Sie kam aus einer bürgerlichen Familie, sehr geordnet. Vaters Wort war Gesetz. Niemals hätte sie ihren Vater um einen Grund für seine Anordnungen gebeten. Er sorgte für sie, und sie musste dafür gehorsam sein, alles andere war falsch. In den Anordnungen war enthalten, dass sie erstklassige Schulnoten zu bringen hatte, dass sie in keiner Form auffiel, dass Freunde eine eher seltene Sache waren. Wenn Bekannte zu den Eltern kamen, wurde zwei Tage vorher gründlich geputzt, es wurde gekocht und aufgetischt und nachher erwartete man die Gegeneinladung, alles andere war falsch. Und als sie mit 17 das erste Mal fragte „Warum?“ wurde sie vor die Türe gesetzt, denn sie war ungehorsam.
Als sie so aus dem Nest gefallen durch die Gegend irrte, traf sie Wolfram. Wolfram war nicht berauschend, eigentlich kannte sie ihn nicht besonders gut. Er sorgte für sie und deshalb heiratete sie ihn. Nichts daran war dramatisch.
Doch dann, eines Tages sah sie ihn auf der anderen Straßenseite mit dieser Frau. Mitten im Verkehrsgedränge stand er dort. Es war nichts Besonderes, aber über die Straße hinweg sah sie, wie vertraut, wie nahe, wie intensiv sie miteinander sprachen. Das war ein Unerträgliches. Diesen Betrug würde sie niemals dulden und sie ließ sich auf der Stelle scheiden. Nein, sie sagte nichts, weder ihm noch ihren Eltern, kein Wort. Sie sprach wohl inzwischen wieder mit den Eltern, aber nur Belangloses, nichts Gefährliches.
Durch ihren Fleiß und ihr gutes Wissen schaffte sie in der großen Firma einen schnellen Aufstieg. Sie hatte bald ihre eigene Wohnung gekauft und war anerkannt. Sie fühlte sich respektiert und traf Erwin. Erwin war entschlossen. Er sagte ihr klar und deutlich, dass sie ihm gehöre und sonst niemandem. Das war berauschend. Erwin zog zu ihr und verlangte eine ordentliche Haushaltsführung. Er brachte zwei von seinen vier Kindern mit und erwartete, dass sie sich ordentlich darum kümmerte. Gelegentlich trank er zu viel, das fand sie beunruhigend.
Sie fühlte sich ein wenig überlastet, weil die Knaben im schwierigen Alter waren.
Sie versuchte mit beiden gut zu lernen und ein ordentliches Leben aufzubauen, aber es wurde ihr immer wieder einmal zu viel. Sie hatte ein sehr schlechtes Gewissen, weil sie den Anforderungen nicht gewachsen war.
Der ältere der beiden fing an zu stehlen. Ein Krimineller in ihrem Haus! Sie konnte es einfach nicht verkraften. Sie sorgte dafür, dass er ins Heim kam und sie hatte ein sehr schlechtes Gewissen, weil sie versagt hatte.
Inzwischen war sehr sicher, dass sie keine eigenen Kinder wollte. Sie hatte zwar das Gefühl, dass zu einer richtigen, ordentlichen Welt Kinder gehörten, aber sie selbst konnte sich nicht vorstellen ein eigenes Kind an die Brust zu legen. Mehr noch belastete es sie, dass Sex zur Ehe gehörte, und sie musste sich regelmäßig zur Verfügung halten, vor allem wenn Erwin sehr betrunken war. Und dann passierte es eines Tages, dass er ihr eine Ohrfeige gab, weil das Badezimmer nicht sauber war und weil sie sich nicht zur Verfügung gehalten hatte.
Sie glaubte an einen Irrtum.
Er entschuldigte sich am nächsten Tag und es tat ihm leid. Sie hätte darüber nicht gesprochen, aber er sprach es an. Es war passiert.
