Schaut hin

von Annelie Neubauer

„Gewissensfreiheit“, so weiß Wikipedia zu sagen, „Gewissensfreiheit ist die Freiheit, Entscheidungen und Handlungen aufgrund des Gewissens, frei von äußerem Zwang, durchführen zu können. Eine gewissensfreie Handlung oder Entscheidung orientiert sich an Gut und Böse und an sittlichen, für den Einzelnen als verbindlich geltenden Kriterien.“

Ich schließe die Augen, nur für einen Augenblick. Und wieder wandle ich in der Schwärze der Nacht dieselben altbekannten Straßen entlang. Die Fassade, die ich mir aufgebaut habe, langsam, mühsam, über all die Jahre- Sie fällt noch immer allzu leicht. Ein kurzer Moment der Schwäche, ein altbekanntes, lautes Wort- Mehr braucht es nicht- und ich bin wieder Kind.

Ich bin sechs, ich stehe vor dem Pult meiner Klassenlehrerin. Der Rest der Klasse ist, lärmend und lachend, in die Pause unterwegs. Ich bleibe zurück. Sie sieht mich fest an. Doch ich weiche ihrem Blick aus, ich kann ihn nicht ertragen. Mit den kleinen Fingern der rechten Hand halte ich mein Hausaufgabenheft fest umklammert. „Hast du deinen Eltern den Eintrag von gestern gezeigt?“ Ihre Stimme ist nicht unfreundlich, und doch bestimmt. Der Boden ist mit grauem Laminat belegt, ein verwirrendes weiß- grau- schwarzes Muster spielt um unsere Füße. Mein Magen dreht sich um, in Gedanken an die hässlichen roten Buchstaben auf der zweiten Seite des Heftes. „Annelie hat sich heute gegenüber Klassenkameraden unangemessen und verletzend verhalten“. Ich übergebe mich fast auf den verwirrenden Laminatboden- in Gedanken an seine harte Hand. Es hilft nichts, lügen konnte ich noch nie. Mit fest aufeinandergepressten Lippen schüttle ich den Kopf. Ich mache mich auf Geschrei, auf Schläge gefasst. Und stoisch sehe ich dem Schmerz entgegen, der jetzt kommen muss. Doch alles, was meine Klassenlehrerin entgegnet, ist ein leises, enttäuschtes: „Warum denn nicht?“ „Weil ich Angst hatte.“ Noch über all die dazwischenliegenden Jahre hinweg ist dieser Satz in meinem Kopf so unendlich präsent, wenn ich an diesen Augenblick zurückdenke- So präsent, so greifbar- dass ich mir sicher bin, ich muss ihn laut ausgesprochen haben. „Weil ich Angst hatte“. Vielleicht, vielleicht hat mein verzweifeltes, sechsjähriges Ich es sogar herausgeschrien- „Aus Angst“- und jeder Muskel meines kleinen Körpers zittert wie Espenlaub. Vielleicht habe ich aber auch nur verschämt gelächelt, und ein lahmes „Mein Vater hatte keine Zeit“ herausgepresst. Ich kann es nicht mehr sicher sagen. In jedem Fall weiß ich, was meine Klassenlehrerin daraufhin meinte: „Dann mach das heute Nachmittag, und zeig mir morgen die Unterschrift vor.“ Ich nicke, ich eile davon, ich renne – in dem Glauben, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.

Was kostet es, ein einziges Mal die Bestrafung einfach Bestrafung sein zu lassen? Was kostet ein Anruf bei einem Kinderpsychologen, was kosten ein paar aufbauende Worte?

Ich bin zehn Jahre alt. Ich sitze am breiten, weißen Strand, und sehe auf das Meer hinaus. Meine Füße graben sich tief in den warmen Sand. Meine Tränen fallen dicht an dicht. Die Luft strömt frisch und frei, streichelt mein Gesicht, nimmt sacht meine Haare auf. Er setzt sich neben mich. Es muss raus, diese erstickende Enge in meiner Brust braucht Worte. „Ich will nicht nach Hause.“ Er nickt leicht, als würde er verstehen. „Irgendwann ist aber jeder Urlaub mal vorbei. Und dann ist eben wieder Alltag, dann muss man wieder in die Schule“. Gar nichts versteht er. Auch hier, gute acht Stunden von „Zuhause“, ist meine Welt nicht perfekt, bei weitem nicht. Und doch sind die drei Wochen hier wie Ausgang aus der Haft, Ausgang auf Zeit. Diese kostbaren Tage sind wie ein kurzes Atemholen vor dem langen, kräftezehrenden Tauchgang. Ich schüttle leicht den Kopf. „Ich weiß. Ich will einfach nicht nach Hause“, versuche ich es noch einmal. „So schlimm wird es doch nicht sein“, meint er, mehr um sich selbst zu beruhigen, als mich. „Komm, lass uns gehen. Es hilft doch nichts“. Er steht auf, und entfernt sich mit gemächlichen Schritten. „Ich will nicht“, liegt mir auf der Zunge, doch ich beiße mir fest auf die Lippen. Es hat doch keinen Zweck. Ich habe doch gelernt, wie ich lieb lächeln, und still funktionieren kann. Stumm verabschiede ich mich von dem Rauschen der Wellen, dem kräftigen, harzigen Duft der Kiefern- Mit dem Versprechen, dass ich wiederkommen werde.

