Uropa auf dem Kilimandscharo

von Johanna Behrends

Die Männer meiner Verwandtschaft mütterlicherseits haben kein besonders großes Glück. Es wirkt fast, als würde ein Fluch auf ihnen liegen, der ihnen nicht erlaubt, wesentlich älter als fünfzig Jahre zu werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz, die einer Frau das Leben schwer machen können, bin ich also zuweilen recht froh, nicht als Mann geboren worden zu sein. Ich habe weder meinen Opa noch meinen Uropa je kennengelernt, und darüber bin ich wirklich traurig, denn es müssen kluge und interessante Männer gewesen sein. Mein Opa, der unbedingt wollte, dass seine Töchter studieren und der sein Haus mit den eigenen Händen baute. Mein Uropa, der geniale Erfinder, der doch tatsächlich in seinem Dorf in Ostfriesland die allererste Windmühle auf die Beine stellte und es so mit Strom versorgte.

Ich weiß wenig über meinen Uropa, aber ich glaube, vielleicht wären wir uns ein bisschen ähnlich. Der Gedanke bringt mich zum Lächeln, denn in meinen Gedanken sehe ich ihn als einen Mann mit wirrem Haar und freundlichen dunklen Augen. Vielleicht fuhr er die Dorfstraße mit einem von diesen Fahrrädern mit einem riesigen Reifen entlang und in meiner Vorstellung trägt er auch einen schiefen Hut. Er isst gerne Bonbons und ist genauso vergesslich wie ich.

Der Bürgermeister des Dorfes schreibt über ihn die Dörfler hielten ihn für einen „Abenteurer“ und „Phantasten“. Diese Beschreibung macht mich aus irgendeinem Grund honigkuchenpferdglücklich. Es gefällt mir so, diese Vorstellung von einem kreativen und etwas verrückten Kopf, mit einem Hang zum Abenteuer. Wie gerne würde ich ihm erzählen, vom Sporttauchen und vom Klettern, von hundert verschiedenen Hobbies und meiner Begeisterung für das Meer. Wie gerne würde ich ihm von meiner Zeit in Schweden erzählen, wo ich als Guide für Hundeschlittentouren arbeitete, oder dass ich ihm Juli nach Neuseeland gehe. Das würde ihm sicher, anders als meiner ruhigen und besonnenen Familie, gefallen.

Meine Mutter hat mir erzählt, dass Uropa sich aus allerlei Kram eine Kamera mit Selbstauslöser baute, um sich vor eigens inszenierten Fototapeten abzulichten. Uropa vor dem Kilimandscharo, auf dem Dach Afrikas. Ein Träumer, der von der weiten Welt träumte. So wie ich. Aber das war früher nicht so einfach wie heute, die Sache mit den Weltreisen. Die Dorfbewohner hielten ihn wohl für ein wenig verrückt, vielleicht haben sie ihn auch belächelt. Ungefähr im August 1939 die Männer als Soldaten eingezogen werden um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Sie werden zu Meldestellen kommandiert und sollen an die Front. Mein Uropa hatte über die NSDAP immer gesagt, er „habe mit dem Verein nichts am Hut.“ Aber auch er war Mitglied, um seine Arbeit behalten zu können und seine Familie zu ernähren. Nun sollte er also, mit zweiundvierzig Jahren, an die Front gehen um für Volk und Vaterland zu kämpfen und vielleicht zu sterben.

Hat er wohl nicht eingesehen. Die Geschichte bringt mich immer ein wenig zum Lächeln. Dieser störrische, geniale Mann kannte nämlich einen Ausweg – wie man ihn mit etwas Kreativität auch in jeder noch so aussichtslosen Lage finden kann. Die Menschen damals hatten schlechtere Zähne als wir heute und Uropa hatte trotz seines verhältnismäßig jungen Alter bereits ein Gebiss. Dieses nahm er nun raus, um sich feierlich für die Front zu melden. Als er auf die Meldestelle zulief, begann er bucklig zu laufen und ein Bein nachzuziehen. Mit schwächelnder Stimme meldete er sich dann zum Dienst. Der Befehlshaber, der die Namen aufnahm, fragte fluchend, warum sie denn die Greise auch zur Front schicken würden. Somit war Uropa aus dem Schneider. Sicher hat er noch ein bisschen gehinkt, bis er außer Sicht war.

Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand.

Tragischerweise, wie ich am Anfang bereits erwähnt habe, wurde er trotzdem nicht viel älter. Zwei Jahre später starb er bei einem Busunglück, das war 1941. Dieser großartige Kopf und so ein schlichtes Ende. Aus und vorbei.

Und so bekam er wohl nicht mehr mit, wie sein ältester Sohn an die Front geholt wurde, der ältere Bruder meines Opas. Ich habe im Haus meiner Oma einige seiner alten Feldbriefe gefunden, die mit 1943 datiert sind – da war er grade siebzehn Jahre alt. Viel weiß ich über diesen Mann nicht, doch er muss gegen Ende des Krieges wohl völlig traumatisiert desertiert sein und hielt sich danach sehr lange versteckt. Bis er irgendwann in sein leerstehendes Elternhaus zurückkehrte um sich dort schließlich zu erhängen. Ich wünschte, er hätte auch seine Zähne rausnehmen können, als er eingezogen wurde.

Gegen Ende des Krieges wollte schließlich mein Opa mit seinen Freunden auch noch an die Front ziehen, die Propaganda der Nationalsozialisten von wegen „Deutsche Jugend meldet sich freiwillig“ hatte wohl gewirkt. Die Jungs waren dreizehn und vierzehn Jahre und versammelten sich vor dem Schulgebäude. Viele von Ihnen hätten das nicht überlebt.

Dem herausstürmenden Schulleiter verdanke ich also wahrscheinlich mein eigenes Leben. Er schimpfte mit den Jungen und schickte sie nach Hause. Opa ging nicht mehr an die Front und starb auch nicht für Volk und Vaterland.

Ich kann nicht verstehen, wie mit all unserem heutigen Wissen wieder rechtes Gedankengut Gehör in Deutschland findet. Als wäre der Horror jener Zeit längst vergessen. Ich möchte den Ruck nach rechts nicht akzeptieren. Ich habe manchmal wirklich Angst, es scheint so ausweglos und furchtbare Nachrichten prasseln von allen Seiten auf uns ein. Wir dürfen die Hoffnung nicht sinken lassen, und müssen gegen die Umstände kämpfen. In unseren Möglichkeiten, egal ob wir demonstrieren oder Texte schreiben und publizieren. Oder eben unsere Zähne rausnehmen. Wahrscheinlich ist ein bisschen Kreativität genau das, was wir jetzt brauchen. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Falls ihr mich also sucht, ich kaufe mir jetzt erstmal ein Gebiss und mache ein Foto von mir vor dem Kilimandscharo.