Und ich will über Schwangerschaftsabbrüche schreiben …
Wie dumm von mir. Wie naiv. Wie rücksichtslos. Wie egoistisch. Anderen dieses Thema aufzudrängen, ohne Rücksicht auf ihre Traumata, Überzeugungen oder ihren Glauben. Andere mit meinem Ballast zu überlassen.
Und trotzdem sitze ich jetzt hier und schreibe diesen Text, als würde er etwas ändern.
Es ist erst drei Monate her.
Wie konnte mir das nur passieren?
Ich fühle mich gefangen.
Niemand kann über den Körper einer Frau entscheiden, außer sie selbst.
Falsch.
Der Körper entscheidet, und die Frau hat kein Mitspracherecht. Das hat sie nie. Die selbst entschlossenen Entscheidungen sind nur ein Resultat aus Erwartungen von anderen und den äußeren Umständen. Die Vulva einer Frau gehört allen. Nur ihr selbst nicht. Ihre Entscheidung betrifft alle. Immer.
Ich will diese Last nicht. Sie gehört nicht zu mir. Das bin nicht ich.
Ich bin nicht schwanger. Ich kann es gar nicht. Ich kann nicht schwanger sein.
Mein Körper und mein Ich sind kein Wir mehr.
Wir führen Krieg.
Meine Brüste sind mir fremd. Ich mag sie mehr denn je, doch es sind nicht meine. Ich fühle eine Distanz zu mir, behandle mich mit einer absurden Vorsicht, die absolut irrational ist. Als könnte ich jeden Moment zerbrechen.
Warum kam ich gestern noch so gut mit allem klar?
Schock…
Jaja, der Schock.
Doch jetzt lässt der Schock nach und die Realität prasselt auf mich ein.
Ich will es nicht haben.
Aber was, wenn doch? Wenn ich meine Meinung ändere, in eins, zwei, drei Tagen. Was, wenn ich es doch will?
Ich will diese Entscheidung nicht treffen und ich will es nicht haben. Es gibt kein Aber für mich.
Ich kann nicht sagen, dass ich es gerne hätte. Ich spüre es nicht. Doch mir wird klar, dass es da ist. Bis jetzt konnte ich es nicht realisieren.
Vielleicht realisiere ich immer noch nicht.
Ich will nicht.
Ich will nur wieder Ich sein. Allein. Nur ich.
Jedes Körperzeichen lege ich auf die Goldwaage. Ich wiege alles ab und spüre das Gewicht der andern sowie mein eigenes. Nur das, eines weiteren Ichs spüre ich nicht.
Aber was, wenn?
Was, wenn es da ist?
Ich bin nur müde und will schlafen.
Es geht schnell: ausfüllen, unterschreiben, nicken, ja sagen, warten. Allein. Dann geht es los und dann ist es vorbei.
Es war falsch.
Die falsche Entscheidung.
Mein Körper ist mir fremd, wir führen wieder Krieg. Kratzer zieren nun meine Beine, das eindeutige Zeichen, dass sich etwas verändert hat, dass nichts so ist wie vorher.
Der Schmerz, der in mir steckt, ist nicht auszuhalten. Kein körperlicher Schmerz kann einen je so in die Knie zwingen.
Ich hatte die Freiheit mich zu entscheiden. Und ich bereue es.
Tage lang habe ich abgewägt, nachgedacht, in mich hinein gefühlt. Geredet, reflektiert, gespürt.
Und genau das, wovor ich Angst hatte, ist eingetreten.
Ich weiß nicht, ob ich es überleben werde.
Ich fühle mich so allein.
Jetzt, drei Monate später, beginnt alles wieder von vorne.
„Das Schicksal hasst mich!“, schreie ich, die Augen verquollen vor lauter Tränen. „Warum muss ich immer den harten Weg gehen? Womit habe ich das verdient?“
Er hält mich fest, versucht meinen Schmerz zu absorbieren, ihn für mich aufzusaugen.
„Es ist doch alles nicht fair“, murmle ich in seine Arme.
„Nein, ist es nicht“, stimmt er mir zu. „Es ist absurd.“
Später lachen wir, wie damals, wie davor. Wie vor der Entscheidung, als alles noch lustig war, als ich keine Konsequenzen tragen musste. Wir verstecken uns im Unglauben, in Ironie und Sarkasmus. So wie das letzte Mal.
Wie gut das tut.
„Ich bin ehrlich, die Wahrscheinlichkeit für eine unbefleckte Empfängnis ist höher“, lache ich.
