Ein dunkles Becken

von Paul Liedvogel

Der Mann im Anzug war selten weniger allein. Er hält seine
Augen noch geschlossen. Und er schwitzt. Er schwitzt durch
den Anzug. Seine Finger suchen den Knoten seiner Krawatte.
Die Erleichterung ist flüchtig. Die Erleichterung ist
eingebildet. Er atmet durch.
Tief.
Lang.
Mit dem Atemzug steigt der Geruch von Stempeltinte,
Normpapier, Pomade und Gewissensschweiß in seine Nase auf
und verdichtet sich dort zum Geruch von Verantwortung.
Er hört Stühle hin- und herrücken, das Quietschen von
Sitzpolstern und das magnetische Knistern der Filmkameras.
Eintausend unsichtbare Augen ruhen auf ihm.
Augen von den Zuschauerrängen, Augen hinter Kameralinsen und
den Empfangsgeräten, Augen aus der Vergangenheit, Augen aus
der Zukunft, zukünftige Augen.
Vor allem die.
Der Mann im Anzug war selten weniger allein. Aber er fühlt
sich allein, alleingelassen. Trotz der Stimmen und dem
warmen Atem und dem blechernen Echo des Mikrofons.
Er muss sich dringend festhalten. Er muss sich dringend
irgendwo festhalten. Die Krawatte tut es nicht mehr. Er
würde sie am liebsten abnehmen. Er behält sie an. Mutti
zuliebe.
Gewissenssache.
Wenn Mutti ihn in den Nachrichten sieht, wenn Mutti ihn ohne
Krawatte in den Nachrichten sieht, ruft Mutti an und sagt:
Wo ist deine Krawatte? So bist du nicht erzogen. Und beim Einkaufen wird sie sich tagelang entschuldigen für ihren
gewissenslosen Sohn.
Nein, die Krawatte bleibt an.
Ein Augenpaar, denkt er, gehört wohl seiner Mutter, aber als
er es entdeckt, hat er es schon wieder verloren.
Er fährt über den Stapel Papier auf dem Pult vor sich. Er
fühlt. Er fühlt jede einzelne Papierfaser und Unebenheit –
wie perfekt Papier aussieht, wenn es vor einem auf dem Tisch
liegt. Wie rau und imperfekt es ist, unter seinen Fingern,
in mikroskopischen Tiefen.
Seine Augen sind immer noch zu.
Er fühlt die Tinte, die das Papier verletzt. Die in der
Kartusche oder im Federhalter Wasser ist, Lösemittel,
Eisensulfat. Und die, wenn gelesen, plötzlich auf
gespenstische Weise mehr bedeutet, die morphologischen,
lexischen, syntaktischen, symbolischen und schließlich
performativen Wert erfährt.
Das also ist sein Gewissen. Das also ist er, nach außen
gekehrt. Wortgeworden. Weltgeworden.
Die Augenpaare blinzeln in der Dunkelheit wie Luftlöcher in
einem dunklen Schuhkarton.
Blut rauscht in seinen Ohren, der unermüdliche Takt seines
eigenen Herzens. Dazwischen schneidet für einen Moment das
Feedback des Mikrofons, die Stimme, die es füttert.
„Es handelt sich hier um eine Frage, die in erster Linie
nach rechtlichen Überlegungen und somit aus dem Gewissen
jedes einzelnen heraus entschieden und beantwortet werden
muss.“
Sein Herz schlägt noch schneller, schmerzhafter. Das ist
nicht seine Art. So nervös zu sein. Entbunden von Parteilinien riecht er stärker denn je den
Geruch, den Gestank der Verantwortung von vierhundert
Männern und um die vierzig Frauen, fragt sich, welchen Wert
ihr kollektives Gewissen hat, das durch Abstimmung zum
absoluten Gewissen wird, wenn es das größere Gewissen
dahinter nur unzureichend abbildet. Paritätisch gesehen. Und
jetzt? Trotzdem: Verantwortung! Für sich selbst. Sein
eigenes Gewissen. Das er mit niemandem teilt.
Aber aus dem er gleich vorlesen wird.
Was ist Gewissen? Er stellt es sich ausgeschrieben vor.
Wieder dieses Zusammenschmelzen und Geborenwerden zu neuen
Formen, neuem Sinn, Morphem für Morphem. Wissen ist ein
Teil. Damit kann er etwas anfangen. Man weiß etwas.
Woher?
Gewissen unterscheidet zwischen Gut und Böse. Das hat schon
das Bundesverfassungsgericht so aufgefasst. Aber woher weiß
er – er persönlich –, eigentlich was gut ist.
Und was böse?
Er sieht sich wie dunkles Wasser, das sich am Boden eines
Beckens sammelt. Sammelbecken, denkt er. Wir sind
Sammelbecken. Wir sind Reservoir unserer Vergangenheiten,
unserer Erziehung, der unserer Eltern. Er zittert. Sind wir
gewissensfrei? Frei in unserem Gewissen.
Oder haben wir nur die Freiheit, über ein Gewissen zu
verfügen. Das vielleicht nicht unseres ist.
Kann es dann nicht nur ein schlechtes, sondern ein falsches
Gewissen geben? Was, denkt er, wenn mein Gewissen falsch
ist? Der Gedanke wäscht über ihn und tröpfelt kalt in das
dunkle Becken seines Gewissens. Die eintausend Augen
blinzeln aufgeregt. Er ist sich seiner Person unangenehm bewusst. Wie er hier
sitzt. Sich herausnimmt, etwas zu wissen.
Seine Finger spielen wieder mit der Krawatte, der Form des
Knotens, der von außen betrachtet perfekt sitzt, uniform,
aber darunter Handgriffe verbirgt und Jahre vor einem
Spiegel.
Vielleicht, denkt er, muss er in diesem Moment nicht für
sechsundsiebzig Millionen Deutsche sprechen – neunundfünfzig
und siebzehn –, oder für sechs Millionen Menschen, die nicht
mehr sprechen können, für unendliche, unendlich schmerzhafte
Zahlen.
Vielleicht muss er nur für sich selbst sprechen, sich
offenlegen, mein Herzschlag in eueren Ohren.
Und die Wahrheit hinter dem Knoten.
Vielleicht muss er nichts anderes tun, als zu sagen, was in
ihm ist.
Und vielleicht ist das das Wunder dieser Demokratie und das
Versprechen, das das Grundgesetz ihm schenkt. Das teuer
bezahlte, ewig schützenswerte.
Er öffnet seine Augen.
Vielleicht.
Er hört seinen Namen.
Er steht auf.
Und etwas in seiner Brust strahlt so hell, dass sich
eintausend Augen hinter ihre Lider zurückziehen an diesem
10. März.

Wörtliche Rede zitiert Ewald Bucher in: Deutscher Bundestag,
Plenarprotokoll vom 10. März 1965, 4. Wahlperiode, 170.
Sitzung, Bonn 1965, S. 8519: [https://dserver.bundestag.de/btp/04/04170.pdf].