Mit mehr als 15% der Stimmen hat Christopher Schulz Kruckow mit seinem Text „An einem schöneren Ort“ den Publikumspreis gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!
Danke, dass ihr beim Voting mitgemacht habt! Es sind über 500 Stimmen eingegangen. Der oder die Gewinner*in wird am 28. März 2025 auf unserer Preisverleihung bekannt gegeben.
Nun schon in guter Tradition, wollen wir euch die Möglichkeit geben, einen Publikumsliebling zu küren. Die Abstimmung ist ab dem 24. Februar bis zum 9. März 2025 geöffnet.
Nun schon in guter Tradition, wollen wir euch die Möglichkeit geben, einen Publikumsliebling zu küren. Ihr dürft über das untere Formular eure Stimme abgeben – nur einmal pro Text, aber gerne für mehrere Texte. Die Angabe eurer Emailadresse dient nur der Stimmerfassung und wird nach dem Voting nicht weiter verwendet oder weitergegeben, außer ihr möchtet gerne den Newsletter erhalten.
(Die Abstimmung ist bis zum 9. März möglich.
Doppelte Stimmen werden nicht gezählt.)
Wolfgang Ainetter
Margit Ketterle
Annette Baumeister
Robert Dobschütz
Martina Stemann
Bernd Oettinghaus
Susanne Tenzler-Heusler
Dr. Stephan N. Barthelmess
Kommissarischer Leiter der Stiftung Forum Recht
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„Musik allein ist die Weltsprache und braucht nicht übersetzt zu werden.“
Diese zeitlose Beobachtung des jüdischen Schriftstellers Berthold Auerbach drückt nicht nur aus, dass Musik und ihre Botschaft überall verstanden werden, sondern sie ist zugleich Verheißung und Einladung zu aktiver Teilhabe.
Auch in diesem Jahr lädt der Verein „3. Oktober – Deutschland singt und klingt“ republikweit die Menschen unseres Landes dazu ein, in über 300 Städten gemeinsam mit Chören und Instrumentalisten vor Ort zu musizieren. Vielen wird die bewegende und bewegte Zeit der friedlichen Revolution in der DDR, die schließlich in der Wiedervereinigung unseres Landes gipfelte, gewiss noch in persönlicher und lebhafter Erinnerung sein. Im Gedenken an diese Zeit stiftet das gemeinsame Singen mit Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft ein ähnliches Gemeinschaftsgefühl, wie es in jenen Jahren des Aufbruchs schon einmal fühlbar war. Von dieser Veranstaltung als einem Stück gelebter Demokratie heute geht somit auch ein starkes Signal gegen rassistische und soziale Ausgrenzung in unserer Gesellschaft aus.
Der Freistaat Thüringen hat in diesem Jahr die Bundesratspräsidentschaft inne. Am 3. Oktober findet in Erfurt die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit statt. Sie steht wie die Bundesratspräsidentschaft unter dem Motto „zusammen wachsen“. Auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist die Annäherung zwischen den Alten und Neuen Bundesländern noch immer ein Prozess. Die Überwindung gegenseitiger Ressentiments sowie gefühlter und tatsächlicher Ungleichheit bedarf in Ost wie West weiterer Anstrengungen und Bemühungen auf dem Weg zu einem echten Zusammenwachsen. Erst durch eine wirklich gelebte Einheit ergibt sich die Chance zu weiterem Wachstum und Fortschritt in Deutschland.
Die Erfahrung des gemeinsamen Singens von Liedern aus ganz unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen gibt ein lebendiges Beispiel vom Ideal der Einheit in Vielfalt. Die hier abgedruckten Lieder vermitteln uns einen Begriff von den Werten und Vorstellungen, auf die wir uns besinnen sollten und denen wir uns verpflichtet sehen, angefangen von Westernhagens „Freiheit“ über das bekannte israelische Friedenslied „Hevenu Shalom Alechem“ bis hin zu Bonhoeffers „Von guten Mächten“, das Hoffnung und Trost in schwieriger Zeit spendet.
Ich danke allen Mitwirkenden und sage mit Beethoven: „Von Herzen – möge es zu Herzen gehen!“
Ihr
Präsident des Bundesrates, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen
Diese Anmeldung ist zunächst ein Ausdruck deiner/eurer Bereitschaft ein Offenen Singen bei dir vor Ort zu planen oder eine bereits angemeldeten Gruppe zu unterstützen. Es besteht jederzeit die Möglichkeit abzusagen. Nach der Anmeldung erhältst du von uns alle Infos zum weiteren Vorgehen per Email.
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Dieses Formular ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzerklärung und Nutzungsbedingungen von Google.
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22.-25. Februar 1986: Über 2 Millionen Menschen protestieren auf den Philippinen.
Bevölkerung der Philippinen 1986: 56,11 Millionen Menschen
Über 3,5 % (1.963.850 Menschen) waren auf der Straße.
25. Februar 1986: Ferdinand Marcos flieht.
6. November 1989: 500.000 in Leipzig. Hunderttausende mehr in der ganzen DDR.
Bevölkerung der DDR 1989: 16,434 Millionen Menschen
Über 3,5 % (575.190 Menschen) waren auf der Straße.
9. November 1989: Die Mauer fällt.
24. November 1989: 800.000 in Prag. 100.000 in Bratislava. Tausende mehr in der ganzen Tschechoslowakei.
Bevölkerung der Tschechoslowakei 1989: 15,64 Millionen Menschen
Über 3,5 % (547.400 Menschen) waren auf der Straße.
29. November 1989: Die Bestimmung über die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Verfassung wird aufgehoben.
21. November 2003: 100.000 in Tiflis. Tausende mehr in ganz Georgien.
Bevölkerung von Georgien 2003: 3,952 Millionen Menschen
Über 3,5 % (138.320 Menschen) waren auf der Straße.
23. November 2003: Schewardnadse verkündet seinen Rücktritt.
Die Geschichte lehrt, dass gewaltfreie Protestbewegungen, welche die aktive Unterstützung von mindestens 3,5 % der Bevölkerung gewinnen, eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, erfolgreich zu sein.
Der Schlüssel der Lebenserhaltung eines Systems ist es, unter diesen 3,5 % zu bleiben.
*
»Mit sofortiger Wirkung wird bekannt gegeben, dass fortan jede Zusammenkunft, die regional oder überregional einen höheren Anteil als 3,5 % der Bevölkerung umfasst, vom Gesetz her verboten ist.«
Das war der Anfang.
Der Aufschrei war leise. Die meisten Menschen stören sich erst an einer Freiheitseinschränkung, wenn es ihre privateste Sphäre betrifft. Doch sie durften immer noch raus. Immer noch mit Freunden trinken gehen. Immer noch nachts um halb vier nach Hause stolpern. Schlafen mit wem sie wollten.
Dennoch gab es Zweifler.
»Dies dient der Terrorismusabwehr. Studien haben ergeben, dass Zusammenkünfte oberhalb dieses Schwellenwertes ein signifikant erhöhtes Anschlagsrisiko haben.«
Das war die Erklärung.
Wenn es um Sicherheit geht, schlucken die Menschen alles. Sicherheit geht über Freiheit. Sicherheit geht vor Freiheit. Sicherheit geht nie mit Freiheit einher.
Geschichtsbücher wurden umgeschrieben. Zahlen vergessen, andere hervorgehoben. Der Blickwinkel allein kann eine Fälschung sein.
Jahrmärkte in kleinen Städten bekamen Einlassschranken, Flughäfen wurden überregionalisiert, Dorffeste mit Sondergenehmigungen versehen.
Es lebt sich nicht schlecht so unter den 3,5 %. Im Grunde fällt die Regel gar nicht auf.
3,5 % Prozent: Das sind über 100.000 in einer Stadt wie Berlin.
3,5 % Prozent: Das sind über 20.000 in einer Stadt wie Dresden.
3,5 % Prozent: Das sind nur 350 in einer Stadt wie meiner.
350 sind schnell einer Meinung.
350 sammeln sich schnell zum Protest.
350 sind ein Sicherheitsrisiko.
Wir waren offiziell unbequem geworden. Wir waren stolz darauf.
Wir mussten kontrolliert werden.
Sondergenehmigungen wurden wieder gestrichen.
In dem Sommer, in dem ein Dorf sich nicht mehr zum gemeinsamen Bier versammeln kann, ist das vermeintlich wohlwollende System zur Diktatur avanciert.
Diktaturen greifen immer die Versammlungsfreiheit an. Nur das Spektrum an Gründen ist variabel. Und je mehr eine Diktatur auf den eigenen Heiligenschein gibt, desto fantasievoller die Gründe.
Das war die Geburtsstunde der Revolution.
Ein alter Mann setzte sich wie jeden Morgen, auf einen komfortablen Stuhl, auf seinen Balkon. Die Wohnung, welche seiner Familie seit vielen Generationen gehörte, befand sich im Herzen der Stadt, und er hatte somit den perfekten Blick auf den Marktplatz. Beim Frühstück, beobachtete er alles, was unten so vor sich ging. Es unterschied sich kaum von Tag zu Tag. Immer die selben Routinen, fast immer die selben Menschen. Händler bauten ihre Stände auf, ein paar stritten sich um ihren Platz, die ersten Kunden schauten vorbei und schnappten sich was auf dem Weg zur Arbeit, und natürlich unübersehbar, unüberhörbar, die patrouillierenden Soldaten.
Ein Offizier führte wie immer die Kontrollen durch. Eine ältere und dem Anschein nach arme Frau, stand mit einem Korb Äpfel da und verkaufte sie an die Passanten. Der Offizier bemerkte die Frau und ging auf sie zu. „Ihre Lizenz!“ sagte er zur ihr. Sie geriet ins Schleudern, versuchte sich zu erklären und kramte in ihren Taschen, wo sich dem Anschein nach keine Lizenz befand. Keine Zeit zum Durchatmen gab ihr der Offizier jedoch. „Ihre Lizenz! Ich hab‘ nicht ewig Zeit!“ Unter dem Druck ließ die Frau den ganzen Korb mit Äpfeln fallen. „Oh Gott!“ sagte sie, als sie sich bückte um die Äpfel aufzusammeln. „In fünf Minuten haben sie das aufgeräumt und den Platz verlassen!“ befahl der Offizier und ging weiter.
Voller Verachtung schaute sich der alte Mann die Szene an. So etwas kam jeden Tag vor und jeder hatte sich nach all den Jahren daran gewöhnt, doch er nicht. Jeden Tag sah er zu und empfand die tiefste Verachtung. An diesem einen Tag zwang ihn der Sinn. Er konnte nicht mehr Zuseher sein, er konnte nicht mehr schweigen, er konnte nicht mehr so tun als ob.
Der Mann ließ sein Frühstück stehen und ging in seine Wohnung. Aus einem alten Schrank holte er eine große verstaubte Box, die er mit einem Schlüssel, welcher schon seit vielen Jahren um seinen Hals hing, öffnete. In der Box lag eine alte Fahne. Als der alte Mann ihre prächtigen Farben wieder sah, konnte er kaum noch was anderes erwarten, als das zu tun, was er schon lange tun wollte. Er holte die Fahne heraus, schüttelte den Staub weg und ging mit ihr zurück auf den Balkon, wo er sie, für alle gut ersichtlich anbringen wollte. Die Konsequenzen waren ihm bewusst, doch an diesem Tag egal. In seinem Alter fürchtete er sowieso nichts mehr.
Er brachte die Fahne an und stellte sich voller Stolz hin. Er blickte auf den Marktplatz, wo die Menschen seine Aktion sofort bemerkten. Eine Menge an Leuten versammelte sich vor seinem Haus, sie alle blickten erstaunt auf die Fahne. Der alte Mann sah in die Menge und fühlte etwas, was er schon lange nicht gefühlt hat. Freiheit. Endlich zeigte er die wahren Farben! Endlich zeigt er, wem seine Loyalität wirklich gilt und was er wirklich denkt. Die Frau mit den Äpfeln schaute ihm, von unten, direkt in die Augen und gab ein hoffungsvolles, zustimmendes Nicken.
Die Aktion ist selbstverständlich auch dem Offizier nicht entgangen. Mit entsetzen Augen sah er die Fahne an, dann richtete er seinen empörten Blick auf den alten Mann, der ihm nur zulächelte. Sofort pfiff der Offizier in seine Trillerpfeife und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Haus. Die Soldaten folgten. Innerer Frieden überkam den alten Mann und er machte einen tiefen, genüsslichen Atemzug. Da hörte er’s an seiner Tür klopfen.
In den Tiefen des Ozeans galt unter den Fischen das Gesetz der Haie. Als die größten und stärksten unter ihnen war ihr Herrschaftsanspruch niemals angefochten worden.
An einem Abend im Riff, gesättigt nach einer guten Jagd, trafen sich die Haie, um über die Regierungsgeschäfte zu sprechen. Sie hatten allerlei Anliegen der kleineren Fische zu behandeln und entschieden meist aus einer Laune heraus, mal für den einen, mal für den anderen. Es wurde spät an diesem Abend und die Haie mit der Zeit immer unproduktiver. Irgendwann sprachen sie nur noch über ihre eigene Herrlichkeit.
»Wir sind so mächtig«, dröhnte irgendwann der Weiße Hai, »Wenn wir es verlangen, lösen die Heringe sogar ihre Schwärme auf.«
Die anderen Haie lachten, nur der Hammerhai bedachte den Weißen Hai mit einem skeptischen Blick.
»Was zweifelst du?«, fragte der um ein vielfaches größere Weiße Hai den Hammerhai.
»Ich spreche den Heringen mehr Verstand zu, als du es tust«, kritisierte der Hammerhai. »Sie mögen gehorsam sein, doch auch sie würden ihre Freiheit, sich zu versammeln, niemals hergeben. Ebenso wenig, wie wir es tun würden.«
»Sie würden«, beharrte der Weiße Hai trotzig.
Da schüttelte auch der Tigerhai seinen Kopf: »Sie würden. Doch nicht einfach so. Der Grund wäre entscheidend.«
»Der Grund?«, fragte der Hammerhai noch immer skeptisch.
»Der Grund. Die Erklärung. Der Vorwand«, fuhr der Tigerhai fort.
»Eine Legitimation also«, dachte der Hammerhai laut nach und die Möglichkeit erschien ihm ein wenig realistischer. Ein Vorwand könnte die Heringe das Hinterfragen vergessen lassen. Doch könnte eine fiktive Erklärung tatsächlich plausibel genug sein? »Welche soll das sein?«
»Oh, es gibt viele gute Gründe. Sie müssen nur glauben, wir würden sie beschützen wollen. So wie sie es immer glauben. Je mehr Angst sie haben, desto bereitwilliger werden sie ihre Freiheit opfern.«
Die anderen Haie waren von den Ausführungen des Tigerhais regelrecht verzückt. Sofort begannen sie nach Vorwänden zu suchen. Gefahren zu erfinden. Nichtigkeiten zu dramatisieren.
»Wir sollten es probieren. Testen, ob der Tigerhai recht hat«, schlug der Hammerhai vor. Ob er an den Erfolg seiner Artgenossen oder an den Verstand der anderen Fische glaubte, blieb sein Geheimnis.
»Und was wollen wir ihnen erzählen?« fragte ein junger Heringshai.
Augenblicklich brach ein Tumult los und die Haie riefen ihre Ideen wild durcheinander. Jeder hielt seine für die beste und wollte ihre Wirkung beweisen.
»Dass die Fischer sie so leichter fangen können. Das ist bewiesen! Das werden sie glauben!«
»Dass die Schwertwale sie so leichter fangen können!«
»Dass sich Krankheiten im Schwarm viel leichter verbreiten!«
»Dass ihr Rogen an Fruchtbarkeit verliert, wenn sie im Schwarm schwimmen!«
Während zunächst noch Wahrheit an den Lügen war, wurden es bald reine Lügen und dann immer größere Lügen. Doch je absurder die Geschichte wurde, desto mehr schmückten die Haie sie aus und umso glaubhafter erschien sie am Ende.
So gingen sie schließlich auseinander. Die Lüge verbreitete sich rasch unter den anderen Fischen und zur Verwunderung des Hammerhais begannen sich Heringe aus ihren Schwärmen zu lösen. Wer anfangs nicht an die Lüge glaubte, wurde bald so von den anderen bedrängt, dass er sich gezwungen fühlte, die Wahrheit im Märchen zu suchen. Und wer noch immer nicht glauben wollte, verlor seine Freiheit, sich zu versammeln, durch die Abkehr der anderen.
Abendliche Szene in einem gut gefüllten Jugendclub in Berlin-Wilmersdorf. Eine Gruppe von Gästen unterhält sich an der Theke über eine für den kommenden Tag geplante Demonstration. Ein schlanker Mann, etwa Mitte zwanzig, mischt sich in das Gespräch ein.
„Tschuldigung, aber ich habe mitgehört und muss mich jetzt doch einmischen: So schlimm, wie ihr das gerade hier schildert, kann es doch eigentlich gar nicht sein.“
„Was kann eigentlich nicht so sein?“
„Na, dass man so hart mit den Demonstranten umgeht. In der heutigen Zeit. Immerhin gibt es ein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, da kann nicht jeder machen und tun, was er will. Nicht mal die Polente.“
„Tja. Dann nenn es eben schlichten polizeilichen Übereifer oder sonst was. Eins ist jedenfalls klar, mein Freund, du bist mehr als blauäugig. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen … oder besser gesagt an eigener Haut erlebt. Die Polizisten gehen mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern gegen friedliche Demonstranten vor. Nicht nur einmal. Die halten voll drauf und sind nicht gerade zimperlich, glaub‘s mir!“
„Aber das kann doch eigentlich gar nicht sein. Ihr könnt gegen solche Angriffe vorgehen. Die können nicht einfach eigenmächtig …“
„Und ob die können. Wer soll die denn bremsen? Zu mir sagte letzte Woche so ein Uniformierter: „Früher hätten sie Gammler und Arbeitsscheue wie euch ins Arbeitslager gesteckt“. Das sind alle miteinander eingefleischte Faschisten. Denen macht es Freude, auf uns einzuprügeln. Es wird höchste Zeit, das System kritisch zu hinterfragen. Und wenn das nicht friedlich funktioniert, dann …“
„Dann was?“
„Dann muss man sich etwas einfallen lassen.“
„Gewalt ist keine Lösung“
„Sich von den reaktionären Dummköpfen verprügeln zu lassen, ganz sicher auch nicht. Irgendwer muss die verstaubten Verhältnisse auf den Kopf ehrlich. Mal ehrlich, hat sich in den letzten 20 Jahren denn wirklich etwas verändert? Wenn du siehst, wie mit uns umgegangen wird, das entlarvt dieses System der Repression. Das Establishment hat sich keineswegs verändert, und es fehlt auch der Wille dazu. Wie anno dazumal. Die stecken alle noch inmitten des Muffs von 1000 Jahren. Das fällt nur dem friedlichen Nachbarn nicht auf, da er so wunderbar in dieses verkrustete System hineinpasst.“
„Da gebe ich dir recht. Aber trotzdem, dass die Berliner Polizei so brutal sein soll… vielleicht sind das nur Ausnahmefälle.“
„Du bist ein Träumer. Komm doch einfach morgen vorbei, dann wirst du aufwachen. Du hast doch bestimmt vom Besuch des Diktators gehört, oder? Diesem Folterknecht rollen unsere verehrten Funktionäre auch noch den roten Teppich aus.“
„Selbstverständlich habe ich das mitbekommen. Eben noch hörte ich mir, an der Uni einen Vortrag zu ihm an. Unglaublich. Was für ein Monster. Eine Schande, dass die da oben so einen eingeladen.“
„Warum gehst du mit uns nicht morgen zur Demo? Wir treffen uns an der Krumme Straße vor der Oper und verderben denen den Spaß.“
„Ich weiß nicht. Ich war noch nie auf einer Demonstration. Meine Frau ist schwanger, wenn da etwas passieren würde…“
„Na ja, du warst eben noch so überzeugt davon, dass die Polente keinem ein Haar krümmt. Mach dir doch einfach selbst ein Bild. Wir haben Spruchbänder und Schilder dabei. Überleg dir was Gutes und komm mit.“
„Gut, okay. Das wird sicher halb so schlimm. Dann guck ich mir das morgen selbst an. Macht‘s gut, wir sehen uns!“
„Ja. Wir sehen uns … Eh, Sekunde mal noch. Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Benno Ohnesorg.“
Am 2. Juni 1967 demonstrieren rund 2000 Menschen gegen den Staatsbesuch des persischen Herrschers Schah Reza Pahlevi, dem gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Unter ihnen, friedlich und unbewaffnet, der Germanistikstudent Benno Ohnesorg. Die Polizei geht mit enormer Brutalität gegen die Demonstranten vor. Ohnesorg eilt Flüchtenden, die von Ordnungshütern in den Hinterhof des Hauses Krumme Straße 65/66 getrieben werden, zur Hilfe. Eine Kugel aus der Dienstwaffe des Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras trifft Ohnesorg kurze Zeit später am Hinterkopf. Er stirbt noch auf dem Weg in eine Klinik. Obwohl im November 1967 vor Gericht widerlegt werden kann, dass es sich bei dem Schuss, wie von Karl-Heinz Kurras behauptet, um Notwehr handelte, wird der Schütze vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.
Die unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden, die Ermordung Benno Ohnesorgs und der Umstand, dass Kurras in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen wird, facht die politische Auseinandersetzung weiter an. Die Studentenbewegung radikalisiert sich.
Gleichzeitig mit dem Klingeln an der Tür ertönte das Läuten der Zeitschaltuhr des Backofens. „Sie sind daaa!“, meine Tochter sprang erfreut auf und rannte zur Tür. Ich nahm den Kuchen aus dem Ofen, bevor ich ihr folgte. Die ersten Gäste, meine Schwiegereltern, hatten bereits ihre Schuhe und Jacken ausgezogen, als ich in die Garderobe trat. „Hallo, schön, dass ihr da seid“, ich lächelte, und meine Worte waren wie mein Lächeln ausnahmsweise ehrlich gemeint. Die letzten Tage hatte ich so viel gelogen, dass es sich beinahe fremd anfühlte ehrlich zu sein. „Tobias, kommst du?“, rief ich die Treppe hinauf. Gleich, muss noch schnell die Haare föhnen“, bekam ich als Antwort zurück. Ich verdrehte die Augen, wie immer war er spät dran. „Dann kommt doch ins Wohnzimmer. Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?“, fragte ich Tobias‘ Eltern, wie immer die perfekte Gastgeberin, als wäre dieser Besuch nichts Besonderes, als wäre alles ganz normal.
Meine Tochter beschäftigte ihre Großeltern sofort, nachdem sie sich ins Wohnzimmer gesetzt hatten, und so hatte ich einen kurzen Moment der Ruhe, wahrscheinlich den letzten für längere Zeit. Viel zu schnell war der Moment vorbei, es klingelte. Ich eilte zur Tür und öffnete für meinen Bruder und seine Freundin Lina. Ich begrüßte die beiden und begleitete sie ins Wohnzimmer. Nach und nach füllte sich unser Wohnzimmer mit Verwandten und Freunden. Bald kam auch Tobias ins Esszimmer und nickte mir flüchtig zu. Auch er begrüßte unsere Gäste und bald entwickelte sich ein lockeres Gespräch. Niemand hätte vermuten können, dass hier irgendwas anderes vor sich ging als die Geburtstagsfeier unserer Tochter. Meine Tochter erzählte gerade allen, die es hören wollten (und auch denen, die es eigentlich nicht interessierte, die aber aus Höflichkeit ebenfalls zuhörten), von ihrem Schultheaterstück und wie sie es unfair fand, dass Connie die Hauptrolle bekam, obwohl sie gar nicht schauspielern konnte, obwohl sie es doch viel besser konnte. Ich lachte gezwungen mit den anderen mit, obwohl ich genau wusste, warum sie die Hauptrolle sicher nicht spielen durfte und es hatte nichts mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten zu tun. Im Gegenteil, sie war eine echt gute Schauspielerin, denn ich war mir sicher, dass ihr auch aufgefallen war, wie angespannt Tobias und ich die letzten Wochen waren und doch ließ sie sich nichts anmerken. Aber sie liebte die Aufmerksamkeit und begann schon mit der nächsten Geschichte, als Lina mich bat, ihr Glas aufzufüllen. Sie drückte es mir in die Hand und ich nahm es entgegen, zusammen mit dem Zettel, den sie darunter versteckt hatte. Ich füllte das Glas mit Apfelsaft und gab es ihr zurück. Dann entschuldigte ich mich schnell auf der Toilette. Ich schloss die Tür und faltete den Zettel auseinander.
‚Dienstag, 18 Uhr, H. freut sich auf einen Ausflug mit euch.‘
Ich drehte den Zettel um, aber das war alles, was darauf stand. Ich atmete erleichtert aus, als ich die gute Nachricht las, doch die Entspannung war nur von kurzer Dauer, als mir klar wurde, was das bedeutete. Ich verdrängte die Gedanken, kritzelte eine Kurze Antwort auf die Rückseite: ‚Wer hat die Eintritte?‘ Ich betätigte die Toilettenspülung und wusch mir mit klopfendem Herzen die Hände. Den Zettel faltete ich wieder zusammen und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich wartete kurz, bevor ich zu Tobias herüber ging, und seine Hand nahm, wobei ich ihm auch unauffällig, denn Zettel übergab. Ich merkte, wie Tobias kurz verkrampfte, bevor er sich wieder entspannte und so tat, als wäre nichts passiert. Kurz darauf stand Tobias von seinem Stuhl auf, um die Schale mit den Nüssen aufzufüllen und ich wurde in ein Gespräch mit Arianne, meiner Schwester, und ihrem Mann verwickelt. Tobias kam zurück, etwas blasser als zuvor, aber er lächelte mir kurz zu, bevor er sich seinem Vater Jürg zuwandte, wahrscheinlich um den Zettel so schnell wie möglich loszuwerden.
Wir hatten keine Zeit, gemeinsam zu besprechen, was auf dem Zettel stand. Und auch wenn es sich ergeben hätte, wäre es uns wohl zu riskant gewesen. Wir wussten nicht, ob unser Haus nicht verwanzt war, wir konnten nicht mehr offen sprechen. Deshalb auch die Geburtstagsfeier. Es war riskant, so viele Leute einzuladen, aber wir waren uns einig, dass es eine gute Tarnung war. Es würde niemand wissen, wer unserer Gäste von unserem Plan wusste, und hoffentlich erwarteten sie auch nicht, dass wir es wagten, mit so vielen Leuten im Raum etwas zu planen. Hoffentlich.
Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Vermutlich sah man mir die Panik an. Wir erwarteten keine Gäste mehr. „Ich geh mal nachsehen“, Tobias tauchte neben mir auf, drückte kurz meine Hand, lächelte mich gezwungen an und ging zur Tür. Ich wartete angespannt und als ich sah, mit wem Tobias zurückkam, verkrampfte sich alles in mir, aber ich setzte trotzdem ein Lächeln auf.
„Hallo Mama“, sagte ich und ging auf sie zu, um sie zu begrüßen, „schön, dass ihr es doch geschafft habt.“ Sie und mein Vater betraten das Wohnzimmer und die Gespräche verstummten. Ich war nicht die Einzige, deren Lächeln plötzlich nicht mehr so entspannt wirkte. Es war ein offenes Geheimnis, dass meine Eltern mitverantwortlich für die Verhaftung der Müllers waren. Es war bekannt geworden, dass sie in ihrem Haus antikommunistische Versammlungen abgehalten hatten, und seitdem hatte man sie nicht mehr gesehen.
Die Angst, dass auch die Anwesenden dieser Versammlung dieses Schicksal erleiden könnten, ging um, man konnte es förmlich spüren. Aber es war auch eine Chance. Wenn wir unsere Sache gut machten, hätten wir ein Alibi. Meine Eltern würden bezeugen, dass wir ganz normal Geburtstag gefeiert haben und niemand in diesem Raum etwas mit unserer Flucht zu tun hätte.
Wir mussten den Zettel einfach weitergeben. Fast wie in der Schule, so dass die Lehrerin im Raum nichts mitbekam. Nur dass wir uns jetzt auf keinen Fall erwischen lassen durften. Meine Tochter sprang auf und umarmte meine Eltern. Nichtsahnend strahlte sie sie an und zog sie mit sich, um ihnen ihr neuestes Spielzeug zu zeigen, das sie heute Morgen von uns bekommen hatte. Es dauerte eine Weile, bis die Gespräche wieder in Gang kamen, aber irgendwann wirkte es fast wieder so locker wie zuvor. Es gab ja auch viele, die gar nicht wussten, was hier vor sich ging. Ich wünschte ich wäre Teil von den unwissenden, während ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
Irgendwann gab es Kuchen und wir sangen ein Geburtstagsständchen. Dabei sah ich, wie Lina Arianne etwas zusteckte. Ich war mir sicher, dass es ein Zettel war. Mein Herz klopfte, ich schaute mich um, meine Eltern saßen zum Glück auf der gleichen Seite des Tisches und schienen nichts bemerkt zu haben, aber ich konnte die Angst nicht abschütteln. Wenn sie etwas bemerkten, wenn jemand etwas bemerkte, wäre unsere Tarnung aufgeflogen. Diese Geburtstagsfeier würde nicht mehr als das gelten, sondern als verfassungsfeindliche Versammlung, und dann würden nicht nur wir, die wir mit den Müllers Kontakt hatten, sondern alle Anwesenden auf der Beobachtungsliste der Stasi landen. Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los und ich konnte mich nicht wirklich entspannen, obwohl ich mir alle Mühe gab, mich ganz in das Gespräch mit meinem Bruder zu vertiefen.
Auch nachdem der Kuchen gegessen war, hatte ich mich nicht wirklich beruhigt. Da half es auch nicht, dass Hans, der beste Kollege von Tobias und Patenonkel unserer Tochter, mir beim Abräumen der Teller noch einen Zettel zusteckte. Er stellte es geschickt an und übergab in mir eigeklemmt zwischen zwei leeren Tellern. Ich ging zum Geschirrspüler, um die Teller abzuräumen, und las dabei unauffällig den Zettel, der eine einfache Antwort auf meine Frage enthielt:
‚A. wird sie morgen abgeben.’
Das war alles, und ich konnte nur raten, was genau das bedeutete, aber es war eine gute Nachricht. Dann war also alles vorbereitet, was wir brauchten. Eigentlich sollte mich das beruhigen, aber es machte mich nur noch nervöser.
Ich übergab den Zettel wieder Tobias und hatte dann zum Glück den Rest des Abends nichts mehr mit Zetteln zu tun. Ich wusste auch nicht, bei wem er in der Zwischenzeit war, aber das war ein gutes Zeichen, denn wenn es mir nicht auffiel, würde es den Unwissenden auch nicht auffallen. Das beruhigte mich ein wenig. Aber nicht wirklich, meine Nerven lagen blank.
Meine Tochter packte die Geschenke aus, bedankte sich brav bei allen. Aber dann war sie nur noch mit ihren Geschenken beschäftigt. Es machte mich traurig, sie so glücklich mit ihren Spielsachen zu sehen, denn ich wusste, dass sie sie bald zurücklassen musste. Sie war zu jung, um zu verstehen, warum wir das taten, sie würde nicht glücklich sein, zumindest am Anfang, aber wenn unsere Flucht erfolgreich war, würde sie es uns eines Tages danken. Irgendwann… hoffentlich…
Langsam wurde es spät und unsere Gäste verabschiedeten sich. Der Abschied fiel mir schwer, denn ich wusste, dass ich die meisten von ihnen nie wieder sehen würde. Noch schlimmer war, dass die meisten Menschen, die mir wichtig waren, nichts davon wussten, dass es unser letztes Treffen war. Auch unsere Tochter war völlig ahnungslos. Sie verabschiedete sich zwar von den Gästen, wie es sich gehört, aber in Gedanken war sie noch bei ihrem Spielzeug. Ich wünschte, sie könnte sich besser von ihrer Familie verabschieden. Ich wünschte, sie wüsste, dass dieser Abschied ein Abschied für immer war.
Natürlich verstand ich, warum wir es ihr und den anderen Gästen nicht sagen konnten, aber ich hätte viel für einen richtigen Abschied gegeben. Vor allem die Umarmung meines Bruders zum Abschied hat mir das Herz gebrochen. Er hatte keine Ahnung. Lina sah auch nicht sehr glücklich aus und drückte mich auch. Auch der Abschied von meinen Schwiegereltern war hart. Ich sah, wie Jürg sich eine Träne aus den Augen wischte, als er seinen Sohn umarmte. Tobias Mutter ahnte nichts, schien sich über die feste Umarmung zu freuen, während Tobias sich zusammenreißen musste, um nicht zu weinen. Der Abschied von Hans war nicht so schwer. Er hat Verwandte im Westen und hat die Flucht organisiert. Wir werden zusammen gehen und seine Familie wird uns helfen, ein neues Leben zu beginnen. Arianne wirkte beim Abschied genauso angespannt wie ich. Zum Glück war auch das nicht unsere letzte Begegnung. Sie wird uns morgen die gefälschten Dokumente bringen, die wir für unsere Flucht brauchen, aber trotzdem spürten wir beide die Schwere des Augenblicks. Ihr Ehemann hingegen war ahnungslos, was aber gut so war. Es sollten so wenig Leute wie möglich davon wissen, denn je weniger über unsere Flucht wussten, desto weniger Probleme hätten ein Problem, falls wir auffliegen würden. Ausserdem was die Chance, dass uns jemand verrät, so auch viel geringer.
Die Letzten, die gingen, waren meine Eltern. Auch sie habe ich fest umarmt. Denn obwohl mein Verhältnis zu ihnen schon lange angespannt war, waren sie immer noch meine Familie. Einen Moment lang war ich sogar richtig traurig… bis meine Mutter den Mund aufmachte und sagte: „Passt auf euch auf. Wir haben uns Sorgen gemacht. Du weißt schon… wegen der Müllers. Ich nickte: „Wir waren auch sehr betroffen. Wer hätte ahnen können…“ Ich ließ den Satz in der Luft hängen, ich hatte nicht die Energie ihn zu Ende zu sprechen. „Passt auf jeden Fall auf, mit wem ihr gesehen werdet“, sagt Papa, und ich verkrampfe mich noch ein bisschen mehr. Wenn sie nur wüssten. „Keine Angst. Wir haben nichts zu verbergen“, sprang mir Tobias zu Hilfe, „aber wir werden in Zukunft besser darauf achten, wer die Menschen wirklich sind, die wir unsere Freunde nennen.“ Meine Eltern nickten zufrieden und verabschiedeten sich noch von unserer Tochter, bevor auch sie unser Haus verließen.
„Auf Wiedersehen“, rief ich ihnen hinterher, bevor Tobias die Tür hinter ihnen schloss. Eine letzte Lüge an diesem Tag der Lügen. Eine letzte Lüge, bevor wir dieses Leben voller Angst, Unterdrückung, Spionage und Heimlichtuerei hinter uns lassen werden.
Flaggen peitschen über meinem Kopf hinweg durch die Luft. Schreie erklingen, und ich stimme ein. Schreie, die nach Gemeinschaft klingen. Unsere Füße stampfen im Takt auf den Boden. Ich forme einen Trichter mit meinen Händen und hole kräftig Luft, um all meinen Frust herauszuschreien: „Wir werden niemals frei sein, bevor nicht alle frei sind.“
Polizisten umringen uns, jederzeit bereit, jemanden herauszuziehen.
Eine Frage der Sicherheit, sagen sie.
Ein Akt der Unterdrückung, rufen wir zurück.
Um mich herum werden Plakate in die Luft gehalten, mein eigenes liegt zu Hause, vergessen auf dem Boden. Doch es dauert nur wenige Minuten, bis mich eine Gruppe bemerkt und mir eines in die Hand drückt. Einsamkeit ist ein fremdes Wort, wenn die Stimmen um dich herum wie deine eigenen klingen. Es ist ein Gefühl, das ich von zu Hause kenne, vom gedeckten Tisch, an dem unendlich viele Plätze frei waren. Es ist ein Gefühl, das von Gemeinschaft zeugt, auch in einem Land, das gegen uns ankämpft.
Sie hätten nicht erwartet, dass wir das Wort Heimat neu definieren können, losgelöst von der Erde, auf der wir stehen. Eine Wasserflasche wird mir in die Hand gedrückt, als sich das Gefühl der Trockenheit breitmacht. Ich lächle dankend nach links. Wärme breitet sich in meinem Bauch aus, als sie zurücklächelt. Diese fremden Menschen, die mir trotzdem bekannt vorkommen.
Wir drücken uns enger aneinander, weil mehr Menschen dazukommen. Menschen, die mir Hoffnung geben, weil ich mich zum ersten Mal nicht so fühle, als stünde ich am Rand der Gesellschaft. Dort, wo du so lange schreien kannst, bis deine Stimme bricht und trotzdem kein Gehör findest. Abends, wenn ich mich einrolle und meine Füße schmerzen, scrolle ich durch all die Videos von Menschen, die lächelnd in die Kamera blicken, weil sie trotz der Festnahmen wissen, dass sie das Richtige tun. Weil sie wissen, dass es weiterhin Menschen gibt, die da sind. Meine Stimmbänder spannen sich an, als ich erneut beginne zu brüllen.
„Free, free Palestine!“
Mein Blick gleitet an den Häusern vorbei. Überall Menschen, die uns aus ihren Fenstern beobachten. Angewiderte Blicke, hoffnungsvolle Blicke. Blicke, die nicht verstehen, während andere ihr Leben lang darauf gewartet haben.
Ich denke oft an meine Eltern, wenn meine Lunge zu schmerzen beginnt. Ich denke daran, wie wir in der Küche sitzen. Meine Mutter am Herd, mein Vater hinter der Zeitung, meine Geschwister daneben, schreiend, kämpfend, lachend. Bilder, die ich ihnen zeige. Menschen, von denen ich ihnen erzähle.
„Sie gehen auf die Straße. Hört ihr nicht, wie laut wir sein können?“
Mama blickt mich belustigt an. Diese Jugend, die für jede Kleinigkeit auf die Straße geht. Mein Vater schaut argwöhnisch. „Hast du nicht andere Dinge zu erledigen?“
In solchen Momenten verstehe ich sie nicht. Verstehe nicht, warum sie nicht kämpfen, sondern immer nur still in ihren Häusern sitzen.
„Das ist der Moment, in dem wir endlich etwas sagen können!“, brülle ich dann lauter.
Privilegiert. Ein Wort, das meine ältere Schwester ausspricht. Auf ihrem Gesicht derselbe Ausdruck wie bei meinen Eltern. Sie alle blicken mich so an – die Kleinste, Naivste, Hoffnungsvollste. Nur mein Bruder nickt mir leicht zu. Seine Finger, eingeweicht in Fett, als er mit den letzten Rest Brot durch die Suppenschale fährt.
Er war es, der mich zum ersten Mal auf eine Demo mitnahm. Meine Angst, dass ihm etwas passieren könnte, dass sie ihn mir wegnehmen würden. Seine tiefbraunen Locken, die sich auf seinem Kopf kräuseln, verbunden mit Augen, die aus der Ferne immer schwarz wirken.
Wir waren die Jüngsten von sechs. Die Einzigen, die in diesem Haushalt gelernt haben zu kommunizieren. Manchmal reden wir länger und lauter, damit es für alle reicht. Wir sprechen aus, was wir selbst nicht fühlen, aber in den Gesichtern unserer Geschwister sehen. Wir wissen, was es bedeutet, Angst vor Gefühlen zu haben. Immerhin sind wir in einer Familie aufgewachsen, die uns beigebracht hat, dass Gefühle einen verschlingen können. Aber wir hatten einander. Hatten den Raum, den uns unsere Ältesten freigeräumt haben.
„Sie wurden voller Scham geboren“, sagte mir mein Bruder. Der Zweitälteste. Sein Gesicht wirkte immer so, als würde es hinter einer Mauer verborgen bleiben. Keine Emotionen, nur seine Nase, die er kräuselte, wenn ihm etwas nicht gefiel.
„Probleme bleiben hinter verschlossenen Türen.“
„Aber genau darüber sollten wir reden. Warum sollten wir uns schämen? Dafür, dass sie uns doppelt und dreifach arbeiten lassen, nur damit wir Menschen sein dürfen?“
Er schüttelte nur den Kopf, drückte die Kippe aus, von der niemand außer mir wusste, und sprühte sich dann mit meinem billigen Deo ein. Er dachte tatsächlich, dass die anderen es so nicht merken würden.
„Sie haben keine Zeit für so etwas“, erwiderte meine älteste Schwester zu einem anderen Zeitpunkt, während sie selbst über den Bilanzen des Halbjahres hing. Damals wusste ich nicht, wie schlecht es unserem Restaurant ging, während ich mich wütend über sie aufbaute.
„Wie kann man bitte keine Zeit dafür haben, für sich selbst einzustehen?“
Sie schloss nur die Augen, zählte leise vor sich hin, bevor sie sich aufrichtete und mir die Zahlen unter die Nase hielt.
„Vielleicht, weil sie sechs Kinder zu ernähren haben.“
Sie war zu dem Zeitpunkt vierundzwanzig, alt genug, um ein eigenes Leben zu beginnen. Alt genug, um uns alle gehen zu lassen, aber sie blieb. Sie machte die Steuern, half im Restaurant aus, bereitete unseren Brüdern das Frühstück vor, machte mir die Haare und vergaß dabei ihr Studium nicht. Das Studium, das sie nie beendet hat, weil sie eines Tages einfach auf dem Boden liegen blieb. So lange, bis wir uns alle dazu legten und sie den Akt der Scham fallen ließ.
Ich habe meine Brüder gehasst, ich habe meine Eltern gehasst, und ich habe sie gehasst. Doch plötzlich verstand ich, was es bedeutet, dass die ältere Generation zwischen Scham, Druck und Leid verharrt, während die Jüngste sich löst, um die Welt anzuschreien.
Rauch steigt um mich herum auf, und panisch drehe ich mich im Kreis. Eine Hand greift nach mir, eine Hand, die mich führt. Um uns herum wird weiter gebrüllt, aber ich kann keinen klaren Gedanken fassen, weil mein ganzer Fokus darauf liegt, die Orientierung zu finden. Erst als sich der Rauch verzieht und ich die glatten, langen Haare meiner Schwester erkenne, löst sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust.
„Was tust du hier?“, brüllt sie mir so nah ans Ohr, dass ich mich von ihr zurückziehe.
Ich frage mich, was sie hier tut, erkenne dann aber an der Umgebung, dass es ihre Wohngegend ist. Eine, die weit genug von uns entfernt ist, damit sie fliehen kann und doch nah genug, falls die Sehnsucht nach dem Lärm sie packt.
„Ich demonstriere.“
Sie verdreht nur die Augen über mich. Trotz meiner einundzwanzig Jahre nimmt sie mich immer noch nicht ernst.
„Weißt du nicht, wie gefährlich solche Demos sind?“, zischt sie, während sie mich aus der Menge zieht. Ich blicke über meine Schulter, um die Gruppe nicht aus den Augen zu verlieren, die mich aufgenommen hat. Doch durch den Rauch habe ich sie längst verloren.
„Was soll daran gefährlich sein?“
Wir stehen uns gegenüber. Ich bin mittlerweile größer als sie, aber es hatte keinerlei Effekt auf sie.
„Leute verlieren ihren Job, sie werden von der Polizei abgeführt, und es könnte eine Klage geben.“
Ich verschränke die Arme vor meiner Brust, eine Haltung, die ich immer einnehme, wenn sie mich so ansieht. Der Blick einer Mutter auf ihr Kind, das sie tadelt, nur dass sie nie meine Mutter war.
„Was für einer Klage bitte?“
Sie verdreht wieder die Augen.
„Gegen Antisemitismus.“
Ein spöttisches Lachen entfährt mir.
„Ach, plötzlich ist ihnen wichtig sich gegen Antisemitismus auszusprechen, aber die ganzen Jahre, in denen Nazis Gräber beschädigt, Wohnhäuser abgefackelt und Menschen getötet haben, waren egal?“
Genervt greift sie nach meinem Arm, um mich weiterzuziehen, aber ich drücke meine Beine tiefer in den Boden.
„Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Denkst du, ich finde es toll, dass sie uns schon wieder all die Probleme aufhalsen wollen, mit denen sie schon vor uns nicht klarkamen?“
Auch sie verschränkt mittlerweile ihre Arme. Ich kenne sie und trotzdem ist sie mir immer fremd geblieben. Ein Vorbild, weit genug entfernt, um sie zu idealisieren, aber nie nah genug, um zu erkennen, was bei ihr falsch läuft. Sogar als sie auf dem Badezimmerboden lag, konnte ich nur daran denken, wie wunderschön sie ist. Denn ich wusste, sie würde wieder aufstehen. Aufstehen, ohne jemanden von uns zu brauchen. Sie hat dieses Leben gelebt – ohne uns und mit uns. Und die Einzigen, die sie brauchten, waren wir. Wir brauchten sie so sehr, dass wir nicht wussten, wer wir waren, als sie ging.
Noch heute ist es so, dass sie den Raum einnimmt, sobald sie durch die Haustür tritt. Und trotzdem war sie es, die alles verändert hat. Die meinen Brüdern gesagt hat, dass es reicht. Dass sie Menschen werden sollen und keine Männer. Die unseren Eltern gesagt hat, dass ich nicht ihr Ebenbild bin. Dass weder sie noch ich dafür zuständig sind, dieses Haus zu leiten, obwohl sie es bis heute tut. Sie war immer nur einen Anruf entfernt. Auch dann, wenn sie uns nicht ertrug.
„Davon können wir uns doch nicht unterkriegen lassen. Was sollen wir jetzt tun? Alle nach Hause gehen und Chai trinken?“
„Es sind genug andere Leute hier.“ Und trotzdem verstand sie oft nicht, worum es geht.
„Aber was, wenn jeder hier gesagt bekommt, dass es doch genug Leute gibt, und wir alle nach Hause gehen.“
Ihre Haltung entspannt sich. Ihre Augen werden mitfühlender, und ich hasse sie in diesem Moment, weil sie es immer schafft, mich dazu zu bringen, ihren Willen auszuführen.
„Ich weiß, wie wichtig das ist–“
„Aber“, unterbreche ich sie.
„Aber du bist hier ganz alleine, und wenn etwas passiert, wer wird davon erfahren?“, fährt sie unbeirrt fort.
Ich drehe mich von ihr weg und schaue der Masse entgegen, die an mir vorbeizieht.
„Ich bin nicht alleine“, erwidere ich trotzig.
Ich höre ihr Seufzen hinter mir. Dieses erwachsene Seufzen, das sie schon mit fünfzehn beherrschte.
„Nein, du verstehst es nicht.“ Ich wirbele zu ihr herum. „Die Momente, in denen du alleine bist und dich im Raum umsiehst, bis du die Leute erkennst, von denen du weißt, dass du zu ihnen gehörst – genau damit haben wir doch überlebt. Die Schule, die Arbeit, das System. Ja, niemand ist genau wie wir. Niemand kennt unsere eigene Leidensgeschichte so gut wie wir, aber wir sind Spezialisten darin geworden, Räume zu schaffen, in die wir eintreten können. Genau deshalb bin ich auch nicht alleine.“
Ich fühle mich außer Atem, als ich zu Ende spreche, und wir uns einfach nur entgegenblicken. Sie sieht so anders aus als ich. Niemand hat uns je für Geschwister gehalten. Dort, wo sie unserem Vater ähnelt, komme ich ganz nach unserer Mutter. Nur unsere Brüder waren eine Mischung aus beiden. Die Mitte, die wir nie gefunden haben.
Ein Zittern durchfährt sie, und ich kann nicht sagen, ob es die Wut auf mich ist oder die Ehrfurcht vor der gesamten Situation. Die Erde bebt leicht unter unseren Füßen, während die Menschen immer weiter an uns vorbeiziehen. Ältere Menschen, denen es schwerfällt mitzuhalten, stehen am Straßenrand und halten kleine Fahnen hoch. Aber all das scheint irrelevant, als wir uns weiter anblicken und ich die Minuten zähle, bis sie endlich ihren Mund öffnet, nur dass nichts herauskommt.
„Ich verstehe mittlerweile, warum unsere Eltern so sind. Ich verstehe, dass sie größere Probleme hatten. Es ging nicht nur um sie, sondern auch um dich und die anderen, die sie ernähren mussten. Sie blieben still, damit wir Heimat finden konnten. Aber es ist so verdammt schwer, Heimat zu finden. Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um wenigstens ein bisschen Frieden zu finden, zwischen den Menschen, die mich verstehen? An manchen Tagen halte ich es immer noch nicht aus. Und ich verstehe nicht, wie ich es jemals aushalten soll. Wie schafft ihr das nur? Wie schafft ihr es, zu leben, obwohl alles immer ein Kampf ist?“
Tränen drücken gegen meine Augen, und weil sie meine Schwester ist, lasse ich sie über meine Wangen laufen. Sie war diejenige, die nie geweint hat, damit wir es tun konnten. Diejenige, die Gewalt ausgehalten hat, damit wir es nicht müssen. Aber selbst sie konnte uns nicht vor der Gewalt schützen, die dieses Land uns antut. Wie könnte sie auch? Wenn sie doch nur am Straßenrand stehen bleibt.
Manchmal dachte ich, ich wäre anders als sie – besser, klüger, reifer. Ich hatte das Leben verstanden, weil ich mich aus dem Käfig befreit hatte, in dem sie immer noch gefangen war. Doch es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass sie im Käfig bleiben musste, damit wir ausbrechen konnten. Sie spricht von einem anderen Land, wenn es um Heimat geht. Es ist anders, wenn ich darüber spreche, als wenn sie es tut. Für mich war es nur der Urlaub, den ich nie wollte. Ich wollte Strand, Meer, Sonne, bekam aber nur Sonnenbrand neben Ziegen, die mich anflehten, sie zu füttern. Es war ein Stück meiner Heimat, barfuß zwischen der Erde zu stehen, mit Dreck unter den Nägeln und frisch geernteten Tomaten in den Händen. Aber für sie war es alles.
Unsere Sehnsüchte waren unterschiedlich. Dort, wo sie sich nach etwas anderem sehnt, möchte ich einfach einen Ort finden, an dem ich mich weniger fremd fühle. Vielleicht braucht sie diese Demos nicht, weil sie sich nicht verzweifelt an alles klammern musste, um zu beweisen, dass sie genug ist.
Seht her, ich habe einen Migrationshintergrund. Ich spreche eine andere Muttersprache. Seht her, aber bitte nicht zu genau, weil ihr dann erkennt, dass ich genauso deutsch bin wie jeder andere Deutsche. Seht nicht hin, weil ich sonst kämpfen muss, um mein deutsch sein zu beweisen, während ich zu Hause darum kämpfen muss, ein Teil von ihnen zu sein.
Nur ein Teil von etwas sein – das wollte ich. Aber sie braucht das nicht, weil sie weiß, dass ihr Teil woanders liegt.
