Ein sinkendes Schiff

von F16

10.22 Uhr, Dienstagmorgen. Die Lichtstrahlen schleichen sanft durch die halbgeöffneten Jalousien. Wie sanfte Wellen grüßen sie mich. Es ist meine Gewohnheit geworden, die Jalousien im Schlafzimmer zu öffnen, nachdem er aufgestanden ist und zur Arbeit gegangen ist. Um 7 Uhr werde ich nicht aufstehen, lieber erst um 10 Uhr mit den Sonnenstrahlen, die mich nicht mehr einschlafen lassen. Mein Traum war wieder leer, leer wie so oft. Wieder bin ich allein in der Wohnung, er ist bei der Arbeit.

Zu Hause war es anders. Meine Schwestern und ich wachten gemeinsam auf, als ob wir es geplant hätten. In Wirklichkeit konnten wir es einfach nicht ertragen, die anderen schlafend zu sehen, also weckten wir sie auf unsere Weise. Dann das Warten auf das Badezimmer und ein informelles Frühstückstreffen am Küchentisch mit der ganzen Besatzung.

Jetzt ist es anders. Wir sind erwachsen geworden. Wann habe ich realisiert, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich mit meinen Schwestern und Eltern wie ein Kind zu Hause sein würde? Zu Hause ist jetzt weit weg. Ich habe ein neues Zuhause, dort, wo er ist. Ich schätze mich glücklich ihn kennengelernt zu haben. Vor drei Jahren haben wir inmitten von Corona geheiratet. Jetzt sind wir allein zusammen, in einer fremden Stadt, in einem fremden Haus mit fremden Menschen. Er flüchtet sich in die Arbeit, und abends wieder zu mir. Ich tue so, als würde ich für die Uni lernen. Der Laptop steht offen da, die aufgezeichneten Töne der Professoren gehen an mir vorbei. Sie dringen nicht einmal in meine Ohren, etwas hält sie von mir fern. Ich fühle mich gefangen in einem Standby-Modus.

Meine Gedanken schweifen ab. Papa geht es nicht gut. Die zweite Knieoperation im letzten Jahr war nicht erfolgreich, er kann immer noch nicht richtig laufen. Ich fühle mich schuldig. Ich besuche meine Eltern nicht mehr oft. Papas Gesicht, Mamas Missgunst ihm gegenüber, die Blicke meiner Schwestern fragend und hoffend, dass ich alles regle. Die Verantwortung der Erstgeborenen.

12.30 Uhr, mein Wecker klingelt, in einer Stunde sollte ich zur Arbeit. Ich weiß, ich sollte etwas essen, aber der Appetit ist verschwunden. Ich denke nur an das eine und wundere mich wie schnell Menschen sich verändern oder wie langsam es den anderen auffällt. Seit Corona ist Papa ruhiger geworden. Was verheimlicht er mir noch? Dass sein Laden nicht mehr läuft, ist mir jetzt klar. Die Mahnungen, die gelben Umschläge, versteckt in seinem Auto und neben seinem Bett stapelnd, habe ich gesehen. Mama hat aufgegeben und sich nach 42 Jahren das erste Mal einen Job gesucht, an der Kasse. In ihrer Heimat hat sie Medizin studiert. Jetzt schmeißt sie den Haushalt, hat Geld, aber sie spricht nicht mehr mit Papa. Auch das muss ich regeln.

Wir haben Papa Hilfe angeboten. Von einem sinkenden Schiff sollte man sich fernhalten. Der Sog kann einen mitreißen. In seinem Fall ist es der Stolz. „Ich schaffe das schon“, sagt er. Ich fühle, wie ich mitgerissen werde, ins kalte Wasser.

Freitag, 15:30 Uhr. Im Schaufenster lächelt mich eine Tasche an. Guess, schlicht in Schwarz, in trendiger halbrunder Form. Fast 200 Euro. Ich hole sie mir. Die unaufhörliche Brandung der Menschenmenge trägt mich fort, und ich gleite von einem Laden zum nächsten, ich bin ein leiser Passagier auf den Wellen des Konsummeers. Zu Hause freut er sich, als ich ihm meine Beute zeige: eine neue Tasche, ein neuer Schlafanzug, der dritte in diesem Jahr, und natürlich die Winterjacke, für die ich eigentlich rausgegangen war. Es macht ihn glücklich, mich glücklich zu sehen.

