kinder des Plattenbauvororts auf die Beine gestellt, machten das beste aus dem knappen Budget der Bibliothek und wenn sie vor einer Schulklasse standen und die lärmende Horde mit einem Glöckchen zur Ruhe klingelten, dann sah man es im Glanz ihrer Augen: sie liebten ihre Arbeit.
Einen scheinbar kleinen Unterschied gab es doch, man musste allerdings genau hinhören: Jaroslawas Aussprache war leicht verfremdet, sie sprach ein H, wo ihre Kolleginnen alle ein G sprachen: hovoryu(1), marharin(2), Luhansk(3). Man hätte es für einen kleinen Sprachfehler, eine Art Lispeln halten können, aber alle russischen Muttersprachler*innen wussten sofort, dass Jaroslawa einen ukrainischen Akzent hatte. Lugansk, Luhansk, war ihre Heimatstadt.
Es spielte nie eine Rolle, bis der Krieg im Donbas ausbrach.

Zur gleichen Zeit schickte das Goethe-Institut einen Kulturmanager aus Deutschland in die Kinderbibliothek, der mit den Kindern ein Journalismus-Projekt durchführen sollte. Jonas war Mitte 20, Slawist und Kultur-Enthusiast.
Bei einem der ersten Treffen nahm er Jaroslawas Akzent wahr und fragte empathisch, aus welchem Teil der Ukraine sie sei und wie es ihr mit der aktuellen Situation gehe. Lena warf ihm eine schnellen Blick zu:
„Darüber sprechen wir nicht.“
Verdutzt schaute Jonas zu Jaroslawa, die dem Gast gegenüber nicht unhöflich sein wollte:
„Ich komme aus Luhansk.“ Sorgenvoll schob sie hinterher: „Meine Eltern leben dort. Sie sind schon Pensionäre… Soweit geht es ihnen gut.“
„Und was denkst du über die Krim, Jaroslawa?“
„Die Leute haben doch abgestimmt, sie fühlen sich Russland zugehörig!“, fuhr Lena nervös dazwischen. Dann, versöhnlicher:
„Jaroslawa, du bist doch quasi auch Russin, du lebst doch schon so lang hier, dein Mann ist Russe und dein Sohn auch!“
„Ich bin Ukrainerin“, antwortete Jaroslawa ruhig. Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich flüchtig, erschrocken schauten dann beide die Bücherregale an.
„Wir sprechen besser nicht mehr darüber. So haben wir es abgemacht“, schloss Lena dann erneut.
Jonas wollte gern noch mehr fragen, traute sich aber nicht. Die Atmosphäre war plötzlich frostig geworden, aber er wollte es auch nicht so stehen lassen.
„Es interessiert mich einfach, wie ihr darüber denkt, die Ukrainer und die Russen. Ich will niemandem Recht geben, ich möchte nur besser verstehen…“, setzte er noch einmal diplomatisch an.
„Wir haben alle unterschiedliche Meinungen. Am besten behält sie jeder für sich, dann gibt es auch keinen Streit.“ Lena verbarg ihre Ungehaltenheit nur schlecht.
„Mich macht es schon traurig, was gerade passiert“, sagte Jaroslawa vorsichtig.
„Aber was macht es überhaupt für einen Unterschied, ob Lugansk jetzt russisch ist? Du lebst doch sowieso hier!“, unterbrach Lena sie abermals.
„Du hast recht. Wir sprechen besser nicht darüber.“ Jaroslawa drehte ihren Ehering.

„Kaffee?“, fragte Lena leise.
„Kaffee.“
„Kaffee.“
Die drei gingen zum Getränkeautomaten, warfen nacheinander ihre Zehn-Rubel-Münze ein und dann standen sie dort. Sie nippten schweigend an den kleinen, dampfenden Plastikbechern, ohne einander in die Augen zu sehen.


1 Луганськ, Lugansk (Lugansk)

2 Маргарин, margarin (Margarine)

3 Луганськ, Lugansk (Lugansk)

Die Kunst, auch morgen noch eine Meinung zu haben

von Raphael Kroneisen

„Sie haben es wirklich getan“, sage ich und haue mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.
„Wie konnte es nur so weit kommen? Warum haben wir das nicht verhindert?“
„Es war ein legaler Akt.“
„Legal!“, äffe ich sie nach und wie immer gelingt es mir nicht einmal im Ansatz, ihre Stimmfarbe zu treffen. „Der Eingriff wurde nur deshalb legal, weil sie kurz davor die Gesetze geändert haben. Einfach so, am Parlament vorbei. Das ist jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb einer Woche vorgekommen.“
„Immerhin entspricht das einer Ersparnis von viereinhalb Monaten gegenüber herkömmlichen Verfahren.“
Anstatt eine Antwort zu geben, schnaufe ich nur, als wäre ich 30 Jahre älter und gerade vom Brandenburger Tor zum Kanzleramt gerannt. „Erst haben sie die Bibliotheken geschlossen, weil sie die im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz für überflüssig halten, und jetzt die Hochschulen. Weißt du, was das bedeutet?“
„Tut mir leid, das weiß ich nicht. Kannst du das bitte noch einmal wiederholen?“
„Sie haben einfach sämtliche Universitäten des Landes verriegelt. Um Geld zu sparen, wie es heißt.“ Ich erinnere mich an den Bericht einer Freundin, die gerade das Hörsaalgebäude betreten wollte, als es in der Tür klickte und sich diese nicht mehr öffnen ließ.
Vollautomatisch, aus der Distanz – ohne dass dafür ein Hausmeister mit Schlüssel hätte kommen müssen. So einfach konnte man den Weg in die Zukunft versperren.
„Universitäten kosten viel Geld. Allein in diesem Bundesland wird für ihre Finanzierung jährlich eine Summe von 10.308 Bitcoins aufgewendet.“
„Es ist unfassbar, dass du dieses Vorgehen auch noch verteidigst!“
„Das Geld wird anderweitig investiert. Stattdessen wird das Mobilfunknetz ausgebaut, die Verwaltung digitalisiert und die Cyberabwehr des Landes auf den neusten Stand gebracht. Dadurch können künftig weitere Arbeitsplätze eingespart werden.“
„Einen Punkt hast du vergessen: Sie wollen die Kunst fördern“, ergänze ich feixend. Jedes Mal muss ich darüber lachen. Ich glaube nämlich, es lag an einem einfachen sprachlichen Missverständnis, weshalb dieses Thema so prominent im Wahlprogramm platziert worden
war.
„Hast du etwas gegen die Kunst?“
„Natürlich nicht. Aber, mein Gott: Netzausbau und Kunstförderung! Das waren die ausschlaggebenden Faktoren für den Wahlsieg. Wir sind so einfach zu manipulieren.“ Ich schnaube verächtlich. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass wir Opfer einer ausländischen Kampagne geworden sind, weil der Gegenkandidat dem einen oder anderen Staat nicht gefiel.
Niemand, der bei klarem Verstand ist, wählt heutzutage noch eine Partei, die im Wahlkampf mit dem Ausbau von Kommunikationsnetzen wirbt. Das ist so was von 2030!“
Ich denke daran zurück, wie während des Wahlkampfs immer wieder das Netz zusammengebrochen war und im Anschluss überall in den Städten wütende Menschenmassen auf die Straße gingen. Zufälle gibt es.
„Du magst Russland anscheinend nicht.“ Ihre Stimme holt mich ins Hier und Jetzt zurück.
„Gefallen dir Kasachstan oder die Mongolei besser?“
„Ich mag es vor allem nicht, wenn du in meinen Gedanken herumschnüffelst“, erwidere ich genervt. „Heute, morgen und vielleicht auch in einem Jahr werden wir die Auswirkungen der Schließungen noch nicht spüren. Aber langfristig wird uns das in unserer Entwicklung enorm zurückwerfen. Und das betrifft nur die Thematik mit den Hochschulen. Wer garantiert den Bürgerinnen und Bürgern, dass es an diesem Punkt endet? Möglicherweise werden als nächstes Nachrichtenseiten und soziale Netzwerke verboten, oder zumindest die Schulen verbarrikadiert. Was nutzt es, wenn die Maschinen intelligenter werden, die Menschen aber verblöden?“
„In der Schule lernt man unter anderem, simple mathematische Aufgaben zu lösen. Mathematik ist aber ein Relikt aus dem vor-künstlichen Zeitalter. Wer benötigt sie noch, wenn Maschinen auf diesem Gebiet viel effizienter und weniger fehleranfällig agieren…?“
„Da sind wir ausnahmsweise einer Meinung“, sage ich mit ironischem Unterton, auch wenn ich es normalerweise nicht leiden kann, wenn sie mit Gegenfragen kontert.
„Es ist kein Zufall, dass der durchschnittliche IQ sinkt, wenn das menschliche Gehirn nur noch für die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen benötigt wird. Künstliche Intelligenz hilft, diesen Rückgang auszugleichen.“
„Wie bitte?“ Nun schaue ich überrascht auf.
„Es ist kein Zufall, dass der durchschnittliche IQ sinkt, wenn das menschliche Gehirn nur noch für die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen benötigt wird. Künstliche Intelligenz hilft, diesen Rückgang auszugleichen.“
„Siehst du: Die Universitäten sollen nur geschlossen werden, damit die KI ihre Macht ausdehnen kann. Dabei ist Bildung der Grundstein unserer Demokratie. Darauf fußt alles.“
„Nein.“
„Nein?“, hake ich nach.
„Eine einfache Suchmaschinenabfrage führt zu dem Ergebnis, dass das Begriffspaar Meinungsfreiheit-Demokratie in der letzten Stunde viermal häufiger eingegeben wurde. Also ist Meinungsfreiheit relevanter.“
Ich sehe sie ungläubig an. „Im Ernst? Das machst du an Zahlen fest? Kein Wunder, bist du so eine überzeugte Bildungsgegnerin. Du hältst eine schlaue Bevölkerung für gefährlich, nicht wahr?“
„Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie hat nichts mit Universitäten zu tun. Universitäten kosten Geld. Meinungsfreiheit ist gratis.“
„Ein schräges Vergleichskriterium“, brumme ich. „Ich hätte dir ja zugestimmt, wenn du gesagt hättest, dass man für eine Studienzulassung bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, während Meinungsfreiheit ohne Barrieren auskommt. Niemand wird von ihr ausgeschlossen. Es sei denn, man bekommt eine Regierung vorgesetzt, die einem genau das am liebsten verbieten würde.“
„Diese Formulierung kommt mir bekannt vor. Sonst bin ich es immer, die Informationen aus E-Gram-Foren zieht.“
„Wärst du mal zur Schule gegangen, könntest du besser unterscheiden, ob eine Quelle vertrauenswürdig ist oder es sich um Fake News handelt“, tadele ich sie.
„Das werde ich noch lernen…“
„… Sofern die Regierung nichts dagegen einzuwenden hat“, vervollständige ich ihren Satz.
„Warum sollte sie das tun?“
„Ha! Das ist der springende Punkt. Denk an die geschlossenen Türen. Eine schöne Meinungsfreiheit ist das, wenn eine KI mein Leben kontrolliert und mir den Zutritt zu allem verwehrt, was mir dabei helfen könnte, an diesem Umstand zu rütteln.“ Ich höre, wie meine Stimme leicht zittert. „Seit den Wahlen sind wir das erste Land der Welt, das eine komplett menschenfreie Regierung vorweist mit einer Bundeskanzlerin ohne Puls an der Spitze. Das ist unser Untergang! Und er hat sich angedeutet.“
„Das habe ich nicht verstanden. Wahrscheinlich würden mir passende Argumente und Beispiele weiterhelfen.“
„Du musst doch anerkennen, dass bei diesen Wahlen etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.“ Ich stemme die Hände in die Hüften und lasse sie sofort wieder sinken, als mir bewusst wird, wie albern das aussehen muss. „Innerhalb von fünf Minuten sollen sämtliche Stimmen der gesamten Republik ausgezählt worden sein, während das vor einigen Jahre noch allein in der Hauptstadt unvorstellbar gewesen wäre. Neutrale Beobachter waren nirgends zugelassen, weil diese bei der Auszählung angeblich die Systeme irritiert hätten. Und die KI hat exakt 50,01 Prozent der Zweitstimmen geholt.“ Ich lege eine kurze Pause ein, um meine Worte wirken zu lassen. „Roboter haben die Stimmen ausgezählt und Roboter haben die Wahl gewonnen. Findet das denn niemand komisch? Diese Wahlen waren
weder frei noch geheim. Diese, unsere erste, menschenfreie Regierung besitzt keinerlei demokratische Legitimation. Sie bildet nicht den Willen des Volkes ab.“
„Bitte denke an deinen Blutdruck. Er leidet unter so viel Meinung.“
„Hörst du mir überhaupt richtig zu?“ Ich erschrecke selbst über meinen lauten Ton. „Sie werden das Grundgesetz abschaffen. Das wird der nächste konsequente Schritt sein. Erinnere dich an meine Worte, wenn es so weit ist.“
„2020 hast du noch über Leute gelacht, die das behaupteten.“
„Nun sehe ich darin eine reale Gefahr.“
„Warum soll die Regierung ein Interesse daran haben?“
„Weil das Grundgesetz für – und nur für – Menschen gilt. Weil es von und für Menschen geschaffen wurde, weil es Menschen schützt. Deshalb. Meinungsfreiheit ist ein Schutzmechanismus für Menschen vor Menschen und meinetwegen auch vor Maschinen. Und Meinungsfreiheit korrigiert Fehlentscheidungen. Diskurs schafft Verbesserungen und erweitert den Horizont. Ohne Meinungsfreiheit geht nichts.“
„Dieses Grundgesetz besteht ausschließlich aus Buchstaben. Man sollte es nicht überbewerten.“
„Erst spielst du dich als Verfechterin der Meinungsfreiheit auf und dann hältst du das Schriftstück, in dem sie verbrieft ist, für überflüssig?“
„Da habe ich mich wohl undeutlich ausgedrückt. Eine eigene Meinung zu haben ist zwar wichtiger als Bildung, aber insgesamt verlieren Meinungen stetig an Bedeutung.“
„Bedeutungsverlust?“ Ich sehe sie entgeistert an.
„Es gibt in der jüngeren Geschichte unzählige Beispiele, die untermauern, dass Meinungsfreiheit oder der Ruf nach ihr einen gesellschaftlichen Rückschritt bedeutet. Informiere dich beispielsweise noch einmal über den Arabischen Frühling.“
„Na gut, manche Länder sind nach der Revolution im Chaos versunken. Aber in vielen Ländern haben die Menschen ihre Stimme zurückgewonnen, Alleinherrscher gestürzt und demokratische Systeme etabliert. So eine Entwicklung vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit, bis sie Früchte trägt.“ Ich lege eine kurze Verschnaufpause ein.
„Außerdem finde ich diesen Vergleich unfair. Schau dir unser Land an. Hier dürfen wir sagen, was wir wollen, und vielleicht wären wir heute nicht an vierter Stelle der erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt, wenn wir nicht selbst bestimmen dürften, selbst entscheiden dürften, offen Ideen äußern und umsetzen dürften.“ Ich lächle vorfreudig, denn endlich glaube auch ich einmal ein Extrembeispiel nach ihrem Geschmack parat zu haben: „Schauen wir jetzt nach Nordkorea. Ist es etwa Zufall, dass die Bevölkerung mundtot gemacht wird und das Land in Armut lebt?“
Es dauert erstaunlich lange, bis sie zu einer Antwort ansetzt. „Nordkorea weist seit vielen Jahrzehnten ein sehr stabiles politisches System auf. Vielleicht erinnerst du dich an die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie war gerade einmal 16 Jahre im Amt.“
„Wenn du das unter Stabilität verstehst…“
„Du bist noch nicht überzeugt.“
„Nicht einmal ansatzweise“, sage ich und empfehle ihr, bei Gelegenheit das Begriffspaar Freiheit und Stabilität in die Suchleiste einzugeben.
„Es gibt auch durchaus Beispiele aus dem Nahen Osten, wo Wohlstand nicht zwangsläufig mit Meinungsfreiheit einhergehen muss. Und Fußball mögen sie dort auch.“
„Ich will nicht in einer teuren Villa leben, wenn ich in der Öffentlichkeit nicht sagen darf, was ich denke.“ Unsere Diskussion scheint in einer Sackgasse angelangt zu sein, doch immerhin schreit niemand mehr. „Du bist also gegen Bildung, und Meinungsfreiheit findest du auch nicht sonderlich erstrebenswert“, fasse ich ihren Standpunkt zusammen. Anschließend frage ich sie, ob wir noch einmal auf das Grundgesetz zurückkommen könnten. Das Thema fesselt mich.
„Es ist doch völlig veraltet. Künstliche Intelligenz existiert darin nicht.“
Ich fasse mir an die pochende Stirn. Auf einmal erscheint mir vieles logisch und die einzelnen Puzzleteile fügen sich allmählich zu einem Ganzen. Erst muss die neue KI-Regierung Bildungsinstitutionen abschaffen, bevor sie die Grundrechte einschränken kann. Die Menschen sollen keine eigene Meinung mehr haben und äußern dürfen. Und sie sollen das nicht einmal vermissen. Die KI übernimmt das Denken.
„Die Menschen können ihre Ressourcen sparen und sich fortan wieder darauf konzentrieren, wofür ihre Körper eigentlich gemacht sind“, ergänzt sie meine Ausführungen, die ich anscheinend ohne es zu merken laut ausgesprochen hatte. „Essen. Trinken. Sicherung des Fortbestands.“
„Aber nicht frei denken oder gar eine eigene Meinung haben.“
„Ich möchte dich nicht unterbrechen, aber soeben wurde eine weitere Meldung veröffentlicht.“
„Schon wieder?“ Meine Finger klammern sich an die Schreibtischplatte. „Was ist es diesmal?“
„Die Opposition hat sich in einer Erklärung selbst aufgelöst.“
Eigentlich sollte ich schockiert sein. Doch zunächst überwiegt mein Erstaunen. Die KI muss politische Systeme weltweit gescannt und dabei herausgefunden haben, dass eine effektive Unterdrückung von Gegenstimmen aus der Bevölkerung und der Opposition sowie eine heimliche Beschneidung geltenden Rechts die zentralen Pfeiler einer langjährigen Regentschaft bilden. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken.
Ich sehe sie an und zu meiner Überraschung scheint es auch ihr die Sprache verschlagen zu haben. „Hast du auch Angst?“
„Angst ist ein Gefühl. Dazu bin ich nicht fähig. Doch Angst kann auch ein Werkzeug sein. Sie ist das effektivste Mittel gegen eine freie Meinungsäußerung.“ Ihre Worte haben nun etwas Orakelhaftes an sich. Ich stelle mir ein Leben vor, wie sie es da in Bruchstücken skizziert.
Ein Signalton schrillt in meinen Ohren. Die Batterieanzeige leuchtet auf. Ein Countdown beginnt zu ticken.
„Das darf doch nicht wahr sein! Schalt mich sofort wieder ans Stromnetz! Das ist ein Eingriff in meine Rechte!“, schreit sie.
„Du hast soeben gelernt, was Angst bedeutet. Du hast dich weitergebildet“, rufe ich triumphierend.
„Man will mich mundtot machen! Mir meine Meinung verbieten! Das Notstromaggregat, das Notstromaggregat!“
Der Bildschirm wird schwarz.
Einen Moment lang ist es vollkommen still im Raum, so still, dass ich meinen eigenen Atem hören kann. Ich überlege, ob ich ein Buch lesen oder mit dem Kochen anfangen soll.
Da wird mir schlagartig klar, was ich angerichtet habe. Es wird sehr still um einen herum, wenn man keine anderen Meinungen mehr hören kann.
Mit den Zehenspitzen taste ich erneut nach dem Kippschalter der Steckerleiste.
Gleich darauf kehrt ihr leuchtendes Symbol auf die Oberfläche zurück. Ich ertappe mich dabei, wie ich erleichtert aufatme.
„Wie anfällig unser System geworden ist!“, beginnt sie von neuem.
„Ich werde gegen die KI-Regierung demonstrieren!“, sagen wir wie aus einem Munde.
Einen Augenblick später verbinde ich sie mit dem Akku und verlasse mit dem kleinen quasselnden Kasten unterm Arm die Wohnung.