„Ich ertrage es, weil ich keine Zeit dafür habe.“
Eine Aussage, die sie von unserer Mutter gestohlen hat. Unsere Mutter, die keine Zeit für Langeweile, Faulheit, Krankheiten und das Leben hatte. Heute ist es meine Schwester, die keine Zeit dafür hat.
Und irgendwo hat sich diese Haltung bewährt, nur dass niemand eine Fassade ewig aufrechterhalten kann. Trotzdem hat meine Schwester es vierundzwanzig Jahre lang geschafft. Vierundzwanzig Jahre, in denen sie keine Zeit hatte, sich ihrer Angst hinzugeben, bis diese sie schließlich eingeholt hat.
Geräuschvoll ziehe ich meine Nase hoch, um gleich darauf aggressiv darüber zu wischen.
„Ich habe für nichts anderes Zeit, weil ich an nichts anderes denken kann.“
Ihre Augen liegen immer noch mitfühlend auf mir.
„Du musst aufhören, alles um deine Migration drehen zu lassen. Du machst dich selbst klein, indem du nur einen Teil von dir selbst zulässt.“
Und ich wünschte, ich könnte es. Ich wünschte so sehr, dass ich aufhören könnte, mich selbst zu reduzieren.
„Ich kann aber nicht. Ich kann kaum denken, atmen, leben, ohne daran zu denken, was mir angetan worden ist. Plötzlich singen die Leute auf Sylt, dass wir raus sollen aus diesem Land. Andere machen Pläne, damit man uns abschieben kann, und gleichzeitig gewinnt die AfD immer mehr Stimmen. Ich kann in diesem Land nicht atmen, obwohl ich nichts anderes kenne. Das hier gehört mir, aber sie nehmen es mir weg, verstehst du? Ich habe Angst, und nichts kann mir diese Angst nehmen, weil mir niemand unsere Geschichte nehmen kann.“
Mein Vater, der jahrelang gearbeitet hat. Meine Mutter, die keine Zeit hatte, Deutsch zu lernen. Meine Schwester, die all das übernehmen musste. Mein Bruder, der eine Hauptschulempfehlung bekam. Mein anderer Bruder, der von vornherein die Schule aufgegeben hat. Und der Jüngste, der jetzt Lehramt studiert, weil er der Einzige ist, der rebelliert.
„Vom Klassenclown zum Lehrer. Die Wichser werden schon sehen“, sagt er, mit diesem schiefen Grinsen auf den Lippen, während wir vor dem Netto hocken, der seit unserer Kindheit neben unserer Wohnung steht.
Ich kann an nichts anderes denken, und tagtäglich fallen mir immer mehr Sachen auf. Dinge, die irgendwo tief verdrängt in meinem Kopf gelebt haben. Die Kinder, die über meine Armbehaarung lachten. Die Lehrer, die meinen Eltern sagten, sie sollten aufhören, mir Essen mitzugeben, weil es so stinken würde. Die Schönheitsideale, denen ich mich jahrelang hingegeben habe. Die Polizei, die unseren Kofferraum durchsucht. Wieder die Polizei, die in unsere Wohnung möchte, weil ein Verdacht auf Gewalt vorliegt.
„Das liegt daran, dass du in diesen Blasen bist. Du hältst dich darin auf, und ihr zieht euch alle gemeinsam runter.“
Sie sticht mir mehrmals in die Brust, und genervt schlage ich ihre Hand weg. Ein Lächeln zuckt über ihre Lippen, weil sie es liebt, mir auf die Pelle zu rücken, bis ich sie wegscheuche.
„Es hört aber nicht auf. Wenn du einmal siehst, was falsch läuft, gibts kein Zurück mehr.“
Sie wusste, wovon ich spreche, weil sie eine Frau ist und es uns anerzogen worden ist, Angst vor der Welt zu haben.
Sie zieht ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. Eine, die sie von Mama geklaut hat, damals, als wir in unserem Haus waren. Das Haus mit den Ziegen und den Tomaten. Tief hinter all den Klamotten hatte sie diese Handtasche gefunden, gefüllt mit Liebesbriefen von unserem Vater. Wir haben sie kichernd durchgeblättert, bis mein Vater kam und uns die Briefe beschämt aus der Hand gerissen hat.
Er spricht nicht viel, hat er damals nicht, tut er heute nicht. Aber meine Brüder sagen mir, er ist anders mit mir. Die kleine Prinzessin, die er endlich bekommen hat, nachdem er seine Älteste zum Ebenbild unserer Mutter gemacht hat und unsere Brüder zu Nichtsnutzen erzogen hat.
Mich durfte er einfach lieben, und das tat er. Keine Grenzen, die ich lernte. Kein Hass, mit dem ich erzogen wurde. Ich liebe ihn, und er liebt mich. Und obwohl ich ihn manchmal dafür hasse, dass er die anderen nicht so sehr liebt wie mich, kann ich nichts gegen die Wärme in meinem Inneren tun, wenn wir abends zusammen auf der Couch sitzen und ich mit ihm einen alten Barbie-Film schaue.
Meine Geschwister hassten mich dafür, bis sie merkten, dass ich nichts dafür kann. Und dann hassten sie mich noch mehr, weil ich seine Liebe verdient habe, ohne groß etwas dafür zu tun.
Wir lebten in einer Beziehung, in der wir uns hassten, weil unsere Eltern Lieblinge hatten, und in der wir uns liebten, weil wir nur einander hatten. Denn egal, wie individuell unsere Leidensgeschichte sind, niemand kennt sie so gut wie die Menschen, mit denen du aufwächst. Die, die dieselbe Geschichte wie du erzählen – wenn auch aus einer anderen Perspektive.
Ich ziehe ihr das Taschentuch grob aus der Hand, aber als ich meinen Blick auf die Handtasche fallen lasse, bringt es doch ein Lächeln auf meine Lippen.
„Sie fällt total auseinander.“
„Tut sie nicht.“ Sie drückt die Tasche an ihre Brust, und manchmal finde ich es faszinierend, wie sehr sie an den Sachen unserer Eltern festhielt, obwohl keiner von ihnen beiden sie genug liebte.
„Ihr tut das“, sagte sie einmal zu uns, als wir bis tief in die Nacht im Zimmer unserer Brüder saßen. Irgendein schlechter Horrorfilm, eine Shisha zwischen uns, die der Zweitälteste besorgt hatte, und die Gespräche, die nur abends entstehen. Wir haben uns alle zu ihr rüber gelehnt und nicht über die Tränen gesprochen, die unbewusst über ihr Gesicht liefen.
Sogar der Zweitälteste lehnte sich in die Runde, nahm sie in den Arm, solange, bis sie ihn gegen die Brust geschlagen hat und den nächsten Witz rausgehauen hat, der gegen ihn gerichtet war. Zu der Zeit ließ er sich einen Bart wachsen. Es war eine schlimme Zeit für alle Beteiligten.
Ich drehe mich halb von ihr weg, als ich die Farben erblicke, die sich im Rauch vermischen: Grün, Rot und Weiß. Farben, die uns verboten worden sind. Ich bemerke, dass die Polizei näher zusammenrückt, vorsichtiger, aufmerksamer. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie verkünden, dass wir eine Gefahr sind. Auch die Masse bemerkt die angespannte Stimmung, denn die ersten Menschen beginnen, sich gegen die Polizei zu lehnen. Männer, die meinen Brüdern ähneln. Kampf statt Flucht, solange bis nichts mehr von einem übrig bleibt.
„Was bist du?“
„Was meinst du?“, entgegne ich verwirrt.
„Kampf oder Flucht.“
Mein Bruder, derjenige, der eigentlich immer vergessen wird, weil die Mitte kaum überschaubar ist bei so vielen im Haus, zieht eine Zigarette heraus, die er nicht rauchen wird. Er wird sie bloß verstecken, damit der Zweitälteste sie nicht mehr finden kann.
„Natürlich Kampf.“ Ich grinse breit, als ich mich rückwärts auf sein Bett fallen lasse. Die anderen zwei haben ein Hochbett. Eines, das ihm damals gehörte, aber weil der Jüngste den Platz unten haben wollte, musste er abtreten.
Er lässt sich mir gegenüber auf einen alten Schreibtischstuhl fallen. Der Schreibtisch dazu fehlt, seitdem ein drittes Bett ins Zimmer musste.
„Es ist bestimmt einfach‚ Kampf‘ zu sagen, wenn man noch nie kämpfen musste.“
Seine Stimme klingt angespannt, ein wenig wütend, obwohl er eigentlich nie wütend wird.
„Du glaubst, dass ich noch nie kämpfen musste? Du vergisst wohl, dass ich eine von zwei Schwestern bin in mitten von drei Brüdern.“
Seit Kurzem liest er feministische Literatur, und manchmal ging er so weit, dass er uns Dinge erklärte, die wir schon längst wussten. Er schämte sich danach, aber er suchte den Austausch, den er mit niemand anderem fand – nur wählte er den falschen Raum dafür. Manchmal ließ ich ihm Bücher auf seinem Bett liegen, die ich vorher gelesen und markiert hatte. Daraufhin legte er mir das Buch zurück, versehen mit seinen Gedanken, und so lasen wir manchmal ein Buch zwei- bis dreimal, weil jedes Mal so viele neue Gedankenimpulse dazukamen, dass wir es immer wieder als Ganzes neu lesen konnten. Er war der Schlaueste von uns, nur bemerkte das niemand. Selbst ich brauchte erst die Bücher, um es zu merken.
„Vielleicht klinge ich jetzt wie ein idiotischer Mann—“
„Vielleicht, weil du einer bist“, unterbreche ich ihn und kichere leise.
„Aber was musstest du selbst erkämpfen, wenn dir immer der Platz freigeräumt wurde von den Frauen vor dir?“
Mein Kichern verstummt. Ich sehe, dass er sich unwohl fühlt. Er neigt oft dazu, sich unwohl zu fühlen, wenn ihm bewusst wird, dass die Welt ihn als Mann wahrnimmt. Wir sprachen nicht oft darüber, aber jeder von uns sah es.
„Ich habe mir auch einiges selbst erkämpft.“ Ich wusste, dass ich defensiv klang, weil ich es auch war. Ich fühlte mich ertappt und ging in meinem Kopf jeden Schritt durch, der mir als Gegenargument helfen könnte, doch da war nichts. Nichts, was nicht schon für mich freigekämpft worden war.
„Ich würde trotzdem kämpfen. Es muss ja irgendwann mal ein erstes Mal geben.“
Ich schaue nicht zurück, als ich vorschreite und die Hand des Polizisten fasse, der gerade eine Frau zu fassen bekommen hat.
„Sie hat nichts getan“, brülle ich ihm entgegen, doch er schüttelt mich ab, deutet auf einen seiner Kollegen und dann auf mich.
Eine Hand reißt mich zurück, und ich stolpere durch die Masse. Die Menschen schreien um uns herum, singen, lachen, sogar dann, wenn sie abgeführt werden.
Meine Schwester zieht mich weiter an den Menschen vorbei, bis wir ein Teil davon werden und ich in das Gebrüll mit einstimme. Sie wirft mir einen Blick über ihre Schulter hinweg zu. Ihre Augenbrauen sind tief zusammengezogen. Ich hole sie ein, damit wir nebeneinander laufen können. Ihr Blick bleibt weiterhin kritisch, als sie an mir vorbei zu den Menschen blickt, die ihre Hände erheben, um gegen die Polizisten anzubrüllen. Sie können nicht alle von uns mitnehmen, nicht, wenn wir als Gemeinschaft stehen bleiben.
Ich reiße meine Hand in die Luft, die mit der ich meine Schwester halte, und sie blickt nur verwundert auf. Handys gehen in die Luft, um alles zu filmen. Niemand von uns wird das jemals vergessen, die Unmenschlichkeit, die gegen unser Recht verstößt. Und dann höre ich sie – die Stimme meiner Schwester, die mit einstimmt. Ihr Gesicht ist vor Wut verzogen, aber etwas bricht in ihr. Ein Teil, der schon immer losbrüllen wollte. Ein Teil, der kämpfen wollte. Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Gemeinschaft, die wir sind in einem Land, das uns dazu erzieht, Einsamkeit zu fühlen, gefunden haben.
Unsere Füße treten im Einklang auf den Boden, während wir uns näher aneinanderstellen. Fast wie eine Mauer, die man kaum durchdringen kann. Ein weiterer Arm schlingt sich um meinen und auch um den meiner Schwester. Sie hört nicht auf zu brüllen, schreit und spuckt und flucht – erst auf Deutsch, dann auf der Sprache, die nur uns gehört. Sie stimmen alle mit ein, verschiedene Sprachen, die sich zu einer vermischen.
Das hier ist größer als wir alle, während es auf unser Leid aufbaut und trotzdem fühlt es sich weniger an, als das Gefühl der Heimat sich in mir ausbreitet.
Was ist Freiheit? Was ist Recht?
Klopft’s an die Tür?
Holt sie dich ab?
Mitmachen?
Meine Meinung?
Mitwirken?
Auf die Straße gehen?
Zuhause ist es sicherer
Könntest du zu mir kommen?
Dann wären wir schon zu Zweit
Hier daheim zusammen
Könnten Zuhause protestieren
Keine Lust auf Repressalien,
anderen auf die Nerven zu gehen
Die Endlosdemonstranten
Die die Frieden vergessen
Die die die Ordnung stören
Die die die die Hass schüren spüren werden
Statt friedlich verweilen Hand in Hand
Anderen schaden
Das ist nicht der Sinn dahinter
Gegen geschlossene Türen schreien,
aber zum offenen Fenster hinaus
Scheint genauso effektiv.
Durch den Bildschirm zensiert, im Kollektiv
Haben schlicht vergessen, wie Treffen geht
Die Welt dreht sich weiter, auch wenn
man nicht vor die Tür geht
Im sauren Regen, die Armen, im Reigen
verweilen
Weil anderen egal
Mit Ketten und Fesseln
Weil andere ignorant
Bespuckt und beleidigt und nass
Weil anderen zu wider
Hier ist es trocken.
Sperrgutbarrikaden sind friedlich
Autos, lavaglühend sind friedlich
Glasstaub zersprungener Welten sind friedlich
Kopfschüttelnd durch die Mattscheibe starren-
Ist friedlich
Sich aufregen, dass andere was machen-
Ist friedlich
Was im Namen der Meinung ist friedlich?
Zeit, dass zu ändern
Was? Deine Faulheit …
Noch kannst du vom Rumsitzen nicht müde sein?
Kommst du jetzt?
Oder bleibst Du im Frieden daheim?
Trittst weiterhin Dein Recht mit Füßen,
Bitter erkämpft von anderen
Nach dem andere mit ausgestreckten Händen gieren
Noch heut ihr Leben lassen- mundtot
Gemacht ihre Regierung hassen
Bleibst du immer noch daheim?
Könnten Kaffee konsumieren
Es muss ja nicht gleich radikal sein
Kann keiner etwas
Komm wir zeigen wie es richtig geht.
Komm wir demonstrieren für friedliches demonstrieren
Komm wir demonstrieren friedlichen Frieden
Mein Onkel war ein entschlossener Mann. Nicht in der Art, wie es ein Daniel Craig als James Bond und auch nicht wie es Peter O’Toole als Lawrence von Arabien waren. Nein, mein Onkel war weder Agent noch Revolutionär und obwohl er sich das insgeheim immer ein bisschen einbildete, auch kein Filmheld. Doch so sehr die Unterschiede zwischen meinen Kindheitshelden und ihm auch sein mochten, so hatte er früher (jedenfalls) eines mit ihnen gemeinsam, er hatte einen Auftrag und er hatte eine Waffe.
Wir schreiben das Jahr 1989: Die Amerikaner hatten am 4. Januar zwei libysche MiG über dem Mittelmeer abgeschossen. Ein Vorfall, der zwar stark an Top-Gun erinnert, tatsächlich aber nicht als Inspiration für den Film diente. Honecker, Verzeihung: Genosse Honecker, versicherte am 19.1., die Mauer würde in 50 und auch noch in 100 Jahren stehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt wären. Ein Tag später wird George H.W. Bush der 41. Präsident der Vereinigten Staaten. Soweit erscheint alles wie gehabt und nichts besonders erwähnenswert, doch das sollte sich im Verlauf dieses Jahres noch ändern …. In Leipzig finden am 4. September die sogenannten Montagsdemonstrationen ihren Anfang. Damals noch, tatsächlich für Freiheitsrechte einstehend, fordern sie die allgemeine Reisefreiheit und die Abschaffung der Staatssicherheit. Mit diesem kleinen Funken entstand ein Lauffeuer, dem die DDR-Führung keinen Einhalt mehr gebieten konnte. Die Montagsdemonstrationen wurden von nun an jeden Montag abgehalten. Schließlich lässt Ungarn am 10.11. DDR-Staatsbürger in den Westen ausreisen. Bis Ende Dezember werden über 30.000 DDR-Bürger auf diese Weise das Land verlassen. Nachdem die Montagsdemonstrationen kontinuierlich an Teilnehmern gewinnen und Erich Honecker zurücktritt, kommt es am 9.11. zur berühmten Verkündung von Günter Schabowski: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort – unverzüglich.“ Gemeint war hier die allgemeine Reisefreiheit und somit das Ende der DDR. Hier könnte die Geschichte bereits enden, zumindest die der DDR. Doch das ist weder die Geschichte der DDR noch die des deutschen Volkes, sondern die, vom zu diesem Zeitpunkt 20jährigen Unterfeldwebel Berg des 1. Mot.-Schützenregiments der NVA, kurzum die Geschichte meines Onkels.
Es ist ein kalter, regnerischer Tag. Berg sitzt am Tisch des Gemeinschaftsraums. Vor ihm steht ein Teller mit lustlos umhergeschobenen Linsen und einem nur halb gegessenen Stück Schweinenacken. Der junge Mann mit den kurzen, schwarzen Haaren sieht aus dem Fenster auf den Appellplatz. Da hängt sie, die Fahne der Deutschen Demokratischen Republik. Traurig und vom seit Stunden anhaltenden Nieselregen durchnässt, macht sie einen erbärmlichen Eindruck. Ansonsten ist der Appellplatz leer. Nur eine einsame Patrouille läuft mit der Maschinenpistole über das olivgrüne Regencape geschultert vor dem Zaun der Kaserne über die spröden, von Pfützen überzogenen Betonplatten auf und ab. Aus dem Wachhäuschen vor der Einfahrt auf das Kasernengelände steigt regelmäßig Zigarettenqualm. Es herrscht eine seltsame Stimmung. In der Kantine sitzen vereinzelt Soldaten und hängen ihren Gedanken nach. Manche reden leise miteinander, andere lesen Bücher und Unterfeldwebel Berg schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist dunkel, aber nicht wirklich bewölkt. Es scheint eher so, als hätte sich eine öde graue Decke über die Kaserne gelegt.
Andre Berg schmunzelt unwillkürlich. Es ist eben jenes Schmunzeln, was ihm in Ost-Berlin, seiner Heimatstadt, schon so manch einen aufregenden Abend im Operncafé eingebracht hat. Er muss an all die durchzechten Nächte denken, an die Heimfahrten von der Kaserne nach Hause und vor allem an all die, nun nennen wir es spontanen Rendezvous, welche ihm in der Kompanie und vor allem bei seinen Freunden einen gewissen Ruf eingebracht haben.
Die Miene des jungen Mannes verdüstert sich, warum musste er ausgerechnet jetzt an so etwas denken? Schon seit 3 Tagen war eine strenge Ausgangssperre verhängt und die Kaserne von der Militärpolizei abgeriegelt worden. Doch damit nicht genug. Nein, sie erfuhren nicht einmal, was sich da draußen abspielte. Sowohl Radio als auch Zeitung und so ziemlich alles, was an Informationen außerhalb der Kaserne hinein gelangen konnte, war gestrichen worden. Nachrichtensperre, so nannte es der Kommandeur, verdammtes Spießertum, so nannte es Berg. Noch einmal atmete er tief durch. Alle Gedanken an diese seltsame Mischung aus Langeweile und Anspannung abschüttelnd, stand er dann auf. Entschlossen ging er aus der Kantine, über den langen gefliesten und seit der Ausgangssperre auf einmal peinlich sauberen Flur, hin zu den Mannschaftsstuben. Hatten die Demonstrationen zugenommen? Sicher, denn das letzte, was er mitbekommen hatte, war die Versammlung von Zehntausenden auf der Karl-Marx-Allee. Seine Gedanken überschlugen sich. Er erinnerte sich an seine Schulzeit, die vormilitärische Ausbildung, Freunde seiner Mutter, die hinter vorgehaltener Hand leise die SED verfluchten und sich darüber beschwerten, dass es mal wieder keine Bananen gab. Dann die Ausbildung, der Eintritt in die NVA, sein ganzes Leben war bisher in geordneten Bahnen verlaufen. Klar, Kritik übte jeder. Aber das war nichts, worüber man offen sprach, zumindest nicht vor dem 8. Bier. Und dann auf einmal die Montagsdemonstrationen, die Grenzöffnung in Ungarn und der Rücktritt von Honecker, alles war so verdammt schnell gegangen. Ehe er sich versah, fand sich Berg in einer Zeit des Umbruchs wieder und, na ja, jetzt saß er zusammen mit der ganzen Division hier, kaute sich die Fingernägel ab und wollte eigentlich nur wissen, was da draußen vor sich ging. Für Andre gab es nichts Schlimmeres als das Warten und die Untätigkeit. Würden sie ausrücken? Und falls ja, wann? Würden sie die Grenze sichern müssen?
All diese Fragen verwirrten und schlugen aufs Gemüt.
Doch vielleicht konnte er etwas mehr in Erfahrung bringen. Vor der Tür mit der Nummer 72 blieb er stehen und blickte sich kurz um. Die Luft war rein, weder Offiziere noch Wachposten waren zu sehen. Entschlossen klopfte er an und trat dann ein. Auf einem der 3 Doppelstockbetten lag Torsten, der beste Freund von Berg und zu seinem Glück auch heute Morgen Diensthabende der Fernmelder. Torsten sah erschrocken auf, als sein Freund das Zimmer betrat. Seine Uniform hing unordentlich am Pfosten des Bettes und er schaute unruhig. „Na, was gibt’s, warum schleichst du dich so an mich heran?“ Torsten blickte Andre leicht spöttisch an und zog das Wort „rangeschlichen“ lächerlich in die Länge. Andre lächelte, dann schloss er die Tür. „Sag, gibt es was Neues?“ Er senkte seine Stimme, während er das fragte. Er zog seine Augenbraue in der Art fragend hoch, wie man es von Magnum kannte. „Andre, sag mal.“ Torsten stand auf und kam ein Schritt auf ihn zu. „Das kannst du doch hier nicht so einfach fragen, wegen dir komme ich noch in Teufels Küche!“ Unterfeldwebel Berg senkte verlegen seine Stimme. „Ja, Torsten, ich weiß, aber jetzt erzähl, was hast du heute gehört?“ Der wiegte den Kopf langsam hin und her. „Ach, du auch nichts Richtiges. Weißt du, ich hatte die ganze Zeit den Stellvertretenden im Nacken, der hat uns ganz genau über die Schulter geguckt.“ „Ja, na und? Was haben sie gefunkt?“ Andre war aufgeregt. Er gab sich nicht die geringste Mühe, das gegenüber seinem alten Freund zu verbergen. Torsten zog die Schultern nach oben, dann antwortete er: „Nichts Neues, die Demos kriegen immer mehr Zulauf und die Lage an der Grenze ist angespannt.“ Enttäuscht ließ der Berg die Schultern hängen, er hatte wirklich mit etwas Verwertbarem gerechnet. „Aber du, Andre, jetzt mal ehrlich. Die beiden Männer beugten sich noch ein Stück weiter vor. Torsten senkte die Stimme geradezu ins Unhörbare. Glaubst du wirklich, dass sie das zulassen?“ „Was die Demonstrationen?“ „Ja, ich meine ja nur, dass sie irgendwann entscheiden, dass …“ „Nee, Torsten, nee“, unterbrach Andre ihn. „Wenn sie das entscheiden, dann ist alles verloren, das würden die nicht machen.“
Kurz herrschte Stille zwischen den Beiden, in der sich die Freunde vielsagende Blicke zuwarfen.
„Na ja, und wenn“, antwortete Berg jetzt resigniert. „Wenn, dann können wir auch nichts ändern, bis es so weit ist.“ Ein Schrei hallte durch den Flur. „Antreten!“ Bevor die beiden überhaupt realisierten, was gerade passierte, standen sie zusammen mit den anderen Mannschaftsdienstgraden in Reih und Glied auf dem Flur. Ein Diensthabender stand breitbeinig neben dem Oberstleutnant, welcher die Hände hinter dem Rücken verschränkt zuerst über die Reihe der eilig angetretenen Soldaten und dann nach rechts in den abknickenden Flur blickte. Dann dröhnt er los „Aaachtung“. Um die Ecke kam ein Mann in Uniform. Der Oberstleutnant salutierte, ein Ruck ging durch die Reihen und alle Soldaten folgten seinem Beispiel. Bei dem Mann handelt es sich um Oberst Priemer, Kommandeur der 1. Mot. Schützendivision. Lächelnd erwiderte er den Gruß. „Stehen Sie bequem!“ Die Soldaten entspannten sich minimal, doch Andre schlug das Herz bis zum Hals. Ohne große Umschweife holt der Kommandeur einen Brief hervor. Sein Blick war fest auf die Soldaten gerichtet. Irgendwie hatte Andre das Gefühl, der Oberst würde ihn direkt ansehen. „Genossen.“ Der Oberst legte eine Pause ein, es herrschte absolute Stille. „Hiermit teile ich Ihnen mit, dass wir uns in erhöhter Gefechtsbereitschaft befinden.“ Andre hörte kurz auf zu atmen, umgehend spannte sich sein gesamter Körper an. Sein Herz pochte schneller als zuvor. „Die Lage an der Grenze hat sich verschlechtert. Sie werden als Vorauskommando verlegt, um die Grenztruppen bei etwaigen Ausschreitungen zu verstärken.“ Diese Nachricht schlug wie ein Blitz ein, umgehend waren die Anwesenden elektrisiert. Andre nahm aus dem Augenwinkel angespannte Blicke und mahlende Kiefer wahr. „Die Gefechtsbereitschaft ist unverzüglich herzustellen. Wir befinden uns nun auf Alarmstufe Gelb. Finden Sie sich vor der Waffenkammer ein.“ Ohne weitere Zeit zu verschwenden, drehte sich der Oberst auf dem Absatz um und die Offiziere trieben die Soldaten zur Eile an. Auch Andre rannte ohne nachzudenken mit Torsten zurück in seine Stube. Die Männer zogen sich die Felddienstuniformen an und zurrten die Stahlhelme fest, dann ertönte bereits der Ruf eines Offiziers. „Los, los, los, alle Mann zur Waffenausgabe!“ Andre befand sich neben Torsten, als sie im Laufschritt über den Appellplatz zur Waffenkammer liefen. „Ach du Scheiße, es geht los.“ Torsten stieß diese Wörter einzeln zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, sein Kiefer spannte sich stark an. Andre warf seinem Jugendfreund einen kurzen Blick zu. „Torsten, hey, wir stehen das gemeinsam durch.“ Andre nickte seinem Freund bekräftigend zu, tatsächlich fühlte er sich aber genauso wie dieser, wenn nicht schlimmer. Sicher, sie waren Soldaten und Andre hatte sich für die Laufbahn zum Unteroffizier 3 Jahre verpflichtet. Aber das hier, das kam nicht dem gleich, was er sich in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Andre war bereit, seinem Land zu dienen und im Zweifel auch die DDR mit der Waffe zu verteidigen, denn dafür war er schließlich auch ausgebildet worden.
Doch die Grenze zu sichern, das hieß im schlimmsten Fall, auch auf Demonstranten und Flüchtende, auf einfache Menschen, wie seine Mutter, zu schießen. Andres Gedanken rasten und er konnte nicht mehr klaren denken. Er wollte auf niemanden schießen, nicht so, nicht heute, nicht auf seine Leute. Bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte, stand er bereits vor der geöffneten Waffenkammer. Ein glatzköpfiger Mann hielt ihm eine Maschinenpistole entgegen. „AKs-74 geladen und gesichert.“ Mechanisch erwiderte Andre, wie er es gelernt hatte: „AKs-74 geladen, gesichert und empfangen.“ Wenige Momente später befand er sich auf dem Appellplatz zusammen mit den anderen Unteroffizieren. Ein Offizier stellte die Disposition vor: „Führungsfahrzeug fährt voran, die anderen SPW …“ Doch den Rest bekam Andre nicht mehr mit. Er starrte nur die Fahne am Mast an. Er sah den Hammer, den Zirkel und den Ährenkranz. Er wollte, nein, er musste die DDR verteidigen. Denn ganz egal, was hier auch falsch lief, es war und blieb seine Heimat. Das Land, in dem er zur Schule gegangen war, das Land, in dem er seine Freunde hatte. Ja, seine Freunde, seine Familie, eben jene Menschen, die er im schlimmsten Fall an der Mauer wieder treffen würde.
Er in Uniform und bewaffnet und sie als Demonstranten, Angesicht zu Angesicht. Andre bestieg seinen Schützenpanzer und nahm als Kommandeur die Stellung in der offenen Luke ein. Die Infanteristen setzten auf und die Fahrzeugkolonne verließ das Gelände der Kaserne.
Auf ihrem Weg durch Potsdam sah Andre auf die Menschen. Sie blickten aus den Fenstern auf die an ihnen vorbeifahrende Kolonne. Er musste schlucken. Da waren auch Leute auf der Straße, auf dem Weg zur Straßenbahn oder nach Hause. Ganz normale Menschen wie er selbst, die ihrem normalen Alltag nachgingen. Doch was, wenn sie eben das nicht taten? Was, wenn das dieselben Menschen waren, die er an der Mauer wieder treffen würde. Was, wenn sie versuchten, die DDR zu stürzen? Alles verschwamm vor seinen Augen zu einem bunten Mischmasch jenes Lebens, an dem er nun nicht mehr teilnahm. Er war losgelöst, er war nun nicht mehr Andre, sondern Unterfeldwebel Berg, mit dem Auftrag, die Grenze zu sichern. Ob er jemals wieder nur Andre sein würde? Andre hörte das Rauschen des Funkgeräts, dann eine Stimme. Auf einmal hielt der SPW vor ihm an, die Kolonne stoppte. Unvermittelt fühlte Andre ein Ziehen an seinem Bein. Er blickte nach unten. Es war Torsten, umgehend zog Andre den Kopf zurück ins Innere des Panzers. „Andre, Andre, wir sollen umkehren!“ Berg warf Torsten einen fragenden Blick zu, er verstand die Welt nicht mehr. Auch der Fahrer und der Bordschütze horchten nun auf. „Was meinst du damit?“ Fragte der noch immer verwirrte Unterfeldwebel seinen Freund und Funker. Torsten strahlte über das ganze Gesicht. „Wir sollen umkehren, der Befehl zum Verlegen wurde zurückgenommen. Es gilt wieder die Alarmstufe Weiß.“ Andre atmete tief ein und lehnte seinen Kopf an die kalte Fahrzeugwand.
Die Kolonne kehrte um und Andre musste sich nicht der Situation stellen, von der er 15 Minuten lang dachte, sie würde sein Leben entscheiden. Und tatsächlich entschied sie sein Leben, doch das ohne dass er direkt daran aktiv wurde, denn nur wenige Tage später fiel die Mauer und somit auch die DDR. Mein Onkel erzählte mir diese seine Geschichte vor einigen Jahren, an einem Abend, an dem wir lange beisammen saßen. Torsten war bei uns gewesen und die beiden hatten viel über alte Zeiten geredet. Schließlich ging Torsten und ich fragte meinen Onkel, wie er den Mauerfall erlebt hätte, daraufhin erzählte er mir diese Geschichte. Wir tranken Whisky und ich hörte, was er damals dachte und fühlte. Irgendwann entschlossen wir uns, schlafen zu gehen. Die Sonne begann bereits, den frühen Morgen in dieses ominöse Hellblau vor dem eigentlichen Sonnenaufgang zu tauchen. Er ging bereits die Treppe zum Schlafzimmer nach oben, als ich endlich den Mut fand, die für mich entscheidende Frage zu stellen. „Hey, Onkel Andre.“ Er drehte sich auf dem Treppenabsatz um und lächelte mich müde an. „Ja?“ Ich fasste mir ein Herz und fragte ihn. „Hättest du damals geschossen?“ Mein Onkel zog seine Augenbraue in der Art hoch, wie ich es aus „Magnum“ kannte, und lächelte dann traurig. „Ich weiß es nicht.“
Der Bahnhof von Stratford war an diesem regnerischen Tag ein Mikrokosmos aus Eile und Geduld, durchsetzt mit den Geräuschen klappernder Kofferrollen.
Ein Kaleidoskop aus Bewegungen und Stimmen, ein stetes Fließen von Menschen und ihrem Streben. Regenschirme klappten auf und zu, Tropfen glitten über glänzende Fliesen. Es waren keine Tropfen, die etwas wuschen, sondern solche, die die Melancholie noch schwerer machten. Stratford Station, ein Ort, an dem Geschichten sich kreuzten, aufbrachen oder in der Eile verloren gingen.
Ein Mann saß auf einer hölzernen Bank. Lee Kwan – schwarzer Anzug, perfekt gebundene Krawatte, ein Regenschirm in der rechten Hand und ein Aktenkoffer zu seinen Füßen. Seine Augen hingen an der Anzeigetafel vor ihm. Sie flimmerte: Zug nach Oxford, verspätet um 15 Minuten. Es war eine vertraute Szene, eine Momentaufnahme von Alltag und Routine. Doch etwas in seiner Haltung erzählte von einer Tiefe, die über das Offensichtliche hinausging.
„Mein Name ist Lee Kwan,“ murmelte er innerlich, fast wie ein Mantra. „In ein paar Tagen werde ich siebenundzwanzig. Aber ich habe seit fünf Jahren keinen Geburtstag gefeiert.“ Nicht aus Vergessenheit oder Gleichgültigkeit, sondern weil an jedem dieser Tage Regen fällt oder fiel. Es gab keinen Streit in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.
Sein Blick verlor sich in der Bewegung der Menschen.
Die Reflexionen der Regentropfen auf den Glasfenstern schienen Bilder hervorzurufen – Fragmente von Erinnerungen, die sich mit resonanter Abstraktion in weise filigranen Falten zusammensetzten. Der Regen klopfte sanft gegen die Bahnhofsüberdachung, ein unaufdringlicher Rhythmus, der ihn zurücktrug – nicht nach London, sondern in die vertrauten Straßen seiner Heimat, Hongkong.
Fünf Jahre waren vergangen, doch der Tag war noch so klar wie der Regen, der damals fiel. Das Tram View Café in der Innenstadt war mein Rückzugsort gewesen: ein kleiner Tisch auf der Terrasse, ein Burger, ein Lavendel-Latte, und die Karikaturen, die ich für die Universitätszeitung zeichnete. Die Kreise, die ich zog, wurden irgendwann gleichmäßig, und die Last verschwand.
Es war ein Ritual, das mir Halt gab inmitten der rastlosen Stadt.
Doch an jenem Tag vor fünf Jahren zwang mich der Regen, drinnen Platz zu nehmen. Das Innere des Cafés war erfüllt von gedämpften Stimmen, dem Geruch nasser Kleidung und dem kalten Hauch von Straßenwasser. Es fühlte sich an, als hätte der Regen die Welt draußen ausgewaschen und die Menschen hierhergespült.
Ich saß Mei-Yin gegenüber. Mein Blick sprang zwischen den Fensterscheiben und ihrem festen Ausdruck hin und her. Mei-Yin war mehr als ein vertrautes Gesicht in der Unruhe der Stadt – sie war eine angehende Journalistin, klug und unbeugsam. Ein Mitglied der Studentengruppe „Die Artisten“. Nachts verwandelten sie und ihre Mitstreiter die Wände der Stadt in mahnende Zeugen: Wandgemälde, die von Polizeigewalt erzählten. Ihr Motto:
„Wärst du ein Vogel, würdest du lieber singend sterben, als ein leises Leben zu führen.“
Sie sprach, und ich lauschte, auch wenn mein Blick zwischen den Tropfen an den Fensterscheiben und den Linien auf meinem Papier hin und her flüchtete.
Es gab keinen Raum für meine Worte – ich lauschte.
Ihr feuchtes, strähniges Haar fing das spärliche Licht auf, das sich durch ihre Brille brach. An ihre Worte erinnere ich mich noch genau. Es war nicht nur das, was sie sagte, sondern wie sie es sagte – wie Regen, der gleichmäßig gegen eine Scheibe prasselt: unaufhaltsam und klar. Sie sprach von Regenschirmen, die wie Schilde über der Stadt aufgespannt waren. Es waren nicht einfach Worte – es war ein Lied, das den Regen selbst zur Melodie formte.
Kwan zog sich die Krawatte zurecht und sah wieder zur Anzeigetafel.
Er mochte Regen. Früher zumindest.
Als Kind war der Regen ein stiller Spielgefährte gewesen, der die Straßen in glitzernde Abenteuer verwandelte. Er erinnerte sich an das Gefühl von Pfützen unter den Füßen und an die Wärme, die ihn umfing, wenn er durchnässt, aber glücklich nach Hause kam. Doch der Regen vor fünf Jahren brachte etwas anderes – eine Veränderung, die er nicht kommen sah. Nicht laut, nicht leise – sondern plötzlich.
Ich weiß noch, wie ich aus Resignation genickt hatte.
Was hätte ich auch tun sollen? Etwas sagen? Etwas ändern? Es gab nichts zu sagen, nichts zu ändern. Die Nachrichten über die Proteste verbreiteten sich wie eine Flut von Mund zu Mund. Die Apple Daily berichtete von über einer Million Menschen: Studenten, Arbeiter, Bürger aus allen Ecken Hongkongs – alle vereint gegen das Auslieferungsgesetz, das ihre Freiheit bedrohte.
Am 1. Juli 2019, kam ich von einem Kurztrip von Macau zurück.
Der Fernseher Zuhause lief, die Luft war so schwer wie die Nachricht, die der Bildschirm verkündete. Mein Vater schimpfte lautstark im Wohnzimmer, seine Worte malten brennende Fackeln in der Dunkelheit. Mutter bat ihn, nicht in der Vergangenheit zu leben, doch er ignorierte ihren Appell. Mit jedem Satz grub er tiefer in eine Zeit, die längst vergangen war. Er sprach von einer Zeit, in der Hongkong sich als Teil Chinas fühlte, bevor Maos Kulturrevolution alles zerstörte, bevor die Ströme der Flüsse Chinas die Toten dieser Revolution in die Gewässer Hongkongs spülten.
Er sprach vom Tian’anmen-Platz 1989, von Träumen, die dort in Blut erstickt wurden.
Und in diesem Schmerz hatte sich die Identität Hongkongs entwickelt.
Eine Identität, die nach Freiheit, nach Unabhängigkeit schrie.
Ein Lied, das auch Mei-Yin sang. Nicht laut, nicht leise, sondern voller Hoffnung.
„Kwan, hörst du mir überhaupt zu?“, hatte sie fragte, ihre Augen durchdrangen mich an jenem Tag im Café. Sie erzählte mir damals eine Geschichte. Doch sie war nicht die, die ich im Spiegel erkannte.
Ich hatte immer an eine Zukunft als Architekt gedacht, fernab von Politik und Protesten. Doch Mei-Yin veränderte etwas an diesem Tag. Es war nicht nur ihr Lächeln, das sanft und herausfordernd zugleich war. Es war die Art, wie ihre Worte damals Funken in mir entzündeten, die ich nicht mehr löschen konnte.
„Ich höre dir zu, Mei-Yin. Aber ich habe Prüfungen,“ hatte ich gesagt, um mich aus der Affäre zu ziehen.
Doch sie ließ nicht locker, sprach mit der Unnachgiebigkeit einer Gewitterfront, die keinen Unterstand duldet. „Weißt du noch, wer dir den Job bei der Uni-Zeitung verschafft hat? Wer dir den Auftrag für die Apple Daily ermöglicht hat? Du schuldest mir etwas, Kwan.“
„Schulden auszusprechen steht dir nicht,“ entgegnete ich, bemüht, den Tonfall sachlich zu halten, als wäre es ein Gespräch über das Wetter. „Du weißt, dass ich mich nicht für Politik interessiere.“
„Ach, erspare mir deine Ausreden.“ Ihre Stimme war ruhig, aber gefährlich nah daran zu brechen. „Wenn sie gewinnen, wenn dieses Auslieferungsgesetz durchkommt, wird die CCP und ihre Marionetten jeden jagen, den sie kriegen können. Jeden. Auch dich, Kwan. Und das weißt du.“
Ich schwieg. Ihre Worte hingen schwer im Raum, wie Regen, der die Straßen hinunterrinnt.
„Warum zeichnest du Karikaturen, wenn du nicht an ihre Botschaft glaubst?“ Ihre Stimme war leiser geworden.
„Ich weiß nicht.“ Es war die ehrlichste Antwort, die ich geben konnte, und gleichzeitig die feigste. „Vielleicht bin ich mit der Zeit… etwas konform geworden.“
„Konformität steht dir nicht.“ Sie lehnte vor, als wäre damit alles gesagt.
„Ich brauche dich, Kwan. Keiner ist besser dafür geeignet als du.“
Ihr Blick hielt meinen fest, und mir wurde klar, dass es kein Entrinnen gab.
Ich hatte mich oft gut geschlagen, aber in diesem Moment, als ihre Hand auf meiner ruhte, wusste ich: Es gab keine Remis. Dieser Moment war einer, der gewonnen oder verloren werden musste.
Tage später saßen wir in einer Straßenbahn. Die Nacht lag wie ein Vorhang über Hongkong. Regentropfen glitten über die Scheiben und malten das Porträt einer Stadt, der eine unklare Zukunft bevorstand.
Eigentlich hätten wir die Uni besuchen sollen, doch die Hörsäle waren nicht voll – sie blieben leer. Zahlreiche Studenten hatten den Unterricht verweigert, viele andere hatten sich auf Telegramm zu Gruppen formiert, um ihre Stimmen zu erheben.
Kwan erinnerte sich an ähnliche Szenen, als 2014 die Regenschirm-Bewegung die Straßen eroberte. Damals hatte er von oben herab zugesehen und sich gefragt, warum all diese Menschen auf die Straßen strömten.
Doch diese Nacht unterschied sich.
Die Menschen, die an uns vorbeizogen, bildeten eine Masse, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Studenten, Geschäftsleute, Bürger – alle gekleidet in Schwarz, ihre Gesichter hinter Atemschutzmasken und Schutzkleidung verborgen, die Schirme als Schild. Nicht vor dem Regen, nicht vor der Welt, sondern für Demokratie und Freiheit.
Es war, als ob die Stadt selbst erwachte, wie ein lebendiger Organismus.
Regen fiel auf unser Haar, auf unsere Haut, als wir aus der Bahn stiegen. Ich erinnerte mich noch, wie sich die Schritte in den Pfützen widerspiegelten und Neonreklamen wie flackernde Erinnerungen uns vorbei zogen.
Mei-Yin hatte meine Hand gehalten und rannte, sie rief: „Sei wie Wasser”, bevor ich den Regenschirm aufmachen konnte. Wir rannten nicht vor dem Regen, sondern mit einer bestimmten Dringlichkeit weiter die Straßen entlang, bis wir uns im dritten Stock eines Hochhauses wiederfanden.
Dort trafen wir die anderen Mitglieder von „Die Artisten.”
Das Apartment roch nach einer Mischung aus süßlich-bitterem Rauch der Zigaretten und dem metallischen Duft frischer Druckfarbe.
Es war kein gewöhnlicher Wohnraum, sondern ein Ort des Schaffens, eine Werkstatt, in der Poster, Druckmaschinen und verstreute Skizzenblöcke wie Zeugen eines unermüdlichen, kreativen Prozesses wirkten.
Unsere Regenmäntel hatten wir hastig abgelegt, und die feuchte Kälte draußen wich der Wärme und dem Summen der Maschinen.
Die Gruppe wartete bereits – zehn Menschen, jeder eine eigene Collage aus schwarzer Kleidung, ungezähmten Frisuren und Talenten, jedes Detail ihrer Erscheinung eine kleine Inszenierung ihres Individualismus.
Anfangs sprachen sie wenig.
Ich war nervös, meine Hände leicht verschwitzt, doch die Anspannung wich, als der Abend fortschritt. Sie kannten meine Kunst. Das allein hätte genügt, mich zu überraschen, aber es ging noch weiter: Sie wollten mich – als Illustrator, als Teil ihrer Gruppe.
Ich erinnere mich, wie Mei-Yin sagte „Du hast eine Stimme“. In diesem Moment, in diesem Raum, zwischen Lob und Geschichten, begann ich genauer hinzusehen. Zum ersten Mal sah ich nicht nur die Linien und Farben, sondern das, was dahinter lag. Die Bedeutung. Bis dahin war meine Kunst eine Last gewesen, eine Sprache, die mich entblößte. Eine Sprache, die ich nicht sprechen wollte.
Und dann fiel der Druck von mir ab. Plötzlich. Wie ein Mantel, den man abstreift, weil er nicht mehr passt. Es war nicht Befreiung, nein, es war eher ein leises Erkennen: Sie hatten eine Stimme, meine Stimme. Eine, die ich selbst nicht kannte.
Hongkong. Meine Heimat. Eine Stadt, die mich gelehrt hatte, was Freiheit ist. Und eine Stadt, die sie verlor. Wie lange noch konnte ich zusehen, wie ein Regime alles verschlang? Alles, was uns ausmachte?
Jeder wusste es. „Ein Land, zwei Systeme“ – das war immer eine Lüge gewesen. Ein Pakt, den niemand ernsthaft eingehalten hatte.
Dann saß ich da, spürte, wie die Worte von mir flossen: „Ich bin bereit, für meine Heimat zu kämpfen.“
War es Wut? War es Patriotismus?
Ich wusste es nicht mehr. In diesem Moment war da nur eine Stille in mir, eine Klarheit, die ich nicht erklären konnte. Mei-Yin hatte mich erstaunt angesehen. Ich hatte zurück gesehen, als ob wir uns gegenseitig prüfen würden.
Da saßen wir, am Tisch, Pläne schmiedend. Welche Wände? Welche Botschaften? Wie viele Poster? Es war absurd und doch so klar wie die Gläser, die wir zum Anstoß erhoben.
Ich hatte gezeichnet. Karikaturen, die beißen konnten. Spott, der traf. Banksy fiel mir ein, ein Name, der in mir zu einer Art Symbol werden würde. Und bevor ich begriff, was wir da eigentlich taten, saßen wir in einem Transporter. Vermummt, bereit.
Der Motor brummte monoton.
Menschen zogen vorüber, Gesichter, die keine Rolle spielten, vereinzelte Autos, deren Ziel wir nicht kannten, und Protestierende, die unter Regenschirmen verschwanden.
Wir waren Passanten unter vielen, ohne Name, ohne Bedeutung. Die Stadt existierte, Häuser, Mauern, Fenster – alles in einem Zustand, der sich verschob.
Die Geschäfte schlossen, die alten Männer an der Bushaltestelle warteten und die Leuchtreklamen flackerten.
Kwan dachte an das Bild von früher und sah auf seine Uhr, ein Reflex, der nichts veränderte.
Die Bewegung nannte sich: Sei wie Wasser. Ein kluger Name. Klug, weil man nicht wusste, wo sie als Nächstes auftauchen würde. Die Polizei wusste es jedenfalls nicht. Aber wir wussten es, weil es Wege gab, Dinge zu wissen. Kontakte. Nachrichten auf Telegram, verschlüsselt, aber klar genug. Und so hatten wir beschlossen, unsere Karikaturen entlang dieser Straßen anzubringen, dort, wo die Proteste fließen würden. Warum? Weil die Bevölkerung aufgerüttelt werden musste. Weil die Studenten Unterstützung brauchten.
Ich erinnere mich an die erste Nacht, als wir von Straße zu Straße zogen, die Hände noch klebrig vom Leim, der Pinsel halb ausgetrocknet. Der Lärm der Proteste war da, irgendwo hinter den Fassaden.
Wir arbeiteten zu Fuß, Tiger saß im Wagen, die Straßen mit unermüdlichen Augen suchend.
Die Regeln waren klar, wie die Pfützen, die wir vermieden: keine Namen. Nur die Codenamen und der Protest für Hongkong zählten.
Sie nannten mich Jiā, und es war mir recht. Jiā, der Maler, der Experte. Ein Name wie ein Etikett. Mei-Yin, die den Abend über an meiner Seite geblieben war, hielt die Kamera wie ein Teil von sich selbst. Sie war die Linse, unser Auge in der Welt, fest entschlossen, Momente einzufangen, die Worte nicht beschreiben konnten.
Wir hatten ein Poster aufgehängt, eine einfache Handlung, die doch von Anfang an unter Verdacht stand. Die Gasse war eng, die Dunkelheit wie ein Mantel, der uns zu schützen schien, bis sie aus den Schatten traten. Polizisten. Schlagstöcke. Ihre Fragen waren keine Fragen. Sie waren Urteile. Was wir hier machten, wollten sie wissen. Ihre Blicke sagten, dass es keine Antwort geben konnte, die uns retten würde.
Wir lernten, bei Nacht zu rennen. Es war keine Kunst, sondern eine Notwendigkeit. Der Transporter war längst verschwunden, eine verpasste Möglichkeit, die uns hätte retten können.
Also rannten wir, Hand in Hand, blind, gehetzt, wie eine Maus, die vor der hungrigen Katze flieht.
Der Regen setzte ein, und wir liefen weiter, ohne zu spüren, wie er unsere Kleidung durchtränkte. Wir waren Bewegung. Wir waren Wasser. Wir wichen den Menschen aus, die Gesichter schemenhaft, gleichgültig, niemand fragte, niemand hielt uns auf. Mei-Yin hatte die anderen kontaktiert, Telegram, die einzige Sprache, die sicher war. Die U-Bahn war unser Ziel.
Als wir die Station erreichten, erwartete uns ein Bild des Chaos:
Die Station war ein Schlachtfeld. Studenten, Gesichter, die nicht mehr Gesichter waren, liefen. Eine Gruppe Männer in weißen T-Shirts, bewaffnet mit Baseballschlägern, schlug wahllos zu. Schreie. Der Geruch von Pfefferspray und Angst lag in der Luft.
Wir sahen, wie Studenten versuchten, in die Züge zu fliehen, und wie sie niedergeschlagen wurden. Blut auf dem Boden, auf den Wänden. Die Polizisten standen abseits, sahen zu, oder taten so, als wären sie nicht Teil dieses Bildes.
Mei-Yin machte Fotos. Welche die trafen und andere die schmerzten.
Ich erinnere mich, wie ihre Hände sich bewegten, ruhig, präzise, obwohl alles andere in Bewegung war. Wir zwängten uns hindurch, irgendwo öffnete sich ein Weg und wir nahmen die nächste Bahn. Türen schlossen sich. Niemand sah uns. Niemand hielt uns auf.