„Schon wieder?“ So viel Erfahrung diese Frauenärztin auch haben muss, selbst sie ist überrascht vom Zufall, der mittlerweile nur noch Schicksal sein kann. „Haben Sie nicht verhütet?“
„Doch“, murmle ich kleinlaut, als wäre das alles meine Schuld. Mein Fehler. Mein Versagen.
„Wir haben Kondome benutzt.“
Ein Jahr mit Kondomen, zwei mit der Kupferkette, nie ein Problem. Und dann versagt beides, nacheinander. In fünf Monaten zweimal schwanger. Ich Glückspilz.
Die Frauenärztin sieht mich skeptisch an. Sie kennt mich. Ich bin verantwortungsvoll und ehrlich, doch mittlerweile traue selbst ich mir nicht mehr. Wie sollte sie dann?
„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie mich, jetzt sanft.
„Nicht gut“, gestehe ich.
„Natürlich“, stimmt sie mir zu. „Wenn ich ehrlich sein darf. Ihre Situation ist echt beschissen.“
„Danke.“
„Es war ja schon vorher echt scheiße, aber das hier …“
„Ja, so ist es.“
„Mir ist ja wirklich viel untergekommen, aber so eine Kacke …“
„Danke, ich weiß.“
Ihr Gesicht wird ernster. „Sie sind sich sicher, dass Sie das wieder durchstehen möchten?“
„Nein“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Nein, ich möchte das nicht wieder durchstehen.“ Ich hatte ihr danach erzählt, wie es mir ging, dass ich es bereute, dass es sich nicht richtig angefühlt hat. Und jetzt stehe ich wieder hier und will genau das Gleiche von ihr.
„Warum sind Sie dann hier?“
„Weil ich es durchgestanden habe.“
Sie nickt.
„Ich kann nicht gegen meine Gefühle entscheiden. Das konnte ich damals nicht und das kann ich jetzt nicht“, erkläre ich. „Es fühlt sich falsch an. Immer noch und schon wieder.“
Sie nickt.
„Ich weiß nicht, ob ich es nochmal durchstehe“, gestehe ich. „Aber alles andere wäre falsch. Aus meiner Perspektive jetzt.“
„Und nur die können Sie jetzt sehen“, stimmt mir die Ärztin zu. „Sie machen alles richtig.“
Wie viele mir das in den letzten Tagen, Wochen, Monaten gesagt haben … Ich kann es nicht mehr hören.
Ich google „Abtreibung“ zum sechsundfünfzigsten Mal in den letzten drei Monaten.
Mittlerweile lese ich mir alles durch. Früher noch wollte ich mich vor den negativen Emotionen anderer beschützen, doch heute sauge ich alles in mich auf. Mittlerweile kann mir niemand mehr was.
Faszinierend, wie viele Menschen Meinungen zu den Körpern von Frauen haben. Abtreibung ist eine Sünde, eine Pflicht, eine Verantwortung, richtig und falsch.
Frauen sind nicht frei, selbst wenn auf dem Papier steht, dass sogar sie Menschen sind, so wie alle anderen.
Die Geschichte ist genauso schizophren wie die Gegenwart. Ostdeutschland hat vor Westdeutschland Abtreibung legalisiert, mit der einzigen Abstimmung, die in der DDR nicht einstimmig erfolgte. Trotz der propagierten Gleichberechtigung durfte es schließlich nicht zu viel des Guten sein.
Aber dennoch war die Begründung deutlich feministischer als das heutige Abtreibungsgesetz.
So hieß es in dem sozialistischen Staat:
„Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert, dass die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann. Die Verwirklichung dieses Rechts ist untrennbar mit der wachsenden Verantwortung des sozialistischen Staates und aller seiner Bürger für die ständige Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Frau, für die
Förderung der Familie und die Liebe zum Kind verbunden.“
Heute ist eine Abtreibung in Deutschland rechtswidrig. Ich bin also eine Gesetzesbrecherin.
Rechtswidrig aber straffrei.
Die Gesetze drücken ihre Ablehnung einer Abtreibung deutlich aus, indem sie sie verbieten, aber mit einer straffreien Fristenregelung und Beratungspflicht versehen.
Strafgesetzbuch
§ 218 Schwangerschaftsabbruch
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses
Gesetzes.
Strafgesetzbuch
§ 218a Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs
(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn
1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
Ich mag es nicht, gegen Gesetze zu verstoßen, denn meistens haben Gesetze einen guten Grund. Sie sind unsere demokratische Grundlage.
Ich liebe es, gegen Gesetze zu verstoßen, die ungerecht sind, undemokratisch entschieden wurden oder die ich schlichtweg als dumm erachte.