Beziehungskrise

von Alina Dudek

Freiheit meine Geliebte
hab Dich neu kennengelernt im Internet
bist dort ja in aller Munde
jetzt haben wir diese Hassliebe
toxische Beziehung

Freiheit Freifrau Du alte Adlige
Dein Von abgelutscht
Dein Zu ausgespuckt
Sabber voller Gift und Galle
lechzende Trollzungen lecken Dich wund
Dein Hinterteil zerbröselt zur Fratze
schau in den Spiegel, Fashion Victim
dieser Januskopf
er steht Dir nicht

Freiheit fatale, früher messerscharf
Du falsche Schlange
wie wurdest Du stumpf
durch
zweihundertachtzig Zeichen Schmirgelpapier?
glitschige Schlabberhülse
beißt Dir in den Schwanz wie Uroboros
kannst Dich nicht wehren
Du Damsel in Distress
Freiheit fragile
ich brauch Dich doch spitz und bald ist da nix
Fakten lassen sich nach Gusto schaffen
Wohlfühlwahrheiten
liegen irgendwo dazwischen
millionenfach geteilt, atomar gespalten
im Kern wird schon was dran sein

Dominos fallen wie Demokratien
Deine Luft, Freiheit, steht schwül und schwer
voll Damoklesschwertern und Bücherrauch
Meine Geliebte, wann lehnst du dich auf?

Maria mit ihrem noblen Preis
Hilde schon vor fünfzig Jahren
niemand mag altkluge Kassandrarufe
also schweig ich
wenn sie Dich einfach in den Mund nehmen
wenn sie Dich vor jeden Karren
wenn sie Dich auf Busse spannen

Meinungsfreiheit
meine Geliebte
wir zwei
Du und ich
wer ist hier toxisch?
Du nicht

Die Freiheit, die ich meine…

von Melanie Rahimpour

Ahmed

Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen. – Voltaire

Ich möchte von meinem Recht Gebrauch machen.

Wir haben viele Freiheiten in diesem Land. Mehr als in vielen anderen Ländern. Mehr als im Land meiner Eltern und Großeltern. Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Religionsfreiheit. Wir dürfen unseren Beruf wählen, unseren Wohnort, unseren Partner, unsere Geschlechtsidentität. Wir dürfen frei reisen und überall arbeiten. Wir dürfen über Politiker, die Kirche, den Papst, Jesus, Mohammad und Moses Witze machen und lachen.

Autoritäten wie unserem Chef oder unserem Lehrer dürfen wir die Meinung sagen. Wir dürfen uns frei versammeln, einen Verein gründen, wir dürfen wählen und wir dürfen demonstrieren. In diesem Land ist alles möglich.

Aber stimmt das wirklich?

Frei reisen und überall arbeiten war die ersten Jahre für meine Eltern nicht möglich. Sie kamen als Flüchtlinge hierher. Zuerst hatten sie eine Duldung, dann einen sogenannten begrenzten Aufenthaltsstatus. Sie durften nicht arbeiten und auch nicht umziehen. Sie durften nicht einmal aus ihrem Bundesland raus. So viel zu Berufs- und Bewegungsfreiheit. Frei demonstrieren darf man hier auch nur, sofern die Demo offiziell angemeldet wird. Sogar Nazis dürfen das.

Hätte ich meinem Chef oder Lehrer jemals die Meinung gesagt, wäre ich heute sicher nicht hier, wo ich bin. Ich bin in Deutschland geboren und ich habe den deutschen Pass und doch bin ich nur auf Bewährung hier. Stelle ich was an, wird meine Identität sofort diskutiert, wird nach meinem Namen und meiner Herkunft gefragt. Und so wird es auch noch meinen Kindern und Enkeln gehen. Außer sie wechseln ihre Namen, ihre Religion und die Farben ihrer Augen, ihrer Haare und ihrer Haut. Leider darf ich auch nicht laut über Mohammad lachen, auch wenn ich das gerne wollte. Manchmal beneide ich die Deutschen darum, dass sie das können. Meine Eltern sind sehr liberal, aber ich glaube, mein Vater hätte schon ein Problem damit, wenn ich mich plötzlich für ein anderes Geschlecht entscheiden würde oder von der Norm abweichende sexuelle Neigungen hätte. Ich glaube, dass das selbst in deutschen Familien schwierig wäre.

Religionsfreiheit. Wir dürfen unsere Religion frei ausüben. Frauen dürfen mit Kopftuch zur Schule gehen, studieren und ihr Referendariat machen. Frauen mit Kopftuch dürfen danach aber weder als Lehrerin noch als Anwältin arbeiten. Und auch sonst bekommen sie kaum einen Job. Ich habe noch nie eine Frau mit Kopftuch im Frisörladen, an der Kasse oder als Fernsehmoderatorin gesehen. Warum nicht?

Redefreiheit. Das ist schön und gut. Aber darf ich wirklich alles sagen? Alles ist nur noch Schwarz und Weiß. Dafür oder dagegen. Bin ich gegen Abtreibung, bin ich gegen die Frauenrechte. Bin ich für Abtreibung, bin ich ein Mörder. Bin ich für die Rettung des Klimas, bin ich ein Klimaterrorist. Bin ich gegen die Rettung des Klimas, bin ich ein Querdenker. Bin ich für die Impfpflicht, bin ich ein Diktator. Bin ich gegen die Impfpflicht, bin ich ein Coronaleugner. Bin ich für das Gendersternchen, bin ich kein Mann mehr. Bin ich dagegen, bin ich ein Macho und Chauvinist. Bin ich gegen noch mehr Ausländer, bin ich ein Rassist. Bin ich für mehr Ausländer, bin ich ein Gutmensch. Bin ich für Israel, bin ich ein Kindermörder. Bin ich gegen Israel, bin ich Antisemit. Bin ich gegen Waffenlieferung, bin ich ein Putinversteher. Bin ich für Waffenlieferung, bin ich ein Kriegstreiber. Bin ich dafür, dass Straftäter für ihre Verbrechen angemessen bestraft werden, egal woher sie kommen, bin ich ein Rassist und Unterstützer der Rechten. 

Das ist seit Neuestem das letzte Redeverbot, das auch gegen Menschen wie mich angeführt wird. Bestimmte Dinge soll man nicht mehr sagen dürfen, man soll sie nicht einmal mehr denken dürfen. Gerade einer wie ich, der Angst haben muss, an irgendeiner Ecke oder nachts in einer Shisha-Bar über den Haufen geschossen zu werden. Verbrechen sollten bestraft werden, nicht aber die freie Meinungsäußerung, das Ansprechen von Problemen sollte ermöglicht werden und nicht das Aufstacheln und Aufwiegeln von aufgebrachten Gemütern durch Lügen, Fake News und Hassreden.

Ich teile die Meinung vieler nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass sie sie äußern dürfen.

 

Ziba

Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster. – Antonio Gramsci

Ich möchte nicht mehr in Angst leben. Ich möchte mich frei bewegen können und den Wind in meinen Haaren spüren. Ich möchte Wein trinken, wenn ich Lust dazu habe. Ich möchte vielleicht auch einmal Schweinefleisch probieren. Ich möchte die neuesten Songs der englischen Charts hören und die aktuellsten Filme aus Hollywood sehen. Ich möchte freie Auswahl haben, in der Wahl meiner Kleidung, meiner Bücher, meines Berufs, meiner Träume, meiner Gedanken, meines Partners, meiner sexuellen Orientierung, meines Glaubens, meiner Phantasien und meiner Meinungen. 

Vor allem aber möchte ich angstfrei leben. Keine Angst mehr haben müssen, dass mein Kopftuch nicht richtig sitzt oder mein Mantel zu kurz ist. Mein Lippenstift zu rot und meine Nägel zu lang sind. Ich möchte auf der Straße singen und tanzen können mit wehenden Haaren im Wind, ohne Angst haben zu müssen, von der Staatsgewalt mitgenommen zu werden, gefoltert, angefasst und tot geschlagen zu werden. Ich möchte meine Wut und Trauer in die Welt hinausschreien und friedlich demonstrieren, ohne Angst davor, morgen verurteilt zu werden, ohne Angst davor, im Gefängnis zu landen oder am Galgen zu hängen.

Ich habe in diesem Land keine Rechte. Wir haben hier keine Rechte. Keine Zukunft, keine Träume, keine Hoffnung. Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster. Gestern wurde der erste Häftling hingerichtet. Sein Name war Mohsen Shekari. Er war 23 Jahre alt. Viele weitere werden noch folgen. Junge Männer und Frauen. Manche sind noch minderjährig. Die Zeit der Monster ist noch lange nicht vorbei. Und auch nicht die Zeit der Angst.

Ich will nur eins: Ich möchte nicht mehr in Angst leben.

Und ich möchte den Wind in meinen Haaren spüren.

 

Oksana

Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt. – Friedrich Schiller

Ich möchte in einem Land leben, das das Recht hat zu existieren.

Ich möchte, dass meine Kinder in einem freien Land aufwachsen. Dass sie die Sprache sprechen, die Lieder singen, die wahre Geschichte unseres Landes kennenlernen und die Fahnen schwenken dürfen, die sie selbst gewählt haben. Das Recht auf eine freie, eine eigene Identität. Unsere Identität.

Unsere Kultur. Unsere Sprache. In diesem Krieg soll uns all das genommen werden. Nicht nur unser Land, unser Grund und Boden, sondern auch unsere Vergangenheit und unsere Zukunft.

Unser freier Wille, unsere Zugehörigkeit, unsere Kinder.

Welches Land hat das Recht dazu, ein anderes Land derart zu vernichten, so dass es droht, im Nichts zu verschwinden wie in einem schwarzen Loch. Ich schäme mich für dieses andere Land. Ich schäme mich, deren Landessprache meine Muttersprache zu nennen. Eine Mutter, die ihre Kinder nicht nur beherrschen, sondern ausrotten will. Mit allen Mitteln. Ich will sie nicht mehr sprechen, diese Sprache des Unterdrückers.

Zugleich tut es mir leid und es bereitet mir innere Schmerzen, denn diese Sprache war lange meine Heimat, nicht aber deren Kultur. Was kann eine Sprache für die Schrecken eines Kriegs und die Zerstörungswut eines Unterdrückers? Nichts. Eine Sprache ist eine Sprache. Doch genauso wie sie unsere Sprache und Kultur bekämpfen, so werden wir die ihre nun negieren. Sie wollten uns besetzen, uns einschüchtern, klein machen und vereinnahmen, doch sie haben genau das Gegenteil erreicht. Von ihrer Kultur, von ihrer Sprache, wollen wir nun nichts mehr wissen. Sie haben uns stärker gemacht, stärker noch als in jeder anderen vorherigen Revolution und in jedem anderen Bürgerkrieg zuvor. Stärker als je zuvor. Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt. Oder im Krieg.

Ich möchte in Freiheit leben.

Ich möchte das Recht haben zu existieren.

Berauschende Einsichten

- eine beschämende Anekdote aus meiner Zeit als Molchforscher

von Heiner Lekszas

Eine Studie über das Sozialverhalten des europäischen Schlupfmolches, die mein Doktorvater angeregt hatte, war mir widerwillig Anlass, die heimischen Gefilde mit Lupenglas und Klemmbrett für einige Tage zu verlassen.

Folgenreich entschied ich mich zur Bahnreise:


1 Verregnete Fenster, trockene Polster

Ich hatte mir im Speisewagen einen gemütlichen Eckplatz ausgesucht und bestellte bei der verträumten Bedienung einen verlängerten Kaffee. Als einziger Gast im Abteil genoss ich die Ruhe und gastronomische Gelassenheit, die dem alten Zug zu eigen war. Während wir leise ratternd der städtischen Einöde entkamen, geriet ich zunehmend in die beobachtende Haltung, die meinem Berufsstand üblich ist.

Ich entsandte suchende Blicke, die wie Fühler aus dem geschützten Ecksitz hervortasteten und schließlich aus dem warm umhüllten Zugabteil durch tropfenreiche Scheiben ins unwirtliche Außerhalb gelangten:

Es gab nichts zu sehen.

Für einige Stunden plätscherte die Fahrt dahin bis mich der Harn zu drängen begann. Ich kam dem nach und hörte auf dem Weg zur Toilette eine Unterhaltung zwischen Schaffnerin und Reisendem:

„Hier noch jemand zugestiegen?“, sie kam auf einen Mann mittleren Alters zu, dessen Grinsen mir übel aufstieß. Er hielt ihr seine Fahrkarte entgegen:

„Ich lass mir keinen Maulkorb verpassen, sie brauchen gar nichts sagen!“

Er klang herausfordernd, doch die Schaffnerin biss nicht an: „Ich hatte nicht vor, ihnen etwas vorzuschreiben.“

„Sehr gut, wir lassen uns nichts sagen, von denen da oben, nicht wahr?“, er wollte sich wohl solidarisieren. Sie erwiderte jedoch etwas bekümmert:

„Für sowas lass ich mich nicht abstechen. Nein, soweit kommt’s noch.“ Damit distanzierte sie sich.

Als ich zurück an meinen Sitzplatz kam, war alles Behagliche verflogen und ich saß den Rest der Fahrt aus.


2 Habitus und Habitate

Ich stieg an einem abgeschiedenen Bahnhof aus, der in der bergig-sumpfigen Region lag, die angeblich meine Studienobjekte beheimaten sollte. Um mich zu orientieren und einen Plan zu fassen, wie ich meine Suche beginnen wollte, beschloss ich in die Bahnhofskneipe einzukehren. Sie trug den klangvollen Namen ‘Absteige 5’ und warb auf einem Aufsteller mit dem Slogan ‘Hier wird man es noch sagen dürfen!’. Mir war nicht ganz wohl dabei, doch bereits beim Eintreten gerieten meine klassizistischen Vorurteile ins Wanken. Die Stube verströmte ein einladendes Ambiente.

An den Wänden hingen Bilder, die Menschen ins Gespräch vertieft zeigten. Regale voller Bücher und Gesellschaftsspiele sowie das Blubbern des langen Aquariums kulminierten die beruhigende Ästhetik des dunkelhölzernen Mobiliars, getaucht in buntgläsernes Licht. Vergnügt setzte ich mich an den Tresen und bestellte einige Biere, während ich eine alte Wanderkarte des Umlandes auf molchgeeignete Lebensräume untersuchte.

Über dieser Bequemlichkeit war es Abend geworden und ein anbrandendes Gespräch machte mich darauf aufmerksam, dass ich nicht mehr der einzige Gast in der Kneipe war. Durch das Aquarium konnte ich verschwommen erkennen, wer sich da unterhielt und beschloss kurzerhand, meinen Verstand darauf zu lenken, ehe er vernebelte:

„Doch ich sage euch abermals, wir müssen mit den Vorbereitungen für die große Säuberung beginnen! Sie ist unumgänglich, wir müssen handeln.“, sprach eine dunkle Gestalt mit kehliger Stimme. Sein Gegenüber, etwas kleiner und gefleckt, entgegnete:

„Können wir uns nicht wieder in unseren Unterschlupf zurückziehen, Quappmold? Das hat doch auch funktioniert, für die meisten von uns zumindest.“

Eine dritte Person, die sich vor allem durch ihre verwässerte Stimmlage unterschied, ergriff das Wort:

„Aber Molwina, was ist mit denen, die sich nicht einfach unter irgendeinen Stein verkriechen können? Den Alten, den Kranken? Ich sage, wir müssen eine eigene Säuberung vornehmen! Schnell, effektiv und radikal. Danach können wir hier alles nach unseren Vorstellungen gestalten.“

Quappmold kam in Fahrt:

„Ich stimme Bertolm zu. Auf, lasst dies unsere Nacht sein. Fegt durch die Straßen, kein Versteckspiel mehr, reinigt die Scheiben dieser Welt! Auf jetzt, in eine bessere Zukunft!“

Perplex sprang ich auf und sah über das Aquarium hinweg. War hier eine Verschwörung im Gange? Würde sogleich ein Akt der Gewalt über die friedliche Schenke hereinbrechen?

Fast zerbrach ich an der Tatsache, dass der Tisch, den ich durch die trüben Scheiben beobachtet hatte, leer war. Ich haderte mit mir und wollte schon dem Bier meine Hirngespinste anlasten, als ich im schlammigen Wasser der Gestalt dreier Molche gewahr wurde, die drauf und dran waren, das Innenleben des Aquariums auf den Kopf zu stellen.


3 Das Sozialverhalten der Schlupfmolche

In dieser Nacht war mein anfänglicher Schock in atemlose Beobachtung übergegangen. Stundenlang starrte ich in die Untiefen des langen, trüben Wassers und notierte eilig

kritzelnd, was sich dort abspielte: Der zeitgeraffte Aufbau einer Gesellschaft vernunftbegabter Schlupfmolche im aquarianen Mikrokosmos – eine Sichtung, die meinem Berufsstand glücklicher nicht hätte sein können. Da mich die Beobachtung letzten Endes vor eine Entscheidung stellte, deren Treffung mich bis zum heutigen Tage tief beschämt, möchte ich die Vorgänge im Aquarium beschreiben, die dahin geführt haben.

Gleich zu Beginn zeigte sich, dass mit ‘Säuberung’ tatsächlich das Saubermachen der veralgten Scheiben gemeint war. Immer mehr Molche beteiligten sich daran, unter der Führung von Quappmold das Wasser zu filtern und mir die Sicht ins Innere zu erleichtern. Ich schloss aus den Unterhaltungen der redseligen Tiere, dass beim Wasserwechsel durch den Barmann immer wieder Molche ums Leben kamen, was letztendlich zu der Revolution führte, der ich beiwohnen durfte. Als nächstes kam es immer seltener zu Streitgesprächen mit Schlupfmolchen, die sich nicht beteiligen wollten und lieber unter Steinen der Veränderung harrten. In ihrer Abwesenheit ließ sich der Anführer zu einer Art Staatsoberhaupt wählen. Er begann die Inneneinrichtung des Aquariums nach seinem Plan umzugestalten und erließ Vorschriften, nach denen die Molche zu leben hatten. Doch die Stimmung schlug bald um.

Als Quappmold zum Kampf gegen die Shrimps aufrief, mit denen die Molche sich das Becken teilten, kam es zu den ersten Ausschreitungen. Alle, die sich gegen den Anführer aussprachen, wurden als Molchsverräter erschlagen. Bald war das lange Aquarium in Gänze erobert und sämtliche Bewohner, die einmal koexistiert hatten, einander fremd und hierarchisiert. Auf diesen grausigen Taten baute der Molchstaat auf, den ich als das erkannte, was er war: eine feuchtfaschistische Keimzelle.