Später, auf Telegram, teilten wir die Bilder mit vielen anderen Studenten.
Die Antworten kamen schnell und mit düsteren Neuigkeiten: Die chinesische Mafia hatte ihre Männer nach Hongkong geschleust, um uns zu brechen, um Angst zu säen.
Während der Zug durch die Dunkelheit raste, fühlte sich der Triumph des Entkommens seltsam hohl an. Die Stadt war ein Schlachtfeld geworden, und jeder Atemzug schien ein Akt des Widerstands.
Ich erinnere mich an den Morgen, als wäre er noch in der Luft, wie ein Traum, der nicht entweichen will. Der Raum war von dieser seltsamen Stille erfüllt.
Mei-Yin lag neben mir, der Duft von ihr noch in der Luft, ihre Haut warm, als hätten wir die Zeit selbst gestoppt.
Wir kannten uns seit meiner Kindheit, die Bewegungen des anderen, die Worte, die nie ausgesprochen wurden – und doch, gestern Abend, in ihrer Wohnung, war etwas passiert, das uns auf eine neue Weise zusammengeführt hatte. Es war nicht das weiche Zerren einer romantischen Idee, sondern ein Moment, der uns in seiner Intensität überrollte, wie eine Welle, die man nicht zurückhalten kann.
Freundschaft, die plötzlich an den Rändern verfloss, übergangen von einer Leidenschaft, die wir nie gesucht hatten, doch die nun zwischen uns stand. Kein Traum, keine Verwirrung – vielmehr wie das plötzlich aufflammende Fieber eines Körpers, der sich nach der Hitze einer Nacht sehnt.
Wir hatten uns im Bett versammelt, nicht in einer Erregung, sondern in einer seltsamen Vertrautheit, die sich durch das Sprechen über gestern, über die U-Bahn, über Hongkong, in uns einschlich. Der Ventilator an der Decke hatte monoton gesummt, als wäre er der einzige, der wusste, dass der Moment sich verflüchtigen würde.
Mei-Yin hatte leise gefragt: „Glaubst du, dass es besser wird?”
Ich antwortete nach einer kurzen Pause: „Was genau?”
Sie schaute in die Dunkelheit, als suche sie nach den richtigen Worten. „Alles. Die Stadt. Die Menschen. Wir. Das Datum, das sie uns eingebrannt haben: 1. Juli. Ein Vertrag, fünfzig Jahre. Ein Versprechen, dass alles bleibt. Sie nannten es „eine Brücke“, aber niemand sagte, was auf der anderen Seite sein würde. Die Briten gingen, die Chinesen kamen. Und wir blieben, wie immer, irgendwo dazwischen.”
„Besser ist relativ. Was willst du damit sagen?” fragte ich.
Mit ruhiger Stimme antwortete sie: „Besser als jetzt. Besser als immer dieses Gefühl, dass alles, was du tust, irgendwo auf einer Liste steht. 2003 sagten sie, es sei notwendig: ein Gesetz für die Sicherheit, für den Schutz. Ein Gesetz gegen die Freiheit, dachten wir, und gingen auf die Straße. Eine halbe Million, das größte Menschenmeer seit langer Zeit. Ein Sommer der Schreie, der Hitze, der Hoffnung, dass wir noch etwas ändern können. Das Gesetz wurde zurückgezogen. Damals glaubten wir, das sei ein Sieg.”
Ich erinnerte mich, wie ich voller Bitterkeit gelacht hatte. „Du meinst, wie damals, als ich den falschen Kommentar auf Weibo geliked habe?”
Mei-Yin schaute mich scharf an, ihre Stirn legte sich in Falten. „Es ist nicht witzig, Kwan,” sagte sie.
„Nein, ist es nicht. Aber was soll ich sagen? Dass ich hoffe, es wird besser? Dass sie irgendwann aufhören?” antwortete ich ernst.
Sie sah mich an, als könne sie meine Gedanken lesen: „Und tust du das? Hoffen? Wie die Regenschirmbewegung vor fünf Jahren. Ich war da. Wir hielten Regenschirme über unsere Köpfe. Ein Symbol, sagten die Zeitungen, ein Schutz vor mehr als nur Regen. Sie nannten es eine Bewegung, aber es war ein Aufschrei. Peking entschied, wer kandidieren durfte, und wir entschieden, dass wir das nicht akzeptieren. Am Ende blieben Tränengas, gebrochene Zelte und inhaftierte Anführer, wie Jimmy Lai.”
Ich zuckte resigniert mit den Schultern. „Hoffen ist… wie die Buchhändler, die 2015 verschwanden. Einer nach dem anderen, lautlos. Wegen Bücher, die man nicht lesen sollte, Bücher, die die CCP fürchtete. Fand man sie nicht später in chinesischen Gefängnissen, mit gesenkten Köpfen?”
Mei-Yin legte ihren Kopf auf meine Brust. „Aber ohne Hoffnung? Was, wenn Kämpfen alles ist, was wir können? Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube, dass etwas bleibt. Etwas von uns. Von dem, wofür wir stehen.”
Ich strich sanft über ihre Haare und antwortete nachdenklich: „Damals fragte ich meinen Vater, ob man Worte auslöschen kann, ob das Erinnern verschwindet, wenn niemand mehr da ist, der es erzählt. Er antwortete mir indirekt, indem er auf die alljährliche Erinnerung an das Tian’anmen-Massaker am Victoria Park verwies.”
Mei-Yin nickte nachdenklich. „Es gibt also keine kostenlosen Revolutionen, wenn ich Stellung beziehe, dann bleibe ich standhaft.”
Ich stimmte ihr zu, mein Blick fest: „Ja, egal ob CCP oder Mafia. Wenn wir stehen, stehen wir.”
Das war das letzte Mal, dass ich Staunen in ihren Augen sah. „Ich hätte nie gedacht, diese Worte aus deinem Mund zu hören. Das wird die Revolution unserer Zeit,” sagte sie, und ihre Stimme war zugleich weich und entschlossen, wie der Kuss, der darauf folgte – ein Kuss, der versprechen wollte, was wir nicht aussprechen konnten.
Der Sommer verging, als wäre er eine Parabel, eine Geschichte, die man erst versteht, wenn sie vorbei ist. Ich lernte mehr über Mei-Yin und mich selbst, als ich ertragen konnte. Wir hatten uns verschworen, ohne dass wir es aussprachen, und verbrachten die Nächte mit den „Artisten“. Ein Wort, das alles beschrieb, was wir sein wollten: gewagt, frei, unbesiegbar. Die Abende wurden gefährlicher, die Tage stiller. Wir lernten, bei Nacht zu rennen und bei Tag zu schweigen. Vielleicht war es diese Passivität, die alles so viel schlimmer machte.
Am Anfang gab es Worte aus der Bibel. „Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, halte die andere hin.“ Wir hatten es geglaubt, weil wir glauben mussten. Aber über die Monate, als die Schläge härter und die Wangen zahlreicher wurden, war es nicht mehr möglich, daran zu glauben.
Wir erkannten, dass es nicht die Gewalt war, die uns zerstörte, sondern das Zuschauen. Die Welt sah uns zu, während Familien zerschlagen, Freunde inhaftiert wurden – ohne Hoffnung, ohne Antworten, nur die Stille hinter Zellentüren.
Dann kamen die ersten Flaschen. Hände, die noch am Morgen gezittert hatten, zündeten sie an. Rauch stieg auf, wurde zu einer zweiten Haut. Eines Abends verschanzten wir uns an der Polytechnischen Universität zusammen mit Hunderten anderen.
Draußen begann der Kampf – Flaschen gegen Pfefferspray, Barrikaden gegen Wasserfontänen. Wir standen auf den Dächern, in den Gängen, sahen in Gesichter, die zu jung waren, um so viel zu fühlen. Angst. Wut. Ohnmacht. Es waren keine Ideale mehr, die uns hielten, sondern die Bewegung, die nicht aufhören durfte.
Zwölf Tage lang spielten wir Katz und Maus mit der Polizei. Sie hatten Waffen, wir hatten Flaschen. Manche flohen, manche wurden erwischt. Andere blieben. Am dreizehnten Tag war nichts mehr übrig. Keine Barrikaden, keine Flaschen, nur wir – müde, ausgehöhlt, stumm. Mei-Yin war krank. Fieber brannte in ihrem Körper, doch sie wollte nicht aufgeben. Ich hielt sie in meinen Armen, als wäre das alles, was ich noch tun konnte.
Als die Polizei die Universität stürmte, war die Welt rot. Der Boden, die Wände, die Luft. Wir rannten. Mei-Yin stürzte. Ein dumpfes Krachen, ein Gummigeschoss, das seinen Weg fand.
Für einen Augenblick war die Zeit eingefroren, als hätte die Welt den Atem angehalten. Ihre Augen suchten die meinen, weit aufgerissen, voller Schmerz, voller Fragen. Ich wollte sie greifen, festhalten, doch die Masse riss mich fort, eine gnadenlose Flut aus Panik, Schreien, Tränen.
Ich sah, wie die Polizei sie mitnahm. Ihren leblosen Körper.
Ich schrie, doch meine Stimme verlor sich im Chaos.
Die Zeit danach war ein einziges Warten, ein Regen, der nicht enden wollte.
Wochen. Monate. Ich suchte sie in Gesichtern, in Polizeistationen, in Geschichten, die andere erzählten. Der Regen fiel, als ihr Vater mir sagte, sie sei wegen Randale und Vandalismus angeklagt worden. Ich hörte die Worte, aber sie bedeuteten nichts. Alles, was zählte, war, dass sie fort war.
Wahrscheinlich für Jahre, weil dies die höchste Strafe war, die Protestierende bekommen konnten.
Die Monate wurden zu einer Zeit ohne Bedeutung. Tag, Nacht, Glück – alles löste sich in Regen auf. Die „Artisten“ kämpften weiter, unsere Eltern auch, doch mit dem nationalen Sicherheitsgesetz am 1. Juli 2020 war alles verloren.
Die Demokratie, sie war gestorben. Proteste wurden zu Verbrechen erklärt. Journalisten wurden gejagt. Freunde verschwanden hinter Gittern. Auch ich wurde gesucht. Meine Eltern wussten, dass es vorbei war.
Tage später am Flughafen las ich die letzte Ausgabe der Apple Daily. „Wenn ein Apfel unter der Erde vergraben wird, werden seine Samen zu einem Baum, der größere und schönere Äpfel trägt.“ Es waren Worte, die größer waren als alles, was ich fühlen konnte.
Der Zug nach Oxford traf ein, Kwan schloss seinen Regenschirm und trat hinein. Tropfen glitten über glänzende Fliesen. Es waren keine Tropfen, die etwas wuschen, sondern solche, die die Melancholie noch schwerer machten. Stratford Station, ein Ort, zwischen Exil und Anfang, an dem Geschichten sich kreuzten, aufbrachen oder in der Eile verloren gingen.
„Sei wie Wasser“, hatte Mei-Yin damals gesagt. Sie hatte immer Antworten gehabt, er war nur eine Frage gewesen. Vielleicht war das der Grund, warum er sie liebte. Vielleicht auch der Grund, warum Kwan sie und seine Heimat verlor.
Stehst du mir gegenüber, dann siehst du geradewegs an meinem Gesicht vorbei. Zu sehr würde es durch das firm von dir gezimmerte Bildnis fließen, das du erschaffen hast. Es würde deine Vorstellung von mir erodieren, dreckig tropfen wie meine Spülmaschine, die ich immer noch nicht repariert habe. Es würde dich daran erinnern, dass ich Colagläser von McDonalds auf meinem Sideboard aneinanderreihe. Sähest du mein Gesicht, vielleicht würde dir einfallen, dass auch mein Vorderlicht am Fahrrad neue Batterien braucht.
Darum siehst du lieber meine Uniform. Die ist schwarz, so schwarz, wie auch meine Seele sein muss. Deshalb kannst du brüllen.
Ich mache es dir einfach: Ich darf nicht antworten, dir nicht in Widerrede gegenübertreten. Wie ein Warentrenner auf dem Kassenband folge ich dem Fluss, stehe stabil und aufrecht. Ich trenne dich von den Gegendemonstranten in meinem Rücken, bin die Burgmauer, an der deine Meinung und deiner Meinung nach auch Flaschen zerschellen dürfen. Burgmauern haben versteinerte Mienen.
Heute bist du laut. Ich frage mich, ob du gern auch leise bist, ob du stille Worte flüsterst und ob dir an manchen Tagen auch ein Schweigen reicht. Dein Gesicht sehe ich gut; vermummen darfst du dich ja nicht.
Die Sonne brennt erbarmungslos, heizt die Gemüter an. Vor dir verschmelzen meine Kollegen und ich zu einer sich auftürmenden Welle. Die Brandung zischt; Gischt steigt auf. Deine Freunde und du, ihr schnattert wie die Möwen. Ich bin wieder Wasserwachtler, stehe mit Sonnenbrille am Strand und warne vor der Strömung: „Zurück! Zurück!“ Der Mann zu meiner Rechten und der zu meiner Linken erinnern mich an die breiten Stämme eines Kais, unbeweglich, aber abgerieben, ausgehöhlt vom Salz, das korrosiv in der Luft liegt. „Scheiß Bulle!“, wogt heran, zerschellt an meinem Schutzhelm. Ich werde müde.
Immer häufiger frage ich mich, ob es richtig ist, dir ein Schild zu sein, wo du doch ein Schwert in mir sehen willst. Warum muss ich verteidigen, was mich nicht verteidigt? Schützen, was mir gegenüber keine Gnade kennt? Mein Eid ist mein Boden, auf dem ich stehe, aber du rüttelst an diesem Fundament. Du bist wie ein Pilz, der am Stamm des Baumes nagt, den er sein Heim nennt. Seine Heimat. Der ganze Wald ist krank.
Im Einsatz bin ich eine Nummer. HH 124259 für uns; 1312 für dich. Beim Anlegen der Ausrüstung werde ich zur Idee, gewinne an Kanten und Gestalt. Gleich einem religiösem Ritual stehe ich am Morgen mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und halte den Rasierer in meinen Händen. Vorsichtig, methodisch setze ich die Klinge am Kinn an, dort, wo die Gasmaske mich schützen soll, damit ich dich schützen kann. Ich lasse mir Zeit; allzu schnell folgen Hemd, Hose, die Jacke, die eine Nummer zu groß ist, damit die Weste darunter passt. Wenn ich sie aus dem Spind nehme und anlege, habe ich das Gefühl, mich in ihr verlieren zu können. Ganz zum Schluss drücke ich das Klett mit der Kennzeichnung fest, lege meinen Vornamen ab.
„Alster 20 für Abschnittsleitung City, kommen.“
Meine Hand findet den Kippschalter. „Alster 20 hört, kommen.“
„Einsatz für Sie bei den Kollegen in Rot – randalierender Patient im Zelt am Südeingang, kommen.“
„So verstanden; sind auf dem Weg.“
Ich bedeute meinem Kollegen mit einem Nicken in Richtung Platanen an, mitzukommen. Wir setzen uns in Bewegung, sehen bald das vergilbte Zelt mit großem rotem Kreuz vor uns und treten ein. Eine blaue Weste mit Klemmbrett versucht vergeblich, überall gleichzeitig zu sein, dirigiert ein planloses Paar Hände in Richtung Materialkisten und winkt uns wortlos dankend in ein muffiges Separee. Bis auf einen stämmigen Mittsechziger mit zusammengesunkenen Schultern und Augenringen ist der Bereich verlassen. Zusammengeknüllte Rettungsdecken liegen achtlos auf dem Boden, daneben ein Verbandpäcken, rot durchtränkt und mit der ehemals sterilen Seite nach unten. Ich atme durch die Nase aus und greife zum Notizblock.
„…knapp so groß wie ich. Der hatte hier einen blutenden Cut an der Schläfe.“ Er tippt sich mit dem behandschuhten Zeigefinger an den Rand seiner Stirn. „Hat schon rumgemault, als meine Kollegen ihn hergebracht haben. Wollte nur ‚dieses dumme Klammerpflaster‘“ – seine Zeigefinger umrahmen die Worte als Gänsefüßchen – „und dann schnell wieder weg.“
„Haarfarbe und Statur?“
„So ein dunkles Blond. Schlank, bisschen schlaksig.“
Der Schriftzug auf seiner Einsatzjacke spannt über seiner schnell auf- und abgehenden Brust und löst sich an den Seiten auf. In ungewohnter Eintracht teilen wir unsere Müdigkeit wie einen unausgesprochenen Witz, der nur durch unser gemeinsames Erleben an Sinn gewinnt. Das dem Ehrenamt üblichen Streben nach Aufregung und Gefahr teilt er hingegen nicht.
Seltsam deplatziert komme ich mir vor in meiner Ausrüstung. Wir sind wie ein Hammer, als wir die Personenbeschreibung und die Gefährdungsbeurteilung über Funk weitergeben. Bevor ich mich zum Gehen wende, spüre ich seine Hand durch die Uniform auf meiner Schulter.
„Danke, dass ihr da seid. Ich meine…“, setzt er an, zögert aber, weiterzureden. Er missversteht mein Schweigen als Aufforderung.
„…ich komme von drüben. Wir hatten das nicht. Die Chaoten sind halt scheiße, aber… Ja. Sind halt scheiße.“ Die letzte Pause wirkt geladen. Vermutlich sieht er, wie sich im Licht der Halogenscheinwerfer seine Gesichtszüge in meinem Visier spiegeln. „Ich weiß, ich weiß“, murmle ich und nicke ihm zu.
Wie Puzzlestücke setzen wir uns als Steine wieder in die Mauer ein. Mein Nebenmann ist ausgetauscht worden, schubst zurück. Die Sonne senkt sich hinter den Häuserdächern herab und taucht den Abend in Pastell und leuchtendes Orange.
Ich besehe dich genauer. Du bist des Brüllens müde geworden, drängst voran und schlägst. Du trägst Brille, eine dreckige Arbeitsjacke und wahrscheinlich auch einen Vornamen.
Es ist der Juni 2016.
Die Schule meines Örtchens hat einen üblen Ruf, also bin ich mit sechzehn ein Dauerpendler. Hanau ist keine Wahlheimat, aber hat schon seine Vorzüge.
PoWi gehört nicht dazu.
»Artikel 8 klingt auf den ersten Blick nicht so spannend.«
Heute auch auf den zweiten Blick. Die Sonne klopft an die Fensterscheiben unseres Klassenzimmers. Draußen wartet das Gras frischgemäht, wiegt friedlich im Wind. Drinnen steht Herr K. an der Tafel. Um uns zu umzustimmen, greift er tief in sich hinein. Mit einem lebhaften Funkeln in den Augen erzählt er davon, wie er in unserem Alter gegen Atomkraft demonstrieren gegangen ist. Hat den Protestmarsch sogar mitorganisiert. Hat sicherlich davon ein Gruppenfoto. Nach dem Stolz in seiner Stimme zu urteilen, hängt es eingerahmt in seinem Büro. Sicherlich blickt er alle paar Tage auf diese Wand und nickt. Eine seiner spaßigsten Erinnerungen. Mir schlechte mündliche Noten aufzudrücken ist die einzige andere Aktivität, die ihm je so viel Freude bereitet hat. Prompt kehrt er zum Herunterbeten zurück. Rechte, Freiheiten und Pflichten in 90 Minuten minus Fünfminutenpause. Die persönliche Anekdote krabbelt in meinen Hinterkopf, die Begriffe bleiben aber bloß Umrisse. Die Klingel. Endlich! Mir läuft der Speichel. Pommes in der Mensa und grüne Flecken auf meinen neuen Sneakern erhoffe ich mir für meine Zukunft. Kann es kaum erwarten.
Es ist der Juni 2019.
There is no Planet B.
Eine wahrscheinlich spontane Entscheidung. Studenten haben freitags immer Zeit. Nicht unweit von meinem neuen Campus kaue ich am schiefen Fingernagel meines kleinen Fingers. Klarer Himmel. Nicht zu warm. Das Wetter ist auf unserer Seite, die Klimaentwicklung nicht. Meine erste Demonstration. Angespanntes Warten trifft auf ein Musikfestival für die ganze Familie. Putzige »Omas gegen Rechts« winken ebenso putzigen Kleinkindern, die auf den Schultern ihrer Väter eindösen. Der Kreislauf des Lebens ist geschlossen. Irgendwo muss ich eine Lücke in meiner Größe finden. Zu viele Köpfe zum Zählen und dazu kenne ich niemanden. Hinten schwebt der Globus schon, während vorne das große Transparent zur Rettung des Stadtwalds noch über den Boden schleift. In der Mitte wabert ein Beat aus einem Lautsprecher. Die Schilder der Grundschüler wippen eifrig mit. In schief und bunt: Dinosaurier dachten auch sie hätten Zeit. Glitzer rieselt. Hätte ich mir auch einen cleveren Spruch gebastelt. Was sollen meine Hände jetzt machen? Die überschüssige Energie wandele in gemächliche Schritte um.
»What do we want? Climate Justice!«, brüllen die alten Hasen voller Selbstbewusstsein. Etwas Zeitverzögerung und die Küken kratzen all ihren Mut zusammen. Frage. Antwort. Meine Stimmbänder schlurfen dem Zug hinterher. Selbst in dieser wackligen Geräuschkulisse geht mein Murmeln unter.
Wie ein Wink des Schicksals treffen vor meinen Augen fünf Plakate zusammen, kommen zum Konsens: Eure Klimapolitik ist ein Witz aber keiner lacht.
Mit jeder weiteren Silbe beginnt sich meine Zunge zu lösen. Ich habe einen neuen Aggregatszustand entdeckt, eine neue Stufe der Anwesenheit. Eine Euphorie setzt ein. Größer können meine Augen nicht werden. Scheiße, dem Hitzekollaps entgegenzusehen hat noch nie so viel Spaß gemacht.
»Es gibt kein Recht auf Kohlebagger fahren!«
Uns doch egal, wie albern es klingt. Allein bin ich klein. In der Masse formen wir ein großes Wesen. Donner kündigt es an. Klarere Blick auch ohne Blinzeln. Der Körper furchtlos, die Gliedmaßen beständig mit stabilen Knochen. Seine Pupillen überragt die Banken, starrt sie nieder. Was wollen die da drin machen? Ein passiv-aggressives Post-It im Fenster? Unsere Konten einfrieren?
»When do we want it? Now!«, fordert das Wir, weil wir Recht haben.
Dort oben hört und sieht man uns. Dieser Moment fühlt sich echter als echt an. Wir laufen mitten auf einer leergefegten Straße. So leben also Autos. Hier könnte ich ein Haus hinbauen. Die Ampeln schalten auf Rot und wir bleiben nicht stehen.
»Motor aus! Motor aus!« begleitet von Trommeln.
Die Autofahrer müssen vor dem Gesetz kapitulieren und uns ziehen lassen. Dem Hupen würdigen wir nicht mal ein Zucken. Veränderung ist noch nie so greifbar. Ich bekomme ein Stück des Transparents zwischen meine Finger. Wenn man alle Proteste heute zusammennimmt, würden im Bundestag die Trommelfelle platzen. Schulter an Schulter teilen wir uns die Verantwortung. Von ganz vorne steht uns die Großstadt offen. Aus der glatten Schlucht der Hochhäuser rast eine scharfe Böe auf uns zu.
Es ist der Februar 2020.
Mein politisches Wesen ist reaktiviert. Doomscrolling gleicht einem Koma. Es war eine Pushnachricht, die meiner Schlaflosigkeit eine Begründung gab.
Ich konnte es nicht glauben. Ausgerechnet Hanau? Mein Daumen blutet vom Kauen, tropft auf meine Bettdecke. Der einzige körperliche Schaden auf meiner Seite, mein Handy der einzige Kratzer in meinem Sicherheitsgefühl. Ich kann aber nicht zur Seite springen, wenn mich die Motorhaube schon gestreift hat. Der Kratzer weitet sich zum Krater.
Ein Tag nach dem Terroranschlag findet die Mahnwache statt. Ich muss da sein. Selbstverständlich. Auf dem Hanauer Marktplatz fließt alle Machtlosigkeit zusammen. Ich lungere am Rand wie es sich für einen entfremdeten Bekannten gehört. Die Midnight Bar ist in Laufreichweite. Für einen Mittelschüler war sie das visuelle Highlight des Heumarkts. Ein fürs Tageslicht unzugängliches Mysterium permanent in Shisharauch gehüllt. Irgendwie erwachsen, irgendwie cool. Für mich ein einschüchternder Monolith, bis der schwarze Kasten mit der Volljährigkeit seine Anziehungskraft verloren hatte. Die Arena Bar war etwas weiter weg. Wenn man nach der Schule die Direktverbindung zum Hauptbahnhof verpasst hat, fuhr man mit dem Bus 10 an ihr vorbei. Für die eine Sekunde mehr Bildschirmzeit wandten sich meine Augen immer rasch von ihrer Fassade ab. In den Fotos erkenne ich sie trotzdem sofort wieder. Das Schild in einem Rot, dass gefühlt schon seit Anbeginn der Zeit ausgeblichen war. Schnörkelfont eines alten Spielautomaten. Interessant für seine Stammbesucher und niemand anderen. Beide Gebäude wiesen die Aufmerksamkeit von sich weg, versuchten sich vergeblich vor der Außenwelt zu schützen.
Jetzt stehen wir alle in der Kälte, die die Nacht des 19. zurückgelassen hat. Belanglose Reden plätschern über uns hinweg. Hanaus Oberbürgermeister. Ministerpräsident. Bundespräsident. Altbekannte Mienen aus Verpflichtung hier – so wie ich.
Schweigen.
Der Faden ist gespannt. Die Mundwinkel zwinge ich still. Reicht die Betroffenheit in meinen Augen aus? Kreisende Gedanken fressen weiter an der Gravitas, aber keines unserer Gehirne kann einfach abschalten. Das hier ist eine kollektive Runde ununterbrochenes Nachdenken. Selbst die Statue der Brüder Grimm grübelt vergeblich. Beide trauen sich nicht, uns in die Augen zu sehen. Dunkelheit bricht an, Nieselregen folgt. Die Übergangsjacke ist zu bunt, aber nützlich. Auf Anraten des Wetterberichts schneidet mir mein entbehrlichstes Paar Turnschuhe in die Füße.
Horchen. So viele Menschen an einem Ort lässt die Furcht am Rückgrat picken. Eine weitere Tragödie ist vielleicht nur eine Person entfernt. Die ersten Sekunden springen die Blicke von Ecke zu Ecke, legen sich schon eine Fluchtroute zurecht. Irgendwann löst sich die Sorge in der anhaltenden Stille auf. Nun avanciert Atmen zum größten Risiko. Ein Husten und die Andacht liegt in Scherben vor uns. Die Schweigeminute darf nicht auch noch geraubt werden. Mit welchen anderen Gedankengängen soll ich die Stille füllen? Das frage ich mich bei jeder Beerdigung. Wird sich die Wunde schließen? Mein Daumen tropft auf den Boden.
Es ist der Februar 2024.
So wenige Masken zu sehen, fühlt sich immer noch falsch an.
»Nehmt euch Schilder, wenn ihr sie braucht«, ruft einer der Ordner.
Auf der Vorderseite stehen die Namen der Opfer, ihre Gesichter daneben. Ich entscheide mich für Mercedes Kierpacz. Ich bin eine Frau, vielleicht habe ich mir deswegen ihren Namen eingeprägt. Es ist heute auch ihr vierter Todestag. Eine Gedenkdemo für sie und die anderen Opfer. Eine Sprecherin der Opferinitiative hatte bei der Anti-AFD-Demo letzten Monat darauf aufmerksam gemacht. Langsam akzeptiere ich, dass das nachhaltige Aufrütteln des Status Quos wohl allein Protesten vor meiner Geburt vorbehalten sind. Dennoch stelle ich meinen Körper bereit, damit die Zahlen im Regionalfernsehen ermutigend klingen. Demonstrieren ist die kleinste Sache, die man machen kann. Wohl immer und immer wieder machen muss. In einem AFD-Deutschland möchte ich keinen Körper haben. Wirklich ein Glück, dass ich an beiden Terminen teilnehmen kann. Mit dem Schild in der Hand erfüllt mich die Wehmut. Diese Menschen können wir nicht mehr beschützen, aber hier können wir zumindest sicherstellen, dass die Schilder mit ihren Namen unversehrt bleiben.
»Hanau war ein Mord! Widerstand an jedem Ort!«
Die Menschenmenge ist durchzogen von ihren Gesichtern. Mercedes sticht heraus. Sie ist die Einzige mit einer Sonnenbrille. Vielleicht war das ihr Lieblingsaccessoire, etwas mit dem sie sich wohlfühlte. Vielleicht war es das Foto, das ihre Familie am meisten von ihr mochte. Vielleicht war es einfach das Erste, das zur Hand war. In einer besseren Welt wäre Mercedes eine unbekannte Lebende geblieben. Ich wäre, ohne es zu bemerken, an ihr vorbeigelaufen und sie an mir.
»Ganz viel Polizei und keine Gerechtigkeit!«
Ich stimme mit ein. Unser Polizeirevier hatte seinen eigenen Nazi-Chat. Wir werden von Balkonen aus gefilmt, von den Seitenstraßen aus angestarrt.
»Nazis morden, der Staat schaut zu, Verfassungsschutz und NSU!«
Auf der Mitte der Strecke verrennt sich die Stimmung. Wir laufen für die, die es nicht mehr selbst tun können, doch verheddert sich die Menge in Small Talk. Ein paar bauen Zigaretten zusammen, andere greifen gleich zur Vape. Eine Mutter drückt ihren Kindern Streifen Gummisnacks in die Grabbelhände. Vor dem Schloss Philippsruhe winkt uns eine Braut aus ihrer Traumwelt zu. Kurzer Applaus fürs frischvermählte Paar.
»Ihr habt doch auch am Rand einer Demo geheiratet“, schwelgt die eine Oma gegen Rechts zur nächsten.
Die Blumen an den Gedenkorten sind frisch. Die Opferinitiative hat ihr eigenes Gebäude, eine selbstgewählte Erinnerungsstelle. #saytheirnames hängt in großen Buchstaben darüber.
Unsere Rufe ziehen sich durch die Stadt:
»Wo, wo, wo warst du in Hanau?«
Ich war nicht in Hanau. Meine Gedanken waren in Hanau.
Bei der Kundgebung kommen alle Sprechchöre zusammen. Wieder der Marktplatz, wieder Reden. Nicht die üblichen Gesichter, sondern Menschen, denen die Bühne unangenehm ist. Der Vater eines der Opfer entschuldigt sich für sein Deutsch.
»Brauchst du nicht!«, versichert ihm ein Fremder aus dem Publikum.
Die Glocken des Rathauses bimmeln munter neben einer Frau, die grade darüber berichtet, wie der Leichnam ihres Cousins nicht zur Familie nach Rumänien gebracht werden konnte.
»Der Friedhof ist unser Wohnzimmer geworden.«
Wie verpackt man seine eigene Realität in verständliche Stücke? Das für einen Offensichtlichste ausbuchstabieren?
»Sie sind nicht nur Opfer, sondern auch Familienmitglieder und Mitglieder ihrer Communities, die von uns genommen wurden.«
Alle Mühe liegt dort vorne bei den Angehörigen. Organisation der Location, der Mikros, der Lautsprecher, damit man sie endlich hört. Was bieten ich ihnen im Gegenzug? Bloß verständnisvolles Nicken. Ich gebe einen miserablen Seelsorger ab.
Forderung nach Aufklärung, ihre Warnung vorm Rechtsruck, ihre Sorgen für die Zukunft. Wir dagegen umklammern vor allem das Emotionale und das Persönliche.
»Sie war meine erste Tochter. Sie war ein Traumkind vom Anfang bis zum Ende.«
Tränen sind ein Privileg von uns Zuhörern. Leute legen ihre Köpfe auf die Schultern ihrer Nachbarn.
»Er hatte immer gesagt: Man ist erst tot, wenn man vergessen wird.«
Ertappt schaue ich weg, suche nach den anderen Gesichtern in der Menge. Nach all den anderen Namen, die mir entfallen sind, und den Menschen, die zu ihnen gehörten. Gökhan, Sedat, Said Nesar, Hamza, Vili Viorel, Fatih, Ferhat, Kaloyan. Als die letzte Rede verklingt, platziere ich Mercedes‘ Schild in die offene Ikeatüte des Ordners. Ihr Gesicht gehört nun wieder allein ihren Hinterbliebenen, steht für das nächste Gedenken bereit.
In vier Jahren werde ich nochmal hier stehen wie der Tourist, der ich bin.
Akteure und Inhalt der nachfolgenden Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen oder Begebenheiten sind rein zufälliger Natur.
Herr Johannes Holzscheit, dessen erster Bediensteter ich mich seit nahezu zwei Jahren nennen durfte, rühmte sich dafür, ein herausragender Gastgeber zu sein. In der Tat erregten seine privaten Diners und Banketts nicht nur die Begeisterung seines erlesenen Publikums, sondern durchaus auch das Wohlgefallen meines professionell geschulten Auges. Er legte Wert darauf, nicht nur kleine Gesellschaften, sondern auch einzelne Gäste zuvorkommend zu bewirten, und um gerade im informellen Teil des Abends eine weitläufige Menge verschiedener Geschmäcker bedienen zu können, verfügte er für einen Privatmann über ein beeindruckendes Spirituosenkabinett. „Lieber Hubert, hast du Lust, etwas Neues zu probieren? Es wird dir gefallen!“, sagte Herr Holzscheit, und präsentierte mit einer ausladenden Handbewegung die mannshohe Eichenvitrine, hinter deren Glastüren er seine wohl kurierte Sammlung verwahrte. „Herrmann, bring uns den Ararat.“ Ich entnahm dem obersten Regal eine bauchige Flasche goldbrauner Flüssigkeit, füllte zwei Gläser mit exakt vier Zentilitern des nach Pfirsich und Vanille duftenden Branntweins, und servierte sie den beiden Männern, die sich am Tisch des Rauchzimmers gegenübersaßen. Geschwind nahm ich meinen Platz neben der walnussvertäfelten Flügeltür wieder ein. Von hier, aus dem Schatten eines Bücherregals, in dem ich dezent und unauffällig verweilte, konnte ich Herrn Holzscheit jederzeit bei Bedarf zur Verfügung stehen, ohne dass die Intimität des Treffens unter meiner Anwesenheit leiden würde.
Aufmerksam beobachtete ich meinen Arbeitgeber. Dieser hatte das Cognac-Glas aufgenommen, schwenkte es gegen das Licht, und betrachtete weltmännisch das Muster des Schlierenzugs, der sich an der durchsichtigen Wand der Tulpe bildete. „Hubert, den hier wirst du mögen. Das ist ein Brandy, Ararat heißt er, kommt aus Armenien. Die Flasche ist zwanzig Jahre alt. Es heißt, dass Josef Stalin zur Konferenz von Jalta eine Flasche Ararat mitgebracht hat, und dass der alte Säufer Churchill von dem Geschmack so beeindruckt war, dass bis zu seinem Tod auf die persönliche Anweisung des Obersten Sowjets jährlich 400 Flaschen von dem Zeug in die Downing Street geschickt wurden, Eiserner Vorhang hin oder her. Probier mal!“ Der Gast roch prüfend an seinem Glas, nahm einen vorsichtigen Schluck und verzog sein Gesicht. „Ach Johannes, du weißt, für mich geht nichts über ein gutes Weizen“, antwortete er mit langsamer, tiefer Bassstimme in breiter bayrischer Mundart. Herr Hubert Meerhufer war kein seltener Gast des Hauses, und nach einem Diner mit vier bekömmlichen Gängen hatten sich die Herren zum Kartenspiel in das Rauchzimmer zurückgezogen. Die Weinbegleitung und das Digestif hatten dem Abend bereits den ohnehin nur schwachen Schein der Förmlichkeit genommen, sodass sie sich breitbeinig und mit gelockerten Krawatten in die lederbezogenen Designer-Stühle fläzten. Aus Rücksicht auf den geruchsempfindlichen Gast verzichtete Herr Holzscheit auf seine sonst übliche südamerikanische Zigarre.
Anders, als ich es von meinen vorherigen Arbeitgebern gewohnt war, spielte man im Hause Holzscheit selten Roulette, Poker, Skat oder gar Schach, um den informellen Teil einer Zusammenkunft zu begehen. Herr Holzscheit hatte eine andere Leidenschaft, die in ihrer Kindlichkeit nur schwer zu dem sonst so seriösen Mann passte, dem man mit den breiten Schultern, dem brünetten Kurzhaarschnitt und der Hornbrille sowohl seinen einstmaligen Beruf als Bankangestellter wie auch den des gewählten Volksvertreters problemlos abnahm: Herr Holzscheit liebte das Trumpf-Quartett. Keine Thematik war ihm zu obskur, und weil man seinem in Rhetorikseminaren geschliffenen Charme nur schwerlich etwas abschlagen konnte, war ihm schon so mancher hohe Herr im Spiel unterlegen, da sein Landtier eine geringere Höchstgeschwindigkeit oder sein Wolkenkratzer ein älteres Baujahr als das Exemplar aufwies, welches Herr Holzscheit ins Feld führte. Herr Holzscheit gewann oft, aber nicht so oft, dass es seinem Gegenüber die Freude am Spiel verdarb, denn da erwartungsgemäß kein Gast zu einem Abend in der Zehlendorfer Villa eines der mächtigsten Männer dieses Landes ein Quartettspiel mit sich führte, spielte man mit den Karten des Hauses. Und diese kannte Herr Holzscheit selbstverständlich auswendig. Ich glaube, dass dieser Kniff, mit dem er die Spiele des Abends mehrheitlich gewann, auch erklärte, warum er in der Politik so erfolgreich war: Die Kreativität der Winkelzüge, mit denen er sich Vorteile verschaffte, spielte in ihrer eigenen Liga.
Doch am heutigen Abend hatte Herr Holzscheit einen Gegner geladen, der selbst ein erfahrener Veteran der Taktiererei und nicht minder ehrgeizig als sein Gastgeber war. Und so hatte Herr Meerhufer, hinter dessen behäbig-bayrischer Physiognomie und der Vorliebe für Hefeweizen sich ein ausgemachtes und leicht nachtragendes Schlitzohr verbarg, mit schelmischem Grinsen in die Tasche seines Jacketts gegriffen und ein transparentes Plastikdöschen mit Spielkarten auf den braunen Nussbaumtisch gelegt, als Herr Holzscheit wie gewohnt fragte, ob man nicht „zur Abwechslung“ eine Runde Quartett spielen wolle. „Das trifft sich ja gut, dass du das fragst, ich hab grad eins für die Enkelin bestellt gehabt, aber es sind zwei geliefert worden. Wollen wir das hier spielen?“ Herr Holzscheit, dessen Fähigkeit, eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen, mich immer wieder beeindruckte, ließ sich von der gutmütigen Nonchalance, in der der Bayer ihm durch die Blume sagte, seine Taktik sei restlos durchschaut, keinen Augenblick aus dem Gleichgewicht bringen. Er sagte, dass dies ja eine willkommene Überraschung sei und er sich freue, aber seine leicht angespannten Kiefermuskeln beim Blick auf das Kartenspiel verrieten mir, dass er es nicht kannte. Er würde ohne den Vorteil des Hauses spielen müssen. „Johannes, das Thema wird dir gefallen. Als ich das gesehen hab, hab ich mich gewundert, wer denn auf solche Ideen kommt, aus so einem Schmarrn ein Quartett zu machen. Aber dann dacht ich, ist schon recht, so kann man den jungen Leuten die Politik vielleicht auch nahebringen, und zu uns passts ja wirklich hervorragend. Also, spielen wir! Ich teil aus.“
Herr Meerhufer mischte das Deck und begann zu geben. Das Quartett-Thema war in der Tat etwas ungewöhnlich, aber lag im Vergleich zu so mancher Kuriosität der Holzscheit’schen Quartettsammlung in Sachen Sonderbarkeit eher im Mittelfeld. Die Zahlen und Fakten, mit denen sich die Spieler am heutigen Abend messen würden, bezogen sich ausgerechnet auf deutsche Gesetze. Herr Holzscheit fischte das Plastikdöschen vom Tisch und las die Regeln des Spiels von der Rückseite vor. Auf jeder Karte waren vier Kategorien abgedruckt: Zuerst der Rechtsbereich, in dem das Verfassungsrecht in absteigender Reinfolge das Strafrecht, Öffentliche Recht und Zivilrecht stach; dann folgten das Datum des ersten Inkrafttretens (alt schlug jung), die Anzahl der Paragraphen und Absätze (hoch schlug niedrig), und schließlich das Datum des Inkrafttretens der letzten Gesetzesänderung (jung schlug alt). Die Sonderregel, die den Vergleich in den Kategorien immer übertrumpfte, verlieh dem Spieler den Stich, dessen Gesetz das des Anderen direkt einschränkte oder gar aushebelte. Ich konnte mir als in den letzten Jahren unfreiwillig gereifter Quartett-Connaisseur ein leises anerkennendes Pfeifen nicht verkneifen: Der Spielmacher deckte mit seinen Kategorien die gesamte Bandbreite von leicht verständlich für milde Interessierte bis überkomplex für Fachidioten ab, und mit der Sonderregel verlieh er dem Spiel gewieft eine zweite Ebene. So fand ich es durchaus schade, dass aufgrund seiner unglücklichen Themenauswahl kein breiteres Publikum in den Genuss seiner spielerstellerischen Versiertheit kommen würde. Letzte Zweifel daran, ob Herr Meerhufer das Spiel tatsächlich für seine Enkelin gekauft hatte, waren jedenfalls restlos ausgeräumt.
Die Kontrahenten beäugten sich gegenseitig über ihre Kartenstapel, deren Rückseiten über und über mit schwarzen Paragraphenzeichen bedruckt waren. Herr Meerhufer, der als Geber auch die erste Trumpfkategorie benennen durfte, brütete kurz über seiner Auswahl, und sagte dann entschlossen: „Ich spiele Rechtsbereich: Strafrecht! Was hast du?“ Herr Holzscheit schob seufzend seine Karte über den Tisch und sagte: „Einen langweiligen Schuldrechtsparagraphen aus dem BGB. Der geht an dich.“ Herr Meerhufer verstaute den Stich auf der Rückseite seines Stapels, sein Arsenal neben der Üblen Nachrede nun auch um die Leistung nach Treu und Glauben reicher wissend. Seine nächste Karte betrachtete er nur kurz, bevor er ausrief: „Ha, hier ists klar. Ich spiele das Datum des ersten Inkrafttretens: April 1920!“ Siegessicher klopfte er mit dem Einkommenssteuergesetz auf den Tisch und streckte seine Hand aus, um seine erbeutete Karte wie eine Kollekte von Herrn Holzscheit zu empfangen. Dieser roch betont entspannt an seinem Glas Ararat und sagte schließlich, nachdem er sich genüsslich einen Schluck des Branntweins genehmigt hatte: „Aller Achtung, da hast du ein ganz schön altes Stück Legislaturgeschichte ausgegraben. Ich wäre an deiner Stelle sicher auch guter Dinge, aber muss dich leider enttäuschen. Liebe Grüße aus dem Kaiserreich!“ Mit diesen Worten reichte er seine Karte an Herrn Meerhufer. Der hielt sie sich dicht vor die Augen, inspizierte sie und sagte anerkennend: „Donnerwetter, da hast du aber Schwein gehabt. Das Unfallversicherungsgesetz von Bismarck! Ich bin bis heute überzeugt, dass der im Herzen ein Bayer gewesen sein muss.“ Herr Holzscheit ignorierte diese im Dienst eines überbordenden Lokalpatriotismus stehende Geschichtsklitterung geflissentlich und kassierte seinen gewonnenen Stich. Beim Blick auf seine nächste Karte kratzte er sich zunächst lange am Kopf, dann sagte er stirnrunzelnd: „Also diese hier ist echt ein Rohrkrepierer. Ich versuche es mal hiermit und spiele das Inkrafttreten der letzten Änderung: 01. Januar 2019.“ Herr Meerhufer reichte ihm kopfschüttelnd seine Karte hinüber: „Der meckert hier über den Rohrkrepierer und beleidigt damit seine eigene Arbeit – Januar 2019! Dann haben wir das doch vor kurzem erst geändert. Welches ist es denn?“ „Ach, eine der Nachbesserungen an der Mietpreisbremse, in die uns der Bundesgerichtshof mit seinen Entscheidungen ständig reinredet“, antwortete Herr Holzscheit. Herr Meerhufer entgegnete aufgebracht, als ob man ihn persönlich beleidigt hätte: „Und mit so einem Schmarrn klaust du mir den schönen Vertragsfreiheitsparagraphen aus dem BGB. Als wir den zuletzt angefasst haben, da war ich noch Abgeordneter! Diese depperte Mietpreisbremse…es ist wirklich a Kreuz, im Bund mit den Sozen zu regieren.“ Zustimmend erhob Herr Holzscheit sein Glas und sagte: „Darauf trinken wir. Prost!“ Hell klirrten die Cognac-Gläser beim Anstoßen, und Herr Meerhufer verzog sein Gesicht schon nicht mehr so stark wie nach seinem ersten Schluck. „Siehst du, Hubert, ich wusste doch, dass der Ararat auch dir eingefleischtem Maßtrinker gefallen wird! So, weiter geht’s. Ich hab hier als nächstes was aus dem Strafrecht. Was hast du?“
Die noch leicht säuerliche Miene des Bayern erhellte sich, als er auf seine nächste Karte blickte. „Deinen Strafrechtsparagraphen kannst du mir schön rübergeben. Auf meiner Karte steht nämlich der allerschönste Satz eines jeden deutschen Gesetzbuchs!“ „Das Diätengesetz ist aber Öffentliches Recht“, antwortete Herr Holzscheit mehr scherzhaft als ernst. Herr Merrhufer polterte los: „Natürlich hab ich nicht das Diätengesetz, du Hundsfott, elendiger. Ihr jungen Leute habt immer nur das Geld im Kopf. Was kann schnöder Mammon schon ausrichten gegen –“. „Die Würde des Menschen ist unantastbar! Ich weiß doch. War nur ein Scherz. Kein Grund, das Vertrauen in meine Generation zu verlieren, alter Knabe“, fiel ihm Herr Holzscheit ins Wort, und reichte seine Karten mit dem Schwangerschaftsabbruchsparagraphen über den Tisch. „Alter Knabe, alter Knabe“, grummelte Herr Meerhufer, während er seine nächste Karte beäugte. „Der alte Knabe bittet dich jetzt erstmal zur Kasse. Fortuna belohnt meinen langjährigen Dienst am Volk direkt mit dem nächsten Grundgesetzartikel. Ich hab ja einen richtigen Lauf! Ich spiele Rechtskategorie – Verfassungsrecht. Erst die Menschenwürde, jetzt die Versammlungsfreiheit, so lob ich mir das!“ Herr Holzscheit, der schon im Begriff war, dem Gegner auch seine nächste Karte zu reichen, hielt inne. „Wie bitte? Welche Karte hast du?“, fragte er. „Grundgesetz, Versammlungsfreiheit, sag ich doch!“, antwortete Herr Meerhufer und las vor: „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 8. Absatz 1: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ „Kenne ich“, entgegnete Herr Holzscheit, „lies gern weiter!“ „Absatz 2: Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt…“, las Herr Meerhufer und stockte, denn plötzlich dämmerte es ihm.
Herr Holzscheit blickte noch einmal auf seine Karte und sagte dann süffisant: „Grundrecht hin oder her, deine Versammlungsfreiheit kann also durch bestimmte Gesetze eingeschränkt werden. Und wenn ich mich recht erinnere, dann hat unser Spiel just für solche Fälle eine Sonderregel – der Spieler gewinnt, dessen Gesetz das des Anderen beschränken oder sogar ganz entkräften kann, Bewertungen in den Kategorien hin oder her. Und dreimal darfst du raten, welches unscheinbare Gesetz ich gerade in der Hand halte!“ Mit einem Siegerlächeln lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. „Ich muss sagen, dieses Quartett ist wirklich gut gemacht! Und du sagtest, es ist für deine Enkelin?“ „Himmel, Arsch und Zwirn, macht der hier Kapriolen! Ja sag mir doch, was du hast, woher soll ich das denn wissen!?“, rief Herr Meerhufer aufgebracht und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Eine Spezialität meines Hauses, lieber Hubert. Das Infektionsschutzgesetz! Du weißt natürlich, dass ich als überzeugter Demokrat und Kraft meines Amtseids ein glühender Verteidiger unserer Grundrechte bin, die Versammlungsfreiheit eingeschlossen. Aber sollte – Gott bewahre! – der Rattenfloh uns wie im Mittelalter wieder mit seiner Seuche überziehen, oder nochmal auf irgendeiner Farm im amerikanischen mittleren Westen ein Grippevirus mutieren, und die Bürgerinnen und Bürger drängen trotz unseres Flehens und Bittens weiter zueinander, veranstalten Firmenjubiläen, Hochzeiten, Volksfeste, Märkte, Geburtstagsfeiern, Konzerte und Demonstrationen, auf denen sie sich anfassen, anhusten, anniesen, anspucken, wenn nicht sogar küssen – kurz gesagt, auf denen sie die Plage verbreiten: Dann waren wir umsichtig genug, uns einen Hebel gegen ihre Unvernunft zu schaffen, und können deine liebe Versammlungsfreiheit einschränken, wenn der Schutz der Gesundheit dies alternativlos macht. So leid es mir auch tut. Deshalb – rüber mit der Karte!“
Herr Meerhufer grummelte verdrießlich: „Das ist ja eine Sauerei, wie du mit dieser vermaledeiten Sonderregel und deiner kleinen Rede hier einfach mein Grundrecht kassierst!“ Er wollte seinem Unmut noch weiter Luft machen, doch unterbrachen ihn die jäh einsetzenden ersten Takte von Beethovens „Ode an die Freude“. Herr Holzscheit sah ihn entschuldigend an, griff in die Innentasche seine Jacketts und sagte: „Hubert, entschuldige, aber das ist mein Ministeriumshandy, da muss ich drangehen – Ja, hier Holzscheit?“. Er hörte zu, sagte mehrmals ja und nein ins Telefon, und schloss mit einem „Gut gemacht. Wir warten bis morgen.“ „Ein Ministeriumshandy? Na, sowas hab ich nicht. Im Alter versteht man, dass man doch entbehrlicher ist, als man immer glauben wollte. Was war denn?“, fragte Herr Meerhufer, dessen Gemüt sich in der kurzen Unterbrechung wieder beruhigt hatte. „Nichts dringendes“, sagte Herr Holzscheit. „Das war dein Parteifreundin, die Frau Hummel, direkt aus München. In den letzten Wochen beschäftigt doch vor allem die Chinesen dieses neuartige Virus, und mich fragt die Presse auch immer wieder, ob uns ins Deutschland jetzt Schlimmes bevorstünde. Ich antworte natürlich, wir seien auf alle Eventualitäten bestens vorbereitet und es gebe keinen Grund zur Sorge, aber du weißt ja, wie die Journalisten sind. Jetzt stellt sich heraus, dass irgendein Depp es geschafft hat, das Virus an den Starnberger See zu tragen. Wir wissen es erst seit gerade, aber deine Parteifreundin hat mir versichert, die Situation sei unter Kontrolle, und die entsprechenden Maßnahmen würden mit Hochdruck eingeleitet werden.“
Herr Meerhufer hatte aufmerksam gelauscht und schwieg. Nur für einen kurzen Augenblick entglitt Herrn Holzscheit seine sonst unter so eiserner Kontrolle gehaltene Mimik, und ein nervöses Lächeln spielte um seine Lippen. „Hubert, das vor der Presse war kein leeres Gerede. Ich glaube wirklich, dass dieses Virus keine große Sache werden wird. Komm, spielen wir weiter!“, sagte er, und wendete sich, nun wieder ganz Herr seiner selbst, betont lässig dem Studium seiner nächsten Karte zu. Ich staunte nicht schlecht und war mir sicher, dass er – wenn er nur wollte – ein exzellenter Poker-Spieler wäre. Die Kunst des Bluffens beherrschte er zumindest meisterhaft.