Nach einiger Zeit passierte es wieder. Er entschuldigte sich jedes Mal sehr sorgfältig und sie hatte niemanden mit dem sie darüber sprechen wollte. Die Sache mit dem Sex fiel ihr zunehmend schwerer. Gott sei Dank hatte sie ein Myom und verlangte, dass man ihr sofort die Gebärmutter entfernte. Es war eine große Erleichterung eine Weile keinen Sex haben zu müssen. Doch Erwin wurde immer massiver. Sie sprach aber nicht darüber. Niemand wusste von ihren privaten Problemen.
In der Firma war alles großartig. Sie hatte inzwischen eine zentrale Position, war sozusagen Drehscheibe und hatte einen Kollegen, der ihr sehr nahestand, sehr vertraut. Er war verheiratet, aber sie wollte ja nur jemanden, mit dem sie sprechen konnte – nicht nur belangloses Zeug. Sie wollte über Gefühle reden, etwas seltsam Neues in ihrem Sprechen. Sie redete viel und lange ohne ihr Privatleben zu erwähnen, dennoch tat es etwas mit ihr. Es entwickelte sich eine neue Person, neben der mit der sie bisher gelebt hatte. Da war plötzlich eine Zweite eine andere da.
Sie hatte Probleme mit der. Es war eine ernste Frage: was durfte die? Da war ein Maß an Widerspenstigkeit, das sich fast nach Frechheit anfühlte. Dem musste Einhalt geboten werden! Oder nicht? Die nahm sich etwas heraus, der Welt gegenüber. Wieso durfte die das? Die war aber bei ihr eingezogen – fix. Sie konnte sie nicht mehr delogieren. Die war da und machte Unordnung – Unordnung in der Seele, nicht im Zimmer. Sie sprach mit ihr ernsthaft, sie hatten ja sowas wie ein schwesterliches Verhältnis. Sie nahm sich also die Zeit mit der anderen ernsthaft zu reden – über die echten Dinge. Das war neu. Es war fremd und begann von ihr Besitz zu ergreifen. Neue Gefühle nahmen Platz – da reifte in ihr der Entschluss, sich scheiden zu lassen. Erwin trank mehr und immer regelmäßiger, und es kam öfter vor, dass er auf sie einschlug.
Als sie ihm eröffnete, dass sie sich scheiden lassen wolle, bezog sie die Prügel ihres Lebens. Sie hatte ein Cut am Kopf, weil sie gegen den Schuhkasten gefallen war, und ein blaues Auge. Sie nahm ein paar Tage Krankenstand und erzählte dann in der Firma etwas von einem Autounfall. Kein Mensch erfuhr von ihrer panischen Angst: Er hatte gesagt, er würde sie eher umbringen als „herumhuren“ lassen. Es gab jetzt zwei Mal in der Woche Prügel und ab und an Vergewaltigung. Einmal rief sie die Polizei. Die Beamten waren sehr unentschlossen, ob man die Sache ernst nehmen wollte. Anekdoten von Ehekriegen kannte man reichlich. Ob sie wirklich einschreiten mussten? Es war nicht gut, wenn man die Situation zu ernst sah, und am nächsten Tag versöhnte sich das Paar wieder. Hatte man ja immer wieder!
Eine Woche später musste sie im Spital genäht werden. Der Arzt erstattete Anzeige und das Gericht verhängte ein Annäherungsverbot.
Sie stand in der Küche und machte sich Tee. Ihre Ohren suchten nach leisen Lauten im Gang vor der Eingangstüre, denn sie wusste nicht, ob er nicht noch einen Schlüssel hatte. Was nützte ein Annäherungsverbot, wenn er betrunken war? Nüchtern ja – betrunken nein.
Sie hatte noch keinen Schlosser erreicht, der ihr das Schloss auswechseln konnte. Ihr war kalt. Sie hatte sich einen warmen Schal fest um den Hals gebunden. Die Situation war so absolut aussichtslos. Selbst wenn er keinen Schlüssel mehr hatte, irgendwann musste sie über den Gang zur Arbeit. Ihre Augen waren trocken. Alle geweinten Tränen lagen im Zimmer herum. Salz soweit die Augen reichten. Der Tee war im Grübeln lauwarm geworden. Ihr Blick hing an dem kleinen silbernen Flachmann, der am Küchentisch lag – Alkohol als Lösung? Sie hatte sich Pfefferspray gekauft. Ein kleines schwarzes Ding aus Plastik. „Ganz einfach“ hatte der Mann im Waffengeschäft gesagt. Er hatte wohl noch nie die Situation durchlebt, einen Mann, der doppelt so schwer und wutschnaubend, voll Alkohol, auf einen zugewalzt kam, mit Pfefferspray außer Gefecht zu setzen. Sie spürte wie die Plastikoberfläche in ihrer Hand nass und glitschig wurde. Horrorvorstellung war, dass sie draufdrückte und die kleine Wolke blieb aus.