Ich hasse es, gegen Paragraph 218 zu verstoßen, denn straffrei komme ich eh nicht davon. In keinem Fall.
Ich trage alle Konsequenzen, da würde eine richterliche Anordnung keinen Unterschied
machen.
Und dennoch, hätte ich diese Freiheit nicht, gäbe es kein § 218a, dann würde ich es erst recht die unfreiwillige Schwangerschaft beenden. Die praktische Freiheit, die das theoretische Verbot aufhebt, lässt mir überhaupt die Wahl, nachzudenken, zu reflektieren.
Und mich dennoch immer wieder für das Gleiche zu entscheiden.
Am Tag meiner zweiten Abtreibung drehe ich mich nervös vor dem Spiegel. Ich betaste meine Brüste, streiche mir über den Bauch, versuche meinen Körper zu verstehen. Er spielt ein Spiel gegen mich, das wir beide verlieren.
Dieses Mal ist es noch früher, ich kenne die Anzeichen, betrachte jede Veränderung mit
Argwohn und habe mir sofort einen Schwangerschaftstest gekauft, nachdem meine Brüste wieder Alarm schlugen.
Wie ich sie mittlerweile hasse. Wie sie mich betrügen, wenn ich nicht schwanger bin, wie sie mich verhöhnen, wenn ich es bin. Sie lassen keinen Moment aus, mir vorzuhalten, wie schwach ich bin.
Und dennoch betaste ich sie sehnsuchtsvoll, wünsche mir, dass sie für immer in diesem
Stadium bleiben, weder größer noch kleiner.
Wenn doch nur alles so bleiben könnte wie es jetzt ist.
Ausfüllen, unterschreiben, ich kenne das alles. Das Team begrüßt mich genauso freundlich wie beim letzten Mal. Manche kenne ich noch, andere nicht. Ich spreche mit der Ärztin, die das letzte Mal alles so schnell wie möglich abhaken wollte. Jetzt erklärt sie mir die gleichen Dinge, die ich
mittlerweile in– und auswendig weiß, die aber trotzdem nicht zu mir durchdringen.
Ihr prüfender Gesichtsausdruck gleitet immer wieder über mein Gesicht, wartet auf Fragen, auf Unsicherheit.
Warum mache ich überhaupt so ein Drama um das Ganze? Andere Frauen waren schließlich auch schon mehrmals schwanger, haben schon mehrmals abgetrieben und steigern sich nicht so
in die ganze Scheiße rein.
Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich werde es wohl nie wissen. Und damit muss ich mich
abfinden.
„Ich werde es nicht machen“, unterbricht plötzlich die Frauenärztin meine Gedanken.
„Was?“, frage ich verwirrt.
„Den Schwangerschaftsabbruch“, erklärt sie. „Es tut mir wirklich leid, aber ich werde das nicht machen.“
Ich bin verwirrt. „Wie bitte? Warum denn nicht?“
„Ich … ich kann nicht.“
„Aber das letzte Mal haben Sie doch auch …“
„Ja und werde es weiter tun, es ist das Richtige. Jede Frau sollte die Wahl haben. Aber ich kann Ihre Schwangerschaft nicht beenden, ich will nicht wieder für ihren Schmerz verantwortlich sein. Und ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen.“
Irritiert stehe ich auf und verlasse die Praxis.
Ich hasse mich selbst dafür, dass ich sie verstehe.
Ich habe eine andere Praxis gefunden, eine Ärztin, die mich nicht kannte, den Schmerz den ich hatte nicht spürte und mich mit einer Distanz behandelte, die mich etwas unwohl fühlen ließ.
Es ging mir nicht gut danach. Es ging mir schrecklich.
Ich habe es überstanden.
Zehn Jahre später bekam ich mein erstes Kind. Es war nicht leicht, ich mache nicht alles richtig, doch ich bin dankbar für die Freiheit, die ich habe.
Die Freiheit, mein Leben zu leben, den Schmerz zu spüren, den ich immer noch mit mir herumtrage, der mich nie wirklich verlässt. Doch wie jede andere Trauer versickert er langsam, wird schwächer und schwächer und heilt.
Ich hasse den Zufall dafür, dass ich in diese Entscheidungen gedrängt wurde.
Ich hasse die Ärztin, die mich für ihre eigenen Gefühle und Gewissensbisse stehen lassen hat.
Ich hasse mich dafür, dass meine Entscheidungen mir so viel Schmerz bereiten.
Und ich vergebe allen. Weil es das richtige war.