Der Hamster Raskolnikow tritt ans Rednerpult:
„Ich möchte – mein sehr verehrter Richter Herr von Danwitz, wenn Sie es meiner haarigen Wenigkeit gestatten, gerne die wichtigsten Punkte der Zeuginnen und Zeugen des heutigen Tages noch einmal zusammenfassen. Sie wissen jetzt, dass selbst die faulsten, unsportlichsten Hamster unter uns mindestens fünf Kilometer am Tag zurücklegen. Sie haben außerdem gehört, dass selbst die faulsten, unsportlichsten Menschen an der Quarantäne während der Coronapandemie verzweifelt sind. Selbst wenn sie an einem Tag ohne jegliche Quarantäne im Regelfall maximal einen Kilometer laufen und ihre Wohnungen liebevoll eingerichtet waren als unsere Käfige, fühlten sie sich gefangen und wurden depressiv. Und das, obwohl sie nur ein Bruchteil, nämlich ein Fünftel von dem laufen, was meine Spezies in Freiheit benötigt.
Bitte vergessen sie das bei ihrer Entscheidung nicht.
Sie haben betont, dass ihnen Hamster am Herzen liegen. Dass sie mehr in uns sehen als ein flauschiges Dekoobjekt.
Und doch gibt es noch immer Kritiker unter ihren Kolleginnen und Kollegen, die unserer Klage nicht stattgeben wollen und die Wichtigkeit bezweifeln. Das spüre ich hinter meinen Öhrchen.“
„Mein sehr geehrter Herr Rask- ich meine Hamster Raskolnikow – bitte verstehen sie mich nicht falsch. Sie haben ihre Beweggründe überzeugend dargelegt.“
„Darf ich annehmen, dass Sie nun Einwände erheben?“
„Ja. Das dürfen sie. Wir sind bei der Beurteilung ihres Falls nach wie vor erstaunt, was sie erstreiten möchten. Sie hätten sich dafür einsetzen können, dass ihre Art mehr Auslauf erhält. Kleine Hamsterkäfige EU-Weit verboten werden und sich die Situation der Hamster generell verbessert. Aber sie -„
„Herr Richter von Danwitz, gerade dass sie die Wichtigkeit und Richtigkeit meiner Forderungen anzweifeln bestärkt mich noch mehr darin, sie vehement zu betonen und einzufordern.“
Die im Gerichtssaal aufgereihten Hamster nicken einstimmig. Graue, rötliche, goldene und weiße Härchen wippen dabei auf und ab. Einige von Ihnen tragen das eigens gestaltete Kampagnenshirt „Freiheit und Ehre des Rads“.
„Dass ich sie richtig verstehe – all ihre Bemühungen, sich vor diesem Gericht Gehör zu verschaffen. Die vielen Formalien und Akten. Ihre weite Anreise nach Straßburg. All das, weil Sie es als Grundrecht der Hamster verstehen, dass das so bezeichnete Hamsterrad nicht länger in der Populärpresse als etwas Negatives diffamiert wird? Sie fordern positive Berichterstattung und darüber hinaus Subventionen für die Hersteller?“
„Genau das ist mein Anliegen Sir, bei meinem letzten Sonnenblumenkern.
Sie müssen es begreifen. Auch ich habe viele Jahre verzweifelt versucht mit meinen Zähnen die Gitterstäbe meines Käfigs zu durchbeißen. Das knatternde Metall war mehr als ein Hilferuf. Es war ein Schrei nach Leben. Und die einzige Antwort, die ich in all diesen Jahre in meiner Gefangenschaft finden konnte, war, dass Gott gütig ist. Dass Gott mir ein Rad geschenkt hat, damit ich die Gefangenschaft ertragen kann. Und dass Sie, verehrte Menschen, dieses letzte Symbol der Hoffnung auf freie Bewegung, diesen glücklichsten aller Zeitvertreibe, den Ausgleich für meine Gefangenschaft und den meiner Mithamster in ihren Medien verunglimpfen – als etwas nahezu Bösartiges, dem man ein Ende bereiten sollte, ist eine Schandtat zu viel. Deswegen – heute und für alle Zeiten – soll das Hamsterrad als der Segen wahrgenommen werden, der es ist. Wir fordern Freiheit! Die Freiheit, die ich meine, gilt der Ehre des Rads. Ab heute und für alle Zukunft. Wir wollen nie wieder hören müssen, wie unangenehme Menschenarbeit mit einem Hamsterrad gleichgesetzt wird, um die Zumutungen zu unterstreichen. Suchen Sie sich dafür ein anderes Symbol! Denn wenn wir Hamster schon nicht das Gefühl beim Rennen durch das knisternde Unterholz in den Wäldern genießen dürfen, dann soll wenigstens unser Symbol der Hoffnung Anerkennung finden. Wir können bei aller Mühe, die wir uns geben, nicht jeden Hamster sofort befreien. Aber das Rad schenkt Leben. Eine Chance nicht einzugehen an einem ansonsten trostlosen Ort, von dem man nicht weggehen kann.“
Diese Ansprache bewegte nicht nur Richter von Danwitz. Schon bald titelten die größten Medien weltweit
„Das Rad wurde neu erfunden.“
Und Raskolnikow wurde zu einem gefeierten Held für Hamsterrechtsverletzungen. Niemand wusste von seiner stillen Beteiligung an der Wheel AG. So verdiente sich der graue Hamster eine goldene Nase an den gestiegenen Absatzzahlen für Hamsterräder. Fortan wurden sie als Dekoobjekt auch in Haushalten ohne Haustier zur Mode. Es war aus Raskolnikows Sicht nichts verwerflich daran, Geld mit etwas zu verdienen, von dem er überzeugt war, dass es die Welt besser machte. In Straßburg selbst wurde ab dem Richterspruch für 2027 die feste Installation eines Hamsterrads in Größe eines Hauses geplant. Das neu gewonnene Freiheitssymbol erfreute sich als Touristenmagnet direkt nach seiner Fertigstellung größerer Beliebtheit als die von den Franzosen an New York gestiftete Freiheitsstatue.
Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr. Julia fröstelte. Einsam stand sie an der Trambahnhaltestelle und wartete. Nein, Straßenbahnhaltestelle hieß das hier, korrigierte sie sich. Keine zwei Jahre war es her, dass sie aus der Isar- in die Elbmetropole umgezogen war. Dass sich Frank verspätete, besserte ihre Stimmung nicht. Jetzt fuhr schon die zweite Bahn, die sie hätte nehmen können, ohne sie davon. Es war mal wieder typisch. Hatte er ihre Verabredung vergessen? Julia beneidete ihre Freundinnen. Die hatten Männer, die pünktlich waren.
Sie hatte ihn überredet mit ihr in die Sauna zu gehen, zur Entspannung und um dem Novemberwetter zu entfliehen. Seit Tagen taten ihr die Nasennebenhöhlen weh. Ein untrügliches Zeichen für zu viel Stress. Das Medizinstudium forderte seinen Tribut. Sie stand kurz vor dem Examen und ihre Zeit war knapp bemessen. Sie gab ihm zehn Minuten.
Mit der Ledertasche unterm Arm und viel zu dünner Regenjacke kam er schließlich angerannt. Ihre Umarmung fiel flüchtiger aus als sonst.
Die Straßenbahn war voll, sie mussten stehen. Über Lautsprecher kam die Ansage, dass sie umgeleitet werden. Wegen des Brückenschadens. Auch das noch. Aber eigentlich entlockte es ihr ein Schmunzeln: Bauwerke, die nachts in Flüsse fallen – allein die Vorstellung fand sie komisch. Die Umleitung führte an den Prachtbauten der Innenstadt entlang, die wie an einer Perlenkette aufgefädelt an der Strecke standen. Dies entschädigte ohnehin für vieles.
„Wir könnten mal wieder ins Theater gehen,“ sagte sie zu Frank, als ihr Blick das Schauspielhaus einfing. Es klang beiläufig, wie lautes Denken, weniger nach einem Vorschlag. Frank reagierte nicht darauf. Seit er diesen Dozentenjob an der Uni angetreten hatte, kam es immer öfter vor, dass er nicht ganz bei der Sache war. Frank war Philosoph. Sie wisse nicht, was es bedeute, anspruchsvolle Seminare zu derart komplizierten Themen abzuhalten, hatte er kürzlich erst zu ihr gesagt. Ihrer Meinung nach war er ein Sexist, wenn auch ein fortschrittlicher, aber meistens störte sie sich nicht daran. Ohnehin arbeiteten Mediziner mehr als Philosophen, war sie überzeugt.
Am Schwimmbadeingang stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Idee nicht die Einzigen gewesen waren. Zum Glück gab es für Saunagäste eine separate Warteschlange. Als sie an der Reihe waren, wollte Julia wie gewohnt mit ihrer Karte zahlen. Frank kam ihr zuvor und legte sein pingelig abgezähltes Kleingeld auf den Tresen. Kreditkarten halte er für eine Ausgeburt das Kapitalismus, hatte er ihr mal erzählt.
Auch innen war es voller als sie erwartet hatte. Für einen Moment fand sie es nervig, aber was sollte sie machen, sie liebte diese Sauna. Das Ambiente war hell, an den Wänden hingen opulente Bilder mit Motiven aus den großen Galerien, von denen es hier reichlich gab. Für Kunst hatte man in dieser Stadt noch etwas übrig. Es war beinahe wie in München, dachte Julia, und fühlte sich ein bisschen wie zu Hause. Ob Frank die Bilder wahrnahm? Sie hatte das Gefühl, dass er die meisten Dinge einfach hinnahm, wie sie waren.
Finnische Sauna hatte über der Eingangstür gestanden. Das Thermometer zeigte 95 Grad. Julia war froh, als sie endlich auf der obersten Bank Platz genommen hatten. Mit einer lauwarmen Bio-Sauna musste man ihr nicht kommen.
„Rück mal ein Stück rüber“, murmelte Frank.
„Es geht nicht“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Die Kabine hatte sich gefüllt, dicht an dicht saß man beieinander, was die meisten nicht zu stören schien. Julia dachte, sie wäre jetzt lieber beim Frauensaunatag, da wäre ihr wohler. Aber das ging nun einmal nicht mit Frank.
„Kannst du mir helfen ein Plakat zu malen?“, fragte er sie völlig unvermittelt, und zwar so, dass es alle hören konnten.
Julia war irritiert und gleichzeitig machte es sie stutzig. Für gewöhnlich bat Frank sie nie um etwas. Was wollte er?
„Du hattest doch Kunst-Leistungskurs beim Abitur“, schob er nach, als sie nicht gleich reagierte.
Klar, sie konnte ganz gut Zeichnen. Aber seine Bitte klang nach Aufforderung. Das mochte sie nicht. Sie war deshalb nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Gleichzeitig war etwas in ihr, das sich sehr geschmeichelt fühlte.
„Es kommt drauf an“, sagte sie und nahm sich vor darüber nachzudenken. „Was für ein Plakat soll es denn sein?“
„Ich brauche irgend so ein Antikriegsplakat“, antwortete Frank und wischte sich umständlich seinen Schweiß vom Gesicht und seinem viel zu schmalen Oberkörper.
„Was meinst du damit?“ Sie hatte keine Ahnung, warum er nun ausgerechnet ein Antikriegsplakat haben wollte.
„Eben ein Antikriegsplakat. So wie in den Zwanzigerjahren, also vor hundert Jahren, nicht wie heute. Eher wie Käthe Kollwitz oder so.“
Käthe Kollwitz war ihr kein Begriff. Er kannte einfach andere Künstler als sie.
„Wofür brauchst du denn das Plakat“, wollte sie von ihm wissen.
„Für die Uni. Es müsste spätestens Ende nächster Woche fertig sein.“
„Für dein Seminar?“, fragte Julia und bezweifelte nun doch, dass sie dafür überhaupt die nötige Zeit aufbringen konnte.
„Nee, wir machen ein Sit-in. Das Plakat soll dazu einladen. Je mehr kommen, umso besser. War so ´ne Idee von mir und ein paar Kollegen von der Uni.“
Julia fand die Idee merkwürdig und entgegnete erst einmal nichts. Irgendetwas war daran, was ihr nicht gefiel.
„Mutig, mutig, junger Freund“, sagte ein Mann, der direkt vor ihnen saß. Er mochte Anfang Sechzig sein und redete mit lauter, sonorer Stimme. „Aber passen Sie bloß auf, dass Ihnen ihr Job nicht abhandenkommt.“
Der Mann wirkte für sein Alter auffallend kräftig und gesund, nicht unsympathisch. Trotzdem fand Julia es unangenehm, dass er sich in ihr Gespräch einmischte, auch wenn sie das, was er gesagt hatte, für vernünftig hielt. Frank war neu auf dieser Stelle. Natürlich war auch sie der Meinung, dass er besser nichts riskieren sollte
Eine offiziell aussehende Frau in bunter Kittelschürze erschien in der Tür und begann ohne Vorankündigung mit dem Aufgussritual: erst Lüften, dann Tür schließen, Eimer schwenken, Aufguss auf die Steine – fertig. Julia überraschte es immer wieder, wie unspektakulär man manche Dinge in dieser Stadt ablaufen ließ.
„Wie das mit dem Krieg jetzt läuft, das ist schon der Wahnsinn“, redete der Mann unaufgefordert weiter, kaum dass die Aufgussfrau den Raum verlassen hatte. „Zu meiner Zeit gab´s zum Beispiel solche Aufnäher mit der Aufschrift Schwerter zu Pflugscharen. Wer den auf der Jacke hatte, bekam Ärger.“
„Das können Sie doch nicht vergleichen“, entgegnete ihm Frank. Er schien empört. „Wir haben hier Demokratie, und das schon seit mehr als drei Jahrzehnten, oder?“
Julia wunderte sich, dass Frank offenbar der Meinung war, sich gegenüber diesem Menschen verteidigen zu müssen. So kannte sie ihn gar nicht. „Sollten wir das mit dem Plakat nicht erst einmal in Ruhe besprechen?“, versuchte sie ihn leise zu besänftigen. Ihr ging das alles viel zu schnell. Mit politischem Engagement hatte sie persönlich keinerlei Erfahrung. Außerdem wollte sie ihn spüren lassen, dass sie es nicht mochte, wenn er über ihren Kopf hinweg irgendwelche Sachen mit seinen Freunden oder Kollegen entschied, die sie am Ende machen sollte.
Aber Frank reagierte verschnupft. „Ich will mit ein paar Freunden ein Sit-in machen, gegen den Krieg, da mach ich mir keine Sorgen. Jeder kann sich hier versammeln, oder nicht? Und ein cooles Plakat hilft, dass viele kommen.“
Julia konnte nicht gut einordnen, worauf das hier hinauslief. Was, wenn das eskalierte? In der Ecke bei der Tür saß einer mit lauter Tätowierungen am ganzen Körper, die aussahen wie Nazi-Symbole. Sie machte sich Sorgen um Frank.
„Ich bin Medizinstudentin und bestimmt keine zweite Käthe Dingsbums, verstehst du das?“, flüsterte sie ihm zu. Behutsam wollte sie Frank an den Gedanken gewöhnen, dass sie seinem Wunsch nicht nachkommen würde. Ihr wurde die Sache langsam zu heiß, nicht nur weil sie in der Sauna saß.
„Endlich mal einer, der was unternimmt“, bemerkte eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren, die auf der mittleren Bank rechts neben dem Ausgang hockte und ihre Beine angezogen hatte.
„Nicht wieder wie bei Corona, wo keiner demonstriert hat“, fügte der Mann mit den Tattoos hinzu. Julia wunderte sich, dass der Typ überhaupt in ganzen Sätzen sprechen konnte.
„Es ist furchtbar, ich hab drei Kinder und hab einfach Angst, dass das hier wieder los geht“, kam von einer Frau mit tiefer Stimme und osteuropäischem Akzent, deren Umrisse man im Dämmerlicht der Kabine kaum wahrnehmen konnte. Tiefes Schweigen folgte.
„Angst ist Propaganda“, warf ein schmal gebauter Mann ein, der aussah, als ob er draußen, im wirklichen Leben, irgendein wichtiges Amt ausübte. „Wer deshalb demonstriert, schadet uns.“
„Hören Sie doch mit dem Blödsinn auf“, konterte der Nazityp.
„Lassen Sie ihm bitte seine Meinung“, schaltete sich der ältere Mann erneut ein. Eine unverkennbare Schärfe lag jetzt in seiner Stimme. „Niemand von uns weiß heute, was in der Sache wirklich richtig ist.“
Damit hatte er recht, fand Julia. Aber warum verteidigte er jemanden, der eine andere Meinung vertrat als er? Julia fand die Situation in der Kabine zunehmend irritierend. Nur weil Frank seine blöde Idee mit dem Plakat und dem Sit-in ausgerechnet hier ausbreiten musste, stritt eine Gruppe wildfremder Menschen miteinander über Politik. In der Sauna! Noch dazu mit einem, der aussah wie ein Neonazi. Zu Hause in München wäre das undenkbar.
„Frieden wollen doch alle“, stellte die junge Frau mit den hochgesteckten Haaren fest. „Und Friedensdemos gab es doch schon immer. Ich würd´ auch auf eine gehen. Da hat man wenigstens das Gefühl, dass man etwas unternimmt und nicht nur zuschaut.“
„Haben Sie denn keine Angst, dass ihnen das jemand krummnehmen könnte?“, fragte Julia. „In der Arbeit oder im Freundeskreis?“
Die junge Frau schaute Julia vollkommen verständnislos an.
„Auch nicht vor einem Shitstorm im Netz?“ Julia musste an das Plakat denken, das Frank letztlich von ihr haben wollte. Wenn sie ehrlich war, war das ihre größte Sorge. Oder wenn ihre Freundinnen aus der Münchner Maxvorstadt davon erfuhren. Nicht auszudenken. Eigentlich wusste sie gar nicht so genau, wie sie zu dem Krieg standen oder was sie von so einem Plakat halten würden. In ihren Kreisen war man sich einig: Über Politik wurde nicht gestritten. Man lebte gesundheitsbewusst in seinem schicken Einzimmerappartement, aß vegan und war tolerant. Gelegentlich engagierte man sich bei Unicef oder Ärzte ohne Grenzen. Ansonsten blieb man seiner Community treu und hielt sich an die Regeln. Man scherte einfach nicht aus oder tanzte aus der Reihe mit irgendeinem politischen Plakat zu einem Thema, das am Ende vielleicht umstritten war.
„Shitstorm hat mich noch nie interessiert“, antwortete die junge Frau schmal. „Wenn ich auf die Straße gehe, dann, weil ich das für richtig halte. Wer damit nicht klar kommt, hat selber ein Problem.“
Julia bewunderte die Entschlossenheit dieser jungen Frau. Sie war anders, als ihre Freundinnen zu Hause und Julia fragte sich, woran das liegen könnte. Hatten die Leute hier weniger Angst? Vielleicht weil sie die Erfahrung einer Revolution von unten teilten? Oder mehr, weil sie die Russen besser kannten?
„Wir gehen.“ Frank stand auf und zog an ihrem Saunatuch. Sie liefen raus in Freie. Die kalte Abendluft tat ihr gut. Gemeinsam stiegen sie die geriffelten Metallstufen hinab, die zum Kältebad führten. Sie zitterte und kam sich auf einmal fremd vor: in dieser Stadt, vor diesen Leuten und vor Frank.
„Wirst du es machen“, fragte er gereizt, als sie gemeinsam in Decken gehüllt im Ruheraum lagen.
„Was machen?“ Julia spürte den Luftzug des Ventilators, der an der Decke über ihnen seine Kreise zog. Sie wollte sich entspannen. Dafür waren sie schließlich hergekommen.
„Das Plakat“, erinnerte er sie. „Für unser Sit-in.“
So wurde es nichts mit der Entspannung. „Hör auf damit und lass mich in Ruhe!“ Sie verlor allmählich die Geduld. „Es ist dein Sit-in, dein Projekt und deine Sache“, stellte sie ihm gegenüber unmissverständlich klar. „Mit uns beiden hat das nichts zu tun.“ Julia fühlte sich um ihren gemeinsamen Nachmittag betrogen.
Trotz allem aber fand sie das, was sie gerade erlebt hatte, interessant und ungewöhnlich. Und es hatte sie auf eine besondere Art und Weise angerührt. „Ich denke über diese Leute nach“, sagte sie zu Frank. Vielleicht konnten sie das Thema wechseln.
„Welche Leute?“, fragte Frank zurück.
„Die mit uns in der Sauna saßen. Kannst du mir erklären, was da eben passiert ist?“
„Was soll da passiert sein? Da war doch nichts Besonderes“, stellte er fest und drehte sich zur Seite, als ob sie sich gestritten hätten.
„Du bist mir eine Antwort schuldig, Frank.“ Julia blieb hartnäckig.
Frank setzte sich auf und sein etwas merkwürdig geformter Oberkörper kam in seiner ganzen Pracht zum Vorschein. Irgendetwas schien ihm nicht zu passen. „Schau den Menschen in die Augen“, begann er. „Ich sag dir das nicht gerne, aber wir sind hier anders als ihr, wir sind noch nicht so lange reich, wir können noch nicht so lange sagen, was wir wollen oder uns treffen und versammeln, mit wem wir wollen. Wir mussten auch erst lernen, mit all dem umzugehen. Wir wollen das jetzt leben und nicht einfach wieder hergeben. Und was den Krieg angeht, was das alles heißen kann, das sitzt uns Ostdeutschen anders in den Knochen.“ Umständlich schlüpfte er in seine blauen Badelatschen und wandte sich zum Gehen. „Es geht um Versammlungsfreiheit“, zischte er ihr zu. „Und du hast Skrupel wegen eines verdammten Sit-ins! Versammlungsfreiheit steht fett in eurem Grundgesetz, das wir von euch übernommen haben. Du bist doch diejenige von uns, die im Westen aufgewachsen ist. Nie was davon gehört? Und ich hab immer geglaubt, dass die euch das schon an der Wiege gesungen haben.“ Zum Schluss raffte er sein Saunatuch und entschwand in Richtung der Umkleideräume.
Das saß! So hatte sie ihn noch nie erlebt. Hatte er recht mit dem, was er sagte? Lag vielleicht mehr Trennendes zwischen ihnen als sie wahrhaben wollte? Was liebte er überhaupt an ihr? Sie fühlte sich allein gelassen. Er hatte sicher nicht unrecht, München war eine heile Welt. Es hatte sie nie gestört, sie liebte geordnete Verhältnisse. Und außerdem konnte sie schließlich nichts dafür, dass sie dort aufgewachsen war. Als sie aufstand merkte sie, dass sie Tränen in den Augen hatte. Unauffällig wischte sie sie weg.
Auf dem Rückweg in der Trambahn saßen sie schweigend nebeneinander. Sie guckte aus dem Fenster. Regen troff die Scheiben hinunter. Bahnhof Neustadt. Hier hielt die Bahn gewöhnlich länger als üblich. Julia beobachte, wie zwei Glatzen zur vorderen Tür einstigen und sich zwischen eine Frau in bunten Ethno-Klamotten mit Kinderwagen und eine Gruppe von Afrikanern stellten. Die standen dann einfach so da. Warum machte niemand etwas?
„Ich mach die Sache mit dem Sit-in, mit oder ohne dein Plakat“, kam Frank ohne Vorankündigung zurück auf das, was ihn offenbar ohnehin die ganze Zeit beschäftigte.
Julia überlegte. Sie wollte nicht. Trotzdem beeindruckte sie, dass Frank auch ohne sie bei seiner Sache blieb. Sie suchte nach einer Möglichkeit, es ihm zu sagen. „Ihr seid voller Widersprüche“, begann sie. „Und du hast sicher Recht, dass ich euch manchmal nicht verstehe. Zum Beispiel akzeptiert ihr ohne mit der Wimper zu zucken irgendwelche Nazitypen unter euch, ihr redet sogar mit denen, als seien sie ganz normale Menschen und gleichzeitig führt ihr euch als Kriegsverächter auf.“ Weiter kam sie nicht, denn sie merkte, dass das, was sie gesagt hatte, in Franks Ohren alles andere als versöhnlich klingen musste.
„Du tickst ja nicht ganz sauber!“ Franks Augen traten auf eine schlimme Art aus ihren Höhlen hervor. „Niemand hier akzeptiert Nazis ohne mit der Wimper zu zucken. Und nicht jeder, der so aussieht, ist auch einer. Wir sind es vielleicht nur mehr oder anders gewöhnt auch mit denen zu reden, die anders denken. Julia, glaub mir, Demokratie ist nicht irgendeine Einstellung, eine wie auch immer geartete korrekte Meinung. Demokratie ist die Struktur, in der man sich artikuliert und sich miteinander streitet.“
Sauber, dachte Julia. Frank, der Philosophiedozent, hatte gesprochen. Sie fragte sich, auf wessen Seite er sich befand. Half er durch das, was er tat und sagte, nicht den Feinden der Demokratie? Was half das ganze Diskutieren? Kam es nicht viel mehr auf die richtige, die bessere Meinung an? Sie merkte, dass sie sich nicht mehr ganz sicher war, wo Frank in Wahrheit stand. Freiheit schafft Unsicherheiten, das hatte Frank ihr immer wieder gesagt.
Wie recht er hatte, merkte sie in diesem Augenblick.
Julia drückte den Knopf für die nächste Haltestelle und stieg aus.
I
Die Stille war ein Versprechen, das uns allen gegeben worden war. Frieden durch Ordnung, Sicherheit durch Einheit. Auf den Straße Ruhe, in den Herzen kein Protest. Das Fundament unseres Staates fußte auf den Harmoniegesetzen.
Und doch – als ich an diesem Morgen den Platz der Harmonie überblickte, war da etwas. Ein Schatten, ein Hauch von Lärm, der nicht existieren durfte.
Es begann mit einer Taube. Ihre Flügel breiteten sich aus und sie stieg in den Himmel empor. Ein heller Fleck im eintönigen Grau.
Das familiäre Sirren der Drohne ließ mich jedoch rasch den Blick abwenden. Der Stimmenscanner fuhr heraus, als würde er selbst in Flügelflattern nach verbotenen Worten suchen wollen. Es war doch nur eine Taube. Tauben konnten die Harmoniegesetze nicht brechen, oder etwa doch?
„Demetria.“
Ich fuhr herum. Das Flüstern kam aus einer dunklen Nische zwischen den Häusern. Eine Gestalt trat aus dem Schatten, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, Mein Puls beschleunigte sich, doch dann erkannte ich ihn.
Er zog mich in eine Umarmung, bevor ich etwas sagen konnte. Seine Arme fühlten sich vertraut an und doch war da etwas Fremdes an ihm; etwas, das wie ein Gewicht vieler Erfahrungen auf seiner Berührung lastete. Ich zog ihm die Kapuze herunter, ein Reflex, um ihn zu schützen – oder mich selbst.
„Du weißt, dass es nicht erlaubt ist, Gesichtsbedeckungen zu tragen. Willst du Ärger?“
„Es ist auch schön dich zu sehen.“ Dario lächelte. Für einen Moment fühlte es sich so an, als wären wir nicht mehr hier, sondern an einem Ort, den es nicht mehr gab. „Ist viel zu lange her.“
„Na, wessen Schuld ist das wohl?“, fragte ich ernster als beabsichtigt, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken.
Eine weitere Drohne sirrte heran. Vielleicht hatte das Wort Schuld sie angelockt, vielleicht war es auch nur eine Zufallskontrolle. Das Treffen von zwei Personen stellte schließlich keine Verletzung der Harmoniegesetze dar.
„Meine. Ich weiß.“ Dario klang aufrichtig, wenngleich er wie immer keinen Grund für seine Abwesenheit nannte. Sein Blick zeichnete den Weg der Drohne nach, die sich nun wieder entfernte und eine neue Falte trat auf seine Stirn.
„Verdammte Dinger“, murmelte er kaum hörbar.
Ich runzelte die Stirn. „Komm schon. Sie sind zu unserem Schutz da.“
Darios Augen blieben an einem Punkt in der Ferne hängen, als sähe er etwas, das für mich verborgen war. „Schutz…“ Er ließ das Wort auf der Zunge liegen, als würde er den Geschmack prüfen. Dann zuckte er mit den Schultern und lächelte. „Klar. Natürlich.“
Das Lächeln erreichte seine Augen nicht.
„Du machst Scherze, oder?“ Ich lachte unsicher, versuchte den Witz in seinem Gesicht zu finden.
Er nickte leicht, doch sein Blick wanderte wieder gen Himmel. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Dario, was ist los?“ In meinem Inneren rumorte etwas, als ich in sein Gesicht blickte und wie so oft ihre Züge darin entdeckte. Ich spürte das Lächeln von meinen Lippen tröpfeln wie heißes Kerzenwachs. „Selbst wenn du da bist, bist du es gleichzeitig auch nicht. So wie jetzt. Früher war das anders. Du hast gesagt, du bleibst bei mir, egal was passiert.“
„Das habe ich ernst gemeint. Aber was hätte ich denn tun sollen?“
„Da sein. Einfach da sein.“
Er schwieg und ich rechnete schon fast damit, dass er wütend werden würde. Doch das wurde er nicht. Stattdessen hob er die Stimme und sie klang… bedauernd.
„Du hast recht. Es tut mir leid.“
Ich wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Dario wirkte zerbrechlicher, als ich ihn je gesehen hatte.
„Du bist müde“, sagte ich nach einer Weile des Schweigens. „Ich kann es sehen.“
„Es war viel los.“
„Du wolltest die Welt retten, als wir noch Kinder waren, erinnerst du dich? All den Protesten, all dem Chaos ein Ende machen. Aber das musst du nicht mehr. Wir haben doch Frieden.“
Ein Ruck lief durch seinen Körper und er presste die Zähne aufeinander, wie um unausgesprochene Worte davon abzuhalten, sich einen Weg nach außen zu bahnen. Als sie es dann schließlich taten, ätzten sie durch meine Adern wie Säure.
„Frieden? Hör dich doch reden! So eine folgsame Bürgerin der Harmoniegesellschaft. Was würde Mutter dazu sagen?“
Ich wusste, was sie sagen würde und allein der Gedanke daran fühlte sich verboten an. Schnell wischte ich ihr Gesicht aus meinen Erinnerungen fort.
„Was Mutter getan hat, hat uns zerrissen. Sie lag falsch. Du siehst doch, es gibt keine Probleme mehr, keine Aufstände, keine Gewalt. Ich höre an der Uni andauernd, welche Gefahr sie für die Harmoniegesellschaft war. Selbst Vater sagte, dass sie zu weit gegangen ist!“
Darios Augen verengten sich. „Vater hat überlebt, weil er geschwiegen hat. Vielleicht war das seine Art, uns zu schützen. Aber das bedeutet nicht, dass Mutter falsch lag.“
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Er sprach, als hätte sie die Welt zu etwas Besseren verändern wollen. Dabei hatte sie die Protestbewegung angeführt! Eine Bewegung für eine alte Ordnung, die nur Unsicherheit und Leid mit sich gebracht hatte.
„Und du meinst, du hättest es besser verstanden, nur weil –“ Ich hielt inne. Sein Blick veränderte sich, dunkelte ab. Es war ein altes Thema zwischen uns, ein gefährliches. Erst recht auf offener Straße, auch wenn gerade kein Stimmenscanner in der Nähe war.
Dario stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Dann packte er meinen Arm. „Komm mit.“
„Wohin?“ Ich riss mich los, doch ich spürte seine Finger noch wie eingebrannt auf meiner Haut. „Was machst du?“
„Ich zeige dir etwas. Damit du dich endlich erinnerst.“
Ich folgte widerwillig, alte Erinnerungen wie eine Eisenfaust um meine Brust. Wir erreichten eine Stelle, die Dario nur zu gut zu kennen schien. Von hier konnten wir die Zone der Stille direkt vor uns sehen. Menschen bewegten sich dort geordnet, nie mehr als zwei Personen beieinander, alle auf den dafür vorgesehenen Wegen, alle gehorsam schweigend.
„Nach dem Tag der Ordnung wurde der Platz neu gepflastert.“
Ich sah ihn fragend an, aber er schwieg jetzt, den Drohnen mit dem Blick folgend. Auf einmal zog er eine kleine Kapsel hervor, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger verborgen, wartete. Ich wagte nicht zu fragen, was er vorhatte, konnte ihn nur mit einer Mischung aus Misstrauen und Angst beobachten.
Dario drehte die Kapsel zwischen den Fingern und ließ sie dann mit einem beiläufigen Wink zu Boden fallen, trat in einer Millisekunde mit dem Fuß darauf. Ich hörte ein Knacken, dann ein Zischen und dann – nichts mehr. Das vertraute Summen war verstummt.
„Was ist das?“
„Ein Störer.“ Er trat näher an mich heran, seine Stimme nun nicht mehr gedämpft. „Damit können wir für zwei Minuten reden, ohne dass sie es hören.“
„Das ist Wahnsinn!“
„Hör mir zu, Demetria“, zischte er durchdringend. „Diese Harmonie, an die du glaubst, ist eine Lüge. Dieses System beginnt dich zu verschlucken. Es hat dich bereits geformt, aber ich werde nicht zulassen, dass deine wahre Natur sich darin auflöst. Du sagst, sie wollen Frieden?“
„Na— natürlich. Die politische Spaltung, die wirtschaftlichen Probleme, die mangelnde Bildung, die teure Gesundheitsversorgung — all das haben sie beendet. Sie haben Ordnung ins Chaos gebracht, uns zu einer Einheit geformt. Sie haben Harmonie geschaffen! Frieden!“
„Frieden“, spie er aus und es fühlte sich an wie eine Ohrfeige. „Gibt es wirklich Frieden ohne Vielfalt, ohne Meinungsfreiheit? Rechtfertigt Sicherheit den Verzicht auf Grundrechte? Auf Menschlichkeit?“
Ich wich langsam zurück, mein Herz raste. Er sprach wie einer von ihnen – wie das Chaos selbst, vor dem uns die Harmoniegesetze beschützen sollten. Und doch war er immer noch mein Bruder.
„Du klingst wie Mutter.“ Meine Stimme zitterte. „Sie hat auch Dinge gesagt, die keinen Sinn ergaben.“
„Du warst ein Kind, Demetria. Ich nicht. Nicht nach diesem Tag. Ich habe gesehen, wie sie die Bücher verbrannten. Es waren Flammen, die nicht nur Papier zerstörten, sondern auch die Wahrheit. Aber du… Du hast nur das Chaos gesehen, das sie dir gezeigt haben.“
„Ich will nicht darüber reden.“
„Natürlich nicht“, erwiderte Dario spöttisch und sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. „Das ist genau das, was sie wollen. Stille.“ Seine Stimme wurde leiser, doch sie schnitt scharf durch die Luft. „Es war ein schleichender Prozess, nicht wahr? Am Anfang dachten wir nur, es wären leere Worte; dass so etwas nicht geschehen könnte. Wir verpassten den Moment zu reagieren. Und dann? Friedlicher Protest? Erstickt. Für immer.“
Er machte einen Schritt auf mich zu, dann hielt er inne und senkte den Blick. Sein Fuß strich über einen Pflasterstein vor uns, fast sanft. „Siehst du das?“
Ich folgte seinem Blick. Auf dem Pflaster war eine Gravur, so fein, dass ich sie kaum erkennen konnte. Eine Taube.
„Das Symbol der Flüstergruppe.“ Darios Stimme veränderte sich. Sie wurde weicher, erfüllt von Trauer. Doch auch von Stolz.
Mein Herz schlug schneller, während ich auf das Zeichen starrte, meine Stimme zu einem panischen Flüstern verzerrt. „Mutters Bewegung. Was macht das hier?“
Er hob langsam den Kopf, richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Sie lassen es da. Vielleicht als Warnung. Oder weil sie wissen, dass es niemand mehr sieht.“
Er griff in seine Jackentasche und zog ein Stück eines abgegriffenen Fotos hervor.
Ich erkannte sie sogleich. Mutter. Sie stand mit erhobenem Kopf und entschlossener Miene auf diesem Platz.
„Das war am Tag, bevor sie festgenommen wurde. Sie wusste was passieren könnte, aber sie hat es trotzdem getan. Für uns.“
Ich starrte auf das Bild und wünschte, er hätte es mir nie gezeigt. Ich wollte nicht daran erinnert werden. An nichts von alle dem.
„Sie hat uns allein gelassen. Und für was?“ platzte ich heraus.
„Für die Wahrheit.“ Seine Antwort war scharf wie die Klinge eines Messers.
„Bitte, Dario, wiederhole nicht ihre Fehler.“
„Vielleicht waren es keine Fehler. Hast du darüber nie nachgedacht?“
„Ich –“
Natürlich hatte ich. Vor Jahren, als Vater aus der Harmoniegesellschaf umgesiedelt worden war. Er hatte sich angepasst, alle Regeln befolgt. Wollte Frieden, wollte Sicherheit. Hatte geschwiegen – für uns. Aber es hatte nicht gereicht – weil irgendein Teil seiner Herkunft der Harmoniegesellschaft nicht gefallen hatte.
Tränen brannten in meinen Augen und ich versuchte krampfhaft, sie zurückzuhalten. Emotionen gehörten nicht auf die Straßen. Kontrolle zu verlieren war gefährlich.
„Denk nach, Demetria. Ich weiß, dass du es nicht wirklich vergessen hast. Mutter kämpfte für Freiheit. Für demokratische Rechte. Und die sind manchmal chaotisch, ja. Vielfalt ist chaotisch. Freiheit ist chaotisch.“
Ich starrte in seine eisblauen Augen. Mutters Augen. Und während wir uns ansahen, flackerte für einen Moment Hoffnung in seinem Blick auf. Dann spürte ich, wie etwas aus dem Schatten meines Gedächtnisses nach mir griff, dem ich nicht länger entkommen konnte.
Mutter strich mir sanft über die Haare. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durch meine Vorhänge und Staubkörner tanzten in ihrem Licht wie Zauberpuder. Ich lachte damals. Die Welt war sicher, weil Mutter da war.
Auch wenn sie an diesem Tag irgendwie anders war als sonst.
Trotzdem entwirrten ihre Finger behutsam mein Haar, sorgsam darauf bedacht, dass es nicht
ziepte. Ich machte sonst einen Mörderaufstand und weigerte mich tagelang, meine Haare zu kämmen.
„Demi“, sagte sie und ich war verwundert, wie ernst sie klang. „Es mag eine Zeit kommen, da wirst du glauben, dass Stille Schutz bedeutet. Sie wird sich anfühlen wie eine warme Decke an kalten Tagen.“
„Aber ich mag auch, wenn es ruhig ist.“
Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Aber manchmal ist Lärm wichtig. Es gibt Dinge, die man laut sagen muss, auch wenn niemand sie hören will.“
Ich verstand nicht, aber ich nickte eifrig, weil ich sie nicht enttäuschen wollte.
Plötzlich riss Dario die Tür auf. Ich wollte ihm sagen, wie unhöflich er mal wieder war, aber dazu kam ich gar nicht.
„Sie kommen!“, rief er keuchend. In diesem Moment lernte ich, wie Angst klang. Lähmend und beißend zu gleich.
Mutter nickte. Dann sah sie auf mich herab, nahm mich in die Arme und wischte meine Tränen fort. Ich erwartete, dass sie etwas Tröstendes sagte. Wie immer, wenn ich traurig war.
Stattdessen flüsterte sie: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.1 Das ist unser Grundrecht. Es bedeutet, dass niemand uns verbieten kann, unsere Meinung friedlich kundzutun.“
„Was soll das, Mama?“
Sie antwortete nicht, sondern winkte Dario heran und zog ihn ebenfalls in eine Umarmung. Normalerweise hasste er das, er war ja schon groß. Aber diesmal ließ sie gewähren. Es fühlte sich schön an, aber auch traurig. Erst Jahre später verstand ich, dass mich in diesem Moment das Gefühl von Abschied überkam.
Aus der Ferne hörte ich das Summen zum ersten Mal.
„Demetria?“
Ich schluckte, während die Erinnerung langsam verblasste. Darios Stimme war leise, fast zaghaft, Mutters Worte jedoch hallten unaufhörlich in meinem Kopf wieder.
„Artikel 8“, flüsterte ich, bevor ich es verhindern konnte.
Er hob eine Augenbraue, wieder dieser Funken Hoffnung in seinem Blick. „Du erinnerst dich also doch.“
„Ich erinnere mich.“ Die Worte kamen brüchig. „Aber das bedeutet nichts.“
„Doch. Es bedeutet alles.“
„Mutter und Vater sind fort. Alte Gesetze konnten sie nicht retten. Ganz im Gegenteil.“
„Sie sind fort, weil die sogenannte Harmoniegesellschaft jede Freiheit unterdrückt.“ Er trat näher an mich heran und umfasste behutsam meine Schultern.
„Freiheit entsteht durch Ordnung,“ sagte ich die Worte, aber es klang nur noch hohl. Ich konnte ihn nicht ansehen, wusste sonst nichts zu sagen.
Plötzlich gab der Störer ein kurzes Warnsignal ab. Sofort griff Dario in seine Tasche und zog ein zerlesen wirkendes Buch heraus. Bevor ich reagieren konnte, stopfte er es unter meinen Mantel.
„Wenn niemand mehr weiß, was Freiheit ist, kann sie auch niemand mehr vermissen.“
Die Worte trafen mich wie ein Stich ins Herz, auch wenn ich nicht sagen konnte, wieso.
Darios Gesicht wirkte immer noch verhärmt, doch etwas hatte sich jetzt verändert, als er meine Hand nahm. War es Triumph? Ich konnte es nicht sagen.
„Es war Mutters Buch. Und es ist an der Zeit, dass du seine Wahrheit erfährst. Sprich mit niemandem darüber. Noch nicht.“
Ich wollte es ihm zurückgeben. Doch meine Finger waren steif, unbeweglich.
„Dario, ich wollte nicht–“ Ich biss mir auf die Lippen, denn diesem Moment hörte ich die Drohnen wieder deutlich.
„Ich weiß.“ Er strich mir liebevoll über die Wange und ich erlaubte mir für eine Sekunde in die Berührung zu sinken. „Ich muss jetzt gehen, kleine Schwester. Wenn du soweit bist, finde ich dich.“
Und dann war er fort.
II
Die Dunkelheit meiner Wohnung umfing mich, als ich endlich auf meine Matratze sank. Draußen war wie immer alles still, aber in meinem Kopf dröhnte es.
Ich zog das Buch heraus. Es war klein und doch wog es mehr, als ich erwartet hatte. Das Leder fühlte sich seltsam warm an, als hätte es all die Jahre über Mutters Berührung bewahrt.
Ich sollte es nicht öffnen.
Und doch schlug ich die erste Seite auf. Sofort erkannte ich ihre Handschrift – leicht krakelig, doch immer in Entschlossenheit getaucht.
Meine geliebten Kinder,
ich hoffe, ihr könnt eines Tages verstehen, warum ich nicht zusehen kann, wie die Demokratie stirbt und was ich tun muss. Frieden ohne Freiheit ist nichts als eine schön bemalte Fassade, die beim ersten Windstoß einbricht. In diesem Buch findet ihr die Stimmen all derer, die nicht geschwiegen haben. Bewahrt sie gut. Für euch. Für alle.
Es tut mir leid.
Ich liebe euch.
Mama
Ich schluckte hart, als schon wieder Tränen in meine Augen stiegen. Ich wollte die Seite zuschlagen, das Buch zurück in die Tasche werfen und nie wieder daran denken. Aber meine Finger rührten sich nicht.
Ein Fetzen Papier war zwischen die ersten Seiten gelegt – vergilbt, brüchig an den Rändern. Es war eine halb zerrissene Zeitungsseite, deren Überschrift mich augenblicklich erstarren ließ:
Demonstrationen gegen die neuen Harmoniegesetze am Platz der Republik.
Mein Atem stockte. Der Platz der Republik. Heute der Platz der Harmonie.
Ich starrte auf das unvollständige Foto unter der Überschrift und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Es war die andere Hälfe zu dem, was Dario zuvor von Mutter gezeigt hatte. Darauf waren eine Menge Menschen, die Fahnen schwenkten, Schilder hielten. Kein Ort in der Harmoniegesellschaft sah so aus, so voller Menschen, voller Leben. Keine Drohnen, keine Zone der Stille. Und dieses Wort – Demonstrationen?
Mutter hatte eine Notiz auf die Seite daneben geschrieben:
Diese neue Partei spricht von Sicherheit. Doch was ist Sicherheit wert, wenn sie nur auf Angst gegründet ist? Sie benutzen Lügen, sie schüren Hass. Sie wollen uns unser Mitgefühl nehmen, wollen uns einreden, dass nur ihr Konzept von Frieden Sicherheit bedeutet. Dabei sind sie diejenigen, die das Ende der Freiheit wollen.
Das waren Worte, die ich nicht lesen sollte, verbotene Worte. Die nächste Seite begann mit Berichten über geschichtliche Ereignisse, die ich nicht kannte. Die Worte schienen von den Seiten zu mir aufzuschreien.
1832: Hambacher Fest
Eine der ersten großen Demonstrationen für Demokratie und Freiheit in Deutschland2
1848: Deutsche Revolution
Für Freiheit und Einheit: Versammlungen erschüttern das Deutsche Reich2
1918: Novemberrevolution in Deutschland
Die Straßen der Freiheit: Arbeiter und Soldaten fordern Demokratie2
Die Weiße Rose
Der Widerstand junger Menschen im Nationalsozialismus2
1953: Ein Tag der Hoffnung
Der Aufstand des 17. Juni: Wir wollen freie Menschen sein2
1989: Leipziger Montagsdemonstration
Wir sind ein Volk, war der Ruf, der die Straßen erfüllte2
Ich starrte aus dem Fenster. Die Straßen waren leer. Niemand rief.
Ich blätterte weiter, las von Protesten gegen Krieg, vom Christopher Street Day, von Frauenmärschen, vom March for Science, von Klimastreiks. Die Geschichte, die hier stand, war nicht die Geschichte, die ich gelernt hatte.
Die letzte Seite dieses Kapitels endete mit einer Jahreszahl, die mir seltsam vertraut vorkam:
2024: Massenproteste gegen Rechtsextremismus
Hunderttausende versammeln sich, um gegen die Bedrohung demokratischer Werte zu demonstrieren.3
Ich atmete tief durch. Bald danach hatte die Stille begonnen.
Jetzt mit dem Buch in der Hand, fühlte sich meine gesamte Welt an wie eine Lüge, die schwerer wog als alles andere. Mit zitternden Fingern blätterte ich weiter.
Die Versammlungsfreiheit sichert das Recht, öffentlich zu protestieren – ein Grundpfeiler der Demokratie. 2
Ich las die Zeilen zweimal. Versammlungsfreiheit.
Noch ein Wort, das sich falsch anfühlte. In der Harmoniegesellschaft gab es keine Versammlungen. Zu viele unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Personen brachten Chaos, Uneinigkeit. Oder?
Eine weitere von Mutters Notizen:
Vergesst nie: Schweigen hilft nur denen, die Unrecht tun.
Und darunter:
Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.4
Vater, den die Harmoniegesellschaft umgesiedelt hatte, „zurück“ in ein Land verwiesen, das er nie zuvor betreten hatte.
Mit jedem neuen Wort wuchs etwas in mir – eine Mischung aus Zorn und Unverständnis.
Sicherheit entsteht durch Schweigen. Frieden durch Einheit. Freiheit durch Ordnung.
So hatten wir es gelernt, so hatte die Partei die Harmoniegesellschaft gegründet und die Probleme der Vorherzeit beseitigt.
Aber das Buch sagte etwas anderes.
Im nächsten Moment stürzte ich zum Waschbecken und spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, presste die Handflächen gegen den Mund, um mich nicht zu übergeben. Worte sickerten durch mich Gift, gegen das ich keine Abwehr hatte. Ich atmete flach, versuchte den Sturm in mir zu bändigen. Fortwerfen, flüsterte eine Stimme. Verbrennen. Vergessen. Noch war es nicht zu spät, ich konnte entrinnen, alles konnte so sein wie gestern. Geordnet, ruhig, sicher. Meine Harmonie, mein Frieden –
NEIN.
Es war zu spät. Die Wahrheit lebte in diesem Buch – und sie lebte nun auch in mir.
Ich schloss die Augen und sah sie vor mir, wie sie sie von uns fortrissen. Sah Darios Augen. Sah Vater, wie er ausgewiesen wurde. Sah die Partei ihre Reden am Tag der Ordnung halten.
Und dann – hörte ich Stille. Eine Stille, die lauter war als jeder Schrei. Vielleicht war es an der Zeit, sie zu brechen.
III
Der Tag der Ordnung war ein offizieller Feiertag der Harmoniegesellschaft. Der Platz der Harmonie war festlich geschmückt, die Banner der Partei ein trügerisches Symbol für Einheit und Frieden.
Meine Handflächen waren schweißnass, während ich das Gewicht des Buches spürte. Die Universität hatte mich für die Eröffnungsrede auserwählt. Eine Ehre, hatten sie gesagt.
Menschen betraten jetzt den Platz der Harmonie, bewegten sich in der gewohnten Präzision. Keine Grüppchen, kein Flüstern. Nur geordnete Einzelpersonen auf den vorgesehenen Wegen. Die Drohnen summten über uns, mehr als sonst, Scanner wachsam. Mein Herz pochte unkontrolliert. Noch konnte ich still sein.
Vor meinem inneren Auge blitzte jedoch ein Bild auf: Mutter, wie sie vor mir saß, ein Blatt Papier in der Hand. Sie schrieb meinen Namen, einen Buchstaben nach dem anderen: DEMETRIA KO.
„Siehst du?“ hatte sie gefragt und ein weiteres Wort hinzugefügt, geformt aus den Buchstaben meines Namens „Das ist, wofür ich kämpfe. Das bist du.“
Ich blickte zur Seite – und da war er. Darios Blick durchdrang mich wie Feuer.