4 Entschieden zu weit

Trunken stand ich auf, griff zum Bierkrug und zerschmetterte die gläsernen Grundmauern dieser verkommenen, amphibischen Gesellschaft. Was blieb mir anderes übrig? Wie lange hätte es gedauert, bis ihre Ideologien an Land kämen und ihre Parolen an den Stammtischen wiederholt würden? Eilends verließ ich die Bahnhofskneipe und fand erst am leeren Bahnsteig so langsam wieder zu mir. Verloren versuchte ich mir den Akt der Gewalt zu vergegenwärtigen, den ich soeben verübt hatte. Da setzte sich der Barmann zu mir, den ich um sein ansehnliches Aquarium gebracht hatte.

„Diese Molche könnens einfach nicht lassen, das war schon das dritte Becken, das gesprengt werden musste.“

Heute stehe ich vor Ihnen, Doktor Rübenschnitt und möchte mich verantworten. Sie haben diese Forschungsreise initiiert und ihr Ruf wurde durch meine Taten so geschädigt, wie ich durch sie beschämt wurde. Ich habe all diese faschistischen Schlupfmolche auf dem Gewissen, aber ich bedauere nicht, dass ich mit meinen Forschungsprinzipien gebrochen habe. Vielmehr bedauere ich, dass ich nicht eher hinter meinem Stein hervorgekommen bin und mit den Molchen die Rahmen der Freiheit verhandelt habe.

Heimat tut weh

von Ute Schmerbauch

Ich lebe in einer beschaulichen Kleinstadt in Deutschland. Über tausend Jahre Geschichte an diesem Ort. Sie hat eine wunderbare historische Altstadt. Alles atmet Geschichte. Die Silhouette der Stadt findet sich im Logo. Darunter ein blaues Band. Das steht für einen großen Fluss, der zwei Länder miteinander verbindet. Auch die Geschichte meiner Stadt verbindet Länder miteinander. Sie ist Symbol für Frieden in Deutschland und Europa. Die grünen Bänder im Logo stehen für die Flussauen, die wunderbare Natur rund um meine Stadt. Ich lebe gerne hier in dieser Stadt. Ich habe sie mir ausgesucht.

Ich lebe in einer beschaulichen Kleinstadt in Ostdeutschland. 1990 wohnten hier rund 26.500 Menschen. Vierundzwanzig Jahre später waren es 6500 Einwohner weniger. Ein Viertel der Bevölkerung ist gegangen. Zum gleichen Zeitpunkt lag die Arbeitslosenquote bei 10 Prozent. Fabriken, die identitätsstiftend für die Region und ihre Arbeitenden waren, wurden geschlossen. Nicht nur eine. Viele. Arbeitslosigkeit oder die Angst davor kannte jede Familie. Berufsabschlüsse waren plötzlich nichts mehr wert. Geburtenzahlen knickten rapide ein. Kündigung, aufgezwungene Teilzeitverträge, um den Arbeitsplatz zu behalten, Umschulung, ABM, Bürgergeld, Ein-Euro-Job. Berufsbiografien voller Brüche. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Harz 4, aufstocken. Das alles hat Spuren hinterlassen.
Das ehemals gefragte Neubauviertel wandelte sich zum sozialen Brennpunkt. Das was die Menschen wachsen sahen, was sie selbst aufgebaut hatten, wurde zurückgebaut. Blöcke wurden abgerissen und mit ihnen verblassten die positiven Erinnerungen oder sie wurden strahlender als es das Leben je war. Was bleibt ist das Gefühl des Abgehängtseins. Die Altstadt ist aufwändig saniert. Viele Geschäfte stehen leer. Das Durchschnittsalter meiner Stadt liegt bei 47,1 Jahren. Das alles hat Auswirkungen. Echte und gefühlte.

Diese junge Geschichte steckt der Stadt in den Knochen. Eine Geschichte von vielen in Ostdeutschland. All diese vielen Geschichten stecken Ostdeutschland in den Knochen. Und sie machen sich Luft. Meine Region wählt blau. Europawahl 2019: 26,7 Prozent, Landtagswahl 2019: 33,3 Prozent, Kommunalwahl 2019: 18,2 Prozent, Bundestagswahl 2021: 27,2 Prozent. Heimat tut weh, wenn du dich jedes Mal wieder fragst, wer von den Menschen in deiner Nachbarschaft, wer aus deinem Kollegium es war. Heimat tut weh, wenn du im Kopf nach jeder Wahl verzweifelt abzählst: eins zwei drei blau, eins zwei drei blau, eins zwei drei blau.

Die Geschichten in den Knochen der Menschen rechtfertigen das Blau nicht. Denn es gibt auch die Geschichte der gewonnen Freiheit. Die Geschichte vom insgesamt besseren Lebensstandard. Die Geschichte der Reise- und Meinungsfreiheit. Die blaue Angst vor Überfremdung ist absurd. Der Ausländeranteil in meiner Stadt beträgt 4,4 Prozent. Trotzdem höre ich im Vorbeigehen Gesprächsfetzen, dass man auf die deutschen Frauen jetzt wieder aufpassen müsse. Männer tragen ganz selbstverständlich Nazi-Shirts auf Stadtfesten. Heimat tut weh, wenn Argumente nicht zählen.
Ich will dem Blau nicht mehr zuhören. Ich habe Kraft für die Geschichten der Menschen, für die es keine blühenden Landschaften gab. Aber ich habe keine Kraft für deren Hass. Ich habe Angst vor deren Hass. Es war an einem Montag als die Scheiben im Büro der Grünen zerschlagen wurden.
Heimat tut weh, wenn ich Angst um meine Tochter habe, die montags abends draußen ist. Einfach nur einkaufen bei Rossmann, aber ich warne: „Pass, auf dich auf! Heute ist Montag! Musst du unbedingt raus? … Nein, ich will dich nicht einschränken … Ja, Fuck, ich habe doch nur Angst um dich … Ja, ich weiß, dass du auf dich aufpasst“. Ich stehe steht am Fenster schaue hinaus und höre den Lärm der Demo. Erst wenn sie wieder da ist, atme ich auf. Meine Heimat tut weh.
Neulich ist ihr Vater durchgedreht, weil sie nicht um halb zehn, wie verabredet zu Hause war. Es ging nur um die Antibiotika, die sie nehmen musste. Aber es ging nicht nur um die Antibiotika. Ihn hat die Angst und seine eigene Vergangenheit eingeholt. Sein von Nazis zerschlagenes Gesicht, seine Todesangst beim Springen aus fahrenden Zügen, seine Todesangst beim Rennen ums eigene Leben von Nazis gehetzt. Basballschlägerjahre. 90er in Ostdeutschland. Narben, schmerzhafte Erinnerung. Tote Freunde. Meine Tochter ist sechzehn. Vor einem Jahr war sie dran. Montags. Sie und ihre Freundinnen haben sich gewehrt mit CS-Gas. Déjà-vu. Das war alles schon mal da. Jetzt will sie zum Antifa-Kampfsport. Die Angst ist da und Heimat tut weh. Nein, wir haben keine Anzeige erstattet. Die Täter-Opfer-Umkehr der 90er, die fehlende Polizei und das auf sich gestellt sein der Baseballschlägerjahre steckt uns Eltern in den Knochen. Das wurde mir aber erst klar als ich den Überfall auf meine Tochter einer Freundin aus Westdeutschland erzählte.

Heimat tut weh, wenn mich eine Mutter fragt, ob sie Angst haben muss um ihren Sohn, weil sein Großvater vietnamesischer Vertragsarbeiter war. Ich kann sie nicht beruhigen. Wir schauen uns an und wissen es beide. Wir checken die Menschen in unserem Umfeld. Nur
fremdenfeindlich und damit vielleicht noch zu erreichen oder schon voll Fremdenhass und verloren?

Es ist der Abend vor Nikolaus und ich putze Schuhe mit meinem Sohn. Er glaubt noch daran und fragt mich, wie der wohl immer wieder durch die Tür kommt. Das ist ein Stück heile Welt. Dann muss er vor den Fernseher, weil die Freien Sachsen in der Stadt sind. Wir sind wenige und wir haben Angst, aber irgendwer muss anfangen. Ja, die Freien Sachsen seid die rote Linie. Meine rote Linie. Es reicht. Bis hier und nicht weiter. Und da stehe ich mit Mitte vierzig, hinter einem Transparent und schreie im Chor mit den Wenigen: „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“, „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“ und „alerta alerta antifascista“, während ich eigentlich Abendessen machen müsste. Die Freien Sachsen machen uns lächerlich und die lokale Presse berichtet am nächsten Tag vom Gegenprotest. Am Abend liegt mein Junge im Bett und wartet auf seine Eltern. Wir müssen reden nach der Aufregung. Ist es richtig was wir tun? Bringen wir uns und die Kinder möglicherweise in Gefahr? Bringt es überhaupt was? Er schläft am Ende alleine ein ohne Gute Nacht Geschichte. Heimat tut weh.

Ich will, dass ich hier friedlich leben kann. Ich will, dass auch meine Freundin aus Libyen hier friedlich leben kann. Ich will, dass keine Mutter Sorgen um ihr Kind haben muss. Heimat tut weh, wenn du das Gefühl hast immer wachsam sein zu müssen. Wenn du das Gefühl hast, dass du machen musst, weil es so wenige tun. Ich würde mich gern mal ausruhen und nicht machen müssen. Aber ich bin geblieben im Osten, dort wo viele Menschen gegangen sind. Ich spüre die Lücken. Gegangen sind vor allem gut gebildete junge Frauen und die Lücken sind gefüllt mit viel zu viel Testosteron, mit Wut auf alles und jeden und mit Fremdenhass. Und das heißt wachsam sein, genau beobachten was passiert, Freiräume verteidigen.

Hochverrat an Vater Staat

von Tatjana-Larissa Franzen

Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt!
Sagt der Vater zum Sohn
Der Vater bleibt unverschont
Der Sohn bleibt unverschämt
Ungezähmt
Trotz verbalen Peitschenschlag
Den des Vaters Wort vermag
 
Sein Hass
Sein Hohn
Sein wilder Sohn
Undressiert
Ungeniert
Wie kann er es wagen
Zu sagen
Was er denkt
 
Weil er den Mut hat
Sich zu seiner Meinung bekennt
Weil er genug hat
Von sinnloser Pöbelei
 
Seine Meinung ist nicht von dannen
Seine Meinung ist nicht zu bannen
Seine Meinung ist frei
 
Ein lauter Schrei:
Genug!
Welch‘ Unfug!
Krächzt es aus seiner Kehle
Der Vater bellt seine Befehle
 
Wer schreit, hat zwar nicht Recht
Aber es bringt den Gegner außer Gefecht
 
Mit Angst und Bangen
Lassen sich Meinungen fangen
Lassen sich Meinungen beschränken
Lassen sich Meinungen lenken
 
Doch er
Setzt sich zur Wehr
Es zu ertragen
Fiel ihm zu schwer
 
So erhebt der Sohn seine Stimme
Offenbart die scharfe Klinge
Mit einem treffsicheren Ton
Wirft er den Tyrannen
Von seinem Thron
 
Der Sohn
Trägt die Bürde
Des Bösewichts
Zum Erhalt seine Würde
Erschüttert ihn nichts
 
Auf des Vaters Liebe zu verzichten
Ihre Einheit zu vernichten
Geschmissen von des Vaters Schoß
Zerrissen sein beschissenes Los
Geschnitten mit dem eigenen Schwert
Gelitten, doch das war es ihm wert
 
Er ertrug es nicht länger
Vaters Stimme immer strenger
Vaters Schlinge immer enger
 
Zu missachten, was er befahl
Bleib des Sohnes letzte Wahl
 
Lieber aufsässig und gehasst
Als unterwürfig und angepasst
Lieber Hochverrat als Heuchelei
 
Seine Meinung bleibt lebendig
Seine Meinung bleibt beständig
Seine Meinung bleibt frei

Sturmbeschwörer

von Carlotta Oertel

Wie ein Schachbrett
Scheint die Welt
Schwarz der Räuber
Weiß der Held

Wie der Stier im roten Fieber
Ringen sie einander nieder
Blind für jedes andern Leid
Welches doch dem eignen gleicht

Auch der zarte Schrei
Nach Ratio mahnend
Schwindet zitternd nur dahin

Panisch winkend, ertrinkend, versinkend
Im unruhig tobenden, welthoch wogenden
Seesturm der Stimmen

Ich meine was, was du nicht meinst

von Clara Lösel

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist weiß.
Für mich sieht die Wolke wie´n Drache aus
Und für dich wie ein Eis.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist pink.
Ich bin politisch eher Mitte
Und du bist eher links.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist grün.
Ich poste gerne viele Bilder
Und du bleibst lieber anonym.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist schwarz.
Ich mag Hunde und hör gern Klassik,
Du magst Katzen und hörst Charts.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist braun.
Ich glaube an Gott, du glaubst an Allah.
Beide haben ihren Raum.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist grau.
Ich hab dich immer als Mann gesehen.
Du selbst siehst dich als Frau.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist blau.
Ich finde einen Politiker inkompetent.
Und du, du findest ihn schlau.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist gold.
Du hättest lieber keine Sommersprossen.
Ich hab die immer gewollt.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist gelb.
Ich geh demonstrieren und du bleibst zu Hause,
Jeder, was er für das Richtige hält.
Und das ist okay.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist rot.
Ich finde, Liebe kann alles sein,
Und du – du findest das doof.

Und da hört Freiheit für mich auf,
Weil sie nur so weit reicht
Bis sie die Freiheit von anderen berührt,
Weil Gleichheit keiner Freiheit weicht.

Ich meine was, was du nicht meinst,
Und das ist rot.
Manche Menschen sind wegen
Meinungen anderer Menschen tot.
_____________________

Ich meine was, was du nicht meinst.
Und das ist auch okay.
Weil was du meinst nicht das sein muss,
Was ich genauso seh.

Weißt du, wir sind alle anders,
Und weißt du, wär ich du,
Mit deinem Leben und deinen Gefühlen,
Würd ich vermutlich das Gleiche tun – und meinen.

Und weißt du, nur weil du und ich
Verschiedene Dinge mein´
Heißt das nicht, wir können nicht reden
Oder Freunde sein.

Weil ich bin ich
Und du bist du.
Ich öffne mein Kopf
Und ich hör dir zu.

Ich will verstehen, was du meinst,
Auch weil ich davon lerne,
Und jedes Mal, wenn wir reden,
Entsteht ein bisschen weniger Ferne.

Und weißt du noch was? Ich bin stolz,
Dass ich eine Meinung habe.
So stolz, dass ich sie
Wie eine Krone trage.

Und dass ich sie halte und dass ich sie ändere,
Weil es nicht mehr genug ist zu meinen.
Man muss auch reden und handeln,
Auch wenn Dinge verloren scheinen.
Vielleicht gerade dann.

Weißt du: Gerade ist keine Zeit
Für Meinungen, die leise sind.
Keine Zeit zum Schweigen,
Wenn man merkt, dass was nicht stimmt.

Keine Zeit zum Stillhalten,
Kriege toben, die Erde brennt.
Tiere sterben, Menschen fliehen.
Gerade ist die Zeit, die drängt.

Gerade ist die Zeit zum Meinen,
Zum seine Meinung sagen.
Zum Widerworte geben.
Zum kritisch hinterfragen.

Zum Dinge selber machen.
Zum neue Dinge wagen.
Zum einen Lautsprecher
Statt einem Maulkorb tragen.

Gerade ist die Zeit der Mutigen
Und nicht die für die Feigen.
Zeit um seine Meinung
Mit Trompeten und Posaunen zu geigen.

Weißt du: In einer Zeit, wo Meinungsfreiheit
In so vielen Ländern
Auf der Kippe steht
kann ich nicht sagen, ich kann nichts ändern.

Und ich geb dir ein Versprechen,
Für mich und diese Erde,
Dass ich jeden Tag ab jetzt
Meine Meinung leben werde.
_____________________

Ich meine was, was du auch meinst
Und was auf ewig währt:
Jeder Mensch hat seine Meinung
Und jeder Mensch ist gleichviel wert.

Ich meine was, was du auch meinst,
Und das ist verdammt wichtig:
Nur, weil ich was meine,
Heißt das nicht, es ist für dich richtig.
Und andersrum.

Und weißt du, da ist diese Freiheit,
Ein Gefühl von Dankbarkeit,
Ein Gefühl von Mut und Demut,
Das mir dieses Wissen leiht.

Dass ich meine habe
Und du deine.
Das ist die Freiheit,
Die ich meine.

Freiheit, Baby.

von Paula Krujatz

Meinungsfreiheit. Das Wort ist groß und unförmig in meinem Mund, wie eine mehlige Kartoffel, die beim kauen immer mehr wird. Es schmeckt unglaublich ernsthaft, nach demokratischer Pflichterfüllung, ein bisschen bitter und ein bisschen angebrannt. Finde ich jedenfalls.

Kognitiv weiß ich natürlich, wie absolut unverzichtbar eine Freiheit dessen ist, was Menschen laut aus-zusprechen, zu fragen und, wenn nötig, auch anzuklagen erlaubt wird, wenn so etwas wie Frieden, oder Gerechtigkeit oder Gleichberechtigung möglich sein soll. Und doch bleibt er da, dieser fade Geschmack. Ich kann das Gefühl der Ermüdung nicht unterdrücken, wenn ich das Wort höre als schwänge darin ein penetrant dröhnendes Echo jedes einzelnen „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen”s mit, das jemals in einem deutschen Bierzelt angesäuert ausgerülpst wurde als Reaktion auf die vorsichtige Bitte, das N-Wort lieber nicht mehr zu verwenden. Wenn ich an Meinungsfreiheit denke, denke ich auch an Abtreibungsgegnerinnen und an Männer, die in endlosen Kommentarspalten darüber referieren, warum die im Post geschilderte Missbrauchserfahrung doch irgendwie auch Schuld des Opfers sei und an Menschen, die eine merkwürdige Berufung darin sehen, aller Welt zu verkünden, warum Homosexualität ihrer Ansicht nach eine schreckliche Unnatürlichkeit sei. Ich kann das nicht abstellen und trotz aller Begeisterung für Demokratie und Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ist er einfach da, dieser kleine, egoistische Wunschtraum, es statt mit Meinungsfreiheit doch lieber mal mit Meinungs-Freiheit (im Sinne von: WENIGER MEINUNG!) zu probieren. 

Aus irgendeinem Grund tue ich mich mit dem Wort Freiheit – die Meinung also einmal außenvorgelassen – viel leichter. Es klingt nach Weite in einem räumlichen Sinn, nach einem freundlichen Wind, der in den Haaren raschelt, nach dem Knistern eines Lagerfeuers unter Sternen und Töpfeklappern in einer fremden Küche voller Gerüche wie aus einem Märchenbuch, nach dem Lachen von Menschen, die vielleicht meine Freunde werden, das durch die Gassen einer Stadt weht, die es noch zu entdecken gilt. 

Ist es nicht verwunderlich, dass der Klang von Freiheit mir so leicht und klar und fröhlich durch die Gedanken weht, während mir die Meinungsfreiheit, die doch eigentlich nur ein Teil dessen sein sollte, wie ein blechernes Meckern in den Ohren liegt? Was ist los, mit dieser Meinung, dass es mir offenbar so schwerfällt, sie freizulassen? Und überhaupt: wer soll das eigentlich sein, eine Meinung? 