23.40 Uhr, ich liege wach, er schläft schon. Kann Papa sich dieses Jahr eine Winterjacke holen? Wann hat er das letzte Mal eine geholt? Um diese Uhrzeit ist er noch im Laden, am Wachende gibt es immer einen kleinen Ansturm. Längst nicht so viel wie vor Corona. Seitdem hat er einige Mitarbeiter entlassen. Jetzt sind es nur noch er, ein Koch und ein Fahrer. Manchmal nur er und der Koch. Mit seinem gebeugten Knie, das ihm das Laufen erschwert, liefert er Pizzen aus. Wahrscheinlich ohne Winterjacke.

Ich schäme mich.

Sonntag, 11 Uhr. Mein Schwiegervater fragt mich, wann ich meinen Papa das letzte Mal angerufen habe. Gestern, lüge ich. „Du bist erwachsen, aber vergiss niemals deine Wurzeln. „sagt er in sanftem Ton zu mir, “Dein Vater freut sich immer, wenn du anrufst” fügt er an. Er hat das Gleiche wie Papa erlebt, nur 15 Jahre früher und statt eines kaputten Knies hat er ein halbkaputtes Herz.

Mittwoch, 18 Uhr. Heute habe ich ein Brathähnchen gemacht. Papa schicke ich ein Bild auf WhatsApp. Es wird ihn sicherlich freuen zu wissen, dass ich jetzt doch kochen gelernt habe. Er schickt mir einen Daumen hoch und schreibt „gut gemacht“.

Donnerstag, 10 Uhr. Ich rufe Papa an und hoffe, dass er nicht rangeht. Es klingelt zweimal. Beim dritten Mal lege ich auf. Eine Minute später ruft er mich an. Wir reden für zwei weitere Minuten, er freut sich sehr, dass ich anrufe. Ich sage ihm wieder, dass er in Rente gehen sollte und dass wir ihm helfen werden, meine Schwestern, mein Mann und ich. Er lacht, „Keine Sorge, meine Kleine, ich regle das schon.“ Dann legen wir auf. Wie viele Schulden hat er wohl jetzt?

Ich werde wütend. Auf ihn. Auf mich. Mein Gewissen sollte rein sein. Ich sollte frei sein. Jeder ist für sich verantwortlich und doch ziehen mich meine Wurzeln zurück, ketten mich an sich und lassen mir keine Luft zum Atmen. Habe ich nicht versucht ihm zu helfen? Habe ich nicht genug getan? In den Armen meines Mannes habe ich nachts geweint, und auch er hat versucht zu helfen. Wir sind zur Beratung gegangen, haben Anträge gestellt, Anrufe getätigt. Aber er gibt nicht auf, seinen deutschen Traum zu leben. Mein Gewissen schmerzt. Es schickt mir Geister. Hier und da. Schuldig, das bin ich.

Ich hätte mehr tun sollen.

In der Dunkelheit der Nacht hält mich mein Gewissen gefangen. Es flüstert mir von Schuld, von unausgesprochenen Worten und übersehenen Signalen. Die Schatten der Vergangenheit zeichnen sich auf meiner Seele ab, und ich frage mich, ob ich je in der Lage sein werde, den Klang der Verantwortung zu übertönen.

Tage ziehen vorüber, Taschen und Schlafanzüge vermehren sich Pakete stapeln sich in meinem Arbeitszimmer. Die Winterjacke liegt hinten im Schrank. Sie schaut mich vorwurfsvoll an, gekränkt dass ich sie nicht raushole, bei dem Wetter sollte ich kein erfrieren riskieren. Ich glaube ich trage doch gerne lieber meinen Wollmantel.

Die stummen Schreie der Mahnungen und gelben Umschläge drängen sich in meine Gedanken. Papa, der Held seines eigenen stillen Dramas, weigert sich, die Hauptrolle abzugeben. Er geht mit seinem Schiff unter und zieht uns alle mit. Mein Gewissen zieht mich mit sich, wie ein rostiger alter Anker, tiefer und tiefer sinke ich in die kalte und unbarmherzige See. Ich sollte mehr tun.

Sonntag, 12 Uhr „Hast du deinen Papa angerufen?“ Die Worte meines Schwiegervaters hängen schwer in der Luft. Diesmal entscheide ich mich für die Wahrheit. Nein, ich habe ihn nicht angerufen. Der sanfte Ton meines Schwiegervaters erinnert mich an meinen Vater früher. Ich vermisse ihn.

Entschlossen greife ich zum Telefon. Der Klang des Wählens hallt durch den Raum, begleitet von einem pochenden Herzen. Ich nehme tief Luft. Fülle meine Lungen mit Sauerstoff. Ich lasse sein Boot nicht untergehen.