Es gab kein Zurück mehr.
„Es muss von dir kommen“, hatte er gesagt, nach dem Tag, an dem alles anders geworden war. „Du bist ein Teil ihrer Harmoniegesellschaft. Du bist der Beweis, dass sie uns nicht vollständig zum Schweigen bringen können.“
„Was, wenn ich scheitere?“, hatte ich geflüstert, die Angst wie ein Stein in meiner Magengrube.
„Du kannst nicht scheitern, Demi. Das Buch, die Wahrheit, du selbst – das ist genug.“
Eine Drohne kam heran, ihr Summen wurde lauter. Mein Zeichen.
Ich stieg die Stufen zur Bühne hinauf und es empfing mich tosende Stille. Auf einer großen Leinwand erschien das Symbol der Partei, mit der alles angefangen hatte: Harmonie für Deutschland.
Ein Name, der mir nun bitter auf der Zunge lag wie die Lüge, die er war.
„Liebe Mitbürger:innen“, begann ich zögernd, doch meine Stimme wurde rasch kräftiger. „Es ist ein besonderer Tag, an dem wir hier zusammenkommen. Ein Tag, an dem wir uns an die Werte erinnern, die uns allen Frieden gebracht haben.“
So weit, so gut.
„Doch ist es wirklich Frieden, den wir feiern? Es gab eine Zeit, in der Menschen wie wir hier sprachen, auch wenn niemand sie hören wollte. Sie verteidigten die Freiheit sich zu versammeln und gegen Unrecht zu protestieren, weil sie wussten, dass ohne Freiheit kein Frieden wahrhaftig ist.“
Die Drohnen fiepten bedrohlich, ihre Scanner blitzten rot. Mir blieb nicht viel Zeit.
„Wir leben in einer Stille, die uns schützen soll. Aber diese Stille erstickt uns. Sie nimmt uns die Möglichkeit, zu denken, zu hinterfragen. Die Harmoniegesellschaft verspricht Frieden – aber für welchen Preis und für wen?“
Ein Raunen ging durch die Menge, wie ein erster Atemzug an frischer Luft. Ich zog das Buch hervor, Mutters Buch.
„Das ist die Wahrheit! Unsere Geschichte, unsere Stimmen. Einst hatten wir das Recht, friedlich zu protestieren. Doch sie haben es uns genommen – aus Angst vor der Freiheit, die sie nicht ertragen!“
Ich sah jetzt, wie Darios Leute aus dem Schatten traten. Sie bewegten sich geordnet, ruhig auf die Lücken in der Menge zu, aber ihre Präsenz war wie eine Welle, die die starre Ordnung durchbrach.
„Harmonie, wie sie uns gelehrt wurde, ist eine Fassade. Sie meinen Stille. Aber wahre Harmonie entsteht nicht, wenn Stimmen erstickt werden.“
Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich ließ sie zu. Sie waren jetzt keine Schwäche mehr, sie waren ein Zeichen des Protests. Die Wahrheit war laut geworden.
Ich schlug das Buch auf und las: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.1“
Die Worte hallten über den Platz, trafen wie ein Stein auf ruhiges Wasser. Inmitten der Masse erspähte ich wie Ordnungsdrohnen auf mich zukamen. Doch sie waren ungeordnete Bewegungen nicht gewohnt und jede Ordnung war durch die Versammlung der Flüstergruppe gebrochen. Sie summten unentschlossen, ihre Scanner von ungewohnter Freiheit verwirrt, die sie nicht erfassen konnten.
Mein Blick suchte Darios, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann nickte er.
„Mein Name“, sagte ich jetzt, meine Stimme fester als je zuvor. „Mein Name ist Demokratie. Und Demokratie ist vielstimmig.“
Ich sah sie wieder. Die Taube stieg in den Himmel, ein heller Fleck in der bunten Menge. Mutter.
Die Drohnen fanden nun langsam ihren Weg – doch der Platz war erwacht. Die Stille war gebrochen und niemand konnte es ungeschehen machen.
Quellenangaben
1Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 8 Absatz 1.
2Informationen zu historischen Ereignissen und Informationen zur Versammlungsfreiheit: Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de).
3Tagesschau.de (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/demonstrationen-gegen-rechts-106.html)
4 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3 Absatz 3.
Seit einem Jahr suchte Irina nach einer neuen Wohnung. Hunderte Bewerbungen, hunderte Besichtigungen, unzählige Gesichter – an wolkenvollen wie sonnigen Tagen. Alles drängte sich dicht aneinander, ohne Distanz, ohne Masken. Doch Licht am Ende des Tunnels sah sie keines. Nur Absagen, oft schweigend, ohne jegliche Antwort. Sie rief noch einmal und noch einmal an, doch vergebens. Die Wohnungen waren schon vergeben.
„Vergebens, vergeben,“ flüsterte sie. „Nur ein kleines s trennt beide Wörter voneinander.“
Auch an diesem Tag begab sie sich voller Hoffnung auf die Wohnungsbesichtigung. In den Fenstern des sechsstöckigen Hauses ohne Aufzug erschienen besorgte Gesichter, die ebenso schnell wieder verschwanden. Kein Zirkus, keine Demo, nichts Besonderes – nur eine Schlange. Eine Schlange, länger vielleicht als die vor dem Dönerladen am Mehringdamm.
Irina stellte sich ans Ende der Schlange. Vor ihr standen Mützen, Schals, Strohhüte und Bandanas. Schuhe mit Absätzen und ohne, große Turnschuhe, kleine Kinderfüße und sogar nackte. Eine Hand hielt geschmierte Brote, Biobrötchen oder Döner, die andere ein Handy – oder einfach nichts. Der Geruch von Essen vermischte sich mit Parfüm, Schweiß und Waschmittel.
„Ist das nicht auch eine Art von Freiheit?“ dachte Irina plötzlich. „Das Recht, hier zu stehen, mich zu zeigen, meine Stimme abzugeben – wenn auch nur in Form eines Wohnungsantrags.“
Das Objekt der Begierde war eine Zweizimmerwohnung im sechsten Stock, ohne Aufzug, ohne Balkon. Ohne Tapeten und Bodenbelag – alles zur Selbstverwirklichung.
In der Küche gluckste der Wasserhahn, als wollte er sich für seine einsame Existenz entschuldigen. Das Wohnzimmerfenster zeigte nur die Wand des Nachbarhauses, doch Irina stellte sich vor, wie sie dort ihre Blumenvase platzieren würde.
„in diesem Zimmer können meine acht Kinder schlafen!“, rief ein Mann. „Nein, meine neun!“, widersprach ein anderer. „Ich zahle im Voraus für ein Jahr!“, rief jemand und zog ein dickes Portemonnaie hervor. Irina musste lächeln.
Als sie später aus dem Haus trat, sah sie zurück auf die neu gebildete Schlange. Die Neuankömmlinge warteten noch immer – manche müde, andere entschlossen. Sie dachte an all die anderen Male, an denen sie irgendwo angestanden hatte: bei Demos, in Rathäusern, vor Clubs.
In diesem Moment begriff sie: Es war nicht nur die Wohnung, die sie suchte. Es war das Recht, dabei zu sein, sich zu versammeln und sichtbar zu machen.
Die Versammlungsfreiheit, dachte sie, ist wie diese Schlange. Sie mag chaotisch und anstrengend sein, aber ohne sie wäre alles stumm.
Als Lelia erwacht, schwebt ein Gesicht über ihr. Ihre Augen sind wie zugeklebt und noch bevor sie ihn richtig sehen kann, kann sie ihn riechen. Sein Geruch war ihr schon am Abend aufgefallen – irgendwie frisch, aber nicht nach Parfum. Eher so wie frisch geduscht.
Lelia reibt sich die Augen und da sitzt Darius, fix und fertig angezogen, auf ihrer Bettkante. Selbst die Turnschuh hat er schon an.
„Verdammt … Ähm, Sorry … ich meine, ich wollte dich nicht wecken. Tut mir leid.“, stammelt er. Sie drückt sich aus dem Bett hoch und erst als dabei die Bettdecke von ihren Schultern rutscht, fühlt sie sich so komplett nackt, wie sie ist. Schnell rafft sie die Decke wieder nach oben und wickelt sich so gut es geht darin ein. Darius lächelt. Diese kleinen Grübchen, wenn er lächelt, waren Lelia sofort aufgefallen. Dann kratzt er sich am Hinterkopf und sagt: „Hey sorry, ich muss leider los. Ich wollte mich jetzt echt nicht so vom Acker machen. Aber … naja, ich hab einen Job und muss da echt pünktlich sein.“
Lelia kann ihre Gedanken nicht so schnell ordnen. Welchen Job? Hatte er ihr davon erzählt? Müsste sie das wissen? Sie haben so viel geredet. Es war so spät geworden. Wie spät ist es überhaupt? Sie hatten nur kurz geschlafen. Hatte sie mit ihm geschlafen? Naja, das sieht stark danach aus.
Als ob er ihren Gedanken gelesen hat, sagt er: „Ist erst halb acht. Du kannst noch weiter schlafen. Ich wollte dich echt nicht wecken. Nur nochmal kurz schauen … und naja.“
„Nicht so schlimm.“, ihre Stimme versagt und sie räuspert sich. „Willst du noch einen Kaffee?“
„Nee, keine Zeit. Ich muss jetzt wirklich.“
„Okay … hm, na dann …“
„Ja, genau. Hm, danke, wollte ich noch sagen. Also, danke für den schönen Abend gestern. War echt … schön.“, wieder lächelt er. Wunderschönes Lächeln, denkt Lelia.
„Also ich sag mal so Tschüss. Und wir sehen uns ja dann wieder an der Uni.“ Er zögert einen Moment, dann steht er auf und sagt schon in der Tür stehend: „leg dich wieder hin und schlaf noch ein bisschen. Die Nacht war ja kurz. Danke nochmal. Tschüss.“
Lelia hört seine Schritte im Flur, dann die Wohnungstür und immer leiser werdend, wie er schnell die Treppenstufen nach unten läuft. Dann ist alles still. Sie lässt sich rückwärts in ihr Kissen fallen, schließt die Augen, aber schlafen kann sie nun nicht mehr. Ihre Gedanken kreisen um Darius. Sein Geruch hängt noch in der Luft, in ihrem Bett, an ihr.
Lelia kriecht aus dem Bett, wirft sich ein T-Shirt über und schlüpft in die Jogginghose. Sie schlurft zum Bad, an der geöffneten Küchentür vorbei, wo Josie sich gerade einen Kaffee macht. „Ich mach dir gleich einen mit und dann kannst du mir alles erzählen“, ruft sie lachend während Lelia ins Bad tappt.
Als Lelia frisch geduscht und umgezogen in die Küche kommt, sitzt ihre Mitbewohnerin schon am gedeckten Frühstückstisch mit Aufbackbrötchen, Marmelade und zwei großen Tassen Kaffee.
„Na, schöne Nacht gehabt?“, fragt Josie lächelnd.
„Hmmm“, bejaht Lelia mit der Kaffeetasse bereits am Mund. Auch wenn Josie oft anstrengend ist, jetzt in diesem Moment freut sich Lelia, nicht allein sein zu müssen.
„Na wie heißt er denn? Und was ist passiert? Ich dachte du musst so viel lernen?
„Muss ich auch. Muss gleich weiter machen. Nur noch 5 Tage bis zum Staatsexamen.“
„Naja, Frühstück wird ja wohl noch drin sein. Und jetzt erzähle mal. Wo hast du den aufgegabelt?“
„In der Bibliothek.“
„Nicht dein Ernst! Dann ist das ganze lernen doch noch zu was gut“, Josie lacht so laut, dass es auch Lelia ansteckt.
„Darius, er heißt Darius. Er studiert VWL. Ich hab ihn schon paar Mal an der Uni gesehen, oder in der Bib. Also er war mir schon mal aufgefallen. Aber ich hatte halt noch nie mit ihm gesprochen. Naja, ich geh ja auch nicht zu dem hin und spreche den an.“
„Und gestern hat er dich angesprochen?“
„Naja, so ungefähr. Wir haben beide den Bus vor der Bib verpasst. Ich bin noch gerannt und da ist meine Tasche gerissen. Die Bücher überall auf dem Fußweg verteilt. Er war voll süß und hat mir beim eisammeln geholfen. Na und dann war der Bus natürlich weg.
Der nächste kam erst in 15 Minuten und da hat er vorgeschlagen, ob wir nicht zusammen zur nächsten Haltestelle laufen wollen. Auf dem Weg ist da der Dönerladen. Da haben wir dann noch was gegessen. Naja und dann war wieder der nächste Bus weg und dann sind wir weiter gelaufen.“
„Was? Seid ihr etwa von der Uni bis hierher gelaufen?“, Josies Blick ist so entsetzt, als ob es sich um einen Fußmarsch von 20 Kilometer durch die Wüste handeln würde.
„Hmmm, naja so weit ist es nun auch nicht. Und es war noch so schön warm. Und wir haben die ganze Zeit geredet. Ich glaube ich habe noch nie so lange am Stück mit einem Typen geredet.“
„Worüber denn?“
„Über alles irgendwie. Die Uni, das Leben, die Welt …. “
„Aha. Und weil ihr mal eine Redepause brauchtet, seid ihr miteinander ins Bett gegangen?“
„Naja, es war schon 1:00 Uhr, als wir hier ankamen. Und ich wollt eigentlich Tschüss sagen und dann haben wir uns geküsst. Und dann wollt ich nicht, dass er geht. So kam das halt.“
Josie lächelt süffisant. „Ach so kam das halt. Na, ich denke mal, das es dir ganz gut tut, dass er dich mal hinter den Büchern vorgeholt hat. Du siehst gleich viel frischer aus.“
„Danke. Aber ich muss jetzt unbedingt weiter machen. Ich hänge echt hinterher in meinem Plan. Also ich muss heute voll durchziehen und wegen heut Nachmittag …“
„Nenee, keine Ausreden. Du kommst schön mit. Gerade als angehende Juristin ist das deine staatsbürgerliche Pflicht.“, unterbricht Josie. „Du kannst den ganzen Tag lernen und von mir aus auch die ganze Nacht. Wenn du da nichts Besseres zu tun hast. Haha. Aber du kannst dich mal für zwei Stunden von deinen Büchern loseisen und mit mir zur Demo gehen.“
Da ist sie wieder, die anstrengende Josie, die nicht locker lässt, wenn sie sich in ein Thema verbissen hat. Im Moment kämpft sie gegen Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Rechtsextreme und Corona-Leugner. Als Gegenbewegung zur geplanten Corona Demo hat sie eine Menschenkette mit organisiert. Alle MedizinerInnen und Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, sollen sich um die Uniklinik herum positionieren, als Schutzwall gegen die Corona Leugner.
„Jede Person zählt. Du musst unbedingt mitkommen.“, beendet Josie ihre Rede und damit ist die Sache gegessen. Widerspruch zwecklos.
Am Nachmittag zieht Lelia den weißen Kittel, den Josie ihr besorgt hat, über ihre dicke Jacke. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie mit ihrem Lernstoff noch weiter in Verzug geraten ist. Sie ist heute gar nicht gut voran gekommen. Ihre Gedanken wandern immer wieder zu Darius, der letzten Nacht und seinem Lächeln. Und wenn sie es geschafft hat, nicht an ihn zu denken, sind ihre Augen zugefallen, weil sie viel zu wenig Schlaf hatte.
Auch wenn Lelia keine Medizinerin ist, hält sie es für sehr sinnvoll, die Sache zu unterstützen. Nicht zuletzt wegen ihrer Oma, die im letzten Winter Corona hatte und der es seitdem immer noch schlecht geht. Sie war lange im Krankenhaus und die Genesung ging sehr langsam voran. Lelia befürchtet, dass ihre Omi nie wieder die wird, die sie vor der Krankheit war. Klar, so ein alter Körper steckt das nicht mehr so leicht weg. Und Covid ist eben nicht nur ein Schnupfen, wie diese Spinner behaupten. Lelia kann einfach nicht verstehen, wie man so dumm sein kann und entgegen jeglicher wissenschaftlicher Evidenz und entgegen allen Fakten, Behauptungen aufstellen und verbreiten kann, und dass Menschen das auch noch glauben und dafür auf die Straße gehen. In ihren Augen sind es rücksichtslose Egoisten und manchmal wünscht sie, dass sie sich infizieren und selbst erleben, wie schlimm es sein kann. Aber das würde sie natürlich nie aussprechen.
Lelia zieht ihren Mundschutz über und stellt sich neben Josie, hinter ihnen der Westeingang des Uniklinikums. Josie hat ihr sogar ein Pappschild in die Hand gedrückt: IMPFEN = SOLIDARITÄT! Mit Trillerpfeifen, Trommeln und Sprechgesängen nähert sich der Demonstrationszug der Coronaleugner. Sie sind lange zu hören, bevor sie zu sehen sind.
Es sind mehr Menschen da, als Lelia erwartet hätte – auf der Demo aber auch in der Menschenkette. Und auch das Polizeiaufgebot ist beachtlich. Die Polizisten haben quasi eine zweite Kette gebildet, um die beiden Gruppierungen voneinander abzuschirmen.
Lelia beobachtet den Zug und liest immer wieder die gleichen Parolen über Impfzwang, Maulkorb, Gehirnwäsche …. Einige sind so verworren, dass Lelia nur den Kopf schütteln kann: es sind eben Spinner, denkt sie sich. Sie tragen Masken, die zerschnitten sind und einer tatsächlich einen Aluhut. Es gibt sogar Kinder auf der Demo, Familien und ältere Menschen. Wie verantwortungslos, denkt sich Lelia, haben die sich denn gar nicht informiert? Wie können sie nur diese Lügen, Märchen und Verschwörungsgedanken glauben? Lelia wird richtig wütend.
Da knufft Josie ihr in die Seite. Aus ihren Gedanken gerissen dreht Lelia sich zu ihrer Freundin. „Was ist los?“, fragt sie. „Hast du das schon gesehen? Schau mal wer da ist?“, sagt Josie und deutet mit ihrem Kopf in Richtung der Demonstranten.
Wer soll da sein? Ich kenne keine Corona Leugner, denkt Lelia. Sie scannt die Menge ab. Der Typ mit der olivgrünen Jacke, braune Haare, kommt der mir irgendwie bekannt vor, überlegt sie. Da trifft es sie, wie ein Blitzschlag. Darius! Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund unter der Maske starrt sie ihn an. Alles um sie herum verschwimmt, der Lärm wird leiser, die vielen Menschen sieht sie nicht mehr. Sie sieht nur Darius, der Darius mit dem Darius-Lächeln.
Und er sieht sie. Ihre Blicke treffen sich. In dem Moment löst sich Lelias Schockstarre und sie blickt betroffen zu Boden. So als ob sie etwas falsches gemacht hätte, wenn sie ihn anstarrt. Dabei ist er doch auf der falschen Seite. Sie blickt wieder nach oben. Er ist schon ein paar Schritte weiter gegangen oder eben vom Demonstrationszug weiter geschoben worden. Er dreht um und will auf sie zugehen, kommt aber nur wenige Schritte weit und wird von einem Polizisten ermahnt: „Weitergehen bitteschön. Immer schön in diese Richtung weiter laufen.“
Darius fuchtelt mit den Händen, so als ob er ihr Zeichen geben möchte, aber diese versteht Lelia nicht. Was gibt es da auch zu verstehen. Darius ist ein Querdenker, ein Coronaleugner, einer von den Spinnern, vielleicht auch noch rechts. Lelia kann es nicht verstehen: Wie konnte ich mich so in ihm täuschen? Wir haben doch über so vieles gesprochen? Wie konnte mir das nicht auffallen? Hat er mich belogen? Enttäuscht und zugleich wütend blickt sie ihm hinterher. Die Demonstration zieht weiter und irgendwann verschwindet er in der Masse.
Wieder zu Hause stürzt sich Lelia in die Prüfungsvorbereitung. Nur noch fünf Tage bis zum ersten Staatsexamen, da ist wirklich keine Zeit an diesen Querdenker Typen zu denken, ermahnt sie sich selbst. Auch Josie hat kein Wort mehr über ihn verloren und dafür ist Lelia ihr sehr dankbar. Es ist ungewöhnlich für ihre Mitbewohnerin so taktvoll zu sein. Wahrscheinlich hat selbst Josie bemerkt, dass diese Art von Wiedersehen mit Darius, Lelia sehr mitgenommen hat.
Lelia lernt Tag und Nacht. In die Bibliothek geht sie nicht mehr, sondern verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Sie zwingt sich, nur an ihren Prüfungsstoff zu denken. Sie muss ranklotzen, es liegt noch so viel Lernstoff vor ihr. Aber bei jedem Zucken ihres Handys wird sie nervös. Darius meldet sich nicht. Gut so, redet sie sich ein, ich will nichts mehr von ihm hören und sowieso mit so einem nichts zu tun haben.
Völlig ausgelaugt, wie eine leere Hülle steht Lelia vor dem Jura Bau. Sie hat es tatsächlich hinter sich gebracht. Monatelang hat sie gelernt für dieses Hammerexamen. Sie hat auf diesen Moment hingearbeitet. Und nun hat sie es hinter sich. Ob es gut war oder nicht, weiß sie nicht. Es ist ihr in diesem Moment komplett egal. Sie will nur noch nach Hause und schlafen. Die Sonne blendet, Lelia kneift die Augen zusammen. Sie fühlt sich wie ein Zombie.
Lelia macht sich auf den Weg zur Bushaltestelle. „Hey!“, hört sie jemanden rufen, sie dreht sich um und ein paar Schritte hinter ihr kommt Darius auf sie zu. Er hebt die Hand und lächelt. Lelia erstarrt, ihre Hände werden schwitzig und die Müdigkeit ist plötzlich wie weggeblasen.
„Hey, wie geht’s dir? Hast du‘s geschafft?“, fragt er.
Neben der anstrengenden Prüfungsvorbereitung hat sie in den letzten Tagen alles versucht, um ihn aus dem Kopf zu bekommen. Er hat sich seit der gemeinsamen Nacht nicht wieder gemeldet. Und jetzt steht er hier, als ob nichts gewesen wäre. Fast zweifelt sie daran, ob er es wirklich war, auf der Corona Demo oder ob sie ihn verwechselt haben könnte.
„Äh, hi.“, mehr kriegt sie nicht raus.
„Ähm, ja sorry, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Ich wollte dich erst deine Prüfung machen lassen. Naja und jetzt hast du es geschafft. Und deswegen hab ich hier auf dich gewartet.“
„Du hast auf mich gewartet?“, stammelt sie.
„Ähm ja, hab ich. Also ich wollte dich jetzt nicht stalken oder so. Ich dachte halt, ich stör dich nicht beim lernen. Und jetzt hast du wieder einen freien Kopf und wir können reden.“
„Reden?“, Lelias Gedanken sortieren sich langsam und sie sagt: „ Also ich bin eigentlich nur müde und will nach Hause. Ehrlich gesagt, hab ich grad nicht so viel Lust zu reden.“ Und in Gedanken fügt sie hinzu: mit dir hab ich sowieso nichts mehr zu reden.
Als ob Darius schon wieder ihre Gedanken gelesen hätte, nickt er und sagt: „Verstehe. Aber vielleicht zuhören? Ich will wenigstens das wegen Samstag klarstellen. Also, ich meine das mit der Demo, nicht das andere“ und dabei lächelt er wieder sein Darius Lächeln, das Lelias Herz ein paar Takte schneller schlagen lässt. „Wollen wir ein paar Schritte gehen?“
Lelia blickt ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Naja, da fährt gerade dein Bus weg. Du musst eh 10 Minuten auf den nächsten warten. Oder wir laufen schon mal zur nächsten Haltestelle.“, fragend blickt er sie an.
Lelia atmet hörbar aus und sagt schließlich: „Na gut. Was soll‘s. Gehen wir ein Stück.“
Darius legt sofort los: „Ich will halt nur sagen, dass ich weder ein Querdenker, oder Coronaleugner oder sowas bin. Und rechts bin ich übrigens auch nicht. Also das war mir halt wichtig, dass du nicht schlecht von mir denkst.“
Doch genau das tue ich, denkt Lelia, sagt aber: „Aha, und warum läufst du dann mit denen auf der Demo?“
„Ich bin echt kein Fan von einigen dort. Aber ich bin halt auch kein Fan von all dem, was hier gerade passiert. Masken, Impfen, 3G und sowas. Ich finde, das ist nicht zulässig, die Grundrechte so einzuschneiden und es ist auch nicht richtig. Und irgendwie muss das auch gesagt werden. Dass da auch einige Spinner dabei sind, find ich auch kacke. Aber für mich ist so eine Demo eine der wenigen Möglichkeiten zu zeigen, dass es so nicht geht. Was soll man denn sonst machen?“
Lelia beobachtet Darius von der Seite, wie er immer energischer wird, wenn er über dieses Thema redet. Auch in ihrem Bauch grummelt es und sie spürt wie in ihrem Kopf seine Worte abgeblockt werden. Diese Sprüche über Grundrechte hat sie schon so oft gehört. „Und was ist so schlimm daran eine Maske zu tragen oder Abstand zu halten? Daran stirbt man nicht. An Covid schon. Also mir fehlt da das Verständnis. Es gibt einfach viele Menschen, die unsere Solidarität brauchen. Und ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der alle nur an sich und ihre persönlichen Rechte denken. Ich finde es ist nicht zu viel verlangt auch an andere zu denken. Denn es bedarf nicht viel. Meine Oma zum Beispiel …“
Darius fiel ihr ins Wort: „Ich weiß, das hast du mir schon erzählt. Und ehrlich, die Geschichte hat mich auch echt nachdenklich gemacht.“
„Ach, hab ich erzählt? Naja, schön dass du darüber nachgedacht hast, aber hat ja scheinbar deine Meinung nicht geändert.“, sagt Lelia.
„Naja, irgendwie geb‘ ich dir auch Recht. Aber gleichzeitig finde ich, dass die aktuellen Regeln zu sehr bevormunden. Es muss irgendwie anders gehen, irgendwie besser. Also irgendwas dazwischen.“
„Achso, und an was hast du gedacht?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin da auch kein Experte. Aber ich kann dir ein Beispiel geben.“ Er stockt und Lelia ist sich nicht sicher ob er nachdenkt, abgelenkt ist oder es sich doch anders überlegt hat. Als er weiterspricht klingt seine Stimme anders, weicher, fast zerbrechlich.
„Mein Vater war krank. Er hatte Krebs, also Bauspeicheldrüsenkrebs und es war schon ziemlich schlimm. Naja, er … er ist gestorben. Und niemand war bei ihm. Niemand. Die ganzen letzten Wochen durften wir ihn nicht besuchen. Es gab keine richtige Beerdigung. Nichts. Er hatte diese beschissene Krankheit und war einfach nur ganz, ganz allein.“ Darius Stimme zittert. Lelia starrt vor sich auf den Boden, sie traut sich nicht ihn anzuschauen und muss selbst auch einen großen Kloß im Hals runter schlucken.
Darius knetet mit einer Hand seine Stirn und wischt sich dann übers Gesicht. Seine Stimme fängt sich wieder und er sagt: „Das meine ich halt. Wenn einer sowieso sterben wird, wieso darf er dann nicht selbst darüber bestimmen, ob er sich dem Risiko von Corona aussetzt? Sowas ist doch nicht richtig.“
Lelia hat das Gefühl, etwa sagen zu müssen, doch ihre Zunge klebt trocken am Gaumen. Sie muss sich räuspern. „Das mit deinem Vater tut mir leid.“ Mehr bringt sie nicht raus, denn jetzt noch vor ihm die Corona Regeln zu verteidigen, fühlt sich sehr falsch an.
Nach einer Pause ergreift Darius wieder das Wort. „Also eigentlich wollte ich dir das nicht erzählen. Ich wollt halt nur, dass du nicht denkst, dass ich ein Spinner bin.“
Inzwischen sind die beiden an der Haltestelle angekommen und die Anzeige zeigt noch 2 Minuten bis Lelias Bus kommt. „Hast du Hunger?“, fragt Lelia. „Wollen wir noch Mittagessen in der Mensa? Ich habe seit Tagen nichts ordentliches mehr gegessen.“
„Sehr gute Idee.“, sagt Darius und lächelt sein schönstes Darius Lächeln. Sie gehen weiter und hinter ihnen rauscht der Bus an die Haltestelle.
Zum Glück sitzt da dieses Mädchen neben mir, das ich volllabern kann:
„1977 sang der alte Hippie Bowie seinen Superhit zum ersten Mal. Genau fünfzig Jahre später haben wir den Refrain von `Heroes´[i] gesampelt. Und jetzt gehts auch schon los. Achtung – Kamera ab!“ Langsam drehe ich den Sound auf.
we can be heroes
just for one day
we can be heroes
just for one day
we can be heroes
just for one day
So nervtötend, unser Jingle, denke ich, zu dem sich die Welt allabendlich vor dem Bildschirm vereint, um sich selbst zu retten. Während ich innerlich den Kotz-Smiley mache, erkläre ich dem Mädchen neben mir:
„Unsere Dokusoap `Heroes´ ist ein Kassenschlager und wir senden immer live.“ Hoffentlich ist die schon 16, zwar liegt ein grauer Schleier auf den Zähnen, aber tolle Augen: Dunkle Ringe umgrenzen ihre strahlend blaue Iris.
„Anfangs liefen die Länderausgaben einmal wöchentlich“, fahre ich fort, „inzwischen kriegt es die Menschheit jeden Tag. Als Regisseur der deutschen Ausgabe trage ich verdammt viel Verantwortung – diese Variante benötigt besonderes Feingefühl. Natürlich ist alles KI-konzeptioniert, aber die deutsche Mentalität ist ja speziell.“ Immer diese Nazischeiße, mit der ich unterhalb der Nachweisgrenze spielen soll, führe ich in Gedanken fort.
„Aber jetzt sag mal, wie heißt du überhaupt und wie alt bist du? Du willst über uns schreiben, hab ich gehört?“ Immer schön interessiert tun, motiviere ich mich, wirkt gut auf meine Aura[ii].
„Ja also, ich bin Martha und ich bin 17. Ich schreib gerade n Artikel für unseren Schülerblog, auch über eure Serie. Find ich wirklich cool, dass ihr euch für den Klimaschutz einsetzt. Meine Lehrerin kennt hier wen und der meinte, ich könnte dir mal über die Schulter gucken.“
Ich lächele bewusst breit und nicke. „Ja, klar, machst du ja schon. Wenn du Fragen hast, immer raus damit!“ Sie ist 17, freue ich mich.
„Cool, danke. Also, wie sind Anouk und Jo denn an ihre Rollen als Hauptdarsteller in eurer Serie gekommen?“ Scheu ist sie nicht, die Kleine, gefällt mir immer mehr. Will wohl Schauspielerin werden und rechnet sich was aus durch mich.
„In den USA gab es Heroes ja schon, bevor Coogle, Cetlix und Ceta zum Medien-Monopolisten THE WORLD fusionierten. Als dann nach ihrer Fusion bekannt wurde, dass es eine deutsche Ausgabe geben würde, rissen sich Massen von Eltern darum, uns ihre Kids als Hauptdarsteller anzubieten.“ In den Rachen zu schmeißen wohl eher, korrigiere ich mich stumm.
„Anouk und Jo waren die screentauglichsten. Ihre Namen und den Style hat ein Logarithmus aus den deutschen Userdaten von THE WORLD errechnet und schwupps, waren die beiden unsere Helden. Das Script kommt übrigens aus meiner Feder. Ich will mich ja nicht selber loben, aber heute finde ichs besonders chic, hör mal:
„Anouk und Jo führen den Demonstrationszug an,“ lese ich vor, „seine Hand ergreift die ihre und gemeinsam halten sie ein Transparent in die Höhe: `Safe THE WORLD!´“
„Ja, ist gut“, murmelt Martha. Ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf, sonst wird das nichts mit deiner Karriere, würde ich ihr gern antworten. Aber ich habe Besseres zu tun, meinen Job zu machen zum Beispiel. Gerade muss ich kontrollieren, ob sich die Helden an mein Skript halten. Sie setzen die Szene göttergleich um, bestätigt mir ein Blick auf den Screen. Perfekten Avataren gleich sind die beiden völlig echt und das ist unser Trumpf.
„Angesichts all der künstlich generierten Schönheiten der letzten Jahre lechzen die Menschen nach Fleisch und Blut“, sinniere ich laut. Als Martha nicht antwortet, blicke ich kurz auf. Sie wirkt irritiert. Wie naiv ist die eigentlich? Besser, ich halt jetzt meine Klappe. Wenn die mich gleich die Sendung kommentieren hört, wird sie sowieso hin und weg sein. Und spätestens nach ein paar Nahaufnahmen von Jo ist sie voll auf Kurs. Die Menschen vergessen ihre Skepsis darüber, durch das bloße Ansehen einer Serie den Klimawandel stoppen zu können, indem sie in die hübschen, aber natürlichen Gesichter schauen. Wenn Jo lächelt, hauts sogar mich um, obwohl ich 100 Pro hetero bin. Und er tut, was er soll, genau 30 Sekunden hat er gestern seine Faust gereckt, damit wir eine lange Einstellung seiner Digiwatch in der Totalen senden konnten. Der Berliner Hersteller musste Hunderttausend dafür blechen, natürlich ist das productplacing der brands lokal angepasst.
„Marschiert los!“, befehle ich den Chips in ihren Ohren. Anouk und Jo können nicht selber denken, schon gar nicht politisch. Das nehm ich ihnen gerne ab. Voller Grazie führen sie dafür den Demonstrationszug schlecht bezahlter Statisten an. Freitags-Greta mit ihrem stieren Blick hat abgedankt, inzwischen ist die eh Uromi, zumindest medienmäßig und Autismus ist längst abgegrast. Wegen des Markenrechts durfte sie ihren fuckin´ Friday behalten, aber da streikt keiner mehr.
Meine ideal bearbeitete Stimme kommentiert den Auftritt unserer hirnlosen Beautys aus dem Off:
„Friedenstauben gleich strahlen Anouks Zähne in der Sonne.“ Ich muss warten, bis der Werbebanner für Zahnweißer wieder ausgeblendet wird. In Marthas Richtung sage ich:
„Auch die Kommentare schreib ich alle selbst.“ Nun kommt das Glanzspray an die Reihe:
„Dazu bilden Jos schwarzglänzende Haare den Kontrast, der jene Energie erzeugt, die ihr großer Kampf fordert.“
Ich hatte ganz verdrängt, was für einen Bullshit ich in letzter Zeit schreibe, hoffentlich hört Martha nicht genau hin. Den jetzt folgenden Kommentar verwende ich aus Faulheit immer wieder:
„Seit Anouk und Jo mit der WORLD-Bewegung eine kalte Revolution ausgerufen haben, bleibt am Wenden-Wednesday die halbe Menschheit Zuhause.“
Was für ein Zufall, dass wir mittwochs inzwischen eine Doppelfolge ausstrahlen, triumphiere ich still, mit vierfacher Werbedichte, versteht sich.
„Kein Grad weiter lautet unser Ziel“, brülle ich ins Mikro. Und – guilty pleasure – die Weltherrschaft unseres Konzerns THE WORLD lautet der Zweck, füge ich in Gedanken hinzu. Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder, so ehrenlos! Dabei ließe sich der Klimawandel längst rückgängig machen, hätte THE WORLD nicht ihre Finger im Spiel. Jedes Unternehmen, das Anstalten in diese Richtung macht, wird ja unverzüglich von uns aufgekauft. Wie Mücken vom Blut lebt THE WORLD vom Klimawandel. Die schön verpackten Katastrophenmeldungen sind unser täglich Brot. Wie heißt es doch so schön, Brot und Spiele braucht das Volk? Indem THE WORLD die Folgen des Klimawandels medial nett aufbereitet, unterhält sie die Bevölkerung, damit die auf keine blöden Ideen kommt. Und von all dem ahnen solche süßen Dinger wie Martha ebenso wenig wie der Rest der verblödeten Menschheit.
„Hört auf, die Prepper[iii] anzulächeln“, flüstere ich meinen Revolutionsführern gerade ein und dabei blicke ich meinem neuen Mädchen tief in ihre Augen, „die sind out, haben die neusten Umfragen ergeben. Dreht euch lieber ein bisschen zu den rassistischen Glatzköpfen, Querfront wird jetzt wieder hip.“
Warum machen die das nicht? Kann ich verstehen, aber müssen sie – ist neue Leitlinie. Ich will die beiden gerade ermahnen, als unser Babo[iv], der Producer dieses Schrotts, auf mich zustürmt, bestimmt zum Motzen, weil ich schon wieder ein Mädchen am Set habe. Dabei kann ich diesmal nichts dafür, die haben sie mir einfach hergesetzt.
„Ey Bro, ist dir klar, dass THE WORLD alle anderen Serien abgesetzt hat? Die wollten jede Konkurrenz ausschalten. Der ganze Umsatz von THE WORLD fließt jetzt in `Heroes´, alles hängt von uns ab!“
„Krass, aber yolo[v]! Warts ab, diese fiktive Demo in der Folge heute wird unser Orgasmus, weil die Einschaltquoten knallen werden“, ich recke meine Faust in die Höhe, hab ich mir vom schönen Jo abgeguckt. „Und das hier spiel ich für die Knutschszene von Anouk und Joe gleich ein.“ Meine Finger fliegen über den Verstärker.
„Eine der vielen Specials unserer deutschen Ausgabe ist es ja, immer wieder Teile von Bowies „Heroes“-Song in den Soundteppich einzuflechten. War meine Idee“, sage ich in Mathas Richtung und zu beiden: „Hört mal:“
And the guns shot above our heads
And we kissed as though nothing could fall
And the shame was on the other side
Oh we can beat them forever and ever
Unser Producer blickt mich runden Auges an. Er scheint sich gar nicht wieder einzukriegen angesichts meiner musikalischen Kreativität. Vielleicht hätte ich doch DJ werden sollen.
„Und über diese Szene lege ich Schussgeräusche“, ergänze ich, „die deutsche Regierung schießt auf unsere Helden, werde ich im Kommentar behaupten. Wird jeder glauben, die Politiker haben bei Clic Cloc eh gerade abgekackt wegen ihrer Resolution für ein demokratischeres Netz. Ganz nebenbei gesagt: Das wird ein echtes Problem für THE WORLD, aber darum kümmern wir uns später.“
Shit, im Eifer des Gefechts hab ich mich verplappert, merke ich jetzt, aber Martha wird mich sicher begehren, wie ich bin. Macht macht auch sexy.
„Jedenfalls lass ich den Sound dann direkt in unseren Jingle wabern:“
we can be heroes
just …
„Alter, was laberst du? Kriegst du gar nichts mit? Für Deutschland fällt unsere Quote sekündlich, gerade noch 20.000 Zuschauer haben wir, von THE WORLDs schwindenden Verkaufszahlen hier in Berlin ganz abgesehen.“
„What? Willst du mich verarschen? Wo sind sie hin, unsere Zuschauer?“
„Na da, wo du sie hingelockt hast mit der Werbung für deine Demo-Folge heute, du Genie – auf der Straße!“ Sein Zeigefinger weist nach draußen.
Um aus unserem gläsernen Turm zu gucken, schirme ich die siedende Sonne mit den Händen ab. Martha tut es mir gleich. Ein Aktivistenteppich wabert dem Horizont entgegen. An die eine Million Menschen, schätze ich. Transparente flattern die Straße des 17. Julis entlang bis hinauf zur Siegessäule. Dieser Zug steuert direkt auf uns zu.
„Safe our planet – kill THE WORLD!“, lese ich und „Schalte dein Hirn ein und THE WORLD ab!“ Ich blicke wieder auf den Screen und kontrolliere das Transparent von Anouk und Jo: „Shave THE WORLD!“ Vorhin hatte ich mich leider verlesen.
„Aber die dürfen doch nicht einfach unsere Serie kapern, um dann gegen uns zu demonstrieren!“ Ich kann es nicht glauben.
„Doch, Versammlungsfreiheit, seit 80 Jahren durchs Grundgesetz gesichert“, zischt Martha und schnappt sich ihre Tasche. Was für eine bekloppte Streberin! Um dem Blick unseres Producers nicht zu begegnen, starre ich weiter auf den Bildschirm. Anouk bleckt ihre makellosen Zähne und Jo reckt seine Faust gen Himmel, heute aber ohne Digiwatch. Nichts haben die im Hirn, hatte ich geglaubt, schon gar nichts gegen uns. Nun bilden die beiden die Spitze des Speers, den sie uns entgegen richten. Die eigenen Kinder fressen unsere Revolution, so lost! Und zwischen den beiden tritt jetzt Greta hervor. Durch den Bildschirm stiert sie mich an, ihre Augen blitzen überraschend vital.
Während ich versuche, mich zu beruhigen, schallt mir die Stimme vom guten alten Bowie entgegen. In all dem Chaos habe ich vergessen, die Musik abzudrehen. Irgendwie muss ich an den Aufnahmebutton gekommen sein, jedenfalls senden wir in voller Lautstärke die letzte Strophe von `Heroes´, die niemals in unserer Serie hätte landen dürfen:
We are nothing
And nothing will help us.
Maybe we’re lying
Then you better not stay
Martha seh ich nur noch von hinten, sie rennt in Richtung Fahrstuhl. Garantiert will sie mitmischen da unten, so wird die nie Karriere machen. Ist mir eh viel zu jung, die blöde Gans. Und Versammlungsfreiheit, dass ich nicht lache. 80 Jahre, uralt dieser Bullshit und hat bisher nichts als Unruhe gebracht, meine Meinung. Für mich wars das jedenfalls, soviel ist klar. Ich gebe das Zeichen für den Abspann.
we can be heroes
just for one day
we can be heroes
just for one day
we can be heroes
just for one day
Bevor der Babo noch was sagen kann, bin ich raus und weg. Vielleicht werde ich nun doch noch DJ, liegt mir eh viel mehr als das verlogene Gequatsche hier. Berstende Hitze flasht mich, als ich auf die Straße trete. Dazu die ganzen Menschen. Die meisten sind jung, viele hübsche Mädchen laufen hier herum, alle leicht bekleidet. So gesehen ist Versammlungsfreiheit doch ganz geil. Aber ich bin nicht in Stimmung für Mädchen, immerhin hab ich gerade meinen Job verloren. Bin ich überhaupt noch wer?
Ich ziehe mein Handy aus der Jeanstasche und filme mich selbst auf dieser Demo des Jahrhunderts – für den ersten Post meines neuen Cinstagram-Profils, als aufstrebender DJ brauche ich ein cooles Image. Dann lasse ich mich treiben im Strom der Menschen, immer der Sonne entgegen. Verdammt heiß ist`s heute, mindestens 35 Grad. Dass es während der letzten Jahren immer wärmer geworden ist, störte im gläsernen Turm kaum, der ist klimatisiert. Aber hier draußen …, ich wische mit dem Handrücken über meine tropfnasse Stirn. Und dann die ganzen Horrormeldungen durch den Klimawandel, die wir von da oben beschönigen mussten. Ich bin echt ein harter Hund inzwischen, aber die verdurstenden Kinder letztens haben selbst mich nicht kalt gelassen.
Und die neue Vorgabe mit der Querfront erst, die wir mit den Nazis bilden sollen! Ich mein, ich bin selbst Migrant, 2. Generation zwar, aber trotzdem irre. Was da in letzter Zeit lief, war sowieso Scheiße, auch das extreme Hochfahren der Werbeschiene. Angefangen hatte es ja mit `ner coolen Idee, damals in den USA, die Doku über Youngsters im Kampf gegen den Klimawandel. Und die Chance, ohne Schulabschluss Regisseur der deutschen Ausgabe zu werden, bekam ich eben nur mit THE WORLD als Arbeitgeber. Aber dann das immer extremere Faken, das der Babo verlangte. Und eigene Meinung ist nicht bei THE WORLD, die haben nicht mal `n Betriebsrat, amerikanischer Konzern eben. Und der entwickelte sich dann ja in eine echt creepy[vi] Richtung, von wegen Klimaschutz wäre schlecht für den Betrieb. Ich atme tief ein und wieder aus. Das tut gut, hab ich lang nicht gemacht, so bewusst geatmet. Ganz schön fremdgesteuert war ich in letzter Zeit, hab mich irgendwie total verloren.
Kein Wunder, dass ich jeden Tag ein neues Mädchen wollte. Gespürt hab ich ja trotzdem nichts, total abgeschnitten innerlich. Aber das ist jetzt vorbei. Ich fühl mich leicht wie lange nicht. Endlich darf ich wieder denken, was ich will. Und die anderen können das meinetwegen auch, mir doch egal, was es für THE WORLD bedeutet.
Ich blicke auf die unzähligen Menschen, die ihren Feind wie selbstverständlich zwischen sich aufnehmen, als wäre ich ein Teil von ihnen. Zum Glück kennt niemand das Aussehen vom deutschen „Heroes“-Regisseur, naja, vom ehemaligen inzwischen immerhin. Zusammen skandieren sie gerade: „Fuck THE WORLD, safe our planet.“ Geiles Gemeinschaftsgefühl hier. Irgendwie doch cool, dass die für ihre Meinung auf die Straße gehen. Sonst ändert sich ja nie was. Und wenn ich ehrlich zu mir bin, was ich ab sofort unbedingt wieder sein will, sehe ichs genauso, denke ich noch, bevor ich mitgröle. Wütend recke ich die Faust gen Himmel.
[i] Die Textzitate (kursiv gedruckt) stammen von David Bowies Song „Heroes“, 1977.
[ii] Aura (Jugendwort 2024) heißt soviel wie Ausstrahlung oder Charisma.
[iii] Prepper bezeichnet Personen, die sich mittels individueller Maßnahmen auf verschiedene Arten von Katastrophen vorbereiten.
[iv] Babo (Jugendwort 2023) bedeutet Chef oder Boss.
[v] Yolo: Bei diesem jugendsprachlichen Ausdruck handelt es sich um die Abkürzung für ‚you only live once‘ (‚man lebt nur einmal‘).
[vi] Creepy ist ein jugendsprachlicher Ausdruck für gruselig, merkwürdig.
Olena hatte keinen Führerschein. Das bereute sie immer häufiger. Seit Ausbruch des Krieges steigerte sich ihr Bedauern. Sie wollte weg. Unbedingt. Raus aus dem Inferno. Sie wollte nicht – sie musste. Sie konnte nicht länger ertragen, dass die potenzielle Sprengung des AKW Saporischschja, das einen Katzensprung entfernt lag, zur Erpressung benutzt wurde. Sie wollte einem Regime entfliehen, das sich hier eingenistet hatte und eine ständige Bedrohung darstellte – nicht in erster Linie die Bedrohung einer flächendeckenden Verseuchung, sondern vielmehr die Bedrohung ihres Seelenfriedens. Als einziger Ausweg blieb die schnellstmögliche Flucht.
Vom Dachbodenfenster ihres Kinderzimmers aus blickte sie auf das Bahnhofsgelände der südostukrainischen Kleinstadt. Olena dachte unaufhörlich daran, in den Westen abzuwandern. Genauso hartnäckig tat der Vater ihr Vorhaben als Flause ab, als ein Fieber, das man aussitzen konnte, weil es beizeiten vergehen würde. „Kind, willst du uns im Stich lassen?“, lautete die Frage ihres Vaters, die er bei jeder Gelegenheit so eindringlich aufsagte wie ein heilbringendes Gebet.
Doch Olenas Sehnsucht nach Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft verging nicht. Sie hatte sich manifestiert und wuchs wie ein Baum, der sich an seinen Verästelungen nicht beschneiden lassen wollte.
Ich gebe seinem Wunsch nicht nach. In dieser Spirale aus Angriff und Vergeltung kann ich nicht leben, dachte die kluge junge Frau mit den wachsamen Kulleraugen, die sich durch die Gräueltaten zunehmend entwurzelt fühlte. Das Kernproblem meiner Heimat ist die Aussichtslosigkeit, dass in naher Zukunft Frieden herrschen wird.
Sie schloss ihre Augen. Der Wind wehte günstig. Olena hörte einen ausfahrenden Zug und wusste, dass sie selbst im nächsten sitzen würde. Welch eine Motivationsspritze. Die Bahn war ihr Joker. Ausgerechnet das von Olena am konsequentesten vernachlässigte Verkehrsmittel würde als Wunderwaffe auf dem Weg in die neue Freiheit zum Einsatz kommen. Die Schienenstränge würden ihrer Rettung dienen.
Olena öffnete ihre Augen und schaute auf ihre zerkratzte Armbanduhr, als verliefe mit dem Fortgang der Zeiger die Gefangenschaft in einer eingekesselten Ödnis, die für sie ein für alle Mal der Vergangenheit angehören sollte. „Eine Stunde, dann fährt mein Zug in den Westen aus“, flüsterte sie.
Von Berlin hatte sie bisher nur Gutes gehört und noch Besseres gelesen. Seit dem Zusammenbruch der Mauer im Jahr 1989 war die Metropole für sie der Inbegriff eines unbeschnittenen Lebens. In Gedanken an die deutsch-deutsche Hauptstadt packte sie ausreichend Proviant und nahm ihre beharrlich zurückgelegten Münzen aus der Spardose, die auf ihrem Nachttisch stand. Etliche Scheine, die sie vorsichtshalber in einem Strumpf versteckt hatte, zog sie aus dem quietschenden Bettkasten hervor. Ihr Gepäck ergänzte sie um Unterwäsche und Oberbekleidung und schlichtete das Sammelsurium an Überlebensnotwendigem in ihren riesigen Wanderrucksack.
Nachdem sie ihre Habe sorgfältig mit einer Kordel verschnürt hatte, schickte sie ein leise hingesprochenes „Lebewohl“ an ihr Elternhaus. Überraschenderweise machte sich eine ungetrübte Erleichterung in Olena bei dem Gedanken breit, dass sie ihre Wiege, die sie von Geburt an bewohnte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie wieder betreten würde.
Eine aufkeimende Melancholie musste sie schließlich ersticken, als sie treppab mit bedächtigen Schritten das Erdgeschoss erreicht hatte. Denn zum Aufbruchszeitpunkt mixte ihre Mutter in der Küche die Zutaten für Olenas Lieblingskuchen, die Kiewer Torte, mit einem Rührgerät. Ein zweites, nun ganz stilles Lebewohl …
Die Schaukel neben dem Steinbrunnen im Garten, die auf einem Haufen gestapelten Plüschtiere in ihrem Zimmer, die sie zu Geburtstagen geschenkt bekommen hatte, das Allerlei an leckeren Speisen in den brodelnden Kochtöpfen ihrer Mutter: eine endlose Liste der Dinge, die nicht aufwiegen konnten, dass sie bald schon den Ballast ihrer derzeitigen Situation abstreifen dürfte. Wie von allein erhoben sich Olenas Finger zur Aufzählung jener billigend in Kauf genommenen Verluste. Ihre Zuversicht, all das würde in der neuen Heimat zu vagen Erinnerungen verstauben und allmählich völlig erlöschen, war überwältigend.