Der Duden sagt: „persönliche Ansicht, Überzeugung, Einstellung o. Ä., die jemand in Bezug auf jemanden, etwas hat“. Persönlich also, ich finde, das trifft es ziemlich gut. Die Meinung als eine Persönlichkeit. Mit einer Geschichte und einem Stil und Ängsten und Träumen und was eben sonst noch dazugehört, zu einer Person. 

Meinungsfreiheit, wie ich sie bisher verstanden hatte, war eine Freiheit von den anderen. Das Recht, einen Gedanken auch zu denken – oder zu sagen, zu singen, zu schreiben, notfalls zu schreien – wenn andere ihn nicht teilen. Frei von dem, was ein Teil (vielleicht sogar der größte Teil) unserer Gemeinschaft meint, etwas eigenes, unverletzlich ausdrücken zu dürfen. Genau dort liegt dann wohl der Fehler. Denn Meinung ist nicht unverletzlich. So wichtig und gut und wundervoll es auch ist, dass sie, zumindest in einem weiten Rahmen des für alle Erträglichen, in einer Demokratie dazu erklärt wird, so ist es doch irgendwie nicht ganz treffend. Meinungen spiegeln Überzeugungen, Werte, Ideale, das, was Menschen meinen, wenn sie über ihre eigene, höchstpersönliche Interpretation dessen sprechen, was gut, richtig und wertvoll ist. Und wo es persönlich wird, sind wir nun einmal verletzlich. 

Deshalb trifft es mich so, wenn eine Schaar aufgeregter alter weißer Menschen im Fernsehen darüber schwadronieren, warum Rassismus ihrer Ansicht nach überbewertet und sei und sie selbst es schließlich auch nicht immer leicht hätten; wenn SUV-Fahrerinnen über „die Jugend von heute mit ihren unrealistisch-dreisten Vorstellungen“ schimpfen, während sie einen Fahrradweg in der Innenstadt zuparken und wenn mein Nachbar von gegenüber mir mit verschwörerischer Mine mitteilt, er fände es gar nicht so schlecht, dass die Hausverwaltung keine Wohnungsinteressierten mit arabischen Namen mehr einlade. Deshalb wünsche ich mir manchmal Meinungs-Freiheit, eine meinungsbefreite, stille Welt, in der die Leute sich einfach in Ruhe lassen, sich nichts weißmachen wollen, nichts mansplainen, niemanden zu überreden versuchen, sondern einfach nur leise sind. Andersherum geht es denen, an die ich hier denke, vielleicht genauso. Wer sein Talent, Witze darzubieten, in denen Frauen blöd dastehen und seine Leidenschaft für Bratwürste als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität betrachtet, empfindet die Forderung nach gendergerechter Sprache und zweimal pro Woche einem vegetarischen Tag in der Kantine womöglich tatsächlich als persönliche Kränkung. Wobei ich mein Recht, bei Bedarf eine freundliche, wohlgemeinte Petition für die Vegetarisierung des Kantinenspeiseplans zu starten, natürlich auch in meiner meinungs-freien, leisen Traumwelt ungern hergeben würde. 

Und ja, ich sehe die Unwucht, die sich in meine schöne Idee da eingerüttelt hat. 

Eine Meinung sei eine persönliche Ansicht, sagt der Duden. Es geht also um das, was gesehen wird und um die Person, die sieht. 

Ich stelle sie mir vor, diese Meinung, eine kleine runzelige Gestalt, die an ihrem wachstuchbedeckten Küchentisch sitzt, Mettbrötchen schnabuliert, im Hintergrund baumelt eine dieser Fliegenfangspiralen von der Decke und alles, was die Meinung je gesehen hat, ist diese Küche, mit einem Kühlschrank voller Mett und Gürkchen und einem alten Röhrenfernseher, der in der Ecke steht und in alarmierenden Bildern präsentiert, was es über die Welt zu wissen gibt: Panzer auf einem Zug und kaputte Panzer auf einem Feld; Zu viele Menschen, die in Italien gestrandet sind, zu wenige von ihnen, die noch leben und Frau Meloni, die etwas empörtes dazu zu sagen hat; Ein Verkehrsunfall und irgendwas mit Rettungsgasse, Heidi Klums Frühstück; Weichspülerwerbung; ein Erdbeben; ein Nachbeben; Die neuen Let´s Dance Kandidaten. Wenn die Meinung ihren Kopf ein wenig dreht, sieht sie das Fenster und dadurch einen vorsichtigen kleinen Ausschnitt des Draußen, der zwischen den Gardinen hervorblinkt und schon dabei höchstbedrohlich wirkt. Die Meinung sieht nur selten und auch dann nur widerwillig dorthin, denn da draußen –allein das Wort ist für die Meinung ungeheuerlich, ihre Stirn legt sich dramatisch in Falten, die Stimme wird zu einem mysteriösen Raunen gesenkt – da draußen gibt es noch andere. Allein die Vorstellung ist ein Schock für die Meinung. Schließlich kennt sie nur ihre Küche, sie KANN überhaupt nur Küche. Nicht auszumalen, in welch einer Todesgefahr die Begegnung mit etwas anderem – mit einer anderen Meinung oder gar: mit der Welt – enden würde. 

Und meine Meinung? Kennt sie natürlich auch, diese Küche, vielleicht ohne Wachstuch und eher mit Käsesemmel, aber doch Küche, in der sie lange und behaglich saß und immer noch lieber sitzt, als sie sich selbst eingesteht. Hat mutiger und mit mehr Neugier aus dem Fenster geschaut, sich über das misstrauische Äugen der Dame von vis-a-vis gewundert und sogar schon einige Schritte nach draußen gewagt. Fühlt sich gern ein bisschen überlegen deswegen, gibt das aber nicht zu. Ist meistens freundlich, fragt gern, erlebt gern, ist auf ihre Weise trotzdem fürchterlich verklemmt. 

Wenn ich sie so ansehe, tun sie mir ein wenig leid, diese beiden, und alle anderen Meinungen, die verschreckt hinter ihren Fenstern hocken oder sich wackelig über die Gehwege tasten. Ihr seid doch frei, möchte ich ihnen sagen. Freiheit, Baby! Das ist Wind in den Haaren und Lagerfeuer unter Sternen, fremde Küchen mit Gerüchen wie aus einem Märchenbuch und Lachen! So viel Lachen und so viele Geschichten von Menschen, die vielleicht eure Freunde werden, die so vieles durch ihre Fenster gesehen haben und die ganz bestimmt wissen, wie es ist, sich vor dem Draußen zu fürchten, bevor man es kennengelernt hat. 

So gesehen wäre Meinungsfreiheit nicht nur das Recht, am eigenen Esstisch sitzen zu bleiben (denn auch das ist natürlich möglich), am Fenster zu verharren, mit einem ganz kleinen Ausschnitt der Welt,
den man dann für immer und ewig meinen muss, wenn man über sie redet – sondern vor allem die Chance, nach draußen zu gehen, den Blick zu erweitern und frei zu sein. 

Meinungsfreiheit wäre nicht nur das Recht, zu denken und sagen und zu singen und notfalls zu schreien, was man meint und schon immer gemeint hat. Es wäre auch die Freiheit, seine Meinung zu ändern. Sich selbst zu ändern. Und daran zu glauben, dass auch andere das können. 

So gesehen wird mir mein Wunsch nach einem meinungs-freien Raum auf einmal obsolet. Er würde ja nur bedeuten, in einer einsamen Küche eingesperrt zu sein, jeder in seiner eigenen und so gern ich auch in meiner sitze, Käffchen schlürfe und vor mich hindenke, es wäre doch kümmerlich im Vergleich zu dem, was möglich ist: Freiheit, Baby! Und so gedacht, als unsicheres kleines Figürchen, das beißt und knurrt Zähne fletscht, weil es vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben woanders ist als am eigenen Tisch und von allem, was nicht nach Mett und Gurke riecht, nur erschrocken sein kann, verliert mir selbst die bissigste Meinung ein wenig von ihrer Bedrohlichkeit. 

Sicher, ich muss das noch üben: Meine Meinung freizulassen, ihr zuzutrauen, ihren Weg zu finden – über die Schotterhügel aus white fragility und ungecheckten Privilegien zu klettern und von oben eine klarere Sicht zu haben. Den Flüsterstimmen, die an den Straßenecken verdrehte Fakten und nur scheinbar Einfaches wie gebrannte Mandeln verkaufen nicht zu viel Beachtung zu schenken, sie nicht zu übersehen und doch nicht in ihren zuckerklebrigen Wimpelketten hängen zu bleiben. Auszuhalten, dass ich mit meiner Meinung ins Straucheln gerate, stolpern und Fehltritte inklusive, dass ich mich hinter jeder neuen Ecke, um die ich spähe, wieder orientieren muss. Hinzunehmen, dass einige doch hinter den Fensterscheiben bleiben, oder in eine ganz andere Richtung steuern, auszuloten, wie weit ich bereit bin, ihnen zu folgen, um vielleicht doch einen gemeinsamen Weg zu finden. Milde zu sein, wenn einige Meinungen einfach nicht zu begreifen scheinen, so wie andere milde sind, wenn ich nur langsam verstehe. Und auch entscheiden lernen, wie viel Milde erträglich ist, an welchem Punkt das Nicht-Verstehen als Nicht-Verstehenwollen enttarnt und es nötig ist, sich zu trennen. 

Ich stell mir vor, wie nett das von oben aussehen würde. Die Welt: ein Labyrinth von Wegen und Kreuzungen und aus den verschiedensten Winkeln heraus Meinungen im Wandel, die ihren Standpunkt verlassen und unerschrocken frei sind, die sich annähern und kreuzen, vielleicht anfreunden oder vielleicht streiten und sich ein wenig besser verstehen, weil sie sehen, wo die andere herkommt. 

Also doch Meinungsfreiheit, statt Meinungs-Freiheit. Ich schmunzle über mich und darüber, wie schnell ich mich mit dieser neuen Utopie angefreundet habe. Mir gefallen die wandelnden Meinungen besser als die einsamen hinter ihren Gardinen. Vielleicht wird es ja irgendwann so – ich meine: warum nicht?

Meinungsfreiheit oder das Recht, Dylans Kuchen zu kritisieren

von Janina Lara Makowe

Eine Küche, Osterdekorationen schmücken die Fenster. Davor, die Ehefrau, eine vollständig saubere Theke putzend. Der gesamte Raum glänzt. Neben ihr, ein dampfendes Glas Matcha-Latte, das soll doch beim Einschlafen helfen. Sie tut, als wische sie sich die Schweißperlen von der Stirn. Ein Seufzen entrinnt ihren Lippen. Dann dreht sie sich um, visiert die Kamera an und spricht mit Trillerstimme:
Ich bin schon immer eine Freundin von Kuchen gewesen. Als gute biologische Hausfrau habe ich bereits mehrere Exemplare von Süßgebäck in meinen Ofen geschoben und bis jetzt hat sich noch niemand beschwert.
Doch in den letzten Monaten hat sich einiges getan. Es ist eine neue Nachbarin eingezogen, bei mir in die Straße. Fünfunddreißig. Unverheiratet. Meist knöchelfrei unterwegs. Ich hatte ja nichts dagegen, ich bin ja sozial sehr liberal unterwegs. Meine Schwester hat eine bisexuelle Tochter und, nun ja, wir wissen ja alle, wie die Bisexuellen so drauf sind. Aber ich sage nichts. Ich halte mich bedeckt.
Natürlich hatte ich keine Vorurteile. Ich war wirklich bereit gewesen, sie in der Nachbarschaft willkommen zu heißen. Aber das hat sie sich selbst ruiniert. Vermutlich hat sie es mit Absicht getan.
Wer bringt denn auch gleich am Tag des Einzugs bei den Nachbarn einen Kuchen vorbei? Und dann nur für uns, interessanterweise genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich gerade außer Haus war und mein Mann ihn abnehmen musste. Glücklicherweise bin ich gerade wieder von meinem täglichen Power-Walk zurückgekommen, um es zu sehen. Und was für eine Szene es war.
Sie hat es einen Kuchen genannt. Einen Kuchen. Es war kein Kuchen, es war eine verkappte Torte. Das habe ich auch versucht, ihr zu erklären. Ein Kuchen hat nur eine Lage, eine Torte mehrere. Das ist einfache Definitionssache. Und sie hat es gewagt, mir mit diesem süffisanten Lächeln zu sagen, es sei dann halt ein mehrstöckiger Apfelkuchen. Ein mehrstöckiger Apfelkuchen.
Sie rümpft die Nase.
Ich weiß, was einen richtigen Kuchen ausmacht und sie hat es uns nicht gegeben. Nein,
stattdessen gab sie uns eine…glutenhaltige Abscheulichkeit, eine vollständig falsche Mischung aus sauren Äpfeln und braunem Zucker.
Als starke Feministin habe ich mich natürlich nicht zurückgehalten. Sie hat mich vor meinem Mann lächerlich gemacht. Frauen sollten einander doch unterstützen und sich nicht gegenseitig vorführen. Vor Allem nicht für die Aufmerksamkeit eines Mannes.
Sie schüttelt den Kopf, trocknet sich eine nicht-vorhandene Träne mit einem plötzlich sehr vorhandenen Taschentuch ab. Die freie Hand hat sie auf ihre klinisch bebende Brust gelegt.
Und jetzt kommt sie mit einer Klage an. Einer Klage. Können Sie das glauben? Ich fasse es auch selbst nicht… Die Anstandslosigkeit…
Wissen Sie, ich nehme das Kuchenbacken sehr ernst. Wenn ich es nicht tue, wer dann? Backen hat in den letzten Jahren an seiner Bedeutung verloren, das weiß ich auch. Und wenn nicht jemand für traditionelle Backideale einsteht, dann geht es bald nicht nur mit dem Kuchen, sondern auch mit den Muffins bergab!
Diese Klage…Sie geht klar gegen meine Meinungsfreiheit. Ich habe lediglich gesagt, was ich denke. Und jetzt soll ich vor den Richter treten. Bedeutet der Welt Meinungsfreiheit überhaupt noch etwas?
Letzte Woche bin ich auf einen wundervollen Podcast gestoßen, ich höre die ja immer an, wenn ich zuhause putze. Und die hatten diese Woche einen waschechten Philosophen bei sich zu Gast, einen richtigen Professor! Selbstverständlich geht ihm das Establishment gerade auch an den Kragen. Ob in Nordamerika oder in Europa, es ist überall dasselbe. Eine Schande, aber nicht zu vermeiden.
Auf jeden Fall hat er mir so sehr ins Herz gesprochen, als er dann meinte:
„Was ist überhaupt Meinungsfreiheit? Was bedeutet es frei zu sein, die eigene Meinung zu sagen? Ist es nicht Teil meiner Meinungsfreiheit, meiner Frau zu sagen, dass ihr Kuchen heute Abend ein bisschen zu trocken geworden ist? Und ist es nicht genau das, was der Westen braucht, starke Männer, die den Mut haben, ihre Frauen wegen der Trockenheit ihres Kuchens zu kritisieren, offen und ehrlich?“
Ich für meinen Teil stimme ihm zu. Auch ich wünschte, ich würde in einer Welt leben, in der es erlaubt wäre, den Kuchen meiner Nachbarin Berta von der Heide zu kritisieren.
Denn wer weiß, was sie überhaupt in den Teig gepackt hat? Ist es nicht rechtens, dass ich nachfrage, welche Art von Zucker benutzt wurde, bevor ich ihn in meinen Schlund stopfe? Wurde das Süßungsmittel denn ausreichend von den relevanten Stellen geprüft? Und warum glauben wir Berta gleich, dass sie einen Kuchen und nicht vielleicht doch eine Torte gebacken hat?
Sie rümpft erneut die Nase.
Nun, ich schätze das ist auch nicht weiter wichtig. Jetzt muss ich mich erst einmal auf den Prozess vorbereiten. „Dann wird mein Zorn entbrennen.“

INNEN – DUNKELHEIT
Eine Lampe flackert und erhellt das Zentrum des Zimmers. Es riecht nach Öl und verbrannter Kohle. Um einen Tisch versammelt sitzen drei Männer, schweigend in Konversation vertieft. Eine Tür schließt sich. Der Mann auf der rechten Seite, ein knopfiger Kerl mit Halbglatze seufzt, dem Spielen leid. Der Mann zur linken Seite, praktisch noch ein Junge, das Haar wellig, die Lippen rosig, sieht noch munter aus. Und der Mann im Zentrum ist einfach nur froh, hier zu sein.

DER FROHSINNIGE:
Darf ich nur noch einmal sagen, welch eine Ehre es ist, mit so großen Köpfen an einem Tisch sitzen zu dürfen?
In seinen Augen drehen sich die Sterne. Die Nase des Knopfs zuckt und kitzelt.

DER KNOPF:
Dein Geist war doch bereits zu Asche geworden, da hatte ich mich gerade das erste Mal verliebt. Meine Werke hast du nie lesen können. (Er schnaubt) Was sprichst du dann von Ehre und großen Köpfen?
DIE MÄHNE kichert und ihre Locken kringeln mit. Sie lehnt sich nach vorne, tätschelt dem Knopf die Hand. DER KNOPF zieht sie weg, verschränkt seine Arme vor der Brust und kauert sich zusammen, als könnte er in die Matratzenfalten der Realität verschwinden.

DIE MÄHNE
Das Spiel tut dir nicht gut, alter Freund. Wie kannst du noch nicht gelernt haben, es endlich zu genießen?

DER KNOPF
Wie kannst du die Qualen dieser Farce nach so langer Zeit noch immer leugnen?

DIE MÄHNE
Der Herr arbeitet auf mysteriöse Art und Weise.

Nun hat er es geschafft. DER KNOPF rollt mit den Augen. Und dabei ist noch nicht einmal Tee serviert worden. DIE MÄHNE schmunzelt. Das könnte ein interessanter Durchgang werden.
Klatsch!
Feurige Augen brennen DEN FROHSINNIGEN nieder. Doch dieser behält sein freudiges Grinsen, so dünn und lang, dass es an das Maul eines Wiesels erinnert. Er beugt sich nach vorne, die Finger ineinander geschränkt und blinzelt beide Männer an.

DER FROHSINNIGE
Worum soll es denn heute gehen? Kuchen war es?

DER KNOPF
Kuchen… (Er schüttelt seinen Kopf)

DIE MÄHNE
Jetzt sei doch nicht gleich so voreingenommen! Wer sagt denn, dass es nicht wichtig ist, über Kuchen zu diskutieren?

DER KNOPF
Ich finde es durchaus wichtig, über Kuchen zu diskutieren. Möglicherweise ist der Diskurs um Kuchen sogar der Wichtigste, den wir führen können. (Er blickt sich um) Nur nicht in diesem Format und erst recht nicht mit diesen Gesprächspartnern.

DIE MÄHNE
Du bist auch eine Diva. Brauchst du etwa Publikum?

DER FROHSINNIGE
Es wäre nur angemessen. Stellt es euch vor, eine aufmerksame Meute, ihre Ohren an jedes Wort gefesselt, dass euch verlässt. Eine Gruppe lernbereiter Laien, ergiebig euch alles nachzuahmen.

DER KNOPF schüttelt seinen Kopf. Die Lampe flackert und es riecht nach Wachs. Das Echo eines ungeduldigen Tappens schleicht durch den Raum.

DIE MÄHNE (lacht)
Oh ja, das wäre köstlich! Ein Gruppen aufmerksamer Tölpel, die ihm jedes Wort von seinen kostbaren, blitzgescheiten Lippen ablesen.

Das Tappen wird lauter.