Sie dachte an die Gerichtsverhandlung und an den jüngeren seiner Söhne, der behauptete, dass sein Vater lieb und friedlich sei, und sie nie verprügelt habe. Eine Woche später lag auch er im Spital und er sei die Treppe hinuntergefallen war die Sage.
Ihr Blick fiel auf die kleine Silberflasche kostbaren, alten Cognacs.
Sie hatte sich ein wenig hübsch gemacht. Ein klein wenig nur. Kein Liedstrich nur ein wenig blauer Schatten. Eine weiße Bluse. Der Schankraum in der vertrauten Tankstelle roch nach warmem Alkohol. Sie wischte im Mantelsack an ihren Händen herum um alle Benzinspuren zu beseitigen. Ihr Mann hatte schon den glasigen Blick, denn es war spät. Sie ging zur Theke und stellte sich zu ihm. „Ich habe Dich gesucht“.
„Was willst du?“
„Ich möchte reden, aber draußen, du weißt ich mag das da nicht.“
Er zahlte schwerfällig und steuerte dann zu seinem Auto. Sein Gang war noch gerichtet aber nicht mehr sicher. Sie hielt ein wenig Abstand, er stieg ein.
Sie sagte: „Oh? Was ist da?“ Er reagierte nicht.
„Du, da ist etwas komisch.“
„Steig ein.“
„Nein, da ist etwas am Auto.“ Er stieg ungeduldig aus. Sie zeigte auf die riesen Benzinlacke. Er fluchte und stieg wieder ein, am Armaturenbrett sah er, dass der Tank leer war. Blöde Kröten dachte er, Kinderstreiche. Er wollte Benzin holen und nahm den Kanister aus dem Kofferraum.
Sie sagte: „Du kriegst keines mehr, die Zapfsäulen sind dunkel“
Er fluchte schlimm.
„Ach, das macht nichts.“, meinte sie fröhlich, „gehen wir ein Stück zu Fuß, da redet es sich sowieso besser.“
Sie ging vor, dass er folgen musste. Als er sie einholte, ging sie langsamer. „Ich habe nachgedacht. Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe dich zu hart beurteilt.“
„Was willst du?“ Er hielt den Rücken sehr gerade, so leicht verzieh er ihr nicht.
„Ich war traurig allein.“
„Und?!“
„Ich glaube ich muss mich damit abfinden, dass du manchmal trinkst. Es ist traurig, allein zu leben. Ich würde wieder mit dir sein, wenn Du mir versprichst, nicht öfter als zwei Mal die Woche zu trinken.“
„Ich versprech gar nichts.“ Er war gereizt.
„Du riskierst jedes Mal deinen Führerschein. Das kann es doch nicht sein!“, sagte sie leicht verzweifelt. „Schau, ich habe mir gedacht, du versuchst es ernsthaft, und ich versuche es nicht übel zu nehmen, wenn du angeheitert bist. Ich habe ein Versöhnungsfläschchen mitgebracht. Falls wir uns einigen, hatte ich gedacht, dass wir das hier auf der Bank gemeinsam trinken. Wir begießen, dass wir ´s beide nochmals probieren.“ Es war schon eine dreiviertel Stunde seit dem letzten Schluck und er schaute sie wütend und gierig an. Sie hatte die Hände in den Manteltaschen und schaute zu der Bank. „Du hast mich weggewiesen!“, fauchte er mit penetranter Betonung.
„Du hast wieder einmal her gehaut.“
„Einer Hure gehören Prügel.“ murmelte er, und hielt sich an der Bank fest. Er streckte die Hand aus, doch sie gab ihm die Flasche nicht.