Olena stahl sich durch den Hinterausgang hinaus. Sie identifizierte die typischen Geräusche ihres Vaters in der geschlossenen Garage, während er am ausrangierten Dacia herumschraubte, als könne er ihn wie von Zauberhand reanimieren.
Olena erschrak über ihre jähe Erkenntnis, wie oft sie von ihrem Vater geschlagen worden war und wie zahm und gehorsam sie das gemacht hatte. Im zunehmend fließenden Gang, mit dem sie sich vom Elternhaus distanzierte, fiel es ihr leichter, sein Verhalten strikt zu verteufeln.
„Mein Zug, mein Zug“, wiederholte sie und beschleunigte dabei ihren ohnehin recht zügigen Schritt noch einmal beträchtlich. Das Echo von Schritten in Stiefeln mischte sich unter. Olena irritierten sie, denn normalerweise liefen auf dieser Achse kaum Personen. Ihre Blicke kannten nur eine Richtung: starr voraus. Keine Verschwendung an links und rechts oder gar nach hinten. Ohne Schlenker bewegte sie sich zu den Stufen, die zum Damm hinaufführten.
An den Brückenpfeilern erkannte sie bereits Graffitis und die Tags der Sprayer. Für Olenas Schenkel, die jeglichen Sport vermieden, entwickelte sich die Strecke zum Marathon. Trotzig zwang sie über die hohe Frequenz ihrer Arme ihre Beine zur Eile. „Mein Zug, mein Zug“, waren abermals die Worte, die ihre Hast begleiteten. Olenas Rucksack saß zu locker auf den Schultern und erzeugte Scheuerstellen, die anfingen zu brennen.
Jemand keuchte unmittelbar in ihrem Nacken. Sie realisierte nun, wie dicht sich ein Verfolger an ihre Fersen geheftet hatte. In diese akute Bedrohungslage hinein dröhnte die Durchsage durch den Bahnhof: „In einer Minute fährt der Zug auf Gleis 2 nach Berlin ab.“ Olena hechtete, zwei Stufen je Sprung, zum Bahnsteig hinauf. Der Pfiff des Schaffners schrillte. „Bitte zurücktreten! Der Zug nach Berlin fährt ab!“
Olena erfasste hinterrücks eine Hand.
„Hilfe“, schrie sie, „Hilfe!“ Niemand kümmerte sich. Sie mobilisierte ihre knappen Reserven. Nach zwei, drei misslungenen Befreiungsversuchen war ihr das entscheidende Manöver zugunsten ihrer Unabhängigkeit geglückt.
Mit allerletzter Kraft war sie in das Zugabteil hineingekrochen.
Ich habe ihn abgeschüttelt, dachte Olena, während der Zug lospreschte. Der Mann, aus dessen Fängen sie sich losgerissen hatte, war ihr Vater. Es nagte an ihr, dass ausgerechnet er einen so abgrundtiefen Groll gegen sie hegte. Wie er über sie hergefallen war und sie schlussendlich ziehen lassen musste, konnte sie erst jetzt bei der Abfahrt verarbeiten.
„Du miese Verräterin“, meinte sie seinen Lippen bei einem letzten Blick aus dem Fenster ablesen zu können.
Seid mir nicht böse, ich musste mich der Familie entziehen, ergänzte sie lautlos.
Wie hauchdünn sie einem Martyrium entgangen war! Einen Wimpernschlag danach hätte ihr Vater gewiss das Messer gezückt, das er für außergewöhnlich pikante Angelegenheiten mitführte.
Adrenalin fiel ab und die monotonen Gesänge der Räder geleiteten Olena in den Schlaf. Die gesamte Bürde, die ihren zerbrechlichen Körper zusehends erdrückte, schien postwendend wie weggeblasen. Pünktlich vor ihrer Ankunft erwachte sie: bereit zum Start in ihr neues Leben.
Bis zum Stillstand des Zuges im Berliner Hauptbahnhof hielt sie ihre Fäuste geballt. Das war das Relikt ihrer Habachtstellung, eine Olena nicht mehr belastende Angewohnheit, die sich während des Bombenhagels ringsum eingeschlichen hatte.
Die Anschrift ihrer vorläufigen Unterkunft wusste sie auswendig. In dieser spartanischen Bleibe – das hatte sie während der Planungen ihrer Reise abgeklärt – würde man sie aufnehmen.
Etwas unbeholfen und mit einigen Kurskorrekturen überquerte Olena die Spree, kam am Bundestag und am Brandenburger Tor vorbei und landete nach einer weiteren äußerst marternden Meile jenseits des Potsdamer Platzes in der Peripherie, wo sich ihre Unterkunft befand.
Ein freundlicher Greis mit akkurat gestutztem Oberlippenbart und waschechter Berliner Schnauze händigte ihr an einer notdürftigen Rezeption den Schlüssel aus. In der lichtarmen Kammer warf sie den überladenen Wanderrucksack ins Eck. Olena war von Striemen an den Schultern gezeichnet und von der Erschöpfung auf die durchgelegene Matratze gebannt. Sämtliche Sehenswürdigkeiten und Bauwerke hatten bei ihr einen derart fotografischen Eindruck hinterlassen, dass sie sich imstande gesehen hätte, sie aus dem Gedächtnis abzupausen. Und doch waren die Reize der Millionenstadt für die ursprüngliche Kleinstädterin anfangs erschlagend.
Es dauerte, bis sich Olena mit diesem zweistöckigen, grau gestrichenen Containerbau arrangiert hatte. Noch viel länger dauerte es, bis sie die hinzugewonnene Freiheit nicht nur wahrnehmen, sondern auch für sich beanspruchen konnte.
Monate vergingen, ehe sie sich in den Dimensionen dieses beinahe uneingeschränkten Freiheitsgrades zurechtfand und sich traute, gar unpopuläre Meinungen zu vertreten.
Der Übergriff ihres Vaters glich einem welken Horrorstreifen, dessen Band in ein sonnengeflutetes Regal abgeschoben und verblasst war. Die Lektion, dass sie Episoden des Grauens wieder abschütteln konnte, war lehrreich. Dennoch blieb dieser Vorfall ein Mahnmal in ihrem Hinterkopf, das sie auf Kommando herauskramen und reaktivieren konnte.
Für Olena gehörte es zur Routine, den Hauptbahnhof zu besuchen, an Tagen wie dem heutigen auch mal zu Fuß. An Bars und Boutiquen vorbei, deren durchaus verlockende Angebote sie sich nicht leisten konnte, war sie durch Nebenstraßen gebummelt und hatte sich auf Bänken unter Bäumen erholt, die im ungewöhnlich heißen Herbst kühle Schatten spendeten.
Kurz darauf kam der Bahnhof in Sicht. Der Schaltzentrale des Berliner Schienenverkehrs als stille Teilnehmerin beizuwohnen, imponierte Olena ungemein. An diesem Hauptumschlagsplatz konnte sie den diversen Sprachen und verschiedenen Dialekten Ankommender und Fortfahrender lauschen. Sie inhalierte die Gerüche der Dunstwolken, die scheinbar völlig regellos von dem Gelände in den Himmel stoben.
Den Zügen nahe zu sein, von denen irgendeiner in den nächsten Stunden in ihre Heimat ausfuhr, und dabei sicher zu wissen, dass keiner sie aus diesem sicheren Becken der Demokratie zurückbefördern würde. Dass sie sich keinerlei Sorgen um Leib und Leben, um Recht und Gesetz machen brauchte, all diesen Luxus symbolisierte ihr dieser Bezirk. Zeitweilig hielt Olena in der sie überwältigenden Dankbarkeit inne, in Gedenkminuten an ihr abgestreiftes Zuhause und ihre fernliegende Vergangenheit. War das nicht vollkommenes Glück?
Die Vorbereitung auf ihre Flucht seit Kriegsbeginn 2022 bestand im Wesentlichen im Studium der deutschen Grammatik. Wie viel Abstand ich zu meiner alten Heimat inzwischen habe, dachte Olena, die im laufenden Zugewinn ihrer Sprachkenntnisse sogar manchmal auf Deutsch träumte. Ihr kyrillischer Einschlag war inzwischen geringfügig und das Vertauschen der Artikel oder dass sie Nummern verkehrt herum nannte, geschah nur noch sehr vereinzelt. Nichts sollte sie davon abhalten, eine starke Frau zu werden. Was waren ein paar eigentümliche Betonungen verglichen mit ihrem errungenen Selbstbewusstsein? Über die Meilensteine ihrer Entwicklung hierzulande konnte sie selbst nur ungläubig den Kopf schütteln.
Ermattet von ihren inneren Bewegungen saß sie am Bordstein, eine beträchtliche Reihe von Taxis vor sich. Einer der Fahrer, Fjodor, war seit frühester Kindheit in Berlin ansässig. Er kurbelte das Fenster herunter und störte Olena aus ihrer Versunkenheit auf.
„Gnädige Dame, bei mir wäre noch ein Platz für Sie frei. Steigen Sie ein, ich bitte darum“, forderte Fjodor.
Er öffnete Olena zwar die Beifahrertür, hielt es jedoch für überflüssig, seine selbstgedrehte Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. Mit einem verschmitzten Lächeln gab er die unsteten Zähne in seinem bärtigen Gesicht preis.
„Ich möchte zum Breitscheidplatz!“, sagte Olena in einem resoluten und nicht minder befehlenden Ton. Sie richtete sich gemütlich auf dem Beifahrersitz ein und richtete mithilfe ihres Schminkspiegels ihr von teils heftigen Windstößen zerzaustes Haar. Ihr entging nicht, wie sich der Taxifahrer bemühte, lediglich beiläufig auf ihre Bluse zu schielen.
Olena kam es vor, als wolle er durch einen nun wilden Fahrstil von seiner Neugier ablenken. „Sie würden gerne mitbremsen, das merke ich“, behauptete Fjodor, nachdem er sich mehr als knapp an etlichen Radfahrern und Cityrollern vorbeigeschlängelt hatte. Er mogelte sich gleich wieder bei Dunkelorange über die nächste Ampel. Nervös schätzte Olena die Zahl der Straßen, die sie noch bewältigen mussten.
„Noch wenige Abbiegungen, dann sind wir da“, beruhigte sie Fjodor und erhielt umgehend einen Klaps auf seine Finger, die er frech über die Mittelkonsole zu Olenas Schoß führte. Unentwegt dabei seine verunsicherten Blicke, die sich in ihre Bluse verbissen.
Olena musterte Fjodor nun ihrerseits, so offensiv, als sei sie eine Diebin auf Beutezug nach auslesbaren Gesichtszügen.
„Ich kann Ihnen das Kompliment nicht ersparen“, schmeichelte er ihr. „Sie haben die wirklich seltene Gabe, Ihre Augen im gefälligen Maß zu schminken. Und Ihre Lippen! Ich bin mittlerweile jeder Frau dankbar, die sie belässt, wie sie von der Natur geschaffen wurden. Aber was mir am besten an Ihnen gefällt, falls mir die Feststellung nach so kurzer Zeit erlaubt ist: Sie sagen, was Ihnen nicht passt, und verteidigen Ihre Interessen.“
Olena ärgerte sich, dass sie spürbar errötete und sich in ihrer Verlegenheit räusperte.
Für Sekundenbruchteile fürchtete Olena, dieser unbekannte Mann hätte sie in ihre Rolle zurückgeworfen, in der jemand anderes über sie verfügen und ihr erworbenes Selbstbewusstsein schmälern konnte, und sei es eben durch Komplimente – eine Rolle, der sie sich mit der Abfahrt aus ihrer Heimat endgültig entledigt zu haben glaubte. „Humbug, absoluter Humbug“, wetterte sie zornig.
Fjodor, der mit seinem Glimmstängel eine untrennbare Beziehung zu führen schien, überhörte das geflissentlich und hauchte Olena hin: „Da vorne am Taxistand endet unsere Fahrt. Wenn ich sie Ihnen schenke, würden Sie annehmen? Und würden Sie zustimmen, wenn ich möchte, dass Sie mich Fjodor nennen?“
Olena wies auch seinen angedeuteten Kuss zurück, streckte ihm ihre Hand mit den laut Taxameter abgezählten Münzen hin. Und weil er sich zierte, sie anzunehmen, klimperte sie diese ins Mittelfach. Wortlos nahm Olena Abschied von Fjodor und stieg aus dem Wagen. Getrennt durch die Scheibe des Fahrerfensters, warf ihr Fjodor einen abermaligen Handkuss zu. Er winkte ein letztes Mal und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Sein Mercedes röhrte. Olena stand wie festgemauert und sah ihm hinterher, bis der Wagen um die erste Ecke bog und verschwand.
„Nie wieder Krieg“, sagte sie sich vor und zog dann los. Im Rhythmus ihrer Schritte wiederholte sie dieses Mantra. Wenige Minuten später erreichte sie die Veranstaltung. Fahnen, Banner, Absperrgitter, Friedenstauben – allüberall Botschaften und Signale in riesigen Lettern, die einhellig Verhandlungsbereitschaft fördern und Waffenlieferungen stoppen wollten. So viel deeskalierender Wille beeindruckte Olena.
Unmerklich wurde sie aufgesogen vom Meer der Demonstranten an diesem dritten Oktober. Sie dachte ehrfürchtig an den Mauerfall und erkannte in der Protestveranstaltung eine Parallele zu dem von den Scorpions mit „Wind of Change“ besungenen Sturz der anhaltenden Barriere zwischen Ost von West. Ein Ereignis, das Olena lediglich randständig aus Geschichtsbüchern vertraut war. Dennoch spekulierte sie eifrig, ob sich nicht einige jener Urgesteine auch heute unter den Widerständlern tummeln würden.
Als unvermittelt ein Mann auf die Bühne trat, sich dicht neben das Mikrofon eines passionierten Redners stellte und ihn mittendrin unterbrach, während er gerade ein flammendes Plädoyer für den Frieden abhielt, entstand zwangsläufig der Eindruck einer Drohkulisse. Würde jetzt Panik losbrechen, als der Eindringling unberechenbar herumhampelte und sich ungefragt das Mikro schnappte?
„Verzeihen Sie, dass ich mich in die Diskussion einmische. Ich bin mir sicher, ich kann einen ausschlaggebenden Teil zum Frieden beitragen. Die Dame, die vorhin bei mir im Taxi saß, möchte ich zur Bühne bitten. Ihr ukrainisches Wappen auf der Bluse erweckte in mir den Wunsch nach Völkerverständigung, nach Versöhnung. Unsere Nationen verhalten sich untereinander wie zornige Kinder, die sich angiften und auf Rache schwören. Ich habe versäumt, mich vorzustellen. Ich heiße Fjodor und bin Russe. Jedoch möchte ich es nicht versäumen, ein Gegenbeispiel aufzuzeigen.“
Und nach einer durch Rührung beklommenen Stille, als säße den Demonstranten ein kollektiver, sie allesamt in ihrer Angelegenheit vereinender Kloß im Hals, setzte er wieder ein. Er zwinkerte ins Publikum hinunter, wo sich manch anfängliche Skepsis in Sympathie und manch reservierte in informationsgierige Blicke verwandelt hatten.
„Wer an dieser Stelle die traditionellen weißen Lilien erwartet, den muss ich enttäuschen, die habe ich nicht dabei. Doch solche Gesten zählen ohnehin nichts, wenn keine Taten folgen. Mir ist es lieber, ein winziges, doch ernstgemeintes Zeichen zu setzen.“
Durch den Schleier seiner feuchten Augen sah er, wie die bunt gemischten Aktivisten der Kundgebung seine Gänseblümchen beklatschten. „Sie sind vom Wegesrand, doch sie kommen von Herzen.“
Die Menge johlte und grölte, hob und senkte ihre Myriade an Armen zu einer La Ola. Sie sangen eine Hymne des Friedens, inspiriert von den Klängen ihrer Lieblingsband Die Ärzte, die militärische Abrüstung und Pazifismus propagierte.
Olenas Zurückhaltungsbereitschaft war gänzlich versiegt. In Sturzbächen der Rührung rannen ihre Tränen. Erfasst von einem Schauer vollkommener Glückseligkeit, wurde sie vom Rückenwind des Mutes vorangetrieben, bis sie vor der Bühne stand. Nun war sie diejenige, die Fjodor zu sich heranwinkte. „Soldaten müssen Befehle ausführen, die ihre Kinder vaterlos und ihre Frauen zu Witwen machen. Gefallene Krieger, verzweifelte Hinterbliebene, menschliche Tragödien – diesen Wahnsinn müssen wir stoppen.“
Fjodor kniete nun und hielt Olena das Mikro nach unten. Sie wiederholte mit vor Aufregung bebender Stimme und fast schreiend ihren Appell. Eine Welle des Zuspruchs brandete ihr entgegen. Daraufhin nahm Fjodor Olena an der Hand und sie ließ es sich diesmal widerstandslos gefallen.
Der zunächst perplexe Redner ergriff das Mikrofon und akzentuierte jedes einzelne seiner Worte: „Wir dürfen den Staatsmännern niemals die Macht geben, uns nach Belieben auszurotten. Ich zitiere Carl Sandburg: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“
Fjodor räumte das Feld. Er sprang von der Bühne und sagte von der Euphorie des gemeinsamen Sinnes beflügelt: „Flanieren wir nun durch einen der umliegenden Parks. Besuchen wir eine der urigen Berliner Kneipen. Stoßen wir an. Auf uns. Auf die Freiheit in diesem Land. Komm, wir gehen, der Abend ist noch jung.“
„Klingt fabelhaft … Fjodor“, entgegnete Olena, die sich trotz der Zusage in ihrer Körpersprache noch ein wenig verschlossen zeigte. Mit verschränkten Armen vor der Brust fügte sie hinzu: „Übrigens, mein Name ist Olena.“
„Wunderschön, O-l-e-n-a. Ein Name wie Musik. So etwas Melodisches passt zu dir.“
Zahlreiche Passanten in den sich lichtenden Reihen zeigten dem abziehenden Paar ihre Daumen nach oben. „Hab Dank für die gelungene, unbeschwerte Völkerverständigung“, rief einer von Weitem und eilte zu Fjodor, um ihn per Handschlag zu beglückwünschen. „Große Geste. Sie zeigt, dass sich harmonische Beziehungen ausbreiten können, vielleicht sogar schneller als die Brutalität des Krieges.“
„Du wirst ja überschüttet von Komplimenten“, flüsterte sie Fjodor ins Ohr, stolz auf sein galantes Auftreten.
„Das sind Nebensächlichkeiten. Lass uns gehen“, bestand er, während Banner zusammengerollt wurden und die letzte Rednerin die Bühne geräumt hatte, doch der Puls des Anliegens noch über die Veranstaltung hinaus weiterpochte. „Ich bin gespannt, was heute Nacht geschieht.“
„Du bist ein Vogel“, ulkte Olena im Überschwang.
„Du aber auch!“, gab Fjodor das fragwürdige Kompliment zurück.
„Das bin ich wohl. Ein Vogel, der in Berlin fliegen gelernt hat. Zuvor habe ich lange übersehen, dass ich Flügel habe. Und jetzt tragen sie mich jeden Tag noch ein Stückchen höher.“
Diese Demonstration war eine Art der Krönung der freien Meinungsäußerung, wofür andernorts hinterrücks Handschellen klickten, dachte Fjodor mit Blick auf den Mond, der über den Häuserschluchten aufleuchtete. „Unsere Freiräume müssen wir heut Nacht dringend in den Clubs der Stadt betanzen, Olena“, sagte er aufgepeitscht.
Sie wussten beide, dass sich Demokratie im realen Leben bewähren musste, faktisch in den Alltag integriert, nicht in der Theorie erschöpfen durfte.
„Bist du immer so schnell unterwegs, wenn du gerade nicht rauchst?“, fragte Olena.
Fjodor stockte. Sein Gang kam zum Erliegen. Olena stellte sich frontal vor den Mann, über dessen Charakter sie in den vergangenen Stunden so viel erfahren hatte. Im vagen Schwebezustand zwischen freundschaftlichem Interesse und leidenschaftlichem Begehren schloss sie ihn in die Arme. Ein Bekenntnis, dass sie eine gemeinsame Zukunft, vorerst unausgesprochen, keineswegs mehr für unmöglich hielt.
„Wir müssen miteinander reden.“
„Wieso? Spielt er schon wieder verrückt?“
Anne lächelte. Kein Wunder, dass Theo sofort weiß, warum es Gesprächsbedarf gibt.
„Ja, und er hat sich gesteigert. Diesmal hat er die Versammlung selbst angemeldet. Peter sitzt ja in der Versammlungsbehörde und hat mich informiert.“
„Mein Gott, gibt der denn nie Ruhe? Was ist es denn diesmal? Klimawandel? Baumfällen stoppen, Tempolimit oder Vermögenssteuer?“ Theo schüttelt den Kopf.
„Wehrhafte Demokratie, aktiv gegen Faschismus. Ganz großes Kino.“
„Na prima, nicht nur dass er wieder total die Gegebenheiten verleugnet, nein, er begibt er sich darüber hinaus in Gefahr. Bei der Stimmungslage hier bei uns wird er doch spätestens nach fünf Minuten zusammengeschlagen. “
„Du weißt doch, dass ihn so etwas nicht schreckt. Erinnere dich an die aufgerissenen Hände, als er sich letztes Jahr auf der Zufahrt zur Rüstungsfirma festgeklebt hatte.“
Theo atmet tief ein und aus. Immer wieder der gleiche Ärger mit Emil. Fast sehnt er sich nach der Corona-Zeit zurück. Auch wenn sie natürlich die Situation völlig gegensätzlich beurteilt hatten, bremste diese Zeit zumindest seinen Tick zum Protestieren aus. Komischerweise hatten ihn damals die Lügen der Regierung, die korrupte Pharmamafia, der Impfwahnsinn und die eingeschränkten Grundrechte überhaupt nicht interessiert. In der Zeit hatten sogar Anne und er überlegt, auf die Straße zu gehen. Und Emil? Der hatte nur behauptetet, dass zwar nicht alles perfekt laufen würde und es weiß Gott schwierig für viele wäre, aber Krisen nun Mal Einschnitte mit sich brächten. Und wenn Menschen in ihrem Leben nichts Schlimmeres als diese Krise erleben würden, wären sie im Vergleich mit anderen Zeiten und Gegenden immer noch gesegnet.
„Und Bill Gates?“, hatte Theo gefragt.
„Das ist ein US-amerikanischer Unternehmer, Programmierer und Mäzen. Kann man nachlesen“, hatte Emil geantwortet.
Für jeden Mist auf die Straße gehen und die Familie vor Ort in Verruf bringen, aber andererseits sowas von naiv sein. Unglaublich.
Anne unterbricht seine Gedanken. „Vielleicht würde ein psychologisches Gutachten helfen. Ganz normal ist das doch wirklich nicht.“
Entmündigen? Oder gibt es da einen woken Namen für heutzutage? Theo überlegt kurz. Er hatte sich insgeheim auch schon mit dieser Idee beschäftigt, aber bei realistischer Einschätzung wäre das zurzeit nicht durchzusetzen. Vielleicht bestände zukünftig die Chance Exzesse einzuschränken. Vielleicht eine Datei über solche Leute? Noch war die Zeit dafür nicht reif. Heutzutage gilt so ein Verhalten leider als normal.
„Das können wir uns abschminken. Die Szene, die so etwas zu beurteilen hätte, ist doch genauso drauf. Musst dir doch nur mal die Diskussionen in den Öffentlich-Rechtlichen antun. Die halten so etwas für angemessen.“
„Guck ich nicht“, erwidert Anne.
Die beiden sitzen da und schweigen. Die Nachbarn redeten schon länger über die vertrackte Situation und geben Ratschläge: „Was sagt er denn zum Asylrecht und dass täglich Frauen abgestochen werden? Und dass die Klimakatastrophe nur normale Wetterschwankungen sind, ist doch längst Fakt. Nennen sie im doch mal ein paar Quellen auf X und YouTube.“ Verena und Theo lächelten immer nur gequält und sagten, dass sie für Emil ja leider nicht verantwortlich wären. Die Nachbarn schüttelten dann nur den Kopf.
„Wir müssen hin und ihm das ausreden“, sagt Anne.
Obwohl Theo an den Erfolgsaussichten zweifelt, bleibt ihnen gar keine andere Wahl. Auf der Fahrt zu Emil greift Anne das Thema wieder auf: „Man könnte doch eine Altersbeschränkung einführen. Oder eine Themenbeschränkungen. Es wird doch immer behauptet, dass wir eine Demokratie sind. Wir könnten doch abstimmen, wofür man auf die Straße gehen darf.“
Theo knurrt: „Keine Chance. Noch nicht. Andere Länder sind da weiter.“
Emil ist zu Hause, sein Fahrrad steht vor der Tür. Auch so ein Tick von ihm.
Emil strahlt, als er die beiden sieht. „Na so was? Kommt rein. Das letzte Mal habt ihr mich bei meinem runden Geburtstag besucht. Das mit dem Abnabeln klappt ja gut bei uns.“
„Du brauchst gar so zynisch zu ein. Telefon funktioniert in beide Richtungen. Hättest uns ja anrufen können. Wir wissen überhaupt nicht, wie es dir geht“, jammert Anne
„Mal abgesehen davon, dass ich es die letzten Male immer gewesen bin, der sich gemeldet hatte, wüsste ich leider nicht, was wir zu bereden hätten. Aber nun kommt rein.“
Im Wohnzimmer sieht es aus wie immer: „Kannst du nicht irgendwann das Bild von Che Guevara abnehmen? Du machst dich lächerlich“, legt Theo los, kaum dass er sitzt.
„Weißt du was? Ich finde den eigentlich gar nicht so toll. Den habe ich nur hängen, um Leute wie euch zu ärgern.“
Theo regt sich auf: „Leute wie uns? Leute mit Grips im Kopf? Leute die sich nicht veräppeln lassen?“
„Ja, genau. Solche Leute. Aber ihr hattet ja noch nicht einmal den Arsch in der Hose für eure Haltung einzustehen. Als die Idioten hier durch die Straßen gelaufen sind, war ich zumindest zur Gegendemo da. Das ist doch das Tolle, dass sogar ihr hier für eure Sache auf die Straße gehen dürft. Euch habe ich dort allerdings nicht gesehen. Ich weiß nicht, was bei euch falsch gelaufen ist.“. Theo schüttelt den Kopf und seufzt als er sich setzt.
„Hätte ich mir denken können, dass du da auf der anderen Seite gebrüllt hast. Und jetzt organisierst du sogar solche Demos. Für die sogenannte Demokratie,“, faucht Verena.
„Woher wisst ihr das denn schon wieder? Der liebe Peter? Keine Ahnung wie es mir geht, aber dass ich eine Demo angemeldet habe wisst ihr. Ich glaube ich ruf mal seine Chefin an.“
„Versuche es doch. Da kommst du auch nicht weiter,“ kommentiert Theo.
Emil schüttelt den Kopf: „Ach ja, ich vergaß. Ihr seid ja ganz dicke zusammen im Schützenverein.“
„Auf jeden Fall geht das alles nicht. Du musst doch mal zur Ruhe kommen. Wenn ich an die Fotos in der Zeitung denke von dieser Schwulendemo. Du im Regenbogenshirt. Das ist doch peinlich. Dabei bist nicht mal schwul. Immerhin!“, sagt Theo.
„Wenn ich mir euch so ansehe, wäre das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Ich weiß nicht, was ich bei euch falsch gemacht habe. Und glaubt mir, dass werden mit die ersten sein, die über die Klinge springen müssen, wenn es so weiter geht.“
„Wir sind trotz dir vernünftige Menschen geworden. Was ist nun? Sagst du diese dämliche Veranstaltung ab?“, fragt Anne. „Wenn du wenigstens für die richtigen Dinge auf die Straße gehen würdest.“
„Die richtigen Dinge? Ich demonstriere für das, was mir richtig erscheint, für das, was mir wichtig ist und gegen das, was aus meiner Sicht falsch läuft. Das konnte euer Großvater nicht. Der ist irgendwo im Osten verreckt. Da war Großmutter schwanger mit mir. Und dann waren da Aufrüstung, weißgewaschene Nazirichter und Professoren, Schweinebucht, Gleichberechtigung, Radikalenerlass, § 218, Notstandsgesetze, RAF-Terror, Kultur- und Schulpolitik, Umweltschutz, und so weiter. Keine Sorge, ich habe immer das für mich Richtige gefunden, um auf die Straße zu gehen. Und jetzt will ich zumindest meinen Teil dazu beitragen, dass ihr das zukünftig auch noch könnt.“
„Für mich musst du nicht auf die Straße alter Mann“, sagt Theo.
„Vielleicht hätte ich es mit euch anders machen sollen. Mehr Zeit mit euch verbringen? Auf jeden Fall werde ich nie so alt sein, wie du es schon bist Theo. Ein wenig verstehe ich euch sogar. Die „goldene Generation“, aufgewachsen mit dem Glauben, dass alles immer nur besser werden kann. Hatten wir euch sogar gepredigt. Und dann hat euch die Realität irgendwann eingeholt. Na ja, und es ist wohl das Los der Eltern. Entweder dienen sie den Kindern als Vorbild, oder Abschreckung. Das mit dem Vorbild habe ich leider nicht hinbekommen,“ stellt Theo resigniert fest.
„Komm Anne. Mit dem Alt-68´er ist nicht zu reden. Wir lassen prüfen, ob wir die Demo nicht auf anderem Weg verhindern können.“
Mit unterschiedlichen Hoffnungen gehen alle auseinander.
Emil hofft, dass auch ein paar Enkel mitlaufen werden und Anne und Theo hoffen, dass die Problemfälle wegsterben. Man wird sehen.
„Was machst du da noch?“, fragte sie und blickte vom Fernseher zu ihm.
„Ich habe noch die Korrekturen“, erwiderte er unsicher. Sie klingt so ungeduldig wie immer, dachte er. Und ich verliere auch immer mehr die Geduld. Wahrscheinlich werde ich…
„Ich dachte, damit wärst du schon längst durch“, bemerkte sie überrascht.
„Bin ich auch“, gestand er.
„Was hast du denn da noch zu tun?“, fragte sie und strich vorsichtig über ihren Bauch.
Gleich ist sie bei mir, dachte er alarmiert. Er blickte aus den Papieren hoch und sah auf die leere Straße, wo der Abschnittsbevollmächtigte sonst immer seine Runde drehte. Über dem Schreibtischlicht erkannte er in dem Fenster ihre beiden Spiegelbilder und dahinter die Wohnung, auf die sie so lange hatten warten müssen. Auch der Fernseher, von dem sie sich nun losriss, war neu. Der Bildschirm zeigte eine Pressekonferenz. Flüchtig dachte er an Den Schwarzen Kanal. Wann habe ich ihn zuletzt gesehen? Letzte Woche? Andere Gedanken drängten sich in sein Bewusstsein. Das ist nun der Augenblick, den ich so sehr gefürchtet habe, dachte er. So musste es ja kommen.
„Zeig mal her“, befahl sie knapp.
Er lehnte sich in dem alten Holzstuhl zurück, so dass sie einen ungehinderten Blick auf die Schülerarbeit werfen konnte, die sie nun ungeduldig ergriff.
„Das ist doch gut, sehr gut, was hast du denn?“, fragte sie Stirn runzelnd.
Er deutete bloß auf den Namen des Schülers und verbarg die Hände in seinem Gesicht.
„Ist das etwa…? Haben die Eltern nicht den Antrag gestellt?“
Er nickte bloß. Sie atmete schwer aus.
„Ich muss dir ja wohl nicht erzählen, wozu wir in solchen Fällen angehalten wurden.“
Er nickte wieder.
„Wir können politisch Unzuverlässigen unmöglich eine gute und schon gar keine sehr gute Note geben“, dozierte sie.
„Ich weiß“, quetschte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Sie schwieg.
„Du bist in letzter Zeit sowieso auf dünnem Eis gegangen“, erinnerte sie ihn bitter.
Er schloss die Augen und sah sich wieder im Büro des Schulleiters. In den letzten Monaten hatten sich Dinge ereignet, die er nie…
„Gib ihm doch einfach die Note, die er verdient“, empfahl sie tonlos.
„Wie darf ich das verstehen?“, fragte er und blickte ihr direkt in die Augen.
„Das weißt du ganz genau“, erklärte sie mit unbewegtem Gesicht.
Er senkte den Blick. „Ich bin zu alt“, sagte er matt und sah in die Spiegelbilder von Gegenwart und Vergangenheit.
„Blödsinn“, sagte sie und versuchte ein Lachen. Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Du schaffst das schon.“
Er schwieg.
„Wir schaffen das“, sagte sie.
Er schwieg.
„Was guckst du?“, fragte sie wachsam, als sie sah, dass er aus dem Fenster blickte.
„Jetzt dreht er wieder seine Runde“, antwortete er. So wie immer, dachte er, aber um die Zeit noch nie. Außerdem….
„Ja, weil er unser Abschnittsbevollmächtigter ist“, erklärte sie und musterte ihn von der Seite.
„Aber diesmal ist er nicht alleine“, gab er zu bedenken.
„Ist doch egal. Wir müssen noch die Bescheinigungen bei ihm abgeben. Das ist nicht egal.“
„Ja, das dürfen wir nicht vergessen“, bestätigte er, während andere Erinnerungen und Mahnungen auf ihn einstürmten.
Plötzlich stand er auf und zog seine Schuhe an.
„Wohin gehst du?“, fragte sie überrascht und versuchte ein weiteres Lachen. „Jetzt brauchst du ihm doch nicht die Bescheinigungen zu geben.“
„Bloß eine Runde drehen“, sagte er.
Schweigend strich sie über ihren Bauch. Schließlich sagte sie, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden: „Gut, aber ich werde schon schlafen, wenn du wiederkommst.“
***
Auf der Straße war plötzlich niemand mehr zu sehen. Unsicher blickte er sich nach dem Abschnittsbevollmächtigten um. Die Straße war still. Gleichzeitig glaubte er, Geräusche zu hören, die er noch nie zuvor gehört hatte. Er sah zu den Fassaden empor. Brannten da mehr Lichter als sonst? Er sah auf die Uhr. Es war nicht seine übliche Zeit. Es waren nicht seine üblichen Gedanken. Er betrachtete die Trabanten. Schlafen, dachte er. Nicht von Schülern träumen und auch nicht von Kollegen, schon gar nicht von denen, denen Unrecht zu tun ich wieder gezwungen werde. Schlafen, nur noch schlafen. Ich gehe unter, dachte er. Ich gehe nach oben, dachte er dann und ging ins Treppenhaus.
Oben schloss er die Tür auf. Entgegen ihrer Ankündigung schlief sie nicht, sondern saß vor dem eingeschalteten Fernseher. Vor der Mauer hatten sich immer mehr unzählige Menschen versammelt.
22. Februar 2025 – Lörracher Marktplatz – Verena
Morgen um kurz vor 18 Uhr werde ich den Fernseher einschalten, um die ersten Prognosen zur Bundestagswahl zu hören. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Die Vorhersagen sagen nichts Gutes und ich fürchte, dass es noch schlimmer kommen wird.
Aber heute stehen wir noch einmal hier auf dem Marktplatz und demonstrieren, gegen die AFD, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen rechtsextreme Hetze und Gewalt. Wir sind viele, um die 3000 hier in der Kleinstadt, mehrere Hunderttausende im ganzen Land.
Ich habe „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ auf mein Plakat geschrieben. Mit 12 war ich zum ersten Mal auf einer Demo, 1993 nach den rechtsextremen Morden in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen. Damals gab es hier eine Lichterkette, meine Schulkameradinnen und ich wollten unbedingt dabei sein. Wir trugen T-Shirts, auf denen Artikel eins des Grundgesetzes stand.
Es ist kalt, ich trete von einem Bein aufs andere. Ich könnte mir einen warmen Tee holen, es sind Leute da, die gratis heiße Getränke und Waffeln verteilen. Ich werde zehn Euro in eine Spendenkasse legen, um sie bei der Deckung der Unkosten zu unterstützen. Ich mache ein Foto von den farbigen Schirmen, die wir passend zum Motto „Abschirmen gegen rechts“ mitgebracht und aufgespannt haben. Bunte Schirme vor strahlend blauem Himmel, was für ein unschuldiges Bild. Wenn ich es poste und „Demo gegen rechts“ darunter schreibe, bekomme ich sicher ein paar Likes von meinen Freunden.
14. Juli 1851 – Gefängnis im Ludwigsburger Schloss – Julius
Ich muss meiner Verlobten schreiben und ihr Mitteilung machen. Nun bin ich doch gefangen gesetzt worden. Ungewiss, wann sie mir den Prozess machen. Sie muss wissen, dass ich alsbald nicht zurückkehren werde, dass mich mein Entschluss von damals nun doch teuer zu stehen kommt.
An jenem Pfingsttag vor zwei Jahren in Reutlingen haben wir uns mit der Freiheit bekannt gemacht. 20 000 Mann waren wir, 20 000 für das Ende der Knechtschaft, prachtvoll war unsere Erscheinung mit den schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die Soldaten hatten uns versichert, den Befehl zu verweigern, die Waffen nicht gegen das Volk zu erheben und auf unserer Seite zu kämpfen. Unbeirrbar sind wir marschiert, 20 000 Mann, mit demselben Ziel vor Augen, 20 000, bereit zu kämpfen: „Freiheit oder Tod“.
So mancher hat schon mit dem Leben bezahlt. Freilich, wir waren bereit dazu, doch der Gedanke an sie verlässt mich nicht. Mir ist, als müsste ich sie um Vergebung bitten.
Fürwahr es war schwer, mich mit meinen eigenen Wurzeln auszureißen und die Heimat zu verlassen. In der Schweiz habe ich Zuflucht gefunden. In diesem vorzüglichen Land, wo es schon vollbracht ist, wo die Verfassung gilt und ein jeder frei ist. Oft bin ich in Arbon am See gestanden, wo am anderen Ufer die Heimat zu erahnen ist. Und doch habe ich dort auch mein Herz verschenkt. Kaum ein halbes Jahr ist vergangen, seit wir uns verlobt haben.
Hernach ist mein Vater erkrankt, die Geschäfte gingen schlecht, meine Geschwister waren verzweifelt. Ich bin zu meiner Familie zurückgekehrt, um ihnen beizustehen. Nun muss ich den Preis dafür bezahlen. Sie werden mich bis zum Prozess hierbehalten. Die Anklage wird auf Hochverrat lauten, Festungshaft wird die Strafe sein. Ich werde die Reise auf den Hohenasperg antreten und die Redensart, über die wir manches Mal gespottet haben, wird sich an mir bewahrheiten: „Der Hohenasperg ist der höchste Berg Württembergs, es dauert nur fünf Minuten, um hinaufzukommen, aber Jahre um wieder hinunter zu gelangen.“
Ich will nicht bitter werden, ich werde es überdauern. Manchen Freund werde ich dort oben wiedersehen. Falls sie uns das Gespräch verbieten, werden wir schon einen Weg finden, uns zu verstehen. Mit dem Rhythmus unserer Schritte werden wir „Versammlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit“ rufen. Falls wir den Himmel nicht zu Gesicht bekommen, werden wir des blauen Himmels über Reutlingen gedenken und der schwarz-rot-goldenen Fahnen.
Morgen muss ich um Papier bitten und um die Erlaubnis ersuchen, meiner Verlobten zu schreiben. Nur weiss ich nicht, wie ich es beginnen soll. Diese Nacht, die erste, die ich auf einem Strohsack zubringe, werde ich darüber obsinnen. Soll ich ihr sagen „Harre aus und warte auf mich“ oder „Mein Schatz, es wird lange dauern, warte nicht“.
19. Januar 1919 – Vor einem Schulhaus in Stuttgart- Conrad, Julius‘ Sohn
Es ist bitterkalt, aber das soll uns nicht stören. Vielleicht wird es noch schneien. Schnee brauchen wir wohl nicht mehr. Die zahllosen weissen Flugblätter, die so weit das Auge reicht, vom Himmel zu fallen scheinen und auf der Strasse liegen, kontrastieren ebenso gut mit dem blauen Himmel. An den Häuserwänden sind bunte Plakate angeklebt. Die Menschen sind zahlreich gekommen, hunderte Frauen und Männer harren vor dem Wahllokal oft stundenlang aus, bis sie an der Reihe sind. Ihre Stimme zur Wahl der verfassungsgebenden Nationalversammlung wird zählen.
Eines der Flugblätter mahnt die Leute, nicht stehen zu bleiben, keine Ansammlungen zu bilden, gleich nach der Wahl nach Hause zu gehen. Wer Waffen mit sich führt, werde verhaftet. Sicherheitsleute sind vor Ort. Bis jetzt ist es allenthalben friedlich geblieben.
Wir werden wohl den ganzen Tag hier zubringen. Mein Sohn hilft mir dabei, unsere Stimmzettel an die Wähler auszuteilen. Es soll ihm den Zorn darüber nehmen, dass er fünfzehnjährig noch zu jung ist, um an die Urne zu gehen. Er macht seine Sache gut, spricht die Leute höflich an und bittet um eine Stimme für die Deutsche Demokratische Partei.
Eben habe ich einen Mann sagen höre, er nehme heute das erste Mal in seinem Leben an einer Wahl teil. Den bisherigen Parlamenten habe er seine Stimme verweigert, der Reichstag sei doch nur eine Rednertribüne gewesen.
Dieser Rednertribüne habe ich 20 Jahre lang angehört. Noch vor wenigen Wochen, als alles auf Messers Schneide stand, war ich in Berlin. Mit dem Willen der Wähler werde ich bald wieder aufbrechen, man hat den Tagungsort nach Weimar verlegt. Dort werden wir gleich die Arbeit an der neuen Verfassung aufnehmen.
Ich bin versucht mit dem toten Vater zu sprechen: «Siehst du, Vater, diesmal wird es gelingen.» Doch ehe ich seine Stimme vernehme, welche mir gratuliert, sehe ich die Gesichter meiner beiden Neffen vor mir und höre sie schreien. So jung haben sie unter fremdem Himmel ihr Leben verloren, niemand weiss, wo sie verscharrt wurden. Wir haben wahrlich um den Frieden gerungen, für sie kommt er auf immer zu spät.
Die Stimme meines Sohnes reisst mich aus den Gedanken: «Vater, willst du nicht einmal ausrechnen, wie viele Jahre deines Lebens du im Zug nach Weimar und Berlin verbracht haben wirst?» Ich schmunzle, doch ich werde es sein lassen. Ist dies doch die einzige Zeit, die mir zum Lieder machen bleibt.
13. Januar 1943- ein Wohnhaus in Stuttgart – Wolfgang, Julius’ Enkel
Gleich kommt mein Vetter, er wird an der Seite zur Küche hereinschleichen. An den Freitagabenden treffen wir uns und ziehen uns zum heimlichen Radiohören zurück, es ist uns gelungen, Radio Beromünster aus der Schweiz zu empfangen. Gleich wird das Pausenzeichen wieder ertönen, der Westminsterschlag. «Freiheit, Freiheit, Freiheit, Freiheit» singe ich im Stillen, wenn ich sie höre.
Mein Vater hat schon an diesem Schreibtisch gesessen und gearbeitet. Früher hing ein Bild vom Hohenasperg hier. «Die Burg der Väter» hatte jemand darübergeschrieben. Vorsicht ist geboten, daher habe ich ihn wie so vieles andere entfernt. nur die Miniaturschreinereien, die mein Grossvater während der Haft angefertigt hat, stehen im Regal.
Der Vater ist nicht mehr am Leben, wie gut, dass er zu einer Zeit sterben durfte, als das Ziel erreicht schien. Damala, als die Verfassung in Weimar verabschiedet wurde, haben die Zeitungen es schneller gedruckt, als der Vater es uns in Briefen berichten konnte.
Seinen Füllfederhalter habe ich noch, ich nehme ein Blatt Papier zur Hand und tränke die Feder in Tinte: «Versammlungsfreiheit», schreibe ich. «Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln». Rasch zerknülle ich das Papier und werfe es in den Papierkorb.
Ich stehe auf und werfe einen Blick hinaus auf den Kastanienbaum und die Strasse. Obwohl ich täglich das Haus verlasse, kommt es mir so vor, als habe ich schon lange den Himmel nicht gesehen, nur ein fahlgraues Rechteck hinter einem Fensterrahmen.
18. September 1945 – dasselbe Wohnhaus in Stuttgart – Lotte, Wolfgangs Frau
Ich stehe am Fenster. Bald wird hier neben mir eine Wiege stehen und in einem Jahr wird mein Kind schon groß genug sein, um im Vorgarten Kastanien aufzuheben. Ich hoffe, dass es diesmal ein Mädchen ist.
Die Stadt liegt in Trümmern, doch von hier aus sehe ich es nicht. Bald werden die Freunde eintreffen. Sie werden das Gartentor öffnen, den Kiesweg im Vorgarten entlanggehen, Wolfgang wird sie unten an der Tür erwarten und sie einlassen. Jeder, der auf der Strasse vorbeigeht, kann sie sehen.
Nur einen Tag hat es gedauert. Erst gestern ist Wolfgang mit dem Antrag zu den Amerikanern gegangen, heute haben sie ihm die Bewilligung erteilt. Die Gründung von Parteien ist wieder gestattet. Schon heute werden sie sich also hier versammeln, um die Demokratische Volkspartei wieder aus der Taufe zu heben, ein kleiner Kreis wird es heute sein, bald schon werden sich andere anschliessen. Hier am Fenster will ich stehen und sie kommen sehen.
Ich werde mir das Bild für immer einprägen, wie blau der Himmel heute war und wie prächtig der Kastanienbaum.
Ich habe Wolfgang nie verraten, dass, wenn er freitagabends mit seinem Vetter am Radio sass, unsere grossen Söhne und ich zwei Zimmer weiter dieselbe Sendung hörten. Die Buben waren findig und wussten, es zu bewerkstelligen, den ausländischen Sender zu bekommen. Ich weiss nicht, ob er schmunzeln oder mir grollen würde, wenn er es wüsste. Seit Kriegsende bin ich nicht mehr in der Lage, beim Westminsterschlag zucke ich zusammen. Die Angst all der Jahre wird niemals mehr völlig aus meinem Körper weichen.
Ich sehe mich schon Abend für Abend hier am Fenster sitzen und warten, bis Wolfgang das Gartentor öffnet und nach Hause kommt, jetzt wo er die politische Arbeit wiederaufnehmen wird. Ein langer Weg liegt vor ihm, er wird ihn entschlossenen Schrittes gehen, und ich werde hinter ihm stehen.
Heute Abend, wenn die Versammlung vorbei ist, habe ich noch ein Geschenk für ihn. Ich habe einmal aus seinem Papierkorb ein zerknülltes Blatt Papier genommen, um zu schauen, ob die Rückseite noch zu gebrauchen wäre. Er hatte den Paragraphen zur Versammlungsfreiheit darauf notiert. Ich habe es glattgestrichen, aufbewahrt und eingerahmt.
22. Februar 2025 –Lörracher Marktplatz – Verena, Julius’ Ururenkelin
Als mein Großvater Wolfgang starb, war ich acht Jahre alt. Während seiner politischen Laufbahn hat er sich der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen angenommen. Ob er den ersten Schritt gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, dass nur ein Bruchteil des Zieles zu erreichen war?
Statt um Vasen, Silberbesteck, Bilder und Schmuck ist unter meiner Mutter und ihren Brüdern nach seinem Tod ein Streit entbrannt. Die Miniaturschreinereien, mit denen sich mein Ururgrossvater Julius während seiner Haft auf dem Hohenasperg die Zeit vertrieb, waren bereits dem dortigen Museum vermacht worden. Aber alle wollten das zerknüllte und dann gerahmte Blatt Papier haben, das unsere Grossmutter für ihn aufbewahrt hatte und das bis zu seinem Tod über seinem Schreibtisch hing. Am Ende entschied das Los und meine Mutter hat es bekommen.
Ungefähr zur gleichen Zeit wollte ich zum ersten Mal auf eine Demo gehen. Die Republikaner waren in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen, aus diesem Anlass gab es Kundgebungen. Unsere Lehrerin hat mit uns über Fremdenfeindlichkeit gesprochen, davor hätte ich nicht gewusst, was das ist. In meiner Grundschulklasse in einem Stuttgarter Vorort waren wir Kinder mit mindestens zehn verschiedenen Nationalitäten, das war nichts Bemerkenswertes für mich. Ein Junge hat damals das Wort ergriffen, und gesagt, wenn die Ausländer gingen, würde er mitgehen, sonst hätte er ja keine Freunde mehr.
Nach diesem Gespräch wollte ich dringend an der Demonstration teilnehmen, aber meine Mutter, die hinging, erlaubte es nicht. Zum Trost hat sie mir den Bilderrahmen mit der Handschrift meines Grossvaters geschenkt und ich habe das Wort «Versammlungsfreiheit» gelernt.
Manchmal denke ich an meine Ururgrossmutter, die sich dreieinhalb Jahre geduldet hat, bis ihr Verlobter aus der Haft entlassen wurde. Zwei Jahre später ist sie nach der Geburt von Zwillingen gestorben. Wenn sie nicht gewartet hätte, könnte ich jetzt nicht hier unter dem blauen Himmel in der Kälte stehen und mir die Hände einer Teetasse wärmen. Sie war 30 als sie starb, ich bin jetzt anderthalbmal so alt wie sie. Weder in der Schweiz, noch in Württemberg hat sie jemals das Wahlrecht besessen.
So wie hier und heute bin ich gegen den Irak-Krieg auf die Strasse gegangen, gegen Studiengebühren, für Frieden in der Ukraine, für die Gleichstellung der Frau und für die Rechte von Sans-Papiers. Vielleicht stehe ich in absehbarer Zeit wieder hier, weil die Brandmauer gegen die AFD gefallen ist. Ich sollte mir wieder ein T-Shirt drucken zu lassen, auf dem «Die Würde des Menschen ist unantastbar» steht, das könnte ich in Zukunft immer anziehen, zumindest wenn es wärmer ist.
Dass ich hier stehe, erfordert keinen Mut und kein Opfer, ich nehme kein Risiko auf mich, es ist ganz leicht, es kostet mich nichts. Ich stehe hier nur, weil ich es kann.
Cassel 1824.
Die Öllampe zischte und warf den Schatten eines Garderobenständers an die Wand. Wie ein dürrer, aufrechter König mit einer bizarren Krone stand der Schatten unbeweglich im Raum der Apotheke Zum Adler und schien der Stimme eines jungen Mädchens zu lauschen: Fräulein Dorothea Wild. Es roch nach Wein und Schmalzbroten.