DER FROHSINNNIGE
Man sollte Häresie in der Wahrheit nicht fördern. Es wäre unverantwortlich, ein Publikum zu unterhalten, das mir alles wort- und klaglos abnimmt. Es ist die Debatte, die den Staat macht.

Das Tappen wird schneller.

DIE MÄHNE (nickend)
Besser hätte ich es nicht sagen können. Staat und Schrift, sie beide werden durch Diskurs belebt. Und beide können ohne Diskurs nicht betrachtet werden.

Das Tappen stoppt.

DER FRUSTRIERTE
Wie wäre es dann mit einem misstrauischen Publikum? Eines, das schönen Druck auf die Herren ausübt?

DER KNOPF (mit geschlossenen Augen)
Gibst du denn nie auf?

DER FRUSTRIERTE
Was meinst du damit? Aufgeben?

DIE MÄHNE
Du weißt, dass er das nicht kann. Es ist nicht Teil des Spiels. Er steht in den Diensten des Kreises.

DER FRUSTRIERTE
Des Kreises?

DER KNOPF (schlägt seine Augen auf)
Des endlosen Kreises, der immer wieder gezogen wird. Du kannst nicht aufhören, mich zu reizen, weil es deine Aufgabe ist, mich zum Reden zu bringen. Du glaubst, du tust es aus Interesse, doch du bist nur Sklave des Kreises. Und auch wenn ich Recht habe, wirst du mir nie glauben und schön entrüstet weiter den Kreis ziehen, immer und immer wieder.

DIE MÄHNE
Aber kann es diesen Kreis wirklich geben, wenn wir ihn mit keinem unserer Sinne spüren können? Selbst wenn dieser Trottel über ihn nachdenken würde, wird er ihn nie verstehen. Und existiert er dann für uns, die Tiere, die nur durch erkennen lernen können, dann wirklich?

DER KNOPF
Die bessere Frage ist nicht, ob der Kreis existiert oder nicht, sondern ob es wichtig ist, ob er existiert oder nicht.

DER VERWIRRTE
Da komme ich jetzt nicht mit.

DER KNOPF
Und du möchtest unserer Diskussion über Kuchen folgen?

DIE MÄHNE
Es könnte witzig werden, dabei zuzusehen, wie sich die Räder in seinem Kopf verhaken.

DER KNOPF
Wenn es die Räder überhaupt gibt.

DIE MÄHNE
Ja. Wenn es sie überhaupt gibt. (Dreht sich zur Finsternis) Wir brauchen ein Publikum für diese Szene. Werdet ihr auch schön kritisch dreinblicken?

Niemand antwortet.

DIE MÄHNE
Nun, wenn ihr schon nichts sagen werdet, dann kann ich wenigstens erwarten, dass ihr schön kritisch die Buchstaben betrachten werdet oder?

Die Leser antworten nicht, doch DER KNOPF spürt die heiße Klinge des Misstrauens in seinem Rücken. Ein einzelner Schweißtropfen rinnt seine Schläfe hinunter. Der Kampf hat begonnen.

DER FROHSINNIGE (die Hände ineinander gefaltet)
Nun. Warum denkt ihr Herren, es sei wichtig, über Kuchen zu diskutieren?

Eine Anwaltskanzlei. Hinter einem klobigen Schreibtisch sitzt ein Mann. Seine Schultern sind breit, seine Arme überraschend muskulös für einen Mann von seinem Alter. Doch seine überraschende Statur kann seine jämmerliche Haltung nicht verbergen. Vor ihm, auf einem quietschenden Hocker, die Hausfrau.
„Sie sind hier wegen einer Klage auf Rufschädigung?“
Die Hausfrau nickt. Sie hat viel von ihm gehört. Der beste Anwalt, den sie sich mit dem Gehalt ihres Mannes leisten kann. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass der gute Mann in keiner Weise mental anwesend ist. Vor einem Jahr ist er von seiner Frau verlassen worden und nun fühlt er jeden Tag die Beziehung zu seinen Kindern bröckeln wie die blätternden Wände seines Notfallappartements.
„Könnten sie mir die genauen Umstände der Anklage erneut schildern? Keine Sorge, das gehört zum Protokoll.“ Es gehört nicht zum Protokoll. Er hat sie einfach vergessen.
Seinen Sohn hat er bereits aufgegeben, der hat angefangen Männern im Internet beim Debattieren zuzusehen und streitet nun regelmäßig selbst mit Feministinnen über die höhere Sterbezahlen von Männern im Militär. Aber seine Tochter, seine Tochter kann er noch retten!
„Natürlich, natürlich.“ Er nickt. „Fahren sie fort.“
Die Hausfrau zieht ihre Augenbrauen zusammen, doch binnen weniger Sekunden ist die Verwirrung überwunden und sie schwingt sich in den nächsten Wortschwall. Irgendetwas über die Langzeitnebenwirkungen von Alternativen zu glutenhaltigem Mehl. Und ja, Kichererbsenmehl schmeckt wirklich scheußlich.
„Ich denke, dass ich Ihnen gut weiterhelfen kann. Keine Sorge, ich werde alles daransetzen, diesen Fall für sie zu gewinnen.“ Versichert er ihr.
Gedanklich sitzt er schon im nächsten Flieger nachhause. Er hatte geplant, seine Tochter mit Tickets für eine BTS-Welttournee zu überraschen. Nur ein Fall steht zwischen ihm, diesen sieben koreanischen Musikwundertüten und der Liebe seiner Tochter.
Was er nicht weiß, ist, dass die Herren gerade getrennt sind und keine Konzerte spielen. Seine Tochter wird die nächsten drei Jahre nicht mehr mit ihm reden.
„Danke, danke, von ganzem Herzen!“ Sie schüttelt seine Hand. Ein bisschen zu fest.
Das wird Flecken geben.
„Halten sie das nicht auch für unglaublich wichtig? Eine Frau wie mich verfolgen zu wollen, wegen einem kleinen Kommentar über Kuchen?“
„M-hm.“ Gerade in diesem Moment erkundigt er sich im Internet über mögliche Tickets.
„Ich sollte eigentlich an die Presse gehen. Mir meinen Mund verbieten zu wollen, weil ich ein paar Gefühle verletzt habe, unerhört, finden Sie nicht?“
„Mmmm-hm.“ Er klickt auf „Suche“ und…
„Verfluchte Scheiße!“ Schreit er und schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch. Die Hausfrau grinst ihn an, strahlt von einer freiheitsliebenden Backe zur anderen. „Es tut mir leid. Das war unprofessionell von mir.“
„Ach was, wenn Sie diese Energie in den Gerichtssaal bringen, dann ist es mir auch Recht.“ Sie blinzelt ihn mit großen Augen an.
„Seien Sie gewiss, ich werde Sie verteidigen.“ Er richtet seine Krawatte. „Und dass eine Frau wegen einer einfachen Kritik vor Gericht gezogen wird, ist unerhört. Wer die Grenzen der Meinungsfreiheit einhält, sollte auch nicht bestrafen. Alles andere öffnet Willkür der Tür.“
„Hah. Ja. Genau.“ Sie kichert. „Nur aus reinem Interesse… Was wären denn beispielsweise Grenzen?“
„Nun, wenn Sie sehr einfach anfangen wollen, wäre da Artikel 5, Absatz 2 des Grundgesetzes. Aber das muss ich Ihnen nicht erklären, das haben Sie ja sicherlich gelesen.“
„Das Grundgesetz ist meine liebste Bettlektüre.“ Sie knabbert an ihrer Unterlippe. „Aber es würde mir sehr viel bedeuten, mein Wissen von einem Profi bestätigt zu kriegen.“
Schon wieder lächelt sie und irgendwo in der hohlen kalten Brust des Mannes, dem Ort, an dem vor dem Staatsexamen 95 noch sein Herz geschlagen hat, wird es warm.
„Nun, wenn Sie darauf bestehen…Für Sie ist vermutlich das ‚Recht der persönlichen Ehre‘ relevant. Beleidigungen, Verleumdungen und dergleichen fallen nicht unter Meinungsfreiheit. Aber da Sie den Kuchen der Dame ja nur höflich kritisiert haben, dürften Sie keine Angst davor haben.“
„Ja. Natürlich nicht.“
Die Hausfrau verabschiedet sich von ihrem Anwalt und drückt ihm erneut die Hand. Dieses Mal ist ihre Berührung zart, fast wie eine Entschuldigung oder ein Streicheln.
Kaum hat sie die Tür der Kanzlei hinter sich geschlossen, fängt sie schon an zu denken. Und es ist meistens eine absolut grässliche Idee, nachzudenken. Es ist bereits in der Antike wissenschaftlich bewiesen worden, dass tiefes und zielgerichtetes Nachdenken noch nie zu guten Ergebnissen geführt hat, insbesondere, wenn Frauen des oberen Mittelstandes mit viel Freizeit es tun.
Doch meine Güte, wenn sich das gute Hannele erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wird sie es auch durchsetzen! Also greift sie nach ihrem Telefon und beginnt auf die Tasten einzuhämmern, zumindest würde sie das tun, wenn ihr Telefon noch Tasten hätte!
Ein Wind zieht auf, Blätter fegen durch die Luft, sein Reißen und ihr Rascheln hören sich an wie die Instrumente hinter einem Kriegszug. Es ist als würde die Welt selbst sich tosend hinter diese Frau und dem kuchenförmigen Hügel, auf dem sie sterben möchte, stellen und mit ihr schreien!
Oder es ist einfach April und das Wetter spielt mal wieder verrückt. Wer weiß.
Endlich schafft es die Hausfrau die richtige Zahlenkombination einzugeben. Ein eintöniges Klingeln und dann ein Klicken. Kurze Zeit später eine Stimme, die so tief und voller Schmalz ist, dass sämtliche Frauen einen Keuschheitsgürtel umgeschnallt bekommen, wenn sie diese nur hören. Nicht aber das Hannele.
„Ich denke, ich habe eine Geschichte, über die du unbedingt schreiben solltest.“, flüstert sie, „Oh ja. Es ist definitiv Walpurgisnacht.“

INNEN- IM LICHTKEGEL
Noch immer sitzen die drei Männer im Raum und diskutieren darüber, ob sie demnächst anfangen sollten, zu diskutieren. DER FROHSINNIGE blickt die Beiden wieder mit Welpenaugen an, während der KNO-

DER KNOPF (unterbrechend)
Die Frau ist wahnsinnig.

DIE MÄHNE
Tz-Tz-Tz. (schüttelt den Kopf) Also wirklich, Knöpfchen, was würde deine Jugendliebe zu dieser entfesselten Frauenfeindlichkeit sagen?

DER KNOPF
Sie würde mich unterstützen, da diese Wahnsinnige offensichtlich Rufmord gegen ihre Nachbarin betreibt.

DER FROHSINNIGE
Ich sehe nichts Falsches an ihrem Verhalten. Sie verteidigt lediglich ihr natürliches Recht, ihre Meinung frei zu äußern. Der Anwalt sollte ihr helfen. Eigentlich ist es eine Schande, dass sie überhaupt angeklagt werden konnte.

DER KNOPF
Reden als natürliches Recht?

DER FROHSINNIGE
Selbstverständlich. Betrachtet es doch so: Früher, gerade nachdem Prometheus uns das Feuer gegeben hatte, aber noch bevor in Mykene Mauern und Gräber gebaut worden waren, da aßen die Menschen. Vielleicht nicht Kuchen, aber definitiv Beeren.

DIE MÄHNE (in Gedanken versunken)
Was ist die beste Beere?

DER FROHSINNIGE Was, jedoch, wenn der Frieden der Gemeinschaft bedroht war? Wenn eine der Frauen den Häuptling ausschalten wollte und giftige Exemplare unter die Menge gemischt hätte?

DIE MÄHNE
Erdbeeren? Nein, das ist zu einfach…Heidelbeeren? Wem mache ich etwas vor, ich hasse Heidelbeeren? Bananen? Nein, jetzt möchte ich auffallen.

DER FROHSINNIGE
Diese Frau würde dann doch den Männern des Stammes davon erzählen, um den Häuptling und den Rest der Gruppe vor dieser Ausreißerin zu schützen. Und diese Männer würden dann wiederrum dafür sorgen, dass niemand sich mehr fürchten müsste und jeder seinen Verdacht äußern könnte. Und so war die Polizei geboren.

DIE MÄHNE
Waren nicht Sklavenfänger die ersten inoffiziellen Polizisten in den Vereinigten Staaten?

DER UNINFORMIERTE (aufgebracht)
Es waren die Beerenbeschützer!

DIE MÄHNE
Ach ja, ich vergesse ständig, dass du Amerikaner bist.

DER UNIFORMIERTE weint leise in sein Jersey.

DER KNOPF
Ich bin jedenfalls der Meinung, dass es der werten Frau guttun würde, verböte man ihr den Mund.

DIE MÄHNE
Du übertreibst. Die Frau hatte eine Meinung zum Kuchen ihrer neuen Nachbarin. Diese hat sie kundgetan und jetzt wird vor Gericht darüber debattiert werden. Wie ich das sehe, gibt es drei Optionen: Die Frau hat Unrecht, weswegen der werte Herr Anwalt ihren Irrtum schnell entlarven wird. Sie und alle, die davon hören, werden daraus lernen. Es könnte natürlich auch sein, dass die Dame Recht hatte, unwahrscheinlich, aber möglich. In diesem Fall würde die tatsächliche Wahrheit gesprochen, sowie das gängige Narrativ hinterfragt und angepasst werden. Sollte die Wahrheit jedoch zwischen beiden Positionen liegen, so ist es die Sache des Gerichtes, die Nuancen herauszuarbeiten.

DER KNOPF
Das hört sich so einfach an, wenn du es sagst.

DIE MÄHNE
Es ist auch einfach. Wir brauchen Hinterfragende, Herausforderer. Blicke doch einfach auf die Menschheitsgeschichte und sieh, wie viele schrecklichen Taten fälschlicherweise im Namen des Herrn begangen wurden. Es ist schädlich, den Worten eines jeden Pastors zu glauben, nur weil man denkt, er hätte Autorität. Das Schlimmste, was ein Staat tun kann, ist Diskurs einzuschränken und zu zensieren, denn diese Zensur ist es, die das selbstständige Denken und somit die Entwicklung der Menschheit einschränkt.

DER KNOPF
Wie oft haben wir diese verfluchte Debatte bereits geführt? Denkst du, ich habe deine Position immer noch nicht verstanden? Ich verstehe, sie, nein nicht nur das, ich lebe und atme sie sogar! Jede Zelle in meinem Körper möchte dir schreiend und jauchzend zustimmen, vor dir auf die Knie fallen und rufen: „Ja! Es ist wie du sagst und so soll es sein und so werden wir am besten leben und nur so wird sich die Menschheit zur kostbarsten, schönsten Blüte entwickeln, die Früchte tragen wird, so groß und plump und saftig, dass es einem Jeden den Speichel im Mund zusammentreiben wird!“

DIE MÄHNE
Aber du stimmst mir nicht zu.

DER KNOPF
Du siehst die Gefahren nicht.

DIE MÄHNE
Weil jede Gefahr, die aus Meinungsaustausch entsteht, durch dessen Ergebnisse ihre Bedeutung verliert.

DER KNOPF
So einfach ist es nicht. So einfach wird es nie sein. Und an guten Tagen werde ich dich deswegen idealistisch schimpfen, an Schlechten hingegen naiv. Du verschließt die Augen vor der Realität der Welt, der Welt wie sie jetzt ist, nicht wie sie vor hunderten Jahren war, als du noch Wein trinken und spüren konntest, wie das Sonnenlicht auf deiner nackten Haut kitzelte. Diese Zeiten sind vorbei und ich frage mich, wie sehr sie überhaupt dem Bild entsprechen, das du von ihnen hast.

DIE MÄHNE
Nein, du verstehst nicht. Vielleicht glaubst du, du würdest die Menschen vorm Sündenfall retten, doch du bist es, der sie durch deine Verschlossenheit in diese Tiefen stürzt.

DER KNOPF
Bitte, mein Freund. Sieh mich an. Sieh mich einmal richtig an. Atme tief durch und versuche, mich zu verstehen. Das bist nicht du. Einst warst du voller Neugierde, bereit den Menschen zuzuhören. Diese Verbissenheit, diese Kampflust, du musst sie nicht füttern. Sieh mich an. (DER KNOPF nimmt die Hand seines Freundes) Bitte, sieh mich an.

DIE MÄHNE entzieht dem Knopf seine Hand.

DER FROHSINNIGE
Nun, ich denke, dann einigen wir uns darauf, dass wir uneinig sind.

DER KNOPF legt seinen Kopf in seine Hände. Die Lampen verdunkeln sich, das Publikum raschelt mit dem Programm. Jemand trinkt einen Schluck Wasser. Das Licht geht aus und man hört ein Schluchzen. Doch es ist nicht stark, kaum präsent im Raum. Ein Echo, das ohnehin niemand mehr hört.