Was kostet es, ein paar Worte mehr zu verlieren, nachzufragen, zuzuhören? Was kostet es, dem eigenen Sohn entschieden Grenzen aufzuzeigen- Was kann es kosten, für ein Kind dazusein, wenn es dich braucht?

Und plötzlich bin ich schon sechzehn Jahre alt. Wir sitzen an einem sommerlichen Sonntag gemeinsam mit einem Familienfreund zum Grillen zusammen. Der Mann ist Psychologe- und sicherlich ein extrem kompetenter Vertreter seines Faches. Er sagt nicht viel, doch seine grauen Augen beobachten all die Menschen um ihn herum mit einer einschüchternden Intensität. Er versteht Dinge, die ich nicht im Ansatz erfassen kann, sieht so vieles, das mir entgeht. Dieses Gefühl jedenfalls gibt mir bereits seine bloße Präsenz. Um nichts in der Welt würde ich glauben, dass ausgerechnet der Elefant im Raum seinem forschenden Blick entgeht. Er weiß was Sache ist, darauf verwette ich mein letztes Hemd. Ich spreche an diesem Nachmittag nur, wenn mir eine direkte Frage gestellt wird- und antworte leise, zögerlich, kaum je in die Augen meines Gegenübers blickend. Nur manchmal, wenn ich mich zwinge, meine Stimme etwas zu erheben- Dann klingt ihr Klang selbst in meinen Ohren unnatürlich, aufgesetzt, schrill. Ich bin es gewohnt, jedes einzelne meiner Worte zu überdenken, zu zensieren- und im Zweifel meinen vorlauten Mund zu halten. Ich weiß nicht, wem ich vertrauen kann in dieser feindselig scheinenden Welt. Er beobachtet, er liest die Zeichen, da bin ich mir sicher, liest die so eindeutigen Zeichen wie ein offenes Buch.

Was kann es kosten, einem alten Freund nicht alles durchgehen zu lassen? Was kann es kosten, nicht wegzuschauen? Was kann es kosten, für drei Kinder das einzig Richtige zu tun?

Ich sehe ihre Gesichter vor mir- Drei Menschen, die im Grunde ihres Herzens keine schlechten Menschen sind. Es sind die Gesichter dreier Menschen, die mir einst wichtig waren. Ich höre sie kollektiv bitten, sich kollektiv verteidigen- Sie hätten doch von allem was geschehen ist nicht wissen können, sie hätten sich doch nicht anders verhalten können- Für sie sei die Situation doch auch nicht einfach gewesen. Ich müsse doch das Dilemma verstehen, in dem sie sich befunden hätten. Und, als würde ich eine alte Tonbandaufnahme abhören- beobachte ich mein jüngeres Ich- Wie es ihnen beipflichtet, wie es so viele Zugeständnisse macht. Ich würde allem zustimmen- Hauptsache, ich bin nicht lästig, nicht zu aufdringlich oder fordernd.

Dabei ist die Situation doch so eindeutig. Ich wollte handeln, doch mir waren die Hände gebunden durch Angst und durch Unerfahrenheit. Ich war doch bloß ein Kind. Dagegen waren sie erwachsen, jede und jeder von ihnen. Sie waren frei, nach ihrem Gewissen zu handeln.

Freiheit, Gewissensfreiheit, bringt es mit sich, dass wir nicht länger so handeln müssen, wie „wir es schon immer getan haben“, so „wie es sich gehört“. Ich muss mich nicht länger so verhalten, „wie es meine Familie und mein bester Freund von mir erwarten.“ Wir sind nicht länger gefangen in verkrusteten Gesellschaftsmodellen, altmodischen Ehrenkodizes, mittelalterlichen Familienmodellen. Wir können es uns, mehr und mehr, leisten, nicht vor Macht oder Geld oder sozialer Stellung zu kuschen- und erst recht nicht vor schönen Fassaden.

Wir als Erwachsene entscheiden, was wir für falsch und was wir für richtig halten. Wir entscheiden auf der Grundlage unseres eigenen Gewissens, frei von äußerem Zwang.

Mit Freiheit kommt Verantwortung. Wir haben die Verantwortung, nicht wegzuschauen- wo wegschauen doch so verdammt viel einfacher wäre. Es ist unsere Verantwortung, nicht völlig abzustumpfen gegen menschlichen Schmerz. Wir sind gefragt, einzugreifen, wo niemand anderes es tut. Gegenüber den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft- stehen wir in der Verantwortung, ihnen Schutz zu bieten.

Ich verurteile euch nicht- denn woher will ich wissen, dass ich den Mut gehabt hätte, der euch so fehlte? Wer sagt mir, dass ich auf mein Gewissen gehört, dass ich gehandelt hätte?

Ich kann nur ehrlich hoffen, dass ich es besser machen würde -trotzt- oder vielleicht wegen- meiner Vergangenheit, selbst verfolgt von alten Dämonen. Ich kann nur hoffen, dass ich heute ein stärkerer, erwachsenerer Mensch bin, als ihr es damals sein konntet. Denn damals hätte ich euch gebraucht – irgendeinen von euch.

Darum, schaut nicht länger weg- auch wenn es so viel einfacher scheint.