Vier Männer und sechs Frauen saßen auf gepolsterten Stühlen, kleine gusseiserne Tischchen neben sich, und sahen in die Richtung des Mädchens, blickten aber durch sie hindurch. Hinter ihren Stirnen entstanden beim Zuhören Bilder: Ein kleiner, frecher Kater in viel zu großen Stiefeln und einem Filzhut mit Feder stolzierte gerade an einem großen Kornfeld vorbei und redete mit den Landarbeitern, als sei das so üblich: „‚Wem ist das Korn, ihr Leute?‘
‚Dem großen Zauberer‘! “
Die Brüder Grimm hatten das Märchen vom gestiefelten Kater in ihre Sammlung aufgenommen, obwohl es nicht so richtig zu der behaglichen Stimmung der anderen Märchen passte, es klang eher wie ein Schelmenstück, aber den Leuten in Cassel gefiel es. Man musste ja nicht extra betonen, dass es ursprünglich aus Frankreich stammte: Chat botté.
Zwischendurch lief eine leise Lachwelle durch die Zuhörerschaft bei der Stelle, als der Kater die Maus fraß, die vorher ein großer Zauberer gewesen war. Sich vorzustellen, dass ein mächtiger Zauberer zu einer Maus wurde, herrlich! Schon vor zehn Jahren hätte man Napoleon in eine Maus verwandeln sollen! Jedenfalls war er ein schlaues Kerlchen, dieser Kater!
Das Mädchen, dessen lange Zöpfe zu einem Haarnest hochgesteckt waren, hob den Kopf, strich ihre Korkenzieherlocken zurück, legte das Buch auf den Tisch und sagte: „Und nun will ich Ihnen noch ein Märchen erzählen, das auch in die Sammlung gekommen ist. Ich habe es selbst aus meiner Familie mitgebracht. Meine Vorfahren waren nämlich Hugenotten und wussten viele Geschichten. Ich liebe diese Geschichte ganz besonders, denn sie handelt von einem Königskind, das im Wald aufwachsen soll. Ein bösartiger Zwerg hat es sich durch listige Züge geholt. Und ich denke, eigentlich würde es dem Kind ganz guttun, im Wald bei den Tieren aufzuwachsen, aber die Mutter ist natürlich sehr traurig, weil sie es zurückhaben will, und das geht nur, wenn sie den Namen dieses kleinen Koboldes herausfindet. Aber hören Sie selbst, es ist ein zu komischer Name! Diesmal lese ich nicht, sondern trage es vor:
Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter und war ganz besonders stolz auf sie. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam und ihm sagte: ‚Ich habe eine Tochter, die weiß die Kunst, Stroh in Gold zu verwandeln …‘“
Jemand klopfte an die Tür und riss die Gesellschaft aus ihrer Ruhe. Der Müller mitsamt seiner schönen Tochter verschwanden.
Herr Hundertmarck, der Apotheker, lang und dürr, entfaltete sich, stand seufzend auf und ging zur Tür. Schon an der Art, wie er ging, konnte jeder erkennen, dass er ungehalten war. Er drehte den Schlüssel herum und öffnete.
„Die Apotheke ist geschlossen um diese Zeit!“
„Ja, das weiß ich, Herr Hundertmarck“, sagte eine Männerstimme, „aber hier auf der Straße liegt ein toter Mann, und ich dachte, dass Sie vielleicht helfen könnten…“
„Einem Toten?“
„Vielleicht ist er doch noch nicht ganz tot …“
„Ich komme.“
Herr Hundertmarck drehte sich zu seinen Gästen um, die alles mitbekommen hatten, und hob hilflos die Schultern.
„Sie entschuldigen mich.“
Einer der Stühle schurrte zur Seite und der Mann, der darauf gesessen hatte, erhob sich. „Vielleicht kann ich behilflich sein“, murmelte er, machte eine Verbeugung zu den Damen hin, lächelte kurz der Vorleserin zu. „Sie entschuldigen, Mademoiselle Wild“, und ging nach draußen. Die Tür stand noch halb offen.
Auf dem Trottoir, wie man den Gehsteig seit neuestem nannte, hatten sich ein paar Gestalten zusammengedrängt.
Der Zuhörer aus der Apotheke trat näher und sah nun, wie Herr Hundertmarck neben einem Mann kniete, der zusammengekrümmt auf dem Weg neben der Straße lag. Der Zylinder des Verunglückten lag im Dreck.
Hundertmarck richtete sich auf und sagte: „Ich fürchte, der Mann ist tatsächlich tot, jedenfalls fühle ich keinen Puls und das Atmen hat aufgehört.“
„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte der hilfsbereite Mann.
„Jemanden müsste zur Gendarmerie gehen …“
„…Aber das könnte ich doch tun!“
„Ja, das wäre gut. Tun Sie das! Vielen Dank, Herr Hofstetter. Ich bringe den Toten inzwischen in den Schuppen nebenan.“
Balthasar Hofstetter wusste zum Glück, dass die Gendarmerie in der Weserstraße lag und hastete durch die halb dunklen Gassen der Altstadt, die nur von dem trüben Schein der neuen Rübenöllampen erhellt waren. Ihr Licht kämpfte sich durch den Nebel, der von der Fulda aufstieg und sich in der Stadt verteilte. Endlich sah Balthasar einen gelben, verwaschenen Fleck: das Fenster der Polizeiwache.
Zweimal musste er klingeln, bevor er ein Geräusch hörte. Der Riegel wurde zur Seite geschoben und ein Polizeidiener mit Zopfperücke stand vor ihm.
„Guten Abend“, sagte Balthasar. „Ist der Herr Hauptwachtmeister zu sprechen?“
Bevor der Polizeidiener etwas sagen konnte, hörte Balthasar von drinnen: „Lass ihn rein, Bergmann und mach die Tür zu, dieser feuchte Nebel dringt mir durch Mark und Bein.“
„Jawohl, Herr Hauptwachtmeister Grote!“
Als Balthasar die geheizte Stube betrat, sah er, wie ein älterer Mann, der besagte Hauptwachtmeister, hin- und herging, mit einem beschriebenen Blatt in der rechten Hand. Polizeidiener Bergmann setzte sich und griff nach einer Feder, die auf einem Lederlappen gelegen hatte.
Grote blickte kurz auf und sagte zu Balthasar: „Setzen Sie sich, ich bin gleich soweit. Also, wo waren wir, Bergmann?“
„Mit dem Pfeil, dem Bogen …“, sagte der Polizeidiener.
„Richtig. Da wollen wir doch mal sehen, was der Herr Schiller so gedichtet hat. Er war ja bekannt als Aufrührer und Revolutionär, der mit den Fürsten nicht immer gut auskam. Was hältst du von folgender Zeile: Wie im Reich der Lüfte König ist der Weih – durch Gebirg‘ und Klüfte herrscht der Schütze frei. Ihm gehört das Weite, was sein Pfeil erreicht, das ist seine Beute, was da kreucht und fleucht …“
Der Schreiber kratzte sich am Kopf und meinte: „Man könnte es als eine Kritik gegenüber dem Kurfürsten auffassen, denn ein einfacher Schütze hat nicht das Recht, überall zu jagen, was da kreucht und fleucht. Zumindest nicht in den Wäldern, die der Krone gehören.“
„Richtig!“, nickte Grote. „Das Lied kommt auf den Index, auch wenn es von Monsieur Schiller ist. Machen Sie eine Notiz!“ Er legte das Blatt weg und wandte sich an Balthasar: „Wir sind hier bei einer wirklich großen Sache. Die scheinbar harmlosen Lieder des Volkes haben es in sich.“ Er griff nach einem anderen Blatt. „Oder hier: Winter ade, scheiden tut weh. Aber dein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht …
Klingt zunächst harmlos, aber wenn man bedenkt, dass Kurfürst Friedrich I. die Schweden in einem spektakulären Winterfeldzug besiegt hat und seitdem der Winterkönig hieß, klingt das Lied ganz anders, da es wahrscheinlich die Franzosen gedichtet haben, die mit Schweden paktiert hatten. Es ist eine Kritik an einem deutschen Kurfürsten, raffiniert verkleidet in ein harmloses Jahreszeitenlied.“
Er wedelte mit einem anderen Blatt herum: „Und das hier scheint mir besonders gefährlich zu sein: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger sie schießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei. – Nun, Bergmann?“
Bergmann blickte kurz zur Decke und sagte dann: „Das klingt … wie eine Ermutigung, nach außen zu buckeln, aber sich den Rest zu denken.“
Grote fuhr fort: „Richtig! Eine versteckte Aufforderung zur Heuchelei gegenüber unserem Kurfürsten.“ Er nahm ein anderes Blatt zur Hand.
„Oder hier noch eines von diesen verdächtigen Liedern: Es, es, es und es, es ist ein harter Schluß. Weil, weil, weil und weil, weil ich aus Frankfurt muß… Da fragt man sich doch“, sagte Grote, „warum der Sänger so dringend Frankfurt verlassen muss. Hat er etwas auf dem Kerbholz? Hat er eine nicht genehmigte Straßenversammlung organisiert oder Flugblätter gegen die Obrigkeit verteilt?“ Er nickte bestätigend mit dem Kopf: „Ja, wir haben da etwas ganz Großes aufgetan. Er blieb stehen und sah Balthasar an. „Und was wollen Sie?“
Balthasar erhob sich. „Herr Hauptwachtmeister Grote, ich wollte auf keinen Fall Ihre wertvollen Ausführungen stören, aber ich muss einen Toten melden, der vor der Apotheke Zum Adler auf dem Trottoir gelegen hat. Ungeklärte Todesursache.“
Grotes Stirn schlug Furchen und verschob seine Perücke. Er nahm sie ab, kratzte sich auf seinem fast kahlen Schädel und setzte sie wieder auf.
„Das ist alles?“, fragte er.
„Jawohl.“
„Gut, Sie können gehen. Bonsoir.“
Balthasar blieb stehen.
Grote sah ihn scharf an. „Ist noch etwas?“
„Ja“, begann Balthasar. „Ich könnte vielleicht bei der Ermittlung dieses Todesfalls helfen, denn es könnte doch sein, dass es ein Mord ist. Mein sehnlichster Wunsch ist es, selbst einmal bei der Polizei zu arbeiten und ich wollte fragen, welche Ausbildung…“
Grotes Augenbrauen schoben sich zusammen und sagte: „Herr…?“
„Hofstetter.“
„Alors, Herr Hofstetter. Ich werde Ihnen kurz erzählen, was Sie wissen müssen: Erstens: Normalerweise nehmen wir nur Leute aus dem Militär in den Polizeidienst. Es gibt keine Polizeischule oder dergleichen. Waren Sie beim Militär?“
„Nein, ich bin Schustergeselle und habe…“
„Schustergeselle? Da würde ich doch sagen…“ Grote blickte zu seinem Gehilfen hinüber, zwinkerte mit einem Augen und fuhr fort: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ Er lachte und hustete gleichzeitig, dann räusperte er sich und fuhr ernsthaft fort: „Bon. Das ist das eine. Zweitens: Was ist die Aufgabe eines Polizisten?“
„Nun … ahm, ich denke, Verbrecher zu verfolgen, Morde aufzu…“
„Das war eine rhetorische Frage, Hofstetter! Ich komme zu zweitens. Also: zweitens besteht die vordringliche Aufgabe der Polizei in Hessen darin, den Kurfürsten und den Adel, also die Obrigkeit zu beschützen, darauf zu achten, dass kein Aufruhr entsteht, dass es keine Zusammenrottung von undurchsichtigen Elementen auf der Straße gibt, dass keine Flugblätter gegen den Adel geschrieben und verteilt werden und vor allem keine gefährlichen Lieder in die Welt gesetzt werden, die den Kurfürsten und den Hof insgesamt beleidigen könnten. Das ist unsere Aufgabe. Wir sorgen für Ruhe im Land. Freiheit führt zwangsläufig zu Unruhe. Merken Sie sich das! Nebenher lösen wir den einen oder anderen Mord und klären Verbrechen auf. Wir sind aber hauptsächlich verantwortlich, dass hier – nun?“ Grote machte eine Pause und wartete.
Bergmann rief: „Ruhe!“
„Richtig! Es soll Ruhe herrschen und niemand soll auf revolutionäre und freiheitliche Gedanken kommen! Man weiß ja, wie es in Frankreich ausgegangen ist. Zum Schluss rollten die Köpfe.“
Er griff nach einem Buch, das auf seinem Schreibtisch lag und hielt es in die Höhe wie eine Trophäe. „Und hier, Herr Hofreiter, habe ich persönlich eine Verschwörung entdeckt, die … die noch Wellen schlagen wird. Kennen Sie das Buch?“
„Nun… ich kann es von hier aus nicht…“
„Es stammt aus Cassel, herausgegeben von unseren sogenannten hochgelehrten Herren Grimm mit dem harmlosen Titel Kinder- und Hausmärchen.“
„Ja, ja, das kenne ich. Vorhin…“
„Ich sage nur: Incroyable!, Nicht zu glauben, was hier alles steht. Da ist die Rede von einem Prinzen, also einem Mitglied des Adels, der in einen Frosch verwandelt wird. Das ist an sich schon eine Beleidigung. Wenn schon eine Verwandlung sein muss, dann bitteschön in einen Adler oder Löwen. Aber doch nicht in einen Frosch!“ Grotes Stimme schwoll immer mehr an. „Da finde ich zum Beispiel die Geschichte von einer Prinzessin, durch die der ganze Hofstaat einschläft, nur weil sie sich in den Finger gestochen hat. Man stelle sich das einmal vor: Ein Land, in dem die Regierung jahrelang schläft! Aber es kommt noch schlimmer: Da wird von einem König Blaubart erzählt, der ein heimlicher Mörder ist. Und nun denken Sie mal nach. Was trägt unser Kurfürst im Gesicht? Richtig! Einen dunklen Vollbart. Man müsste …“
Bergmann hob seine Hand: „Ja, was ist?“
„Ich gebe zu bedenken, Herr Hauptwachtmeister, dass in der zweiten Auflage der Grimm‘schen Märchen der Blaubart nicht mehr auftaucht.“
„Aha, merci. Gute Arbeit!“
„Oder“, fuhr Grote fort, „eine einfache Müllerstochter unterstützt das Königshaus, indem sie angeblich Stroh zu Gold spinnt. Hier werden alle Unterschiede verwischt. Das kann nur in einer Katastrophe enden!“
Grote warf das gefährliche Buch auf den Schreibtisch, als sei es ansteckend.
„Jetzt wissen Sie Bescheid, Herr Hofreiter!“
„… Pardon, Hofstetter, Herr Hauptwachtmeister.“
„Von mir aus auch Hofstetter.“
„Aber Herr Hauptwachtmeister, es gab doch in der französischen Zeit auch einige Verbesserungen, Vereinfachungen in der Bürokratie, Handwerker konnten …“
„Nichts da“, unterbrach ihn Grote. „Wir bleiben bei unserem System, da weiß man, was man hat. Gehen Sie zum Militär, lernen Sie mit dem Degen, dem Gewehr und einer Pistole umzugehen, lernen sie reiten und die Pferde zu verstehen. Wer Pferde versteht, versteht auch Menschen. Lernen Sie Disziplin, dann kommen Sie wieder und sorgen Sie dafür, dass in Hessen wieder Ruhe einkehrt, nachdem wir endlich Bonaparte losgeworden sind. Von der angeblichen Freiheit haben wir genug gehabt. Die Bevölkerung muss gedeckelt werden und die Obrigkeit braucht unseren Schutz. Wenn ein Land seinen Bürgern zu viel Freiheit lässt, geht es zugrunde. Bonsoir, Monsieur!“
Balthasar Hofstetter wollte schon gehen, da fiel ihm noch etwas ein und er fragte zögernd: „Und der tote Mann?“
„Der wird uns nicht davonlaufen. Wir kommen morgen mal vorbei.“
Hofstetter öffnete die Tür und hörte im Hintergrund Grotes Stimme: „Oder hier: Innsbruck, ich muss dich lassen. Unwillkürlich frage ich mich: Warum? Hat der Sänger vielleicht zu einer verbotenen Straßenversammlung aufgerufen und das Volk aufgehetzt, die Obrigkeit beleidigt? Hat er …“
Balthasar schloss die Tür.
Literatur
Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke, Reclam, Stuttgart 1980.
Anne Diekmann, Hrsg. Das große Liederbuch, Diogenes, Zürich 1975
Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Leipzig 1817, XV.
Steffen Martus: Die Brüder Grimm, eine Biographie. Rowohlt, Hamburg 2013
Bernd Pachnicke, Hrsg. Deutsche Volkslieder, Verlag Neue Musik, Berlin 1978
Das kleine Mädchen schlich sich aus dem Bett an die verglaste Schiebetür, die das Zimmer, in dem sie schlief, vom Wohnzimmer trennte. Die Unterhaltung von nebenan war nicht zu überhören, die angeregten Stimmen ihrer Eltern und eines Ehepaares, das zu Gast war.
Vor zwei Stunden hatten sie gemeinsam am Esstisch gesessen, es gab etwas ganz Feines: den berühmten mit Zwiebeln und Erbsen gemischten Reis ihrer Mutter, den es nur zu besonderen Anlässen gab, und Rinderfilet, eine Kostbarkeit, nach der die Mutter lange hatte anstehen müssen. Nicht oft wurde so festlich getafelt. Manchmal kamen ausländische Kollegen des Vaters zu Besuch, junge Männer, die ihre Facharztausbildung an seiner Klinik machten; sie kamen aus Syrien, dem Irak, dem Sudan, und alle lobten Mutters gute Küche.
Und jedes Mal gab es Gespräche und viele Fragen, die Eltern wollten immer viel über die Heimatländer der Gäste wissen. Sie versuchten sich in Englisch, die Mutter auch in Französisch. Fremdsprachen brauchte man im Alltag kaum, deshalb lagen sie brach, wenn man sie überhaupt gelernt hatte, und wurden nie aufpoliert. Aber besonders die Mutter wendete, wenn es geboten war, ihre Sprachkenntnisse sehr beherzt an; sie schämte sich nie, wenn sie mit weit gereisten Leuten nur lückenhaft mithalten konnte.
Diese Eigenschaft kannte das kleine Mädchen auch von den Urlaubsreisen in den vorangegangenen Sommerferien, einmal in die Tschechoslowakei, das andere Mal nach Polen. Die Mutter hatte immer einen Sprachführer am Wickel, wenn sie mit dem Auto unterwegs waren. Sie schärfte der Familie die wichtigsten Höflichkeitsfloskeln ein. In Polen musste man dziękuje, prosze, dzień dobry, do widzenia sagen – bitte, danke, guten Tag, auf Wiedersehen. Dazu kannte sie lody – schließlich war Eis eines der wichtigsten Wörter auf einer Reise durch Polen.
Das Mädchen war erst in der dritten Klasse und hatte noch gar kein Englisch gelernt. Vaters Englisch war dürftiger als das der Mutter, deshalb blieb ihr der Großteil der Konversation, der Nachfragen und Bestätigungen überlassen; die Mutter schlug sich wacker, wie es typisch für sie war.
Diesmal waren die Gäste von noch viel weiter her als aus Nordafrika oder dem westlichen Asien, sie kamen aus Australien. Das kleine Mädchen hatte schon vor ihrem angekündigten Besuch auf dem abgegriffenen Globus nachgeschaut: Australien lag fast ganz unten auf der anderen Seite der Erde – eine sagenhafte Entfernung! Nie hatte sie Bilder von dort gesehen. Und darum konnte es kaum etwas Spannenderes geben als einen Mann und eine Frau, die von dort hierher gefunden hatten. Sie mussten Australien an sich kleben haben.
„Lottchen, komm rein, steh nicht an der Tür herum!“
Mit hochrotem Kopf zog das Mädchen die Schiebetür ein Stück auf, bis sie hindurchpasste. Der Vater schickte sie ihren Bademantel holen, was so viel hieß wie: „Heute darfst du länger aufbleiben.“ Schließlich hatten die Weihnachtsferien begonnen, morgen musste sie nicht früh aufstehen. Scheu setzte sie sich auf die Sofakante, die beiden Fremden lächelten sie freundlich an. Die Eltern brachten sie auf den Stand ihrer Unterhaltung, auf einer Weltreise seien Mistress und Mister O’Brian gerade. Und jetzt machten sie Station bei ihnen in Rostock. Komischer Name, dachte Lotte. Oh Brein! klang es in ihren Ohren wie die Anrufung eines nordischen Stammesgottes in einem Wikinger-Abenteuerroman.
Als Lotte mit den Eltern im Sommer an den Fuß der Hohen Tatra gefahren war, wohnten sie im Haus eines Försters, in einer Blockhütte, die ebenso exotisch wirkte wie das Künstlerehepaar, das sich gleichzeitig dort aufhielt – er mit wallender weißer Mähne und sie mit langen offenen Haaren und einer Zigarette an einer langen Spitze. Nie zuvor hatte Lotte solche Menschen gesehen, sie mussten geradewegs aus einem Märchen kommen. Das war schon eine Reise in eine fremde Welt. Aber Australien war noch viel, viel weiter weg. Wenn sie das bedachte, sahen die beiden Gäste eher landläufig und gar nicht so fremd aus. Aber wer eine Weltreise machte …
Gehörte denn Rostock auch zur Welt? Hier gab es zwar Schiffe auf der Reede, aber niemand, den Lotte oder ihre Eltern kannten, stieg auf ein Schiff, um in die Welt hinaus zu fahren, nicht einmal nach Dänemark, das gar nicht so weit weg sein dürfte; denn im Sommer am Warnemünder Strand, wo die Familie bei schönem Wetter ihre Sonntage verbrachte, stand Lotte immer mit dem Fernglas auf dem Strandkorbsitz und verfolgte die Schiffe, die mit Containern oder Reisenden, die nicht an der hiesigen Küste und im hiesigen Hinterland, sondern ganz woanders zu Hause waren, hin- und herfuhren, als wäre es ein Katzensprung. Das hatte sie bereits verinnerlicht: Die Welt war das, wohin man nicht konnte, wohin sie nie fahren würde. Die Welt gehörte denen, die hinter der Ostsee wohnten. Flugzeuge kannte sie nur vom Hörensagen und hatte keine Vorstellung davon, wohin sie die Menschen brachten.
Die zwei Gäste kamen aus Melbourne, einer großen Stadt im Süden von Australien. Diese Stadt hatte Lotte mit Vaters Hilfe im dicken Lexikon nachgeschlagen, auch auf dem Globus konnte sie sie verorten. Mister Oh Brein war Chirurg wie Lottes Eltern. Er verbrachte ein halbes Jahr unterwegs, Sebettikel nannten sie das, mit scharfem „s“ am Anfang – das merkte sich Lotte, weil die Mutter nach ausgiebigen Nachfragen verstanden zu haben glaubte, was gemeint war, und die niemandem geläufige Bedeutung, so gut es ging, der restlichen Familie zu erklären versuchte. Den Sebettikel verbrachte der Australier damit, Chirurgen in anderen Ländern auf die Finger zu schauen und von ihnen zu lernen. Aber auch für Besuche hier und da schienen die beiden Australier, wie man sah, Zeit übrig zu haben.
Lottes Eltern rissen verwundert die Augen auf; dass man einfach so frei herumreisen konnte, um nichts zu tun, als anderen bei der Arbeit zuzugucken … Das wirkte auch auf Lotte ungeheuerlich. Die Oh Breins waren zuvor in Malaysia, in Schweden und in Großbritannien gewesen – diese Aufzählung ließ Lotte glattweg die Ohren schlackern! – und nach diesen zwei Tagen in Rostock, wo sie in einem schönen Hotel wohnten, sollte es zuerst nach Frankreich und dann wieder nach Südafrika gehen, wo sie bereits Station gemacht hatten.
Südafrika war das zweite Zauberwort neben Australien, darum rankte sich die Hauptgeschichte des Abends. Dort hatte nämlich Mister Oh Brein etwas Epochales miterlebt: die erste Herztransplantation der Welt, bei der um die dreißig Leute dem federführenden Chirurgen assistierten. Und das war erst kürzlich geschehen, Anfang Dezember! Das kleine Mädchen dachte sofort an den gruseligen Film vom kalten Herz, den sie erst vor wenigen Tagen gesehen hatte und der ihr seitdem in den Knochen steckte – nicht weil der Holländer-Michel dem Peter Munk in den Leib hineingriff, wie es ja auch ihr Vater bei seinen Patienten tat, sondern weil das eingesetzte Herz aus Stein und so eiskalt war. Eingeschüchtert fragte Lotte, woraus das Herz war, das in Südafrika transplantiert wurde. Es sei ein menschliches von einem Verunglückten, bekam sie zur Antwort. Solche hatte der Holländer-Michel auch zu bieten, an einer Wand hatte er die aus den Menschen herausgenommenen pulsierenden Herzen aufgehängt. So eines also hatten die Ärzte in Südafrika jemandem eingepflanzt. Lotte stellte sich lebhaft den Austausch vor. Das Einnähen und Zunähen war ihr plausibel, schließlich war sie ein Chirurgenkind und hatte oft genug von den Reparaturen am und im menschlichen Körper gehört. Doktor Bernhard hieß der große Arzt, der mit zig Mitarbeitern gemeinsam das bahnbrechende Werk vollbracht hatte. Dieser Name brannte sich ihr ins Gedächtnis.
Der Patient lebe noch, so betonten die Oh Breins begeistert. Hier wiederum dachte Lottchen schulterzuckend, warum denn nicht – mit einem Ersatzteil konnte ein Mensch eben länger leben als ohne. Aber ihre Eltern schienen sehr beeindruckt zu sein, und auch die Oh Breins ließen von dem Thema nicht ab. Dass der Patient noch lebte, lag vielleicht gerade an der Anwesenheit von Mister Oh Brein bei der denkwürdigen Operation, deren Gelingen womöglich unmittelbar mit ihm zu tun hatte, schloss Lotte aus seiner begeisterten Schilderung. Sie malte sich aus, wie sich die dreißig herbeigerufenen Weißkittel mehrfach huldvoll um den Operationstisch herum verbeugten, während eine beschwörende Stimme „Oh Brein! Oh Brein!“ deklamierte, um sie auf die Verrichtung ihres großen Werkes an einem menschlichen Herzen einzustimmen. Der Namensträger selbst stand würdevoll dabei und gab sodann durch einen hoheitsvollen Wink das Signal zum Beginn der epochalen Transplantation.
Die südafrikanische Herzgeschichte und der Besuch der nun wieder abgereisten Australier hielten Lottes Gedanken beschäftigt und beflügelten ihre unbestimmte Sehnsucht nach der Ferne, vielleicht gaben sie ihr erstmals eine Richtung: nach dem ungeahnten Süden der Erde.
Ein paar Tage später war Heiligabend, in heller Aufregung bestaunte Lottchen die Geschenke unterm Tannenbaum, sie war glücklich über das Abenteuerbuch „Orinoko“, die Buntstifte und das rote Schreibetui, das wunderbar nach Leder roch. Dann fiel ihr Blick auf ein großformatiges quadratisches Mitbringsel der Oh Breins, das für die ganze Familie gedacht war und deshalb etwas abseits lag. Die Vorderseite war ausgefüllt von dem Bild einer Großstadtlandschaft mit Wolkenkratzern und einem stahlblauen Himmel dahinter. Australia 1968 stand groß am unteren Rand. Es war ein Wandkalender, wie Lotte ihn noch nie gesehen hatte: Wenn ein neuer Monat dran war, riss man keine Seite ab, sondern klappte die mit dem neuen Monat über die mit dem vorherigen. Auf der oberen Hälfte des Kalenders, an deren Kante sich ein Loch zum Aufhängen befand, war das Kalendarium gedruckt; auf der unteren prangte ein riesiges buntes Foto. Lotte kannte eigentlich nur schwarz-weiße Kalender zum Abreißen. Das höchste der Gefühle war der Brockhaus-Weltkalender, der ganz wenige bunte Seiten enthielt; im vergangenen Jahr gehörte dazu eine unscharfe Abbildung vom Titicacasee, dessen Name allein schon Sehnsüchte weckte. Und dann das hier: gestochen scharfe Farbfotos, so als stünde man direkt vor der abgebildeten Szene!
Fasziniert blätterte sie die ungewöhnlich großen Bilder durch, wieder und wieder, und konnte sich nicht sattsehen: Es gab eine rote Wüste mit spärlichem graugrünen Bewuchs; es gab einen überdimensionalen roten Felsen, der wie ein Buckel in der flachen, ebenfalls roten Landschaft lag; es gab putzige Reihenhäuser, davor weiß angestrichene, filigran verschnörkelte Metallzäune; es gab grellweiße Sandstrände; einen kleinen Zug, der durch einen dichten Dschungel fuhr; und drei kohleschwarze Männer mit kleinen Schurzen, deren Arme, Beine und Oberkörper mit ockerfarbenen, roten und braunen Tupfen bemalt waren, als wären sie Kunstwerke. So schwarze Menschen hatte Lotte noch nie erblickt. Sie kannte nur die im Vergleich mit anderen aus dem Nahen Osten und Nordafrika stammenden Kollegen ihres Vaters um einiges dunklere braune Haut von Doktor Zaki aus Khartoum. Auf dem Dezemberfoto sah man einen Palmenstrand mit Lichterketten und einem Aufsteller vor einem Kiosk mit dem Bild von einem merkwürdigen Hirsch, der wie ein menschliches Wesen grinste und einen Schlitten durch den Schnee zog, was so gar nicht zu der sommerlichen Szenerie ringsherum passte; auf dem Julifoto dagegen waren Skifahrer auf schneebedeckten Bergen abgebildet. Nach und nach las sie die Bildlegenden, sie las sie immer wieder und lernte dadurch allerhand über Australien. Natürlich zuallererst, dass Sommer und Winter für ihr Verständnis vertauscht waren, dass es auch in einem Land mit trockenen Wüsten Schnee gab und dass in Australien Ureinwohner lebten, die ganz schwarz aussahen und beeindruckende Malereien auf ihren Leibern trugen.
Jahre später, als junge Frau, entdeckte Lotte eines Tages im Schaufenster einer Buchhandlung einen aufgeschlagenen großen Bildband. Bildbände waren begehrt, sie ließen Blicke in die Welt hinter dem Eisernen Vorhang zu und heizten das Fernweh an, das nie gestillt werden konnte. Mehrere Passanten waren davor stehen geblieben, so wie Lotte verzückt von dem traumhaften Panoramafoto. Sie standen da und betrachteten eine türkisblaue Meeresbucht mit feinem weißem Sand am Ufer, gesäumt von Palmen mit leuchtend grünen Blättern. Das Foto nahm die gesamte Doppelseite ein. Neben dem aufgeschlagenen Buch lag ein zweites geschlossenes Exemplar des raren Bildbandes. Auf dem Umschlag – auch er von einem schönen Panoramafoto geziert – stand Australien. Was hatte die Belegschaft der Buchhandlung dazu veranlasst, ausgerechnet dieses verlockende Buch auszustellen, das doch nur ein unerfüllbares Verlangen weckte? Vielleicht war es ein solidarisches Gefühl, von der Erkundung der Welt ausgeschlossen zu sein, das sie mit den Vorübergehenden teilen wollte.
Eine Woge der Wehmut erfasste Lotte, sie fühlte sich an den Australienkalender erinnert, an ihr Staunen und ihr Fernweh, beides war bis zu diesem Tag immer weiter gewachsen und zu einem durch nichts zu kurierenden Schmerz geworden, der ihre Seele bedrückte. Den Kalender hatte sie damals von ihren Eltern erbettelt, Jahr um Jahr hatte sie ihn aufgehängt, umgeblättert, seine Details verinnerlicht. Irgendwann war er so zerfleddert, dass sie ihn wegwarf. Wenn auch mit Traurigkeit im Herzen. Jetzt bereute sie, dass sie den Kalender nicht aufgehoben hatte als letzten Hinweis auf eine Welt jenseits ihres tristen Alltags in einem schmutzigen Meer maroder, baufälliger Häuser mit leutseligen Nachbarn, die einen heißen Draht zum Sicherheitsdienst hatten.
„Oh Brein“, seufzte sie. Ob das australische Ehepaar wohl manchmal an seine Stippvisite in Ostdeutschland zurückdachte? Post war von ihnen nie mehr hierher gelangt; aber wer wusste schon, ob sie abgefangen worden war oder ob die Australier tatsächlich nie eine Karte oder einen Brief geschickt hatten. Was mochten diese beiden jetzt wohl machen? Und wo? Ihnen stand bestimmt immer noch die ganze Welt offen. „Oh Brein!“, hallte es in ihr wie eine Klage.
Weiter vergingen die Jahre, zogen sich klebrig und glücklos dahin. Die schier endlose Gegenwart war öde, Lottes Arbeit ein erniedrigendes Zeittotschlagen, die Stelle hatte sie akzeptieren müssen, sonst hätte sie ihr Diplom nicht ausgehändigt bekommen. Eine Zukunft war nicht in Sicht. Irgendwelche zaghaften Wunschvorstellungen von einem erfüllten Leben, in dem sie ihren Neigungen und Talenten gemäß tätig sein oder sich gar über Grenzen hinweg frei bewegen könnte, hatten sich fast schon gänzlich verflüchtigt. Von so etwas Fabelhaftem wie einem Sebettikel ganz zu schweigen, bei dem sie sich vieles von Kollegen in anderen Ländern hätten abgucken können. Lotte blieb in einem lächerlichen, schlimmen Land eingesperrt.
Irgendwann jedoch, an einem Tag, den sie zuvor als Sankt-Nimmerleins-Tag bezeichnet hätte, öffneten sich die Tore. Als Erstes fuhr sie mit dem Schiff nach Dänemark, heulend stand sie an der Reling und schaute auf das ehedem verwunschene Ufer zurück, von wo aus sie einst mit dem Fernglas ihren neugierigen Blick über die See gerichtet hatte.
Das war der Auftakt zu einem bewegten Dasein, in dem sie all die verlorenen Jahre nachzuholen versuchte. Nun war möglich, was ihr zuvor verwehrt gewesen war: Mit Feuereifer stürzte sie sich in eine wissenschaftliche Arbeit. Sogar ein Sabbatical, dessen Schreibweise ihr inzwischen geläufig war, stand in Form eines Forschungsstipendiums in Australien auf ihrem Programm. Damit erfüllte sich ihr Traum, in das Land zu reisen, von dem einst zwei Fremde aus Melbourne die erste Botschaft von Freiheit in ihre Familie gebracht hatten. Zur Krönung ihres Glücks war es ausgerechnet die Universität von Melbourne, wo sie ein halbes Jahr forschen durfte.
Es kostete Lotte nicht allzu viel, ihre Eltern zu überreden, sie unten am anderen Ende der Welt zu besuchen und mit ihr die neue Reisefreiheit zu feiern. Als sie kamen, klapperten sie zusammen die Sehenswürdigkeiten der Stadt ab, vom Queen-Victoria-Markt bis hin zum Pentridge Prison. Und dort erfuhren sie, dass 1967 in diesem Gefängnis der letzte Mann in Australien am Galgen gehängt wurde. Im selben Jahr, dachte Lotte, als das australische Ehepaar zu Besuch in die vom Kalten Krieg gelähmte ostdeutsche Provinz kam.
„Wisst ihr noch? Das Ehepaar aus Melbourne, das bei uns in Rostock war? Dieser Arzt und seine Frau?“
Die Eltern horchten auf: „Ja – wie hießen sie noch?“
„O’Brian“, erinnerte sich der Vater nach kurzem Überlegen, und beide nickten bedächtig, als Lotte ihr Gedächtnis mit der Jahreszahl des Besuchs auffrischte, die sie über all die Zeit besser als ihre Eltern im Hinterkopf behalten hatte.
In einer Ausstellung des Koorie Heritage Trust, der erst ein paar Jahre zuvor gegründet worden war, erfuhren sie, dass die Aborigines, von denen Lotte als Kind durch das Gastgeschenk jener Besucher erfahren hatte, auch in eben jenem Jahr auf ein Referendum hin erstmals in der Volkszählung als australische Staatsbürger anerkannt wurden. Viel, viel gab es zu lernen und zu bestaunen, und Lotte war selig, dieses Erlebnis mit ihren Eltern teilen zu können. Später kamen sie noch einmal auf die O’Brians zu sprechen. Es sei schade, dass man unter den damaligen Umständen keine Verbindung habe halten können.
„Wer weiß, ob sie noch leben“, meinte Lottes Vater nachdenklich und ein wenig wehmütig. „Das wäre natürlich wunderbar gewesen, sie heute und hier wiederzusehen.“
Später erfuhr Lotte auch, dass jener erste Mensch, dem am 3. Dezember 1967 im Groote Schuur Hospital in Kapstadt ein fremdes Herz implantiert wurde, am 21. Dezember starb – ein Tag, nachdem das australische Ehepaar Lottes Familie von dem epochalen Ereignis berichtet hatte. Oh Brein … War also die Götteranrufung umsonst gewesen?
Dass sie uns nicht mehr miteinander reden ließen, war im Grunde ein kluger Schachzug. Ich erwische mich ab und an dabei, wie ich die Eleganz ihrer Operationen bewundere. Es erscheint mir wie ein Ballett – wie einstudierte Figuren und Abläufe, die zunächst zusammenhanglos wirken, jedoch rückblickend eine Choreografie ergeben, die von Anfang an nach Plan ausgeführt wurde. Und wenn so viel auf einmal geschieht, hat man wenig Zeit zurückzublicken. Eigentlich merkt man erst, dass man im Schlamassel steckt, wenn es schon zu spät ist.
Die Telefone werden abgehört, das weiß jeder. Das ist nun seit knapp zwei Monaten so. Aber überarschenderweise gewöhnten wir uns alle schnell daran. Zu Anfang versuchten wir uns in Codierungen, aber das wurde zu unübersichtlich. Die Gefahr zu groß, durcheinander zu kommen. Dann telefonierten wir kaum noch, nur, wenn es um wirklich Belangloses ging: „Kannst du auf dem Heimweg Milch mitbringen?“
„Vergiss nicht, den Glasmüll abzugeben.“
„Komm schnell, er hat seine ersten Schritte gemacht!“
Wenn es Wichtiges zu besprechen gab, trafen wir uns bei Priya. Ihr Wohnzimmer ist am größten. Bei gutem Wetter auch manchmal in Doris‘ Garten. Sie pflegt einen wunderschönen Garten. Ihr Haus ist an einen Hang gebaut, sodass sich ihr Garten in Terrassen stufenartig bis zur Hauptstraße unten erstreckt. ‚Die hängenden Gärten von Dorislon‘, so haben wir sie immer genannt, eigentlich total bescheuert. Aber schön waren sie schon und Platz hatte man dort auch. Ganz, ganz früher in der Innenstadt, einfach so. An einem beliebigen Tag zu einem beliebigen Thema, das uns bewegte.
‚Unter freiem Himmel‘ hätten sie so etwas früher genannt. Ja zugegebenermaßen, eine Anmeldung war dann nötig gewesen. Aber die habe ich liebend gern in Kauf genommen. Selbst bei all dem Bürokratie-Wahnsinn war das eigentlich kein Problem gewesen. Es war mehr ein nettes Ritual. Ich mochte die Anmutung von Offiziosität. Sie verlieh auch mir selbst etwas Amtliches.
Am Fenster bilden sich Eisblumen. Es sind eben alte Fenster. Das Licht habe ich nicht angeschaltet. Die Straßenlaterne auf der anderen Seite ist weit genug weg, dass mein Gesicht im Dunkeln liegt, auch wenn ich so nah wie jetzt an der Scheibe stehe und nach draußen blicke. Das habe ich mir vor einiger Zeit von Jan bestätigen lassen, als er mir Marmeladen vorbeibrachte. Das war erst kürzlich, da durfte er schon nicht mehr nach oben in meine Wohnung kommen, sondern musste sie unten beim Pförtner abgeben.
Ich weiß nicht, was der Pförtner vorher gearbeitet hat. Er hat ein unfreundliches Gesicht. Aber so wurden viele Arbeitsplätze geschaffen.
Also jedenfalls weiß ich, dass ich ungesehen bleibe, während ich auf den kleinen Marktplatz herausschaue. Es ist spät, die Sperrzeit hat längst begonnen. Mich macht nervös, wie lange da schon eine Gestalt unter dem Vordach der geschlossenen Bäckerei steht. Noch acht Minuten und er hat die 15 Minuten voll, die er braucht, um wegen verdächtigen Herumlungerns festgenommen zu werden. Doch es kommt noch schlimmer. Denn er bleibt nicht allein.
Eine weitere Gestalt löst sich auf einmal aus dem Schatten einer Litfaßsäule. Die beiden fallen einander in die Arme und ich muss fast die Augen verdrehen. Da dauert es nicht mehr lange. Ein Pförtner hat sie gesehen. Ich sehe mit an, wie das Paar auseinandergerissen und in Handschellen gelegt wird. Aber ich sage nichts. Ich sage nichts. Wem auch?
Ich erhasche einen Blick auf Priyas Hinterkopf, als ich einkaufen gehe. Mein Herz pocht mir mit einem Mal bis in den Hals, meine Hände zittern um die Ananaskonserve herum, die ich gerade aus dem Regal gehoben habe. Für Toast Hawaii, das Silvester-Highlight der guten deutschen Hausfrau der 60er Jahre. Manchmal habe ich eben Lust darauf.
Einen Moment später bemerkt sie mich auch. Erst starren wir überfordert, dann winken wir einander zaghaft zu. Aber wir wagen es nicht, einander näher zu kommen. Priya dreht sich wieder zum Gehen, ihr Rücken versetzt mir einen Stich ins Herz. Doch da fällt mein Blick auf ihre Hand, die sie in ihrem Rücken hält und abwechselnd zur Faust ballt und wieder öffnet. Sofort geht mein Puls wieder in die Höhe. Sie will sich mit mir treffen. Ich schaue ihr nach, wie sie ins Getränkelager verschwindet. Ich bin zu gleichen Teilen entsetzt und erleichtert. Ich hasse mich dafür, dass ich zögere. Das hätte ich vor einem halben Jahr nicht von mir gedacht. ‚Scheiß auf sie alle‘, hätte ich mir gedacht, ‚ich mache, was ich will.‘
Aber seitdem ist viel passiert. Ein Gesicht blitzt in meinem Geist auf, ich scheuche es fort. Ich setze die Dose Ananas vorsichtig, fast liebevoll in meinen Einkaufskorb und schlendere in den nächsten Gang, peinlich darauf bedacht, nicht zu nah an die anderen Kunden heranzutreten. Es ist nicht nur gefährlich, es gilt auch als unhöflich, bloß den Verdacht zu erregen, eine Versammlung anzetteln zu wollen. Zu unbescholtenen Mitbürgern hält man einen Mindestabstand von zwei Metern, das lernt mittlerweile jedes Kind.
Ich durchquere den Gang, ohne weitere Artikel in meinen Einkaufskorb zu legen, denn für verdammten Toast Hawaii braucht man ja auch nur vier Zutaten, du Dummnudel.
Ruhigen Schrittes betrete ich mit einiger Verzögerung ebenfalls das Getränkelager. Priya hat gut mitgedacht. Sie hatte hier mal einen Minijob und weiß, dass hier drinnen die Kameras nur Attrappen sind. Bleibt zu hoffen, dass nie nachgerüstet wurde, aber um einmal wieder ein ehrliches Wort mit Priya zu wechseln oder darauf zu hoffen, gehe ich das Risiko ein.
Sie wartet hinter einem bis zur Decke gestapelten Turm aus Cola-Kästen. Sobald sie mich sieht, greift sie nach meinen Händen. Gott, fühlt sich das gut an, dabei trägt sie noch ihre Winterhandschuhe. Es hat heute unter Null.
Sie verschwendet keine Zeit damit, mich danach zu fragen, wie es mir geht. Das wäre auch irgendwie zynisch. Aber ein wenig mehr könnte sie mich auch schonen, denn als Nächstes zischt sie mir „Sie haben Jan“ ins Gesicht.
Erneut schiebt sich ein bekanntes Gesicht vor meine Augen, doch ich schiebe es weiter.
Ich lasse meine Miene antworten, finde im Augenblick nicht die Worte.
„Wie?“, frage ich dann.
„Er konnte es nicht lassen“, schimpft Priya nun. Sie scheint weniger besorgt als fuchsteufelswild. Weniger auf die Pförtner als auf Jan selbst. Wie sie das nur mit uns anstellen. Wieder ertappe ich mich mit einer Spur Bewunderung. Aber es ist auch wirklich ein Meisterstreich, wie sie uns dazu bringen, Wut aufeinander zu empfinden, uns die Schuld dafür zu geben, dass wir nicht vorsichtig genug waren, anstatt den Tätern. Wie schnell wir ihre neuen Spielregeln verinnerlicht haben. Reiner Überlebenswille, nehme ich an.
„Er hat eine Gruppe von 30 Leuten in seinen Keller gelassen. 28 haben sie festgenommen, 2 konnten anscheinend durchs Fenster fliehen.“
Ich klappe den Mund auf, dann wieder zu.
30 Leute. Und da es sein Keller war, gilt er als Versammlungsleiter. Das ist ein Todesurteil. Tränen schießen mir in die Augen. Ich frage Priya nicht, was sie in diesem Keller getan, worüber sie geredet haben. Ich kann es mir denken. Aber es spielt schlicht und einfach keine Rolle. Es ist egal, dass sie Systemgegner waren, sich wahrscheinlich gegenseitig daran erinnerten, dass es nicht immer so war, dass sie Politik debattieren und auch öffentlich mitteilen durften. Sie hätten auch über die Rettung der Wale reden, den Renteneintritt der Schwiegermutter feiern oder einen Buchclub über Schmonzetten abhalten können. Was zählt, ist dass sie sich illegal versammelten.
Sie haben von Anfang an erkannt, dass wir nur gemeinsam stark sind. Deswegen haben sie uns zerpflügt, bis nur noch einzelne, duldbare Ähren auf dem Feld übrig waren. Der Mensch, ein soziales Wesen. Plötzlich, und es ist vollkommen fehl am Platz anhand der Tatsache, dass Priya und ich schon viel zu lange zu zweit in dieser Bierpfütze im Lager stehen, denke ich zurück an eine Uni-Vorlesung. Gesellschaft in Großbritannien im 18. Jahrhundert. Frauen der oberen Schichten, die damals wirklich nicht so viel zu tun hatten, treffen sich in Teehäusern, dem feminin-gesitteten Pendant zu den männlichen Pubs. Sie ‚tratschen‘, tauschen Gerüchte aus, was nichts anderes bedeutet, als dass sie einander mit Neuigkeiten versorgten in einem Kreis, aus dem sie konsequent ausgeschlossen wurden. So hielt man sich auf dem Laufenden, wusste Bescheid über aktuelle Ereignisse, konnte sich im Bilde und über Wasser halten. Sich Meinungen bilden. Informierte, vielleicht lebenswichtige Entscheidungen treffen.
Die Tränen in meinen Augen quellen über, diesmal aus Zorn. Sie halten uns klein und dumm. Was sind Menschen, wenn sie sich nicht treffen, ihr Wissen nicht austauschen und nicht kundgeben dürfen? Nichts mehr. Der ganze Erfolg dieser Spezies beruht doch auf nichts anderem. Sonst hätten wir es nie weiter geschafft als unsere haarigen Verwandten, nichts für ungut. Wir kommen mit Menschen aus allen Ecken der Welt zusammen, treffen Fremde, knüpfen Kontakte, teilen Informationen. So halten wir uns schon seit Jahrtausenden am Leben. Und es war ein Leben, das sich lohnte. Priya entzieht sich meinen Händen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie zu fest gedrückt habe.
Sie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn, denn man kann nicht die Fassung verlieren so wie ich gerade und gleichzeitig vorsichtig bleiben. Und wir müssen immer vorsichtig bleiben.
Schritte dringen plötzlich ins Lager ein. Priya und ich reagieren zeitgleich und drücken uns mucksmäuschenstill gegen den Turm aus Getränkekästen. Es ist unheimlich, wie zwei lebendige Wesen nicht den geringsten Laut von sich geben können, obwohl ihr Blut rauscht und sie doch atmen müssen.
Ein geliebtes Gesicht taucht wieder vor meinem inneren Auge auf und diesmal lasse ich es zu. Meine Gedanken rasen, doch als ich meinen Entschluss fasse, wird mein Kopf ganz klar. Die Schritte treten immer näher an uns heran. Wir sind noch nicht zu sehen. Wenn wer auch immer auf uns zukommt in drei Schritten stehenbleibt, sind wir gerettet. Beim vierten Schritt werde ich allein hervortreten und mich für Herumlungern im besten Fall, unbefugten Zutritt im nächstbesten und Konspiration im schlechtesten Fall verhaften lassen. Aber sie werden Priya nicht zu sehen bekommen.
Die Schritte nähern sich.
1…
2…
3…
Liberty is meaningless where the right to utter one’s thoughts and opinions has ceased to exist. That, of all rights, is the dread of tyrants. It is the right which they first of all strike down
— Frederick Douglass
Wir sind das Volk! Das Skandieren dieses Satzes ruft inzwischen Unbehagen hervor, Abscheu zuweilen zwischen denen, die sich als Verschwörungstheoretiker, Nazis oder Gutmenschen gegenseitig bespucken möchten. Jeder wirft den anderen eine falsche Auffassung von der Wirklichkeit vor. Doch wir sind ein zivilisiertes Volk. Diesen Anspruch hat der Deutsche an seine Mitmenschen: keine Leute anzuspucken und nicht jeden Unsinn zu glauben — und herauszulassen. Einsicht zu haben. Aber Unsinn hat eine Qualität. So wie Sinn eine hat. Und ist es nicht anmaßend, wenn man behaupten will, man wüßte was unsinnig sei? Wenn ein Fackelumzug durch’s Dorf zieht, gehe ich daraufhin mit ein paar Eimern Wasser los, um zu löschen? Oder ziehe ich mich zurück, schließe die Fenster und überlasse es der Einsicht oder der Polizei, das für mich zu übernehmen?
Wenn Frederick Douglass meint, dass Freiheit sinnlos sei ohne das Recht der Meinungsäußerung, schließt es das Recht zur Versammlung ein. Wozu ist eine Meinung gut, wenn sie nicht gehört wird? Fackelumzüge haben eine einschüchternde Wirkung und die meisten sollen Entsetzen hervorrufen. Sie verlangen eine Reaktion auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung. Fackelumzüge sind eine Form der Versammlung und wer mit einer Fackel marschiert, sieht sich als Freiheitskämpfer: Gegen einen Staat, dessen Reaktion gefordert wird und der ihn in seiner Weltsicht nur zementiert, sobald eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird. Mit anderem als dem Verbot kann der Staat nicht antworten. Aber anti-demokratische Meinung, selbst anti-demokratisches Verhalten, können nicht verboten werden, solange sie friedlich bleiben. Es steht allen Bürgen allerdings ein Widerstandsrecht gegen (anti-demokratische) Inhalte zu (s. Art. 20 IV Grundgesetz), eben nicht dem Staat.
Der Fackelträger strapaziert die Grenzen des Rechtsstaats. Zu behaupten, er täte das mit dem Ziel sich vom Staat befreien zu wollen, ist anmaßend, denn das wäre ein abschließendes Urteil. Ohne Dialog, Diskurs, Streit oder Handgreiflichkeiten — qualitativ in absteigender Reihenfolge — bleibt es Vorurteil. Und Demokraten, die sich aufklärerisch nennen, können sich keine abschließenden Urteile bilden; das widerspricht dem aufklärerischen Prinzip de omnibus dubitandum est — alles muß bezweifelt werden.