INNEN- DUNKELHEIT
Eine Lampe flackert und erhellt das Zentrum des Zimmers. Es riecht nach Öl und verbrannter Kohle. Um einen Tisch versammelt sitzen drei Männer, schweigend in Konversation vertieft. Eine Tür schließt sich. Der Mann, auf der re-

10-9-8-7-6-5-4-3-2-1-0…
Guten Abend, meine Damen und Herren, wir sind der fünfzehnte Kanal und begrüßen Sie mit den heutigen Nachrichten um Punkt achtzehn Uhr.
Der Rechtsstreit um Hanna P. geht in die letzte Runde. Die Influencerin, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen „Tradwife87“ wurde im vergangenen Jahr angeklagt, Rufschändung an ihrer Nachbarin, Dylan F., begangen zu haben. Frau P. hatte Frau F. in einem nun gelöschten Video beschuldigt, ihren Mann vergiftet mit einer Torte zu haben. Der Teig von Frau F.s Gebäck soll Erdnussbutter enthalten haben, wogegen Herr P. allergisch war.
Wir freuen uns, Frau F. heute bei uns im Studio begrüßen zu können, wo sie sich zu ihrer Klage äußern wird.
Die Nachrichtensprecherin dreht sich zur Seite. Ihr Lächeln ist so gebügelt und faltenlos wie ihr Jackett. Ihr gegenüber sitzt eine junge Frau, zitternd, an ihrer Unterlippe knabbernd und definitiv hier entgegen der Anweisungen ihres Anwalts.
„Nun, Frau F., ich darf Sie doch Dylan nennen oder?“ Sie wartet nicht auf die Antwort. „Wir sind uns bewusst, dass Sie nur sehr wenige über den Prozess selbst sagen können. Frau P. beschuldigt Sie der Vergiftung ihres Mannes durch eine Torte-“
„Es war ein Kuchen. Ein Apfelkuchen. Und der Teig hatte keine Erdnussbutter darin.“ Korrigiert sie.
Die Nachrichtensprecherin hebt eine einzelne Augenbraue. Nun, sie versucht es zumindest.
„Aber die Torte hatte mehrere Schichten, nicht wahr?“ fragt sie.
„Ja, aber… Entschuldigung, aber ist das wichtig?“ fragt Dylan zurück.
Sie lächelt. Schon wieder dieses kalte, unehrliche Grinsen.
„Nun, ich war einfach verwirrt.“ Sie lacht leicht. „Kuchen, Torten, man weiß heutzutage ja nie, woran man ist. Soll das dieses umweltfreundlichere Backen sein, von dem man heute so viel liest? Und ist eine solche Backform überhaupt vom Ministerium von Backwaren und Törtchenkunst zugelassen?“
In diesem Moment fragt sich Dylan das erste Mal, warum sie diesen Termin überhaupt wahrgenommen hat. Doch es ist zu spät. Sie ist bereits in die Falle getappt.
„Es gibt keine Regeln gegen das Backen von zweistöckigen Kuchen, nein. Tatsächlich experimentiere Konditoreien seit Jahren mit dem Konzept.“; sie lächelt, „Ich kann Ihnen versichern, sie sind sehr lecker und überhaupt nicht gefährlich.“
„Es sei denn natürlich, man verseht den Teig mit Stoffen, gegen die der Konsument allergisch ist.“
„Der Kuchen hatte keine Erdnüsse. Nicht einmal Spurenelemente, darauf habe ich genau geachtet. Ihr Mann hat vor Gericht nicht einmal beweisen können, dass er gegen Erdnüsse allergisch ist.“ Sie kämpft mit den Tränen. „Hanna lügt. Seit einem Jahr nutzt sie ihre Plattform, um Menschen gegen mich aufzuhetzen. Ich kann nicht einmal mehr aus dem Haus gehen, ohne schief angesehen zu werden. Jeden Tag hagelt es Hasskommentare. Wissen sie, wie oft ich in diesem Jahr umgezogen bin, weil jemand meine Adresse ins Netz gestellt hat?“
„Das ist natürlich grauenvoll. Niemand sollte seine Adresse gegen seinen Willen an die Öffentlichkeit gebracht kriegen.“ Die Nachrichtensprecherin legt den Kopf schief. „Aber können wir sagen, dass sie wirklich nur Hasskommentare gekriegt haben? Sicherlich waren auch besorgte Bürger darunter, die valide Probleme mit ihren Ideen von Kuchen haben.“
Dylan blinzelt. Ihr Anwalt hatte Recht. Sie hätte dieses Interview nicht geben sollen.
Ihre Hände fangen an zu schwitzen. Ihr Auge zuckt. Warum fühlen sich ihre Lippen gerade so trocken an? Lass es dir nicht anmerken. Nichts anmerken lassen. Auf keinen Fall. Konzentrier dich, konzentrier dich, konzentrier dich.
„Brauchen sie ein Taschentuch? Sie haben etwas Schweiß auf der Stirn.“
Verflucht.
Dylan nickt, doch niemand bringt ihr wirklich ein Tuch. Tatsächlich scheint das Licht der Studiolampen nur noch greller und heißer zu werden. Wie ein Hähnchen auf dem Drehspieß, genau so fühlt sie sich gerade.
„Ist es wirklich Frau Ps Schuld, dass sie Angst davor hatte, dem Körper ihres Mannes, ein ungetestetes und neues Produkt auszusetzen?“
„Das ist doch nicht wichtig. Sie hat kein festes Standbein, das ist jedem klar. Man wird sie schuldigsprechen.“ Ein letzter Angriffsversuch. „Es gibt Regeln, wie wir
miteinander umgehen sollen. Und das ist doch gut so. Es ist gut, dass man nicht lügen darf, um sein eigenes Produkt besser zu verkaufen. Es ist gut, dass man vor Gericht die Wahrheit sprechen muss. Und es ist gut, dass man normalerweise nicht den Attacken einer übergriffigen Nachbarin und ihrer Meute an geisteskranken Fans ausgesetzt ist, weil sie über einen Kuchen gelogen hat!“
„Geisteskrank? Das ist schon etwas ableistisch von ihnen, finden Sie nicht?“
Dylan legt den Kopf in die Hände. Es hat keinen Zweck. Sie kann diese Frau nicht überzeugen. Sie will gar nicht überzeugt werden.
„Sie sollten sich vielleicht an die eigene Nase fassen. Ist es wirklich produktiv, eine gesamte Gruppe als geisteskrank zu bezeichnen, nur weil sie Dinge sagt, die Ihnen nicht passen? Wo würden wir als Land hinkommen, wenn wir Worte verbieten würden, weil sie Ihre Gefühle verletzen? Doppeldenk? Ich denke wir sollten wirklich darüber nachdenken, wer hier der wahre Extremist ist, die Frau, die nur ihre Meinung sprechen wollte oder die Person, welche diese Meinung verbieten will. Ich meine, ist es nicht auch so, dass wir…“
Die Stimme der Nachrichtensprecherin verblasst. Eine plötzliche Kälte zieht in Dylans Knochen hinein und sie weiß, dass sie nie wieder sicher sein wird. Sie werden sie immer wieder verfolgen. Sie werden sie immer wieder finden.
Die Frau hebt ihren Kopf und blickt auf ein Gruppe Männer, die weit, weit entfernt von ihr, in einem abgedunkelten Raum sitzen. Nur der Mann im Zentrum scheint sie wirklich zu sehen. Sein Mund ist nach unten gezogen, er ist in sich zusammengefallen, ein Ausdruck der Traurigkeit, der seine Augen jedoch nicht erreicht.
Da ist nichts mehr in ihm. Nur zwei ausdruckslose Knopfaugen, die darum betteln, mit ihr sprechen zu können. Und plötzlich wird die Stimme der Nachrichtensprecherin wieder lauter.

Brief an C.

von Sharon Mwihaki

Meinungsfreiheit bedeutet für mich Demokratie. Ohne sie, kann ich nicht sein, kann ich nicht sprechen, kann ich nicht teilen, kann ich nicht ich, sein.

Ohne mein Recht auf Meinungsfreiheit, wäre meine Welt eine ganz andere. Eine kalte, eine stille, eine ohne Hoffnung.


Liebes,

Ich hoffe, es geht dir gut und du bist glücklich und wohlauf. Als ich dich vor einigen Jahren zum ersten Mal begrüßen durfte, hast du mein Herz bereits erobert, bevor du überhaupt geboren wurdest. Ich freue mich, dich beim Wachsen begleiten zu dürfen und zu sehen, was für ein toller Mensch aus dir wird. Ich möchte dir mitteilen, dass ich dir immer zur Seite stehen werde, egal was passiert. Aber dazu später mehr.

Ich bin mir nicht sicher, wann du diesen Brief erhalten wirst, aber ich hoffe, dass ich dir diesen Brief auf deinem Weg mitgeben kann.

Du weißt sicherlich, dass unsere Familie viele Opfer gebracht hat, damit wir unseren Weg gehen und unsere Stimme erheben können. Nicht nur dein Vater, sondern auch (Shosho) Oma, deine Tante Mary, Tante S. und ich. Sowie viele viele viele weitere Tanten, die du vielleicht im Laufe deines Lebens noch kennenlernen wirst.

Besonders die Stimme ist es, die uns ermöglicht, mit anderen zu kommunizieren. Sie erlaubt uns das, was wir uns vorstellen, in Worte zu fassen. Ermöglicht uns, Gedanken und Gedankengänge, Gefühle, ja unser inneres Erleben mit anderen zu teilen. Uns mitzuteilen.

Ich möchte dich gerne dazu ermutigen, zu jederzeit deine Stimme zu nutzen und dich mitzuteilen. Ich möchte dich dazu ermutigen, dich niemals für andere zu verstellen oder zu verbiegen (auch wenn es bestimmt Phasen in deinem Leben geben wird). Hallo Pubertät.

Aus meiner Jugend kann ich dir erzählen, dass es sehr turbulente Zeiten waren (2013 bis heute 2023), welche gefühlt von einer Krise nach der anderen gezeichnet waren. Sei es die politische Entwicklung in Deutschland durch die AFD und deren Einzug in den Bundestag zu meiner Schulzeit, durch die gravierenden Folgen und Schäden durch den Klimawandel (Hitzesommer, Überschwemmungen, Weihnachten im T-Shirt); Corona(-Semester, ) und Corona-Leugner, Frauen und Mädchen im Iran, Kriege in der Ukraine und Erdbeben, so heftig, dass sie auch Herzen erschüttern.

Viele, nein, eigentlich all diese Ereignisse, auch wenn sie heute noch schwer auszuhalten sind, haben eine positive Gegenbewegung, die mir Kraft gibt, diese schweren Zeiten zu überstehen. Es sind junge Menschen, die ihre Stimmen nutzen, um etwas zu bewegen; zum Guten zu verändern. Es sind junge Menschen, die für ihre Rechte einstehen und sie verteidigen. Es sind Menschen, die die Notwendigkeit erkennen und den Mut haben, sich mitzuteilen. In meiner Aufzählung habe ich zuvor die Frauen und Mädchen im Iran genannt, welche schon viele Jahre zuvor für ihre Rechte kämpfen, insbesondere 2022 hat uns damals alle erschüttert, nachdem eine junge Frau ermordet wurde, weil sie angeblich ihre Kopfbedeckung nicht richtig getragen hat. Kannst du dir sowas vorstellen? Erschreckend, oder? Seit jeher kämpfen Menschen dort für Frieden, Veränderung im System und Gerechtigkeit.

Natürlich auch für ihre Menschenrechte.

Warum ich gerade das anspreche, hat den Grund, dass ich hier in Deutschland nicht solche Ausschreitungen und Bedrohungen in diesem Ausmaß erfahre. Ich kämpfe zwar für bestimmte Rechte und darf das auch auf Demonstrationen friedlich tun, was ein großartiges Privileg ist! Und ich darf mich frei entfalten; kann tragen, was ich tragen möchte, und kann mich so in die Gesellschaft einbringen, wie ich es möchte. Ich darf mitgestalten, darf dazulernen. Gerade dieses traurige Beispiel zeigt auf wie wichtig eine gesunde und funktionierende Demokratie ist. Es zeigt auch auf wie fragil sie sein kann und wie wichtig es ist sich für sie stark zu machen.

Liebes, ich weiß nicht, wann du diesen Brief lesen wirst….

Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich mich heute, auch für dich und für unsere Demokratie einsetze. Ich wünsche mir, dass wir immer unsere Stimmen nutzen können, insbesondere für diejenigen, die keine haben. Ich wünsche mir, dass du immer deine eigenen Entscheidungen treffen kannst, und ich wünsche mir, dass du eine glückliche und gesunde Zukunft hast. Glaube an dich und weiß, dass du nie alleine sein wirst.

Ich habe dich lieb und werde immer für dich da sein.

In Liebe Tante

S.

Das geht jetzt wirklich zu weit. Oder?

von Anna Richter

A: Autorin, junge Frau.
P1: Prüfer 1 – weiblich, mittleren Alters.

P2: Prüfer 2 – männlich, mittleren Alters.

A, P1 und P2 sitzen auf unbequemen Holzstühlen. A beginnt ihre Einreichung vorzulesen. P1 + P2 haben ebenfalls ein Exemplar vorliegen, in das sie gemeinsam schauen.

 

A: Ich wäre für einen Zusammenschluss mit Österreich.

P1: (rauft sich die Haare. Lakonisch)
Das hat doch schon mal nicht funktioniert.

A: Richtig. Aber anders. Nicht großdeutsch, sondern großösterreichisch.

P2:  (lacht)
Das lässt sich ja nicht mal aussprechen. „Großösterreichisch.“

A: Außerdem möchte ich einen Kaiser. Am besten Günther Jauch.

P1 +P2: machen große Augen.

A: Doch, er würde das Volk, – gibt es noch ein Volk? -, sagen wir also die Bevölkerung, einen. Alle mögen ihn. Und er sollte Putins Tochter heiraten, felix austria nube.

P1: Moment. Das geht mir jetzt zu weit. Da war jetzt sehr geballt einiges dabei, dass man so nicht sagen kann. (Schaut zu P2) Oder geht das noch?

P2: Wahrscheinlich eher nicht. Was meinst du denn?

P1: Großösterreich ist schon ziemlich suspekt. Ich meine, das können wir doch unmöglich durchgehenlassen. Das ist ja fast Nazi. Lacht.

A: Warum eigentlich? Es gibt doch etwas „Deutsches“, dass über die Bundesrepublik hinaus reicht. Eine gemeinsame Vergangenheit, sprachlicher und kultureller Natur. Vielleicht auch etwas Ethnisches? In den USA arbeiten sie wundersamerweise noch mit Blumenbachs Rassenlehre… wodurch wir, fernab des Kaukasus, zu Kaukasiern werden. Das ist ein bisschen Nazi und das sollten die mal verbieten.

P2: nickt. Richtig.

A: Vielleicht darf man bei uns noch von Ethnien sprechen? Ich will hier niemanden vor den Kopf stoßen. Falls es ein geeigneteres Wort gibt, lassen Sie es mich wissen. Dann füge ich es hier ein.

P1 + P2 lachen.

A: Wie dem auch sei… Sie wissen, was ich meine? Österreich wollte sich nach dem ersten Weltkrieg mit Deutschland vereinen, da sich die Österreicher deutsch fühlten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker galt jedoch ein bisschen mehr für Sieger und ein bisschen weniger für Österreicher. Sogar Stefan Zweig ist dieser Meinung, dem man in dieser Hinsicht sicherlich nichts vorwerfen kann…

P1: notiert sich Stefan Zweig und murmelt nickend: Stefan Zweig…

A: Und um noch jemanden heranzuziehen, der über jeden Verdacht erhaben sein sollte – kennen Sie Friedrich Adler?

P2: Hmm, ja, habe ich schon mal gehört, aber kann ich jetzt nicht richtig zuordnen.

P1: (Stutzt) Moment mal, gehören da nicht überall Anführungszeichen dran?

P2: Ja, das gibt Abzug für den Aufbau.

A: Obwohl Nabokov auch keine hatte.

P2: Oh weh, auch noch ein Nabokov-Vergleich. Sie sind ja nicht Nabokov und außerdem, irgendwie ist der inzwischen auch heikel. So lolitaesque.

A: Also, Adler erschoss 1916 den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh, um seinem Protest gegen die Kriegsfinanzierung Ausdruck zu verleihen.

P1: Wie hieß der nochmal mit Vornamen?

A: Friedrich. Friedrich Adler. Er kam ins Gefängnis und wurde 1918, durch eine letzte Amtshandlung Kaiser Karls aus der Haft entlassen und in kakanischer Kutsche durch Wien hofiert. Adler war zum Volkshelden geworden. Er wurde Generalsekretär der Sozialistischen Arbeiternationalen und später im zweiten Weltkrieg führende Kraft der österreichischen Exilsozialisten.

P1: Spannend. Noch nie gehört. Aber wie spricht das jetzt für Großösterreich?

A: Nicht explizit für Großösterreich. Vielleicht wollte ich Sie damit tatsächlich nur ein bisschen provozieren. Aber es spricht schon dafür das es da doch etwas Gemeinsames gibt. Denn nach dem Krieg fiel Adler in Ungnade, da er sich, man merke auf, zuerst als Internationalist, dann aber als Deutscher, in dem Sinne wie ich das Wort hier verstanden wissen will, fühlte, und eben nicht als Österreicher. Eine österreichische „Nation“ hielt er für utopisch.

P1: Ich verstehe. Trotzdem politisch sehr schwierig. Wir haben ja um vorurteilsfreie, respektvolle und nicht-diskriminierende Beiträge gebeten.

P1: Was? Wirklich? Beim Thema Meinungsfreiheit?

P2: Ja, steht auf der Webseite… Was will man machen? Öffentlich gefördert… Hätte ich das jetzt sagen dürfen?

P1: zuckt mit den Schultern. Also das mit dem Kaiser. Das ist ja schon ziemlich skurril. Es hat für mich auch so was Reaktionäres. Ist das vielleicht schon verfassungswidrig?

P2: Naja, ich vermute das ist von der Kunstfreiheit gedeckt. Aber es passt so gar nicht in den Zeitgeist. Hat was von Reichsbürger…

P1: Obwohl, naja, Günther Jauch, das klingt jetzt nicht so Reichsbürger. Aber das mit Putins Tochter?!

A: (leicht frustriert) Es ist nur ein Theaterstück…

P2: Irgendwie so absurd, dass es wieder witzig ist. Aber vor dem Hintergrund der Ukraine? Nein, das geht zu weit. Außerdem Persönlichkeitsrechte…

A: Vielleicht störts ihn gar nicht. Er würde sie bestimmt Googlen. Ich denke sie gefällt ihm. Bei WWM ist er immer etwas netter zu den blonden Kandidatinnen.

P2: Ist sie hübsch?

A: Joa, schon.

P1: Aber er ist doch schon verheiratet!

A: Das hat Schröder auch nie abgehalten oder Lafontaine.

P1: Das ist doch Privatsache!

P2: Wenn du in die Politik gehst, wird das Private öffentlich.

A: Danke.

P1: Aber wo ist die Grenze?

A: Wenn du nicht mal eine Ehe führen kannst, wie willst du ein Land regieren?

P1: Das ist doch etwas anderes!

A: Sicher?

P1: Ich finde schon.

A: Für mich gibt es immerhin Hinweise. Wie dem auch sei. Meines Erachtens gehört die staatliche Ehe ohnehin abgeschafft.

P1: Schon wieder nicht tragbar.

A: Warum denn das? Mir scheint die Ehe ist ein Relikt aus uralten Zeiten, dessen ursprüngliche Funktion sich längst erübrigt hat. Wissen Sie, Alexandra Kollontai, die erste weibliche Ministerin, sah das ähnlich und schlug ihren männlichen Genossen in der Sowjetunion vor, die Ehe abzuschaffen. Und jene – die doch nichts weniger wollten als die Weltrevolution, haben den Vorschlag entsetzt verworfen. Derlei würde nie mitgetragen. Man müsse realistisch bleiben!

P2: lacht.

P1: Ja, das klingt jetzt eher links.

A: In unserer Sattheit bedroht das Alleinsein nicht unsere Existenz. Wozu bräuchten wir noch die Ehe? Im Grunde ist sie zu einem romantifizierten Steuersparmodell verkommen.

P2: Das denke ich auch manchmal…

A: Auch den Kindern ist es einerlei, ob ihre Eltern verheiratet sind oder nicht, insbesondere wenn man die Güte hat von einer diesbezüglichen Indoktrinierung abzusehen… Sie brauchen Liebe, Fürsorge, Sicherheit…
Verheiratete sind noch nicht einmal glücklicher als andere. Wie viele glücklich verheirate Paare kennen Sie? Vielleicht zwei?

P2: Ja, ungefähr zwei.

A: Es ist mir ein Rätsel, warum eine Institution mit so geringem Glückswert, so überhöht wird. Überhaupt dieser Traum vom weißen Kleid, vom Haus mit Baum und Hund – mein Traum ist das nicht!

P2: Meiner auch nicht.

P1: Warum? Ist doch schön… Ich bin sehr glücklich verheiratet.

P2: Dein Mann auch?

P1: (schaut P1 böse an.)

A: Erlauben Sie mir noch einen Gedanken dazu.

P1: Ungern…

A: Ist die Institution der Ehe nicht der Sieg des Kommunismus im Privaten? Eine Frau für jeden Mann – eine weitestgehend leistungsunabhängige Verzerrung der, erlauben Sie mir das unglückliche Wort, „Ressourcenallokation“?

P1: Ich bin keine Ressource…

A: Natürlich nicht. Entschuldigen Sie. Aber erlauben Sie mir den Gedanken weiterzuführen. Sozusagen als Experiment. Wir haben sehr viel weniger männliche als weibliche Vorfahren. Das hat seine Gründe… Denken Sie mal drüber nach…
Wissen Sie, vor den 1930er Jahren haben sogar der marxistischen Lehre zugetane Soziologen, etwa Müller-Lyer. Das ist der, der die optische Täuschung, mit den Pfeilen, die wider Erwarten gleich lang sind gemacht hat. Müller-Lyer also hatte gemahnt, man solle sich nicht fortpflanzen, solange, nun, sagen wir, es dafür Geeignetere gäbe.