„Ich bin traurig und ich möchte hören, dass du dich bemühst.“
„Und was ist mit ´m Sex? Ich muss jedes Mal betteln für das, was mir zusteht.“ Seine Sprache war schon ein wenig verwischt.
„Ich habe gesagt, ich werde mich bemühen. Ich werde dir zeigen, dass ich mich bemühe, wenn du dich bemühst.“ Sie setzte sich auf die Bank. Er überlegte noch und ließ sich dann auf die Bank fallen. „Du bist meine Frau und sonst gar nichts. So ist das. Und wenn du meine Frau sein willst, dann benimm dich auch wie meine Frau. Hast du verstanden? Das ist mein Angebot.“
Sie stand auf und ging ein Stück weg. „Ich will diesmal dein Versprechen. Nicht irgendein Gerede. Eine echte Abmachung. Wenn du mich immer wieder verprügeln willst, dann bleibt die Trennung.“
Er dachte an den Schluck und war zerknirscht. „Ich will dich ja nicht verprügeln, aber du benimmst dich nicht wie es sich gehört. Ich komm mir dämlich vor als Mann, wenn ich keinen Sex kriege. Wenn du brav herhältst dann ist alles ok. Dann hau ich nicht hin.“
„Ich will dein Versprechen mit zweimal die Woche trinken und nicht öfter. Dann versuchen wir ein neues Leben.“
„Ich will mich eh nicht ständig besaufen. Du bist meine Frau, und wenn du dich benimmst, brauch ich nicht saufen“, meinte er und streckte die Hand nach der Flasche aus.
„Ist das eine Abmachung?“
„Ich will mich nicht ständig besaufen, sag ich.“
Sie kam wieder zur Bank. „Weißt du, ich will nicht allein sein.“ Sie schaute traurig auf den Boden und holte den silbernen Flachmann aus der Tasche. Sie nahm vorsichtig einen Schluck und steckte die Flasche wieder ein.
Er wurde wütend. „Gib her!“
„Ich weiß nicht, ob ich mich auf dich verlassen kann.“
Er versuchte sie zu erwischen, aber sie stand schnell auf. „Ich meine es ernst“, sagte sie.
„Du bist meine Frau und dabei bleibt es!“
Sie gab ihm zögernd den silbernen Flachmann. Er machte einen heftigen Zug, und noch einen. Es schmeckte ihm. Dann stand er auf. „So, und jetzt gibt’s Sex.“
„Das geht nicht da auf der Bank“, sagte sie unsicher. „Vielleicht
finden wir einen Platz.“ Sie lächelte leicht. „Da ist so ein Waldstück,
irgendwo wird’s schon flach sein.“
Sie hatte den Mantel untergelegt, aber der harte Untergrund drückte sehr. Sie bekam kaum Luft. Sie hatte den Rock hochgeschoben und die Strümpfe waren zerrissen. Er atmete schwer und war auf ihr eingeschlafen. Seine Jacke hatte er ausgezogen.
Sie kroch unter ihm vor, dann legte sie seine Jacke daneben, breitete sie aus, und begann, ihn von ihrem Mantel zu rollen. Er wurde leicht wach und fuhr mit den Händen durch die Luft. „Ja, da hast du deine Kappe.“ murmelte sie und legte ihm die Kappe auf den Kopf. Dann hob sie seinen Kopf ein wenig an, und legte ihn sorgfältig richtig hin. Er hatte noch die Hose offen, aber es war nicht notwendig sie zuzumachen.
Sie versuchte einigermaßen passabel auszuschauen. Es war spät und eine ziemlich dunkle Nacht. Die zerrissenen Strümpfe sah keiner. Der Untergrund war trocken. Der Mantel war verknittert aber nicht verdreckt. Es ging so. Sie band den Gürtel um. Als sie fertig war, stieg sie über die Schienen und ging den Bahndamm hinunter. Der Nachtzug kam in 18 Minuten, gutes Timing! Sein Kopf lag 10 cm neben den Schienen. Ob der vorbeibrausende Zug die Fahrt in sein Bewusstsein schaffte?