Es fällt mir schwer, mit Leugnern von Viren, von Klimawandel, mit Aluhut- oder Fackelträgern und Menschen, die sich irgendwo ankleben, nicht kurzen Prozess zu machen, ihre Ansichten nicht wegzuwischen und Spinner! zu zischen. Doch ich spüre die Spaltung zwischen mir und „denen”, die mit mir zusammen die Gesellschaft bilden. Sie haben ihre Weltanschauungen aus Gründen, die nicht ihre „Schuld” sind — so wie ich meine habe. Sie entstehen aus ähnlichen Lebensumständen aber unterschiedlich wirkender Propaganda. Meine Art von Toleranz ist keine Akzeptanz: Die Macht, um Akzeptanz zu ringen, wie es Hanna Arendt meint, ist eine gemeinsame. Nicht so, wie es Marx, Lenin, die Oligarchen und die Aristokraten sehen, wo sie uns in Klassen spalten. Trotzdem sind wir längst voneinander entfremdet und mittels eines sozial spaltenden Egozentrismus gleichgeschaltet. Erinnern wir uns: wir sind das Volk. Wir bilden die Gesellschaft, welche sich auf den altbackenen Begriff „Staat” herunter reduziert, sobald sie das Gesicht einer zentralen Gewalt annimmt. Anmaßung ist es, Vorurteile zu haben, ohne Absicht sie auf die Probe zu stellen. Vorurteile sind wahrscheinlicher als Zweifel — das zeigen Theorien der kognitiven Dissonanz (Leon Festinger) oder denial of doubt (Sheldon Solomon). Anmaßung ist es, den Staat zum Überbringer der eigenen Nachricht machen zu wollen, statt selbst vor die Tür zu treten.
Nehmen wir an ich rufe die Polizei während unter meinem Fenster der Fackelzug vor sich geht. Ich mache damit den Staat zum Vasallen und akzeptiere sein Urteil und seine Mittel. Der Staat vertritt mich, indem die Polizei die Versammlung gewähren lässt oder mit Tränengas und Knüppeln auflöst. Er sendet in jedem Fall diese Nachricht: Es interessiert mich nicht! Es interessiert die Gesellschaft nicht, was einer denkt, der seine Meinung äußert. Das führt in eine Spirale von Fundamentalismus, der irgendwann die Grenzen der friedlichen Versammlung überschreiten muß, um eine Reaktion auszulösen. Vielleicht wird die Botschaft der Gleichgültigkeit dann zu einer positiven: Du bist im Unrecht und ich zeige dir meine Macht. Bin ich, mit dem Telefon am Ohr, damit nicht einer jener Tyrannen, von denen Frederick Douglass schrieb?
Wenn der Staat in eine Versammlung eingreift, fällt er womöglich ein qualitatives Urteil über den Inhalt der Versammlung — auch wenn er sich augenscheinlich nur auf die Sicherheit und Ordnung stützt. Versammlungen sollen ohne „Anmeldung oder Erlaubnis” möglich sein, es sei denn, sie werden nicht friedlich verlaufen. Fackelumzüge erinnern an das Dritte Reich, an Unrecht, Gewalt und Krieg. Bei sogenannten „Mahnwachen”, wie in Pforzheim 2020 beispielsweise, spielte die Frage eine Rolle, ob Gewalt von den Fackelträgern oder Gegendemonstranten ausgehen würde. Einige Rechtsextreme hatten sich zum Gedenktag der Bombardierung der Stadt eingefunden. Der Verwaltungsgerichtshof hob eine Beschwerde der Stadt auf, die wegen einer „sehr hohen Gefährdungslage” diese Versammlung verbieten wollte. Er stellte im Endeffekt klar, dass der Staat keine Möglichkeiten hat, diese Versammlung zu verbieten. Das zeigt, dass ich mich beim Fackelumzug unter meinem Fenster gar nicht auf den Staat verlassen kann. Um sicher zu sein, dass sich überhaupt Widerstand gegen diese Versammlung regt, bin ich auf mich und meine Überzeugungen angewiesen. Gleich, ob meine Meinung von den Versammelten abweicht oder ich nur Sorge um meine brennbaren Gardinen habe.
Jeder, der bei Fackelumzügen mitläuft, mit Treckern Mist auf Straßen kippt oder sich auf Fahrbahnen festklebt, strapaziert mit Recht die Gesellschaft. Fackelträger und Mist-Kipper richten sich an den Staat, Kleber an die Gesellschaft. Die ersteren bewegen sich auf oder jenseits des Randes von Friedfertigkeit, was ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit erweckt. Die anderen erzeugen konkrete Verunsicherung — jeden Tag könnte einer vor oder auf meinem Auto sitzen, mir Farbe an den SUV sprühen oder meinen Weg zur Arbeit oder zum Urlaub blockieren.
Ob allgemeine oder konkrete Unsicherheit: Ihr Gefühl ist die größte Gefahr für die Gesellschaft, weil die Garantie der Sicherheit ganz oben auf ihrer Liste steht. Der Staat wird zur Exekutive dieses Anspruchs. Gesellt sich Ordnung hinzu, sind konservierende Werte nicht weit. Der Fackelträger will erreichen, dass die Gesellschaft den Staat als Feind sieht, der Freiheit nimmt, statt sie zu garantieren. Mit jeder auflösenden Aktion einer friedlichen Versammlung träte der Staat als korrumpierte Institution der Macht auf. Jedes Verbot würde zum Beweis unserer Unfreiheit und Ohmacht — quod erat demonstrandum. Der grundlegende Inhalt der Geisteshaltung von Fackelträgern ist damit rübergekommen. Deswegen kann der Fackelträger nie gegen den Staat verlieren: er provoziert den Leviathan mit tausenden Nadelstichen und erschöpft die offene Gesellschaft, die den Leviathan eigentlich zurückhalten muß.
Klimakleber sind emphatisch eindrücklicher; sie zielen auf Politik ab und provozieren deshalb das Ego des Einzelnen. Unter Autofahrern, Arbeitenden und Urlaubern wirkt staatliche Intervention gegen Klimakleber beruhigend auf den individuellen Punkt: der Schutz meiner Dinge und meiner Interessen. Dieser Aktionismus verunsichert uns in unserem egozentrischen, fundamentalistischen Kern.
Wenn von Fundamentalismus die Rede ist, geht es nicht um radikale Weltanschauungen, Religion oder Ideologie. Fundamentalismus beginnt, sobald wir uns einen Begriff von der Welt machen. Das ist notwendig: Die Summe aller Überzeugungen und Gefühle, die eine Person besitzt spiegelt sich in ihrem (Körper und) Gehirn in Form von neuroplastischen Verbindungen wider. Wir sind geprägt von unseren Umständen und den Informationen, die wir in ihrem Kontext bewerten. Aus ihnen entstehen Urteile über die Welt, bei denen die Person im Mittelpunkt steht. Wenn eine Person sich als Urheber ihrer Urteile sieht legt sie den Grundstein des Egozentischen. Wir begreifen uns derart als autonome Entitäten und glauben inzwischen, die Außenwelt herabsetzen zu müssen, damit sie unter Kontrolle bleibt — sonst wäre unser Wille wertlos. Diese Hybris unseres Verstandes macht nicht vor anderen Menschen Halt, die zur Welt außerhalb gehören. Wir sind aufgrund unserer Einstellung zur Welt nicht automatisch im Unrecht. Man muß nur Gegenwind aushalten können. Wie wir unsere Einstellung äußern ist eine andere Frage; Versammlungen sind keine Hetze, sie beginnt, wenn jemand das Mikrofon in die Hand nimmt und die Versammelten überzeugen will, dass Menschen herabgesetzt werden sollen. Politik von oben herab.
Wer mit Fackeln durch die Gegend zieht, hat seine Urteile über die Welt auf die gleiche Weise gebildet, wie alle übrigen Menschen: Durch Integration dessen, was ihn umgibt. Der einzige Unterschied zwischen dem fundamentalistischen Fackelträger und einer offenen Person ist die Tiefe der (neuroplastischen) Verschlossenheit. Eine Person ist nicht mehr offen, wenn sie rote Linien zieht. Und ein Fackelträger, der sich als ohnmächtig gegenüber dem Staat ansieht, sucht immer krassere Wirkung. Er zwingt alle übrigen Mitmenschen eine rote Linie zu ziehen: mit uns oder dagegen. Damit beginnt der Abstieg von Dialog zu Streit. Das Egozentrische wirkt bei denen, die den Staat als stellvertretende Macht zur Antwort bemühen, genauso.
Was wäre die Gesellschaft, wenn die Qualität der Meinung vom Staat gemessen würde? Keine offene. Dieser Offenheit steht der Fundamentalismus unserer Weltbilder entgegen. Eine Person besitzt eine neuroplastische Kondition und dass neuronale Verbindungen sich lebenslang ändern, ermöglicht es, fundamentale Weltbilder wieder zu öffnen. Für diejenigen, welche die Fackel halten, haben sich aus ihrer Neuroplastizität Wahrheiten gebildet, die verschlossen fundamentalistisch sind. Jeder staatliche Eingriff konditioniert nur stärker auf Widerstand, während der einsame Gegendemonstrant zeigt, dass man mit anderer Meinung leben kann. Joseph LeDoux schreibt „Ihr seid eure Synapsen!” und Markus Gabriel von der Wirklichkeit, zu der auch die Meinung zählt. Der Staat darf sich hier kein Urteil über die Inhalte der Versammlung erlauben, sofern sie nicht zu Gewalt führt. Dazu sind nur die einzelnen Personen in der Lage.
Denn der Staat kann nur reaktionär auf friedliche Versammlungen reagieren, wenn er eingreift. Es ist politische Anmaßung, über die Qualität einer Versammlung zu urteilen. Gerade weil unsere checks and balances in Deutschland bisher gut funktionieren, weil Gerichte unrechtmäßige Versammlungsverbote aufheben, würden jene das erste Ziel undemokratischer politischer Angriffe. Danach folgt der Maulkorb. Anzeichen sind, wenn ein Staat sich immer öfter hinter der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung verstecken will, bevor er offen zur Bewertung von Meinungen übergeht. Bis dahin bleibt jeder Schweigende von uns ein „Tyrann”, was in einer Demokratie nach und nach auf den Staat übergeht.
„Wir brauchen gut und verständlich formulierte Regeln, die wenig Interpretationsspielraum lassen. So, dass jeder versteht: Das geht und das geht nicht“ — Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul. Im Januar 2022 trat in NRW ein neues Versammlungsgesetz in Kraft. Gesetze, zur Erinnerung, sind die einzigen Mittel, mit denen Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Dieses Versammlungsgesetz widerspricht in vielen Hinsichten Art. 8 Grundgesetz. Beispielsweise gilt die Störung anderer Versammlungen allein durch kommunikativen Gegenprotest als nicht mehr friedlich, wenn sie sich gegen die Versammlung äußert. Nahezu alle Versammlungen dürfen videoüberwacht werden, was Strafverfolgungsbehörden die nachträgliche Verfolgung ermöglicht. Dass der Inhalt des Gesetzes zumindest von Klimaaktivismus inspiriert war, ist nicht zu übersehen: Ein verschärftes Militanzverbot als Folge von Garzweiler, das generelle Versammlungsverbot auf Autobahnen als Folge der Klimakleber. Das Gesetz versucht, Unsicherheit zu vermeiden, um die Bürgerlichen zu beruhigen. Es konkurriert mit bestehenden Strafgesetzen, denn es ist nicht notwendig, Verbote auszusprechen, sobald Gewalt in’s Spiel kommt. Ein Gesetz vertritt Interessen, nicht Recht; jedes von ihnen ist eine Einschränkung der grundrechtlichen Freiheit. Man muß nur §7 II (Störungsverbot) des VersG NRW lesen, unter dem Verständnis, dass es sich gegen jeden von uns, statt gegen den Staat richtet. Gesetze sind das Kleingedruckte zu den Grundrechten. Oder wie Tom Waits es ausdrückt: The large print giveth, the small print taketh away.
Alleine auf Politik in einer Demokratie zu vertrauen ist eine unkritische Haltung, die politischen Akteuren zu viel Spielraum gibt für uns zu sprechen. Insofern unterscheidet sich der aufrichtige Bürger nicht vom Spinner und Anti-Demokraten. Dass Bildung hier ein entscheidender Faktor ist, steht außer Frage; aber für Fackelumzügler ist es zu spät an juvenile Erziehung anzuknüpfen. Es hilft nur die Konfrontation mit anderen Menschen — wie dir und mir, die zeigen, dass man im selben Leben steht und anders handeln kann. Damit das keine leeren Hülsen bleiben — wie die Ansprachen des Bundespräsidenten oder des Kanzlers — fordert es Präsenz. Es fordert, dass sich das Volk gegenübersteht, wo sich zwischen Menschen Gemeinsamkeiten finden werden, die ein abstrakter Staat als Produkt ihres gebündelten Willens nicht zu beschwören hat. „Der Staat” wäre Beschützer eines status quo, wenn wir ihn bemühen, um Versammlungen inhaltlich zu beurteilen — seine Pflicht ist es lediglich, Sicherheit zu gewährleisten. Die „schweigende Mehrheit” macht sich den Staat zum Vasallen und gibt denen recht, die sich als Widerständler begreifen. Aus aus ihrer Sicht schlüge sich der Staat damit auf eine Seite. Das steht ihm nicht zu.
Wer die Demokratie nicht als erstrebens- und erhaltenswert betrachtet, wird ihr legitimer Totengräber. Der Staat darf zwar aufgrund dieser Einschätzung anti-demokratische und extremistische Versammlungen nicht verbieten, solange sie friedlich sind. Maßt er es sich häufiger an, werden auch alle übrigen von uns Totengräber, die den Staat im Sinne von „gemeinsamen Werten” handeln lassen. Schutz der Demokratie ist nicht Aufgabe des Staates — er ist ihr Produkt, oder anders ausgedrückt: Der Staat existiert durch, ohne und sogar gegen unseren Willen. Bedenklich ist es, wenn er sich in seinen Urteilen verselbständigt.
Ein Staat, wenn wir ihn auf die Parteien mit demokratischen „Absichten” reduzieren, muß jedes Versammlungsverbot begründen. Hier beginnt die Ratlosigkeit der Demokraten. Denn es bleibt ihnen oftmals nichts das Substanz hat, um eine Verbot friedlicher Versammlungen, die anti-demokratisch scheinen, zu rechtfertigen. Ihre gemeinsamen Werte sind Pluralismus, Freiheit, Toleranz, Gleichheit, usf. Nichts, was man mit Inhalten positiver Bedeutung füllen kann ohne die eigene Offenheit zu verlieren. Deswegen fordert die aufklärerische Gesellschaft Einsicht — aber wenn nicht in positive Werte, worein dann?
Einsicht ist inzwischen szientoid: die Verwissenschaftlichung von Weltanschauungen und Werten, die zunehmend mit denen des Humanismus konkurrieren. Von der Idee der Aufklärung ist nicht viel übrig geblieben, denn die PR-Maschine des neuen Liberalismus behilft sich mit quantifizierbarer Rationalität, die an die Stelle eines kritischen Geistes gerückt wurde. Betagte Zahnpastawerbung zeigt geradezu drollig die Settings des (Zahn)Experten: Eine Autorität, der Herr Doktor s.c.! Weshalb jemandem glauben, der weniger Kompetenz ausstrahlt? Wir erwarten fortan wissenschaftliche Gegenbeweise für die Qualität aller anderen Zahnpasten. Wir erhalten ihren Schein und mit ihnen Absurdität. Auf Studien folgen Gegenstudien, auf Argumente Gegenargumente. Augenscheinlich eine faire wissenschaftliche Auseinandersetzung. Doch mit zwei Problemen: Unsere Leben sind nicht komplett wissenschaftlich konstruiert und die Argumente präsentieren sich als Hülsen der Expertise, der man vertrauen wird. Wenn Studien über Zeiträume von Jahren Argumente zur Suchtwirkung von Technologie und sozialen Medien hervorbringen, argumentieren andere dagegen, dass Korrelation keine Ursächlichkeit bedinge. Wissenschaftlich akkurat, allerdings waren während der Covid-19 Pandemie die Ursachen viel schneller geklärt. Es gibt ein qualitatives Maß hinter den Argumenten der Wissenschaft.
Diese Verwissenschaftlichung trägt Affekte in sich, gut verborgen im trojanischen Pferd der wissenschaftlichen Evidenz, die doch gefühlt werden muß, um begriffen zu werden — nichts weiter. Ewige Wiederholung schafft starke neuroplastische Verbindungen, Vertrautheit und damit Wahrheit. Jede Person ist derart konditioniert; manche mehr, manche weniger. Es scheint fast, als seien die Querdenker und Wutbürger eine demokratische Avantgarde, weil sie ihrem Gefühl der Entfremdung Luft machen.
Der Staat kann sich diesem Affentheater der Affekte nur anschließen, wenn er wahrgenommen werden will — Politiker versuchen das, indem sie „gemeinsame Werte” anmahnen oder indem sie das Gemeinsame wieder zum Gegenstand von Politik machen wollen. „Einsicht!” ist Mantra der ersteren, die nicht durchdringen. „Es reicht!” ist das Gebrüll der anderen, die mit Pfeilspitzen der Simplifizierung den Weg aus dem Geflecht dieser szientoiden Verwirrung zeigen wollen. Die Letzteren sind erfolgreich, weil ihr trotziger Reaktionismus simple Urteile über die Wirklichkeit fällt: der Asylant, der Russe, der Kommunist, der Grüne, die Eliten. Ihre Urteile sind affizierend in „gerechter” Wut als Mittel gegen Angst, die verbreitet wird. Das „Gemeinsame” ist simple Identität, welche die Brust schwellen läßt, denn eine Person fühlt sich wahrgenommen, wenn ihr ein Wert zugesprochen wird. Dieses „Zusprechen” ist heute Demagogie, Führerschaft, die Versammlung von Aufgehetzten, Verbogenen, Unterwürfigen. Eine Gemeinschaft von versammelten Menschen braucht keinen Führer; sie entsteht durch einen gemeinsamen Zweck. Es ist schwieriger, sich zusammenzufinden, als zusammengeführt zu werden. Deswegen stehen die Humanisten nun in der Schußlinie; weil ökonomische Misere zum Nachdenken über Sinn und Soziales zwingt und weil Menschenwürde ein Wert ist, den niemand begreifen kann. Menschenwürde ist abstrakter als das, was wir augenscheinlich gemeinsam haben, wie Herkunft, Hautfarbe oder Opferrolle. Traditionalismus und Ultra-Konservatismus sind deswegen modern. Der wirtschaftliche Liberalismus wiederum versteckt sich hinter der Wertfreiheit seiner Verwissenschaftlichungen und bleibt (noch) politisch unangreifbar.
Können substantielle „gemeinsame Werte” existieren, wenn sie zumindest Respekt, Toleranz und die Akzeptanz aller Mitmenschen umfassen? Die Humanisten haben keine Möglichkeit außer der positiven Diskriminierung: Menschengruppen, die ungleich behandelt werden, müssen sich zu ihrer Wahrnehmbarkeit abgrenzen. Gerade das, was Gleichheit vermeiden will. Ein unmöglich scheinender Kampf der offenen Gesellschaften zeigt sich im beginnenden 21. Jahrhundert. Die Bevölkerung fühlt sich bevormundet, wenn für Pluralismus und Toleranz geworben wird. Auch wenn diese Bevormundung propagierte Einbildung ist: die Gesellschaft lastet auf uns, vielerorts unbequem und verwirrend wird sie als Erzeuger unserer Erschöpfung angesehen. Humanistische Werte konkurrieren inzwischen mit allen anderen, als müssten sie sich beweisen. Oder wie es bei Bob Moses klingt: Our humanity is tearing at the seams.
Dieser Staat hat keine Mittel des Affekts, um Verbote zu begründen. Politiker, die man zur institutionell-demokratischen Fraktion zählen kann, wissen sich inzwischen nicht anders zur Wehr zu setzen, als Werte in die Diskussion einzubringen. Politik, die Offenheit propagiert kann nicht auf positive Diskriminierung verzichten. Das wird inzwischen als Wokeness bezeichnet: alles, was das Pluralistische fördern will wird zum aufdringlichen Ethos. Etwas, was die Freiheit der eigenen Meinung bedroht. Fackelträger und fundamentale Widerständler sind Exemplare, die meinen, sich von den Mauern dieser Wokeness befreien müssen. Ein emotionales, auslösendes Wort, dass jede langwierige Einstimmung, jedes geistige Priming übernimmt, wenn man zur Hetze ansetzen will. Der Rahmen ist sofort gesetzt: Jetzt kommt was, worüber ihr euch aufregen könnt! Und es kommt etwas, das sich harmonisch in die klassische Parabel von Furchterzeugung bis zur Kanalisation der Wut einfügen wird. Wer so aufgeladen ist und Menschen sieht, die für Toleranz und Pluralismus werben, reagiert folgerichtig mit Wut, die irgendwann in Hass übergeht, um handgreiflich zu werden. Appelle, die beispielsweise auf Asylanten, Schwule und Lesben oder Transsexuelle aufmerksam machen, werden mit dem Gefühl verbunden, dass da jemand „besser dasteht” oder „gleicher” als gleich behandelt werden soll. Dass man andere auf dieses positive diskriminierende Podest heben solle und dabei selbst ignoriert werde. Wer sich darüber beschwert, ist aktiviert, weil er an jeder Ecke die „—innen”, „—ierenden” und „—enten” sieht, die ihm vorschreiben wollen, wie er zu reden, denken und schreiben habe. Widerstand gegen diese „Zumutung” wird Ziel; ein kleiner Lebenssinn. Widerstand wird zum gerechten Akt der Befreiung. Steht nicht etwas vom „Widerstandsrecht” im Grundgesetz? Wieviele Menschen kennen du und ich, die immer unpolitisch waren und nun argumentieren? Welche plötzlich zu einer Meinung motiviert sind, wo sie immer öfter Mauern beschreiben, wegen derer man nichts mehr sagen darf, wo alle anderen mehr (Aufmerksamkeit, Geld oder Macht) bekommen usf. Diese (Gegen-)Positivierung durch Angst und Sorge funktioniert effektiv als emotionale Aufladung, die sich zu Fundamentalismus verschließt. Das gilt für alle Seiten.
Einsichtig wäre es, sich gegen die (bayerische) Verordnung zu wenden, welche Ausdrucksformen der Sprache in Ämtern und Schulen verbietet. Aber das ist nebensächlich geworden, denn wer mit der Fackel umherzieht, zieht gegen jene Mauern zu Felde, die ihm gerade vorschweben — alleine die Befreiung davon wird zum sinnstiftenden Ziel, als einsamer Don Quixote, der Moscheen stürmt oder als einer im Heer von anderen. Wer sich von Offenheit in seiner Freiheit einmal bedroht fühlt, findet immer einfacher Gründe für seinen Fundamentalismus.
Recht ist „geronnene Politik”; wo sie nicht wertfrei bleibt, wird Freiheit eingeschränkt. Und das beginnt, so Douglass, eben beim Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit. Gegen die verunsichernde, pluralistische Wokeness ist ein „Heimatministerium” ein Monument eines beruhigenden, heimeligen Konsens und ein weiterer Schritt in Richtung Traditionalismus und Verschließung. Konservativismus ist greifbarer als progressive Utopie und scheint harmloser, weil er rückwärtsgewandt auf zivilisierte Werte schaut. „Damals war (so einiges / alles) besser”, weil wir das damals ja überlebt haben, weil es vertraut ist. Das ist die Ansicht der Depressiven, die in der Vergangenheit leben und denen Angst als Bestätigung dieser Weltsicht willkommen ist. Hier wirkt inzwischen ein Konservativismus, der sich zu viel herausnimmt, indem er Ängste schürt und andererseits Sinn und Substanz in Werten zu vermitteln sucht, um die Angst zu mindern. Die „guten Absichten” sind bei genauem Hinsehen schleichende Indoktrination. Der Staat ist nicht mehr gemeinschaftlicher Konsens, sondern macht sich eigenständig, wenn er (durch Politiker) von Werten redet. Etwas dieser Art hat schon in den späten 1960ern ausgehend von Herbert Marcuse Widerstand erfahren, als der (US-Amerikanische) Staat Demokraten erziehen wollte. Wer eine „Leitkultur” ausruft, erklärt damit, dass der Rahmen geltenden Rechts nicht ausreichend sei. In diesem Rahmen haben sich deutsche Staatsbürger jahrzehntelang bewegt und es herrschte weitgehend Rechtsfriede. Wozu eine Freiheitsbeschränkung jeder Person im Staat durch mehr Überwachung, Datensammlung und drakonische Strafen etc.? Wozu ist „Leitkultur” gut, außer Sitte und Unsitte für alle und jeden straff zu ziehen? Indem man mit dem Finger auf den Nachbarn zeigen darf, um den Abweichler zu identifizieren, fordern positive Werte verschlossene Personen in verschlossenen Gesellschaften. Sie geben zumindest eine simple Werteordnung vor, an der man sich orientieren kann. Wer sich keinen Eimer nimmt, um die Fackeln zu löschen, überläßt diese Aufgabe einer Politik, die alles andere als offen ist.
Es sind humanistische Imperative, die uns allen klar sein sollten: dass man niemandem Unrecht tut ist ihr Grundsatz. Doch die „Kulturindustrie” (im Sinne Adornos), zu welcher schon immer Politik zählt, wendet sich mit brachialer Liberalität gegen das Offene, sobald sie Werte in den Mund nimmt. Aus dem Humanismus der Offenheit, welcher kein Gesicht hat, konstruiert sie Hindernisse — Mauern —, die der Freiheit entgegen stehen, ob sie will oder nicht. Politiker werden zu „Beamten der Freiheit”, welche sie zu ernst nehmen, wie Albert Camus schrieb. Jeder Versuch der Seenotrettung ist humane Verpflichtung mit welcher die Sorge mitschwingt, dass Asylanten vor den Toren stehen, welche die Kommunen und das Sozialsystem überlasten werden. Es ist eine plausible Rechtfertigung, nichts für Ertrinkende zu tun, indem man ihnen Verantwortung zuschiebt: Sie hätten ja entscheiden können, diese Gefahr der Flucht nicht einzugehen. Diese Einsicht verlangt man ihnen ab. Das passt in das egozentrische Weltbild dieser „schweigenden Mehrheit” die sich schon Richard Nixon für seine Zwecke einspannte; im modernen Slang: Jeder für sich, dann ist für jeden gesorgt. Diese Verantwortlichkeit ist das grundlegende, asoziale Paradigma des freien egozentrischen Menschen.
Moderne Liberalität hat lähmenden Individualismus zur Folge, der den Staat zum Dienstleister macht. Sie wird zu Aktivismus, sobald dieser Dienstleister nichts taugt — und Befreiung von seinen einschränkenden Mauern zum Ziel wird. Politik, die Werte proklamiert, biedert sich als Problemlöser an. Sie rechtfertigt sich mit den Entscheidungen der Wähler, die zuvor mittels Affekten weichgeklopft wurden. Man ringt in Wirtschaft wie Politik um unsere Aufmerksamkeit mit allen Mitteln. Diese Hysterie erschöpft uns. Weil es in der Flut von Information immer die eine gibt, die uns trotz ihrer Absurdität noch aufregt. Dem Algorithmus sei dank. Jeder von uns sucht Gelassenheit und der Weg zu ihr steckt immer schon in der Information: Aufreger & Lösung. Vertraue dieser Zahnpaste, vertraue dieser Politik… Wer es dem Staat aufbürdet für „Ordnung und Sicherheit” zu sorgen, macht sich zum Tyrann der Gleichgültigkeit, die mit Macht durchgesetzt wird. Nur wer sich versammelt, kann sich und andere von dieser Fremdsteuerung der Affekte befreien.
Wir sollten mal wieder Steine werfen. Die Gesellschaft scheint dermaßen verroht, dass wir kaum mehr über Inhalte diskutieren können. Die Fronten sind verhärtet, weil sich fundamentalistische Muster in Köpfen gebildet haben. Das Vertrauen in Wahrheit ist wichtiger als Faktizität und der Streit über letzteres inzwischen zwecklos. Unser Egozentrismus, dessen Ursprung in der Privatautonomie liegt, läßt uns Individualismus falsch verstehen: Wir sehen nicht nur unsere Überzeugungen angegriffen, wenn wir kritisiert werden, sondern unsere Identität. Außer mit Steinen, die spürbare Fakten schaffen, scheinen sich fundamentale Weltbilder nicht mehr auflösen zu lassen. Ist das kein verzweifelter Aufruf zur Gewalt durch jemanden der tolerant sein will und dessen Toleranz am Ende ist? Zeigt sich hier nicht die Zwickmühle dieses offenen Toleranzbegriffs? „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” kann sich nur dann verteidigen, indem sie selbst intolerant wird. So meint es ihr Autor Karl Popper. Diese herrliche Paradoxie macht uns gerade ernsthaft zu schaffen. Das Versammlungsrecht aus Artikel 8 des Grundgesetzes ist weniger Recht als Verpflichtung für alle, die sich nicht bevormunden lassen wollen.
Wir sind Fremde geworden. Das sagst du nun jedes Mal, wenn du den Laptop schließt und dich zu mir auf die Couch setzt. Du möchtest unter meine Decke, aber ich zögere. Dieses Zögern verfolgt mich bis in unser Bett. Vielleicht nimmst du es nicht einmal wahr. Denn bist du nicht am Laptop, dann hast du dein Handy in der Hand. Ich weiß, dass du wieder mit ihr beschäftigt bist und es macht mich wütend. Doch das Brodeln bleibt unter der Oberfläche meiner Haut, die sich nach dir sehnt. Abends legst du dich neben mich ins Bett, als würde sie gar nicht existieren. Der Gedanke an sie treibt mich um, aber lässt dich gut schlafen. Selbst in meinen Alpträumen ist sie es, die mir den Frieden nimmt.
Sie kam vor Wochen oder Monaten in unseren Kreis. Zugegeben, es ist eher dein Kreis, in den ich irgendwann dazu kam. Der Prozess war anfangs schleichend, deshalb kann ich keinen genauen Zeitpunkt ausmachen, seitdem sich etwas änderte. Vielleicht waren die Anzeichen auch schon da, bevor mich eine gemeinsame Freundschaft zu euch führte. Es kann sein, dass ich gar nichts davon ahnte, als du mich zum ersten Mal gesehen hast. Wir wussten beide, das hier wird schwer für uns. Dennoch wagten wir es. Ich fand dich gut. Wir teilten viele Schmerzen und den Hass, den wir an diesem Ort gegen uns selbst richten mussten, damit wir den anderen Hass ertragen konnten. Alles ging ganz langsam vorwärts. Das gefiel mir.
Wir hatten Angst vor unseren Eltern und noch mehr vor dem Kreis aus Menschen, der uns in der Jugend wachsen ließ. Die Abenteuer in der Kleinstadt, die geprägt waren von krassen Sommern und experimentellen Wintern. In kalten Kellerbuchten rutschten wir bei Glühwein aus dem Wasserkocher zusammen. An den heißen Sommertagen schwammen wir nackt in den alten Baggergruben am Rand der Stadt. Alles war staubig trocken oder schmierig feucht. Unter deiner Jacke fror ich nicht.
Als unsere Eltern es erfuhren, sagten sie nichts. Sie spendierten die Einbauküche für unsere Wohnung, die wir uns nach der Ausbildung endlich leisten konnten. Hier durften wir sein. Draußen, meintest du, müssen wir das nicht so zeigen. Das geht keinen was an und außerdem ist es schon schräg, wenn andere es wissen. Das wir uns lieben? Nein, das war nicht das Ding. Das Ding war anders und das sollte ich auch wissen, denn ich bin auch an diesem Ort aufgewachsen.
Das Ding war das, worüber unser Kreis derbe Witze machte. Wir brauchten ihnen gar nicht zu erzählen, was wir in unserem Heim taten, wenn wir nur für uns waren. Sie schienen es zu wissen. Du hast dir nicht anmerken lassen, wie sehr es dich verletzte. Manchmal hast du die Scherze sogar viel weiter getrieben. Ich lächelte nur müde. So lächle ich auch heute, wenn du mir von den ganzen Vorhaben erzählst, die dir durch sie in den Sinn kamen. Es fällt dir gar nicht auf, wie zwiespältig du bist. Und dann wagst du es auch noch, dich neben mich ins Bett zu legen? Du willst mich küssen, willst von mir geliebt werden. Dennoch verrätst du uns.
Mittlerweile bin ich froh, wenn du mit unserem Kreis alleine weggehst. Langsam wird es wieder nur dein Kreis und das ist mir nur recht. Sie fragten anfangs noch nach mir. Aber ich weiß, dass sie immer misstrauischer werden. Irgendwann werden sie dir die Frage stellen, ob du bei mir bleiben willst oder dich für sie entscheidest. Solang ich deine Hemden bügle, ist alles fein. Das sagst du so leicht dahin, damit sie lachen. Doch ich wasche deine Kleidung, hänge sie zum Trocknen auf und bin ganz froh, wenn die Flecken der letzten Kneipentour nicht mehr zu sehen sind. Wenn du von ihnen nach Hause kommst, dann weiß ich, dass du nur über sie gesprochen hast.
Jetzt lege ich dir deine Kleidung auf unser Bett. Die schwarzen Jeans und das gleichfarbige Polohemd. Weiße Socken, ein Schlauchschal, den du dir in dein Gesicht ziehen kannst und diese verdammte Cap wirken fremd in unserem Schlafzimmer. Du kommst gerade aus der Dusche, küsst mich auf die Wange. Deine nasse Haut ist noch warm. Da ist etwas Vertrautes in der Art deiner Umarmung. Dein Duft ist über die Jahre gleich geblieben und niemand anderes darf so riechen wie du. Daran erkenne ich dich immerhin noch, nachdem du dir deine Uniform angezogen hast. Sich unter ihnen einzureihen fällt dir gar nicht schwer. Ich frage mich, wann es dir auffällt, dass du gar nicht in ihre Welt passt. Du hast den Kopf nur voll mit ihr. Du denkst nur an die Idee von unserem, aber eigentlich nur eurem Deutschland.
Fremd im eigenen Land seid ihr geworden. Du bist nur fremd in diesem Zimmer. Neben mir zu stehen sieht albern aus im Spiegel, fällt mir auf. Du ziehst dich einfach nur an. Dabei redest du voller Vorfreude von dem Treffen mit deinem Kreis. Ihr werdet dieses Land aus einer Krise holen, die es gar nicht hat. Die Krise habt nur ihr. Veränderungen haben euch mit der eigenen Stagnation konfrontiert. Was jetzt?
Runter damit, brüllt ihr euch entgegen und leert die Flaschen in euren Händen. Das Klirren ist eure Kriegstrommel. Es peitscht euch an. Ihr haltet die Fahnen hoch und marschiert durch die Kleinstadt, in der wir diese wilden Sommer und kuschligen Winter verbracht haben. Und was ihr verteidigen wollt, entfremdet euch von diesen Momenten. Von unserer Geschichte werden bald nur noch Fotos übrig sein. Es wird mir dennoch schwerfallen mich zu erinnern. Unsere Eltern haben uns sogar ein Buch gebastelt. Sie waren immer froh, dass du so solide bist. Stabile Arbeitsverhältnisse und ein schönes Heim. Vielleicht sogar, irgendwie wird es sicher gehen, eine eigene Familie, die nicht nur aus uns beiden besteht.
Das gilt es zu verteidigen, hast du mir immer wieder gesagt, während du dir die Nachrichten angeschaut hast. An keinem bestimmten Tag hast du damit aufgehört und mich gebeten den Fernseher abzuschalten. Deine Informationen nimmst du dir nur noch von Quellen, denen du vertrauen möchtest.
Alles wird angegriffen, was uns etwas bedeutet hat. Nur verstehen wir beide das anders. Familien werden bedroht, aber nicht von solchen wie uns. Wir sind anders, weil wir ruhig sind oder weil wir uns für die Idee einsetzen. Dabei bemerkst du nicht, dass ich das nicht so sehe. Sind wir wirklich anders oder redest du dir gut zu? Hören dann die Witze auf? Sie werden eher schlimmer.
Pervers sind die anderen. Pervers ist die Welt, in der wir leben. Eine Perversion ist die Freiheit, die du Freiheit nennst und mit der du unterdrückst. In ihr können wir nicht leben. Die Arbeit, die Wohnung, die Pläne und unser Bett wären dann nicht mehr. Verstehst du das nicht, wenn du dich im Rausch dieser Idee fallen lässt? So viel kannst du gar nicht trinken. Das weiß ich, weil ich die Flecken auf deiner Kleidung kenne. Ich kenne sie so gut wie eure Ideen, die nur für euch zugänglich bleiben. Und ich ertrage diese Einsamkeit nicht mehr.
Du stehst neben mir im Flur und ich sehe das Glänzen in deinen Augen. Ein Teil davon ist euren Gesprächen geschuldet, der andere verdeckt als Fahne deinen Duft. Den vermisse ich. Wir sind beide von einer nostalgischen Sehnsucht ergriffen. Hochgestochene Worte, die ich in einem Buch gelesen habe, als du einmal wieder unterwegs warst mit deinem Kreis. Ich schäme mich nicht mal mehr ihn nur noch so zu nennen. Einen eigenen habe ich nicht mehr. Es sind nur noch lose Freundschaften, die mich in ein Café mitnehmen. Dann fragen wir uns die üblichen Sachen. Ich nicke, wenn ich von dem tollen Leben mit Familie und Urlauben höre. Ich will nicht von dir erzählen.
Du freust dich, wenn ich etwas in der Wohnung verändere. Ganz gemütlich findest du meine Einfälle und freust dich, wenn du zu uns kommst und etwas ist ganz neu. Ein sicheres Heim, was du sichern musst. Schon ist alle Freude in mir dahin. Zerplatzen lässt du alles Gute, was ich hierher bringe. Aber deine Wärme würde mir fehlen. Denn du kannst dich aufopfern, Liebe geben und mich tröstend in den Arm nehmen. Dabei weine ich um dich. Wie kannst du so liebevoll für uns sein, aber nicht für andere?
Die Krisen in deinem Kreis haben dich härter gemacht. Zukunftspläne und Sicherheiten sind weggebrochen und es mussten Schuldige gefunden werden. Da waren dann die, die und die besonders gut geeignet. Sie waren nicht wie wir; eigentlich nur ihr. All das andere, was ihr nicht versteht, haben sie hierher gebracht. Manches war sogar schon immer irgendwie da, nur hat es dich vorher nicht gestört. Hast du dir darum wirklich Gedanken gemacht?
Gestern habe ich Bautzen verlassen und dir gesagt, dass ich mich mit einer Gruppe treffe, die ich im Internet gefunden habe. Da müsste ich heute schon hin, damit wir morgen früh woanders hin können, nur das du Bescheid weist. Meine Stimme überschlägt sich, das macht dir Sorgen. So aufgeregt hast du mich schon seit Jahren nicht erlebt. Aber du hinterfragst es nicht weiter, denn wir waren selten über Nacht getrennt. Das macht auch dich nervös, wenn ich nicht neben dir einschlafe.
Gut. Gut. Gut, hast du zwischen meinen Sätzen gesagt und mir meine Zahnbürste gereicht. Dieses große Fragezeichen in deinem Gesicht machte mir ein schlechtes Gewissen. Also gab ich dir schnell einen Kuss auf die Stirn, dann auf die Wange. Ich hielt inne. Meine Augen wanderten zu deinen Lippen. Wir zögerten beide. Warum liebe ich dich? Warum küsst du mich nicht, hast du mich schließlich gefragt. Es wäre albern, es nicht zu tun. Also tat ich es. Wir taten das, wogegen du und wofür ich auf die Straße gingen.
In Leipzig konnte ich wieder atmen. Es war dieser Atem, der angehalten wurde, weil etwas Großes passierte. Doch das funktioniert so nur in den Büchern, die ich las, weil du nicht da warst. Der Gedanke machte mich albern. Ich freute mich hier zu sein. Endlich lernte ich die Menschen kennen, mit denen ich geschrieben habe. Sie winkten mir zu und fragten, ob sie mich umarmen dürfen. Das durften sie, denn hier wurde diese Nähe akzeptiert. Und ich wollte mehr davon.
Wir verloren auch keine Zeit. Sie zeigten mir die Stadt und erzählten mir mehr, als ich behalten konnte. Am Ende ließ ich mich erschöpft auf einem Stuhl in einer Bar fallen. Wir bestellten Cocktails ohne Alkohol, damit wir diesen Moment ganz genießen konnten. Das kannte ich aus deinem Kreis nicht. Ich hatte ab diesem Tag meinen eigenen. Und er machte mich hungrig und wild. Es wurden viele Ideen besprochen, die wir teilten oder an denen wir uns rieben.
Die Energie kam in meinen Körper zurück. Ich war im Rausch der Einfälle ganz übermütig geworden. Da haben wir mir die Haare abrasiert. Das ist meine Freiheit, für die ich kämpfen will. Und wenn es nur noch der Haarschnitt war, der dir an mir gefällt, dann sei es so.
Nervös war ich trotzdem, als ich dir am Morgen ein Bild von meinen grünen Docs mit den neuen, bunten Schnürsenkeln schickte. Du hast mit einem Bild deiner schwarzen Martens geantwortet. Deine Schnürsenkel waren weiß. Daraufhin folgten Herzen von uns beiden.
In den Stiefeln wippte ich angespannt in der Bahnhofshalle hin und her. Es war ohrenbetäubend laut, weil ihr und wir schrien. Wir brüllten uns die Lungen wund gegen eure schwarz, weiß, rote Wand aus Hass. Ich war mir unsicher, ob wir uns erkennen würden. Aber ich kannte dein Schild aus Bautzen. Als ich es erspähte, wurde es für einen Augenblick ganz still in mir. Dann bewegten sich meine Füße automatisch nach vorn. Mein Körper schob sich durch die Menge direkt auf dich zu.
Queer ist kein deutsches Wort. Ich erinnere mich, wie du mich nach dem Karton gefragt hast. Du warst extra in einem Geschäft, um dir die Marker zu kaufen. Sie stanken schrecklich. Stolz hast du es mir gezeigt. Ich nickte nur und lächelte, weil ich keine andere Antwort kannte. Jetzt hatte ich viele.
Neben dich drängte sich ein zweites Schild. Homos haben keine deutsche Geschichte. Und was ist mit Magnus? Was ist mit Magnus? Ihn gab es schon vor hundert Jahren und er wusste auch, dass es uns schon viel länger gab. Und das es gut so ist, wie wir sind. Das hätte ich am liebsten über das Brüllen, über das Tosen hinweg geschrien. Ich wollte es dir so gern in dein Gesicht spucken, das du unter deiner Cap und in deinem Schlauchschal versteckt hast. Ich hole tief Luft und gebe meiner Stimme alle Kraft, die ich aufbringen kann.
„Essen wir heute Abend Pizza oder Döner?“ Du siehst mich mit großen Augen an. Vorher hast du mich nicht erkannt. Jetzt wird dir bewusst, wer vor dir steht. Du musterst meine neue Frisur. Dass du ganz verwirrt bist, sehe ich an deinem Blick. Die Polizei drängt sich zwischen uns. Für einen kurzen Moment verliere ich dich aus den Augen. Dann tauchst du wieder auf. Du hast den Schal nach unten gezogen, damit ich dein Gesicht sehen kann.
„Die haben meinen Perso. Das dauert. Der Dönerladen hat länger auf.“ Ich nicke und schiebe mich zu meinem neuen Kreis zurück. Magnus würde sich fragen, was mit mir ist. Ich frage mich, wie lange halte ich das noch aus?
Wenn wir uns versammeln, sind wir zusammen, dann sind wir gemeinsam und nicht allein, dann sind wir viele. Dann sind wir nicht mehr allein in einem Jugendzimmer, in dem irgendwo ein Pferdeposter noch nicht abgenommen wurde, der Legobausatz nicht fertig ist. Dann sind wir nicht mehr dreizehn, vierzehn, fünfzehn und kommen nach der Schule nach Hause, in der wir uns anders gefühlt haben und fremd und trotzdem mitgemacht haben, weil wir nicht allein sein wollten. Dann sind wir nicht mehr einsam und lesen Werther oder Rimbaud oder Grey. Dann liegen wir nicht mehr auf dem Bett und starren zur Decke, melancholische Musik als Soundtrack, vor dem wir spielen, wer wir sind.
Wenn wir uns versammeln und uns ansehen und uns zur Begrüßung in die Arme nehmen, sind wir nicht allein mit all den Unsicherheiten aus der Zeit im Jugendzimmer, als etwas in uns schon sehnsüchtig war, wir aber noch nicht wussten, was das ist, das da so zieht und wummert und nach draußen will. Wir haken uns unter, denn wir wollen uns versammeln, jetzt, Jahre später, als die Jugendzimmer heruntergekommenen WGs und Studios im Dach gewichen sind. Wir trinken Martini, der nicht so heißt, der nur vier Euro gekostet hat und verschränken unsere zwei Arme, verhakeln unsere zehn Finger und rumpeln auf ausgetretenen Holzstufen knarrend hinab auf die Straße, denn wir wollen uns versammeln. Wir laufen im Gleichschritt unserer vier Füße und bremsen im Staccato unserer Lippen, die sich treffen, sich trennen und wir laufen trotz des Regens, denn wir wollen uns versammeln an einem Ort und wollen lachen und reden und anstoßen und sein, wollen die Welt retten heute Nacht, wollen Politik machen und eine neue Welt in ganz klein, nur für uns und später mal, wenn wir groß sind, aber bis dahin müssen wir noch laufen, während um uns herum die Lichter blitzen, vorbeiziehen und die Luft leicht ist, die unsere Lungen erfüllt nach den Jahren im Jugendzimmer und dem Muff ungeöffneter Fenster und geöffneter Chipstüten und all dessen, was ungesagt dazwischen hängt.
Wir gehen schneller, denn wir wollen uns versammeln und uns alles sagen können, wollen gemeinsam darüber lachen, wie blöd wir waren und wie fadenscheinig unser Theater und uns versichern, dass wir genau richtig sind, genau jetzt, genau hier. Wir haben Plakate geklebt, damit auch andere uns finden und wir alle einsammeln können, die noch nicht Zuhause sind. Wir schauen uns an, von der Seite und der Weg ist nicht mehr lang, schon die ersten Transparente, die weit über den Uniplatz leuchten, schon das Alte Auditorium und die ersten vertrauten Gesichter von Weitem, mit denen wir uns versammeln wollen.
Wir sind ganz im Gehen, im Schauen, im Zusammensein und dann Stopp. Er steht da. Er ist nicht groß und nicht klein, er ist sehr weiß. Er sieht uns an. Er senkt den Blick dahin, wo wir Buttons an den Jacken tragen. Er sieht gepflegt aus. Er öffnet den Mund. Er verzieht den Mund. Er grinst hämisch. Er trägt einen Anzug unter dem Mantel. Er tritt auf uns zu und nennt uns pelzig. Er nennt uns viele Dinge. Er tritt auf uns zu und bewegt die Arme. Er sagt noch mehr Dinge und hat Spucke auf den Lippen. Er fuchtelt mit den Armen. Er tritt auf uns zu. Er ballt die Hände zu Fäusten. Er spricht. Er spricht laut. Er spricht von seinem Deutschland. Er hebt die Fäuste. Er schreit –
und dann versammeln sich vertraute Gesicht um uns herum, komme über den Rasen, kommen von der Bushaltestelle, kommen gelaufen und stellen sich den Fäusten und den Worten entgegen, stellen ihn. Ihr Pelzigen, sagt er ein letztes Mal, versucht es zu schreien, mein Deutschland, aber da ist es schon nur noch ein Flüstern.
Wenn wir uns versammeln, sind wir zusammen, dann sind wir laut und nicht allein, dann sind wir viele, die zusammenstehen.
Der Kriegsdienstverweigerer
Krieg, Kampf und Zerstörung tobt
in deinem eig’nen Land.
Sag, willst du gar nicht mit uns kommen,
um zu schützen, um zu retten,
wo auch du dazu gehörst,
was du deine Heimat nennst
und dafür auch Treue trägst?
Ich lass Krieg, Kampf und Zerstörung toben,
denn es ist nicht meine Schuld
und ist es niemals gewesen,
dass nichts mehr friedvoll und gesittet ist.
Warum soll ich dann mich selbst riskieren,
nur um Erwartungen gerecht zu werden?
Seht her, seht her,
er ist der Kriegsdienstverweigerer,
versucht heimlich, unbemerkt zu fliehen,
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen,
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Du ziehst dich einfach ganz zurück,
gibst keine Acht aufs Vaterland.
Sag, wenn alle sind wie du
und vergessen, was die Pflichten sind,
wer ist dann da zu schützen,
was auch ihr als euer Zuhause kennt?
Das, was ich als Zuhause kenn,
ist dann nicht mehr, wie es war,
will nicht Familie, Kinder, alles, was ich liebe
zurücklassen ohne irgendein Gewissen
darüber wo ich bin und was ich tu,
sodass sie bald vergessen, wer ich war.
Hört her, hört her,
er ist der Kriegsdienstverweigerer,
versucht heimlich, unbemerkt zu fliehen
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Warum seist nur du verschont,
von dem, was alle hier bedroht?
Sag, will denn irgendjemand freiwillig
in sein Verderben ziehen?
Du bist da ganz gewiss nicht allein,
und doch gehen wir alle zusammen für die Sicherheit.
Ich denke auch an meine Sicherheit,
die ich gerne um mich hab,
die ich mir hoch und heilig schätz
und nicht abgeben mag für etwas,
dem ich mich eigentlich widersetz.
Schaut her, schaut her,
er ist der Kriegsdienstverweigerer,
versucht heimlich, unbemerkt zu fliehen
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Wenn alle sind wie du,
und sich gegen all die Pflichten dieses Landes stellen,
sag, wo sollen wir nur Menschen herbekommen,
die bis auf die Knochen diesen Boden verteidigen
und eine Heimat, die in Trümmern liegt,
von diesen jemals zu befreien
Befreiung folgt auf Zerstörung,
die mir liegt so fremd,
vielleicht will ich gar nicht kämpfen,
weil der Kampf mir fern liegt,
wenn keiner kämpft, nur alle schweigen,
kann keine Zerstörung sich verbreiten.
Seht ihr nun den Pazifisten,
den wir in unseren Reihen listen,
der heimlich unbemerkt versucht zu fliehen
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Nennt mich Pazifist, sucht euch die übelsten aller Worte aus,
doch niemals treibt ihr mich aufs Feld zur Schlacht hinaus,
ich kenne meine Freiheit und lobe sie mir sehr,
mein Bedürfnis zu begreifen fällt euch ziemlich schwer,
ich will Krieg, Kampf und Zerstörung nicht steigern,
stattdessen lieber weiter verweigern.