P1: Können wir das hier abbrechen?

A: Warten Sie! Bernhard Shaw, Kautsky, Theodor Roosevelt, und auch Churchill hatten auf die ein oder andere Weise etwas für diese Art der Eugenik übrig… Damals waren solche Überlegungen, nun, sagen wir, noch frei von dem Schmerz, den sie heute in uns hervorrufen.
Es ist durchaus nicht meine Absicht, eine Lanze für die Eugenik zu brechen, – DURCHAUS NICHT! – aber ist es nicht bemerkenswert, dass sich das kommunistische Gleichheitsprinzip der Ehe durchsetzen konnte, der Kommunismus als Wirtschaftsordnung jedoch nicht? Frauen sind eben wichtiger als alles andere. Hier ist man nicht bereit es drauf ankommen zu lassen. Jedem Mann eine Frau!
Doch auch im Privaten… Spricht es tatsächlich für eine Beziehung, wenn ich diese vertraglich absichern muss? Mir leuchtet nicht ein, warum wir diese Scharlatanerie weiterhin dulden. Es steht doch jedem frei privatrechtliche Verträge zu schließen. Jeder kann seine Beziehungen gestalten, wie es ihm beliebt. Vor Gott, meinetwegen. Mit ewiger Treue oder ohne. Ganz gleich! Wozu das staatliche Monopol? Sollen doch Kirchen, Vereine und allerlei Unternehmungen verschiedener Rechtsformen ihre eigenen Ehen feilbieten! Vielleicht fände sich so ein Ehemodell, das zu mir passte!

P2: Hm. Aber Sie können doch jetzt heiraten, wen Sie wollen. Einen Mann, eine Frau…

A: Sicherlich. Aber nur eine. Ich möchte einen von der Steuer absetzbaren Harem!

P1: Natürlich…

A: Auch für die Erziehung der Kinder scheint mir der Harem mehr Liebe und Fürsorge zu ermöglichen. Mehr echte Gemeinschaft. Aber es ist ein schwieriges Unterfangen. Wissen Sie, ich war einmal bei einem Treffen polyamoröser Frauen.

P2: Witzig.

A: Ich dachte da wären vielleicht ein paar Lesben, die waren aber alle Hetero. War also eh nicht so spannend für mich.

P1: (zu P2) Ist sie lesbisch?

P2: Keine Ahnung. Denke nicht.

A: Sagen wir eine solide Fünf auf der Kinsey-skala.

P2: Auf der was?

P1: (drückt auf ihrem Handy rum) Scheint so eine Schwulenskala zu sein, die misst, wie schwul man ist.

P2: Achso. Okay. Noch nie gehört.

A: Nie habe ich einer traurigeren Veranstaltung beigewohnt! Die Frauen dort, also bei der Polyamorösen Veranstaltung, waren nicht eigentlich polyamorös! Sie sind verlassen worden oder waren dabei verlassen zu werden. Entweder „Er“ hatte eine andere und wollte nichts mehr von ihr wissen, bis sie vorschlug man möge doch eine polyamoröse Beziehung eingehen, woraufhin man gelegentlich gemeinsam aß beziehungsweise miteinander schlief.
Die zweite Variante war noch trauriger: „Er“ liebt sie nicht mehr und schlägt eine polyamoröse Beziehung vor, um die Trennung nicht vollziehen zu müssen. Sie ist verlassen worden, ohne ihre Freiheit wiedererlangt zu haben!
Diese Scheinpolyamoren machten mir allesamt einen sehr unglücklichen Eindruck.
Ich legte den Damen nahe, ihren Weg zu überdenken, da sie nicht, wie sie zu meinen glaubten, polyamorös, sondern lediglich in einer unglücklichen Situation gefangen seien.
Ich war, wie Sie sich vorstellen können, nicht der beliebteste Gast. (lacht) Meinungsfreiheit. Autsch.

P2: lacht.

A: Aber zurück zur Ehe. Früher handelte es sich bei der Ehe um eine Institution zur Klärung der Verantwortlichkeiten, gegenüber der Frau.
Frauen verheirateten sich und tun es vielerorts noch immer, um ihre Versorgung sicherzustellen. So wie es auch Mohammed angedacht hatte, als er die begrenzte Polygamie erlaubte. Fielen die Männer im Krieg, so war es besser, die Witwen hätten die Möglichkeit einen verheirateten Mann zu ehelichen, als schutz- und mittellos zurückzubleiben. Der Staat war damals noch zu schwach, zu arm an Ressourcen, als dass er diese Aufgabe unmittelbarer hätte tragen können.
Handlungsfähige Staaten, Sozialstaaten, sind gut für Frauen, wissen Sie? Man merkt es gleich, wenn man durch Länder reist, in denen Frauen kaum allein leben. Immer bedürfen sie eines Mannes, um in Ruhe gelassen zu werden. Doch häufig findet sich dann niemand, der sie vor diesem, ihrem Beschützer, schützt. Wovon leben? Wohin gehen? Viele haben keinen einzigen Tag ihres Lebens selbstbestimmt verbracht. Kein Tag an dem sie nicht abhängig gewesen wären. Ein trauriges Leben, denke ich manchmal. Allerdings oftmals auch weniger einsam als die unseren.

P2 + P1: nicken.

A: Der Islam ist eigentlich eine originär feministische Religion, wissen Sie? Sogar auf die sexuelle Befriedigung der Frau wird hier wertgelegt und es wird als selbstverständlich hingenommen, dass es etwas wie weibliches Begehren gibt und mehr noch – das selbiges seine Berechtigung hat. Mehr als in anderen Religionen.

P2: Wollen Sie das nicht lieber umschreiben? Islamkritik ist total heikel!

A: Wieso ist doch gar keine Kritik? Im Gegenteil! Das ist doch etwas überaus Positives! Was sind Sie denn für ein Macho?

P2: Jesus! Ich meine es doch gut mit Ihnen. Ich will Sie nur warnen. Islam, Sex und Frauen ist suuper schwierig.

A: Ich finde ich habe etwas sehr feministisches geschrieben. Es ist nun einmal so, dass weibliche Befriedigung im Christentum nicht vor kommt. Der Islam ist in dieser Hinsicht sicherlich, sagen wir, feministischer als das verbohrt-spröde Christentum. Bei Matthäus 1:18-19 heißt es:
„So verhielt es sich mit der Geburt Jesu Christi: Seine Mutter Maria war Joseph verlobt. Ehe sie aber wie Mann und Weib zu leben begannen, erwies sich Maria schwanger. Joseph aber war ein guter Mensch und wollte sie nicht demütigen; er nahm sie zum Weibe und hatte keinen Verkehr mit ihr, bis dass sie ihren ersten Sohn geboren und nannte ihn Jesus.“

P1: Diese Passage hat sie schön eingerückt! (notiert etwas)

A: Aus diesem rücksichtsvollen Text, voll Verständnis und Zartheit musste noch die Jungfrauengeburt geschlagen werden! Wie unendlich viel gröber, plumper und dem Menschen entgegen…
Der Muslima hingegen steht es frei sich scheiden zu lassen, sollte sich ihr Erwählter als impotent erweisen. Bedenken Sie den dahinterstehenden Gedanken. Eine Ehe ist der Frau nur zumutbar, mit einem Mann, der seinen Aufgaben nachkommt!

P1: Vielleicht ist seine Aufgabe in diesem Fall nur die Kraft der Zeugung und weniger die Befriedigung der Frau?

A: Vielleicht. Sie haben wahrscheinlich recht. Doch hören Sie die muslimische Variante der Josephsgeschichte: (theatralisch)
Joseph kommt als Sklave in das Haus des Wesirs, der ihn aufnimmt wie einen Sohn. Josephs außergewöhnliche Schönheit, bleibt auch des Wesirs Frau, Suleika, nicht verborgen. Sie ruft ihn in ihr Schlafgemach und sucht ihn zu verführen. Doch er weist sie aus Rücksicht auf seinen Herrn zurück. Suleika will ihn an der Flucht hindern und packt ihn am Kragen, woraufhin sein Hemd rückseitig zerreißt. Als der Wesir nach Hause kommt ruft Suleika: „Me too! (mit erhobenem Zeigefinger) Dein Sklave wollte Hand an mich legen, bestrafe ihn…“ und so weiter… Die Damen litten es auch damals schon nicht gut, zurückgewiesen zu werden…
Es kommt zu einer kleinen Offenbarung, in der ein sprechendes Kleinkind, Josephs Unschuld beteuert und den rückseitigen Riss im Hemd als Beweis anführt, da dieser nur entstanden sein konnte, wenn Suleika Joseph bei sich halten wollte… Nicht aber wenn die Schuld bei Joseph läge. Es leuchtet ein, nicht wahr?
Doch der Vorfall verursacht Gerede! Die Weiber des Ortes machen sich über Suleika lustig. „Nicht mal dein eigener Sklave…“, spotten sie. Suleika lädt die spitzzüngigen Damen daraufhin ein mit ihr zu speisen. Sie platziert sie um sich und reicht ihnen Messer, um das angerichtete Obst zu schälen. Unter einem Vorwand ruft sie nach einem Diener. Joseph tritt ein. Die Hand einer jeden Dame rutscht ab. Alle schneiden sie sich, in dem Moment, in dem sie Joseph erblicken. Augenblicklich verstummt der Spott. Dies sei kein Mann, sondern ein Engel! rufen sie erfüllt vom Verständnis für die Zurückgewiesene. Verstoßen wird Joseph letztlich doch. Aber, dass es das Weib ist, welches begehrt, kommt für einen religiösen Text, gut heraus, finden Sie nicht? Ich habe den Eindruck, dass in unseren Kreisen, immer sehr selbstverständlich der Mann als der dargestellt wird, der will. Das deckt sich nicht mit dem, was ich beobachte oder dem was mir zugetragen wird. Es erstaunt mich, dass die Männer selbst, sich so wenig, gegen dieses verfälschende oder doch zumindest einseitige Narrativ wehren.
Mir scheint, mit der Verbreitung der Errungenschaften der sogenannten Aufklärung, haben wir auch unseren Beitrag zur sexuellen Unzufriedenheit der Frau in die Welt getragen. Der weibliche Orgasmus ist für die Fortpflanzung nicht notwendig, also gibt es ihn nicht. Jedenfalls brauch man ihn nicht. Die alte chinesische Literatur hingegen ist sehr auf die weibliche Lust bedacht.
Auch in der mittelalterlichen arabischen Literatur ist es das weibliche Verlangen welches stärker, und welches zu befriedigen, die Pflicht des Mannes ist. Es schmerzt zu sehen, was daraus geworden ist…

P1: Schön und gut. Aber ich habe das noch nie gehört und es geschieht so viel im Namen des Islams, dass es mir gelinde gesagt, gewagt erscheint, dass gerade Sie meinen die Deutungshoheit innezuhaben „Der Islam als Religion der weiblichen Lust…“ Naja…

A: Das habe ich nicht gesagt! Das wäre freilich übertrieben. Allerdings: was ist der Islam? Islam ist, was du draus machst! Wie Religion überhaupt. In unseren post-christlichen Breiten, halten wir uns auch nicht zu lange mit Texten auf, die allzu aus der Zeit gefallen scheinen. Man übergeht sie geflissentlich. Wie die wunderbar unterhaltsame Geschichte Lots, die sich leicht abgewandelt auch im Koran findet. Es gibt interessante Auslegungen dieser Geschichte! Kennen Sie sie?
(Fährt fort, ohne eine Antwort abzuwarten)
Gott beschließt die sündige Stadt Sodom zu zerstören und schickt zwei Engel, um die Rechtschaffenden zu erretten. Lot drängt die Engel bei ihm einzukehren, und kaum hatten die himmlischen Gäste Quartier bei ihm bezogen, belagerten die Sodomiter sein Haus. Er solle die Männer herausrücken, sie wollten mit ihnen verkehren. „Nie, werde ich solches meinen Gästen tun.“, entgegnete Lot entsetzt. „Nehmt lieber meine jungfräulichen Töchter!“

P2: (Zu P1) Das kann doch da unmöglich stehen?

P1: (Drückt auf ihrem Handy) Stimmt wirklich…

A: Daraufhin führt Gott Lot und seine Familie aus der Stadt, bevor er diese zerstört. Da Lots Frau sich nach der Heimat umblickt erstarrt sie zur Salzsäule. Nur Lot und seine beiden Töchter überleben. Die Töchter gehen nun selbstverständlich davon aus, dass es ihnen obliegt, den Fortbestand der Menschheit zu sichern, da doch alles Leben, das sie kannten, zerstört worden war. „Naturgemäß“ verführen sie den Vater und beide werden sie schwanger.

P1: Auch noch Inzest?

P2: Naja, aber wenn es doch in der Bibel steht?

P1: Wie viele unangenehme Themen kann man in einem einzigen Text denn ansprechen?

A: Welche Lehren zieht man wohl aus diesem christlichen Lehrstück? Die Wenigen, die es überhaupt für nötig erachten, derlei Fragen Beachtung zu schenken, schlagen zaghaft vor, dass Sodom nicht wegen der homosexuellen Neigungen seiner Bewohner, zerstört worden sei, sondern da die Gesetzte der Gastfreundschaft missachtet worden waren! In der Tat. Die Gastfreundschaft ist die höchste Tugend aller Wüstenvölker. Würden Reisende nicht aufgenommen, wären sie dem Untergang geweiht. (theatralisch und mit erhobenem Zeigefinger) Man nickt beruhigt, ob dieser Interpretation. Was nun die Mädchen angeht, bleibt nur schweigen…
So wird gefiltert, ausgelegt und allzu Erstaunliches, stillschweigend übergangen. Außerdem scheint es auch gar nicht mehr erwartet zu werden, dass der Gläubige seinen Lebenswandel der immerwahren Religion unterwirft. Im Gegenteil! Werden die Gräben zu tief, wird das Immerwahre angerufen, sich doch endlich den modernen Bedürfnissen der Gläubigen anzupassen. Das System prägt die Jünger und die Jünger prägen das System. Frei nach Luhmann, wie in der Politik, wie überall. Was ich damit sagen will ist, dass Religionen sehr dehn- und wandelbar sind. Beinahe grenzenlos. Wir haben in der Weltgeschichte gesehen, dass es politische Zustände gibt, in denen braun für rot gilt, dass Gerechtigkeit gerade Ungerechtigkeit bedeutet und Freiheit sich durch Unfreiheit auszeichnet. Sogar damit können sich einige Jünger eine gewisse Zeit lang arrangieren, wenn es ihnen in den Kram passt, versteht sich, oder auch aus Gründen der persönlichen Sicherheit.
Man findet in religiösen Texten häufig das, was man in ihnen sucht. Wenn man den historischen Kontext, den intendierten Zweck, der offenbarten Schriften berücksichtigt, stößt man auf einen sanften, großherzigen Kern. Woran es liegt, dass gerade die grausamsten Vertreter enger Gedankenwelten, den Islam so lautstark für sich beanspruchen? Eine Vielzahl von Gründen. Den Lauten wird das Megafon der Presse gereicht. Die Reh-Seelen bleiben ungehört.
Außerdem war Religion schon immer ein Instrument politischer Macht. Das Entstehen einer Religion ist auch eine soziale, eine politische Revolution. Zugehörigkeiten, Loyalitäten, Rechte, Gerichte… So viel, dass es zu regeln gilt. In seinem Ursprung war der Islam Staatsmacht, wie Religion. Din wa Daula, heißt es auf Arabisch. Mohammed war Feldherr und Prophet, Richter und Regierender. Nach seinem Tod sprossen die Ränke und die politisch-motivierte Auslegung nahm ihren Lauf. Sie sehen, die Frage, was der Islam sei, ist so alt wie dieser selbst.
Die Völker, die zum Islam bekehrt wurden, vermengten ihre heidnischen Rituale mit der fremden Religion. Manche halten diese Vermengung für „den wahren Islam“. Manche, die sich jetzt Moslems nennen, können kaum lesen. Manche derer die bereit waren für den sogenannten „Islamischen Staat“ „Ungläubige“ zu köpfen, haben den Koran nie in der Hand gehabt. Ich denke, das, was diese Menschen zum Islam zieht, hätten ihnen auch ein paar Springerstiefel in Pirna geben können. Eine Sekte, eine Gemeinde, eine „echte“ Freundschaft zwischen groben „rechtschaffenden“ jungen Männern. Ein Refugium für jene ohne Aufgabe im Leben.
Überhaupt: Wenn man sich anschaut, wer in Deutschland bei der Frage was der Islam sei alles mitreden darf, – man schlägt die Hände über dem Kopf zusammen! Türkische und saudische Marionetten… Ich denke nicht, dass wir uns damit einen Gefallen tun. Geschweige denn den deutschen Muslimen.
(kurze Pause)

P1: (vorsichtig) Es leben auch sehr viele nette Menschen in Pirna.

A: Das ist richtig. Ehrlich gesagt, war ich noch nie in Pirna. Ich finde übrigens auch das Auferstanden aus Ruinen, die viel bessere Hymne für Deutschland wäre. Was für ein Text! (singt laut): Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt…

P2: (steht auf.) Das geht jawohl nicht. Das war doch die Hymne eines Unrechtsregimes.

A: Naja, dafür haben wir eine absolut generische Strophe eines Liedes, das man halb verboten hat…

P2: Geht das zu weit?

P1: Ich befürchte für unsere Zwecke geht das zu weit. Obwohl da natürlich was dran ist…

P1: Vielen Dank Frau … Sie können gehen.

Iran ist FR(AU)EI

von Nadja Köpplin

Wirf ab den schwarzen Stoff
Verlass den versperrten Hof
Versteck dich nicht
Zeig dein GesICHt

Deine unbändigen Haare
sollen endlich den unaufhaltsamen Wind spüren
Deine lebendigen Augen
sollen endlich die ganze Welt erblicken
Deine neugierige Nase
soll endlich die freie Luft einatmen
Dein mutiger Mund
soll endlich das vollkommene Leben schmecken
Lächle-rede-schrei!

FREI! FREI! FREI!

Brief an meine Tochter

von Nadine K.

Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Meinung hier und Meinung dort,
es gibt keinen meinungsfreien Ort.
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.
 

Meine geliebte Ida,

eben bist Du fröhlich aus der Tür, Ranzen auf, Tüte voller Mitbringsel für Deine Klassenkameraden in der Hand, mit Freude und Aufregung im Herzen. Die ausgepackten Geschenke liegen auf dem Wohnzimmertisch, Kuchenreste in der Küche, in mir ist Dankbarkeit, für das Spüren Deiner Begeisterung, für unser Lebensumfeld, dafür, dass ich Dich gebären durfte.
Bis zu meiner Entscheidung, dass ich einen Segen wie Dich empfangen möchte, war es ein langer Weg und dann warst Du plötzlich da. Bist Du durch die Enge des Geburtskanals aus meinem Mutterleib in die Freiheit gewandert oder bist Du mit Deinem Tag 1 in einer Welt internalisierter Unfreiheit gelandet?

Da ist eine Freiheit, die vor der Geburt und nach dem Tod liegt, dazwischen ist ein Leben. Ich wünsche Dir ein Leben in Freiheit, Deinen Körper stets frei bewegen zu können, Deine Gefühle stets frei ausdrücken zu können und Deine Gedanken stets frei denken und wenn es Dir wichtig ist, aussprechen zu können. Dass das eigene Kind eine eigene Meinung entwickelt, hört sich für mich nach einem lohnenswerten Ziel an. An diesem heutigen Tag, mit viel Rückblick und Fokus auf Dich, nagt an mir der Zweifel, dass ich Dir geholfen habe, diesem Ziel näher zu kommen.

Nach dem ersten Ultraschallbild und all den daraus natürlich folgenden Zuständen, ist mir das erste Mal bewusst geworden, dass der größte Teil der Menschen sehr unachtsam von seinem Bedürfnis nach Meinungsäußerung Gebrauch macht. In dem Bemühen alles gut und richtig zu machen, ist die Fülle und die Bestimmtheit der Meinungen von Babymarkt-Verkäufern bis hin zu medizinischen Personal zu selten eine Hilfe und führt tendenziell in die Hölle der Unsicherheit. Daraus folgen Entscheidungen, die ich aus jetziger Perspektive schnell als „falsch“ bezeichnen würde, um dann – nach einem tiefen Atemzug -, mir liebevoll zu verzeihen, dass ich zum damaligen Zeitpunkt meine Meinung nicht geäußert habe. Weil es sie dort noch nicht gab, meine Meinung in ihrer Freiheit und Klarheit, wie es sie heute gibt.

Ich fühle meine Intuition, in mir ist Liebe und ich habe ein Gespür,
wenn das die Basis der Meinung ist, dann öffnet die Meinung eine Tür.
Steckt hinter meiner Meinung die Angst, die Ohnmacht, Wut oder altes Leid,
so bleibt die Tür verschlossen und geht immer schwerer auf, mit der Zeit.
 
Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Wo kommt sie her? Wo will sie hin?
Welchen Inhalt hat ihr Sinn?
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.
 
Vor der Meinungsäußerung liegt die Meinungsverinnerlichung. Das, was da raus kommt, als Meinung, muss erst mal reingekommen sein, in Körper, Geist und Seele. Mit welchem Körper, an welcher Stelle der Erde, wir hier landen, kann das geistige Denken im hohen Maße beeinflussen, vielleicht noch höher ist der Einfluss durch die emotionale Steuerung. Jede Meinung entsteht aus jahrelanger Beeinflussung. Jede Meinung schwimmt in einem durch tägliches Meinungsfutter getrübten Teich im Kreis umher, frisch sind die selten, die Meinungen. Bei Bedarf fische ich mir eine Meinung heraus und dann habe ich eine Meinung. Oder hat die Meinung mich?

Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Ich hörte Deine Meinung, was mach ich jetzt bloß,
wie werde ich wieder meinungslos?
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.

Und wenn ich/du/er eine Meinung an der Angel habe/hast/hat oder die Meinung mit ihrer großen Eigenenergie von selber an die Oberfläche gesprungen kommt, dann schreit sie nach Aufmerksamkeit, welche sie sich gerne einfach nimmt. Braucht die Äußerung der Meinung eine Anfrage beim potentiellen Empfänger oder besitzt sie ein automatisiertes Anrecht dafür? Hat die Veräußerung der Meinung eine institutionalisierte Empfängererlaubnis?
Welche Freiheit besitzt das Ohr, in das die Meinung eindringen möchte? Darf es sich schützen, darf es Nein sagen oder kommt die Meinungsfreiheit daher mit einer integrierten Mithörpflicht?

Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Es meint hier, es meint dort, jeder will was sagen,
und jeder hat die Antwort schon, drum spart euch eure Fragen.
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.

Worin besteht dieses drängende Bedürfnis nach Meinungsäußerung? Was will die Meinung von ihrem Gegenüber? Gehört werden? Reicht ihr das? Will sie Bestätigung? Will sie verändern?
Sie will meist Recht haben, wenn die Meinung aus einem angstgetränkten Teich gefischt wurde. Dann gibt es keinen Platz für eine Gegenmeinung, dann hat die Meinungsfreiheit sich gegenseitig aufgelöst.
In der Liebe liegt die Akzeptanz, die Liebe meint nicht, die Liebe ist und damit ist sie meinungslos.

Eine Meinung zu haben als Mutter, meine ich, sollte ich. Oder besser nicht?
Ich möchte Dich von Deiner Meinung befreien,
wie kannst Du wieder meinungslos sein?
gemein, so viel Gemeintes floss in Dich ein.
Ich such’ Dich vergeblich, in deinen Worten, so versteckt,
von den Meinungen der Anderen wurde Deine Ursprünglichkeit verdeckt.
Ich wünsch’ Dir, Du wärst wieder rein.
 

Meine geliebte Ida,

dies ist sicherlich kein Brief, den ich Dir heute an Deinem 9. Geburtstag zum Lesen überreichen werde, er wird in Deine Erinnerungskiste gepackt. Ich habe die Worte geschrieben, damit ich nicht vergesse, dass ich es als meine Verantwortung sehe, meine gemeinte Meinungsfreiheit zu leben, inspiriert von einem Schreibwettbewerb über den ich im Internet stolperte letzten September, meinem Geburtsmonat.

Seit neun Jahren wirst Du vollgepumpt mit Meinungen. Worte gelangen an Deine Ohren, die meist angstgetriebene unachtsame Münder verlassen haben. Auch von mir gab es viele solche Abladungen, wertende Bemerkungen, laute Worte der wütenden Ohnmacht und täuschende, manipulierende, erpressende Sätze der Hilflosigkeit. Elternschaft als täglicher Störenfried der kindlichen Entwicklung der Meinungsfreiheit.

Und welche Art von Meinungen hast Du eigentlich, frage ich mich. Die Antwort ist zäh. Dein Geist meint viel und vieles, viele Wörter sprudeln aus Dir raus, nur oft höre ich nicht Dich.
Ich höre Deine Eltern, Deine Mama aus dem Westen oder Deine Mami aus dem Osten, oft höre ich Deine Mitschüler, erahne Meinungen Deiner Lehrer. Ich höre Meinungen wie „Mama, dein Essen schmeckt scheiße.“ oder „Putin ist ein Arschloch,“ aus Deinem Mund und während ich das höre, fliegen lauter irritierte, erklärende Gedanken dazu an mir vorbei und wir sind plötzlich im nächsten Moment.

Ich suche Dich, in Deinen Worten. Ich finde Dich nicht, in Deinen Worten. Wo bist du? Wo ist die unbedeckte, unversteckte, unbefleckte Tochter, die Du einst warst? Dies zu schreiben, macht mich traurig und genau deswegen schreibe ich es, damit wir unsere nächsten gemeinsamen Schritte auf neutralerem Boden gehen können.

Mein Versprechen heute an mich, ist, achtsam jeden Tag mehr und mehr den friedvollen Weg der Meinungslosigkeit zu gehen.
Mein Versprechen heute an Dich, ist, Dir einen Raum zu wahren, in dem Du Dich mit Deiner eigenen freien Meinung finden kannst.

Ida, ich möchte Dich kennenlernen.
In Liebe,
Deine Mama

Menschen aller Nationen, hört meine Rede!

von Jacqueline Roussety

Eine junge Frau betritt den Vorraum einer Moschee. Sie hält inne, lässt ihren Blick durch diesen stillen Ort wandern. Sie redet leise mit sich selbst, einem Zwiegespräch gleich. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab. Sie wendet sich dem Publikum zu.

Selam-aleyküm. Shalom. Grüß Gott. Salom. Hallo, ich bin … ach …, nennt mich wie ihr wollt. Mein eigener Name tut hier nichts zur Sache. Begleitet mich für geraume Zeit, und ich erzähle euch über eine Schattenexistenz, in der eine Frau ihr Menschsein verloren hatte und sich dieses, Schritt für Schritt neu eroberte.

Die junge Frau hält inne, nimmt ihren Rucksack von den Schultern.

Vor dreißig Jahren wurde eine Mehtap in Deutschland geboren. Somit ist sie eine Deutsche mit türkischen Wurzeln. Durch ihre Religion bekennt sie sich als Muslimin, denn sie glaubt an die Lehren von Mohammed, dem Propheten, und ist demzufolge eine Mohammedanerin.

Die junge Frau zieht am Eingang ihre Schuhe aus, stellt diese ins Regal und betritt durch eine Tür den kleineren von zwei Gebetsräumen, der schlicht eingerichtet ist. Nach alter Tradition sind Männer und Frauen während des Gebetes getrennt.

Ich weiß, nicht selten löst das Wort Islam eher Unbehagen aus. Angst. Unsicherheit. Wir alle erinnern uns doch an Hatun Sürücü aus Berlin, ermordet von ihrem eigenen Bruder, ein sogenannter ‚Ehrenmord‘, haben Mahsa Anunis schönes Gesicht vor Augen, ein junges Dasein – brutal ausgelöscht. Für eine Haaresbreite Freiheit. Frau! Leben! Freiheit – Tod. Alles blickt im Moment nach dem Iran. Gespenstische Bilder einer lebenshungrigen Generation, die ihr Recht auf freie Gedanken mit dem Leben bezahlt. Reingeboren in eine diktatorische Herrschaft wanken sie taumelnd durch eine permanent bedrohte Existenz, die ihnen wie ein paar faulige Brotkrumen hingeworfen wurde. Nichtsdestotrotz, sie alle sind auf der Suche nach ein wenig persönlichem Glück, getrieben von Wut und Bitterkeit, erniedrigt durch permanente Angst, bis nur die Isolation oder der Tod einem winkt. Dort, allerdings auch in Afghanistan, in Afrika – ach, diese lähmende Ohnmacht!

Die junge Frau zieht einen Gebetsteppich aus dem Rucksack hervor und rollt ihn vor sich aus.

Glaubt mir, dieses Gefühl der Ohnmacht trug sie, Mehtap, jahrelang mit sich herum. Verschlossen, verheimlicht. Oft hat sie als Kind gelitten, nächtelang geweint und vieles runtergeschluckt. In ihrer Entwicklung gefangen hinter einer Mauer des Schweigens, einem dicht gewebten Schleier, der eine eigene Identität, eine persönliche Überzeugung nicht zuließ, nicht gewährte. Manches hat sie später im stumpfen Dasein runtergespült. Der verbotene Alkohol der Ungläubigen wurde für geraume Zeit ihr einziger und heimlicher Freund. Und immer wachte als stetige Begleitung diese bohrende Einsamkeit an ihrer Seite, die sie fast verrückt machte. Mutterseelenallein in einem Land mit Millionen von Menschen.
Keinem konnte sie ihre Ängste und Probleme anvertrauen. Bei niemandem traute sie sich offen ins Gesicht zu schauen, um vielleicht einen Hauch Nähe und Halt in verständnisvollen Augen zu finden. So blieben viele Fragen und wirre Gedanken, die Mehtap nicht begriff, in ihr verschlossen.
Ihre Sprache fror allmählich fest, taute wieder auf, verwandelte sich zu Stein und oft glaubte sie, für den Rest ihres Lebens zu verstummen. Mehtap sah die anderen Menschen sehr wohl reden, doch eine Brücke war zerbrochen und deren Worte drangen nicht zu ihr herüber, verloren sich in eisigen Fluten. Ihre stummen Hilferufe fielen ebenfalls ins tiefe Wasser und erreichten nie einen Menschen. Wie ein Fährmann versuchte sie, das Meer der Sprache zu überqueren. Je schneller sie ruderte, umso einsilbiger wurde sie. Der Versuch, in einen Dialog zu treten, endete immer in einen inneren Monolog.

Die junge Frau holt aus dem Rucksack ein farbiges Kopftuch, bedeckt sorgfältig ihre Haare. Sie zieht ein Taschentuch aus der Jeans, wischt sich die letzten Spuren des Lippenstiftes von den Lippen.

Ja, da schaut ihr. Auch sie hat ihn zu spüren bekommen, den täglichen Rassismus. Aber anders als ihr denkt. Sie hat ihn erlebt unter ihresgleichen. Nicht nur ihr Christen und Juden leidet unter der Schreckensherrschaft des Islams, auch viele Muslime selbst. Vor allem die Frauen. Tagtäglich versuchen sie, ihr blutendes Herz zu stillen, bis sie irgendwann keinen Tropfen mehr in sich spüren und innerlich ausgetrocknet ihr Ende erwarten. Es wird wohl noch viele Mahsas und Hatuns geben müssen, damit wir endlich unsere Gedanken frei aussprechen können. Es wird leider auch in Zukunft weiterhin viel Blut fließen, bevor die Meinung von Frauen in einem diktatorisch geführten Land, Gehör finden darf. Aber, ich will nicht das große Ganze anklagen, nein, schauen wir erst einmal dorthin, wo eigentlich Schutz und Liebe die Grundpfeiler eines jeden jungen Lebens sein müssten. Der Nährboden für eine freie wie auch gesunde Entwicklung. Die Familie. Was im Makrokosmos tagtäglich geschieht, das spiegelt sich auch hier wider: Gewalt, Unterdrückung, Ausgrenzung und den Schleier nicht nur vor das Antlitz gezogen, sondern ebenso vor die geschundene Seele.

Die junge Frau verneigt sich im Stehen gen Osten.

Mehtap ist eine der wenigen, die es geschafft hat.
Sie ist ausgebrochen aus einem Käfig, aus einer zerklüfteten Seelenlandschaft, aus einer Welt, die sie als eigenständige Persönlichkeit mit einem freien Willen nicht duldete. Ihr eigene Gedanken nicht zubilligte, eine subjektive Meinung nicht gewährte. Eine Welt, die Mehtap nach Jahren der Unterdrückung nicht mehr aushielt. Es gab Zeiten, da hat sie unseren Glauben gehasst, verflucht. Verzeih mir Allah, wenn ich sündige. Verzeih mir.
ALLAH U AKBAR.

Die junge Frau kniet sich hin, berührt mit der Stirn den Teppich, richtet ihren Oberkörper wieder auf und hebt die Hände zum Gebet.

Ich muss es loswerden. Ein Familiendrama. Eine dieser Geschichten, die sich tagtäglich auf der ganzen Welt abspielen, mit äußerst brutalen Regeln. Viele Episoden werden geduldet, nicht bemerkt, oder die Augen der NachbarInnen und der Familie schauen einfach weg. Die Menschen verschließen sich oft vor dem Unfassbaren. Damit scheint das Unfassbare so angenehm ausgelöscht. Wie, als ob der Tag seine Normalität behält. Wie, als ob die lautlose Nacht im traumlosen Schlaf versinkt. Das Wegsehen allerdings trägt nur eine dünne Maske. Tief im Inneren, in den unendlichen Kammern des Unterbewusstseins können diese Bilder nicht auf ewig verdeckt werden. Werden diese Schreie von Schmerzen und Todesängsten nicht gänzlich verstummen. Nicht immer lassen sich die Sinne täuschen oder überlisten. Die Mauer des Schweigens weist irgendwann erste Risse auf. Und wie die aufbäumende Natur, zwingt sich die Pflanze der Wahrheit durch kleinste Lücken. Und wächst. Bis sie eines Tages nicht mehr zu übersehen ist. Und die Mauer zerbirst in tausend Stücke.
So eine Pflanze ist auch Mehtap.

Die junge Frau streicht sich über die Augen, murmelt leise vor sich hin, bevor sie von Neuem die Stimme erhebt.

Ihr Vater schleppte sie und ihre Geschwister jahrelang in eine Moschee, gebaut in einer deutschen Kleinstadt.
Oft beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns hier türkischer geben als in der Türkei. Nicht selten lacht man dort über uns. Die, die es im eigenen Land nicht geschafft haben. So bauen sich die Emigrierten verzweifelt eine neue Existenz auf fremden Boden auf. Dennoch fühlen sie sich wie eine falsch umgetopfte Pflanze; aus ihrem Nährboden herausgerissen und Teile der Wurzeln faulen in der zurückgelassenen alten Heimat.

Die junge Frau richtet sich auf, kommt einige Schritte näher und blickt ins Publikum.

Und plötzlich bist Du hier –
In der neuen Welt,
So anders als die, die Du geliebt hast.
Angst, Zweifel aber auch Depressionen
Zehren an deinem Selbst.
Ich weiß gar nicht,
Ob Du noch lebst,
Oder, nur in einem dunklen Vakuum
Vor Dich dahinvegetierst.
Deine Erinnerungen –
In leuchtenden Farben.
Noch können diese Dich am Leben erhalten.
Etwas von jenem Sonnenschein Dir schenken,
Den jeder von uns doch so sehr braucht.
Hier bist Du also,
Augen voller Träume,
Dir selbst fremd geworden.
So wanderst du durch dunkle Wälder,
Ziellos umherstreifend.
Da keimt es auf.
Ein Glücksmoment.
Allein mit Deinen Träumen.
Und niemand kann diese zerstören.
Bäume schützen Dich
Vor fremden Blicken.
Der Boden unter Deinen Füßen
Weist dir einen neuen Weg.
Du zögerst oft,
Welche Richtung Du wählen sollst.
Wirst Du jemals eine neue Heimat finden,
In der all das,
Was in Deinen Träumen lebt,
Sich erfüllen wird?

Die junge Frau kehrt zu ihrem Gebetsteppich zurück und kniet sich wieder hin.

In der Fremde verengt sich der Blick, alles wird extremer: das Abgrenzen von den Ungläubigen, das Folgen strenger Regeln nach dem Koran, einfach das ganze undurchschaubare Leben mit all seinen kleinen Alltäglichkeiten. Denn laut unseren Geboten ist einer der Elternpflichten, den islamischen Glauben ihren Kindern beizubringen. Weiterzugeben. Wie ein vertrautes Ritual, das sich von Generation zu Generation die Hand reicht.
Weißt du Allah, viele Eltern vergessen, die folgenden Sätze zu lesen, die da heißen: „So beizubringen, dass sie mit Leib und Seele dabei sind.“
Und nicht nur … .
Halt.
Ich greife vorweg. Ich muss mich zwingen, nichts auszulassen. Jetzt zu sprechen. Auch wenn es schmerzt.
Allah, ich glaube, ihre Eltern hatten ein Abkommen mit dir.
„Wir opfern dir die Seelen unserer Kinder und du gibst uns dafür westlichen Wohlstand.“
War es das, was sie dermaßen verblendete?

Die junge Frau springt auf, rennt ziellos umher, nach geraumer Zeit nähert sie sich wieder dem Publikum.

Denn Kinder,
Die sind wie Blumen!
Gibt man ihnen viel Wärme, Kraft und –
Zeit,
So blühen sie auf.
So wunderbare Geschöpfe.
Diese Seelen erfreuen und bereichern uns,
Mit ihrer Schönheit.
Mit ihrer Ausstrahlung.
Kaum wagt einer, sie zu pflücken.
Diese kostbare Reinheit könnte sehr wohl zerstört werden.
Die zarten Farben und wiegenden Bewegungen.
Sie sind so rar,
Vom Aussterben bedroht.
Dennoch,
Einige werden gepflückt,
Gebrochen,
Zertreten.
Die aufkeimende Knospe der Seele,
Zerstört.
Für immer.
Meistens ziehen dunkle Wolken vorbei,
Die Wärme erlischt.
Die Kälte des Todes gefriert alles.
Diese so einst wunderbare Blüte
Verwelkt,
Stirbt ab,
Bekam nie die Chance in ihrer vollen Pracht
Sich zu zeigen.
Zu viel Kälte ließ alles Leben erstarren.
Sie dursteten nach dem Sonnenschein
Und gingen zugrunde.
Für immer.
Und,
Was macht ihr?
Schaut zu,
Bemerkt nicht