Hätte ich doch nur der Müdigkeit nachgegeben. Der Junge wäre mir einfach entwischt. So ist es nun mal, manche schaffen es und andere nicht. Jetzt stehe ich hier, vor seiner Zellentür, habe sogar noch mein Brot in der Hand, so wenig hat er sich körperlich gewehrt. Er sieht durstig aus, kraftlos. Er erinnert mich an Azad, der seine Schultern auch immer nur hängen lässt. Aber anders als bei meinem Jungen ist es nicht seine Statur, die schwach ist, sondern sein Wesen, das schwach wirkt.
Ein einziges Wort hatte ihn schon zu Boden gerissen, als suchte sein Körper nur einen Grund der Schwerkraft nachgeben zu können.
„Hey“, rief ich halb im Schreck aber aus tiefster Inbrunst in die dunkle Nacht hinein, dem laufenden Schatten entgegen. Und da lag er, mein erster Fang an meinem ersten Arbeitstag. Hinter ihm erstreckte sich das Ödland bis in die Unendlichkeit. Im Mondlicht erkannte man gerade noch die dunkelgrauen Umrisse der vertrockneten Büsche, aber ansonsten versank der Rest der Landschaft ins Schwarz. Der Junge wusste vermutlich nicht einmal, wie nah er seinem Ziel bereits war.
Ich ziehe mir einen Stuhl an seine Zellentür heran, versuche mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Ich darf keine Unsicherheit zeigen. Sie würden versuchen mich zu knacken, mir ins Gewissen reden und mich am Ende an der Nase herumführen, hatte mein Schwager mich gewarnt. Ich solle mir immer im Klaren darüber sein, dass ich für das Recht einstehe, dass ich im Recht bin und recht habe. Sie würden mir manchmal ihre schreienden Kinder unter die Nase halten, an meine Menschlichkeit appellieren. Ihre Tränen würden mich an meine Grenzen treiben und ihnen letzten Endes zur Freiheit verhelfen. Zur unrechtmäßigen Freiheit, aber ich bleibe gesetzestreu.
Ich schaue den Jungen vor mir an. Er hielt mir nichts unter die Nase, hatte kein Kind dabei. Er war höchstens selbst noch eins. Er weint nicht, beschwert sich nicht, fragt nicht einmal nach Wasser und Brot. Er sitzt so weit entfernt von mir, wie seine kleine Zelle es nur zulässt und starrt apathisch nach unten zu seinen Händen, die fest ineinander greifen und dessen bohrende Nägel rosafarbene Abdrücke hinterlassen.
„Wie ist dein Name?“, frage ich ihn, mit einstudiertem Nachdruck in der Stimme.
Der Junge hebt kaum sichtbar den Kopf und senkt ihn gleich darauf wieder. Wieso hatte ich ihn überhaupt mitgenommen? Wieso nicht gleich zurücklaufen lassen? Prügel und zurück, sagt mein Schwager immer. Damit sie ihre Lektion lernten. Vor allem dann, wenn sie alleine kämen. Wieso war er alleine? Und bis wohin wollte er? Ich werde es vermutlich nie erfahren, denn er spricht nicht mit mir. Statt meine Zeit zu verschwenden, sollte ich ihn nach draußen zerren und zurückschicken, mich an meinen Posten stellen und wieder Ausschau halten. Wer weiß welcher Abschaum mir gerade entwischt. Etwas hält mich ab. Ich schaue den Jungen an, der keine weiteren neun Stunden Fußweg über die Berge bei Nacht überleben wird. Wenn ich ihn jetzt zurückschicke, wird er sterben.
„Bist du Kurde?“
Der Junge blinzelt hektisch, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken gerissen. Er macht jedoch keine Anstalten hochzublicken.
„Oder Afghane?“, mit der Hand greife ich kräftig das Gitter seiner Zellentür. Er zuckt wieder zusammen, nicht ängstlich, eher vor Schreck.
„Ich hab dich was gefragt!“, schiebe ich mit deutlich mehr Nachdruck hinterher und erhalte erneut keine Antwort.
„Hey, Junge!“ Ich rüttle an dem Zellengitter. Die Wut kocht in mir hoch. Diese Arroganz, genug ist genug. Ich reiße die Zelle auf und prügle auf den Jungen ein. Er wehrt sich nicht, gibt nicht einmal einen Laut von sich. Viel mehr scheint er sich den Schlägen hinzugeben. Respekt soll er vor mir haben. Ich schaue von oben auf ihn herab, spucke ihn an, richte mich auf. Meine Wut ebbt ab. Er blutet am Kopf und im Gesicht. So würde er den Rückweg niemals bewältigen. Ich hole ein Wasser und stelle es ihm hin, habe Angst, dass er vor mir verblutet. Er nimmt es an.
„Jiyan“, er verzieht das Gesicht, bemerkt seine aufgeplatzte Lippe. „Jiyan also.“ Noch leicht außer Atem von den Schlägen nicke ich ihm zu, als würde ich einen alten Freund begrüßen.
Er versucht noch etwas zu sagen, ich verstehe ihn nicht. Seine Lippe ist mittlerweile aufs doppelte angeschwollen. Nicht die besten Vorraussetzungen für eine Unterredung. Er nuschelt vor sich hin. Ich verstehe nur ein Wort.
„Wer tötet wen?“
Mein Handy vibriert. Ich verschwinde ins Büro.
„Komm doch, komm zurück!“, schreit Jiyan mir plötzlich kraftlos hinterher.
„Schlag mich, schlag mich tot. Ist mir egal!“, er bricht schreiend in Tränen aus.
Wenn selbst der Höllenhund dir den Rücken zukehrt, dann kannst du dich gleich in Luft auflösen. Mit dem Ärmel wische ich mir über die blutigen Lippen. Ich spüre meinen Schädel pochen, immer lauter und lauter pulsiert das Blut in meinen Arterien. Der Grenzkontrolleur verlässt den Raum. Ich höre ihn im Nebenraum telefonieren, verstehe jedoch nicht worum es geht, will es nicht wissen.
Ich bemerke meine Mitinsassen. Drei Fliegen schwirren in der Mitte der Zelle im Kreis. Das Surren hallt unerträglich laut in meinen Ohren. Ich beobachte, wie zwei Fliegen aufeinander zusteuern und sich dann wieder ausweichen, Pirouetten umeinander schlagen und dann voneinander abkehren. Ich hatte einmal gelesen, dass Fliegen so lange geradeaus fliegen, wie der Raum es zulässt. Sobald sie eine Wand vermuten, schlagen sie eine neue Richtung ein. Nur die Entfernung können sie nicht gut abschätzen, deshalb scheint es als würden sie in der Mitte des Raums kreisen. Das Surren bemerke ich nicht mehr, ich konzentriere mich auf ihren Flug. Ihr hektisches Treiben entspannt mich. Meine Beine drücken schwer Richtung Erdkern, meine Arme ziehen an meinen Schultern. Und dann, nichts mehr. Dunkel. Meine Augen zu, mein Atem gleichmäßig. Vor mir, sein Gesicht. Navid.
Ich hatte es mir anders vorgestellt, organisierter, bewusster, nicht alleine. Aber mit jedem Schritt, den ich weglief, wurde mir klar, dass es für mich keine Richtung mehr gab. Das war mein Schicksal. Es war ganz egal, wohin ich ging.
Wieviele Tage war es nun her, dass sie ihn fassten? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Immer wieder spielte sich die Szene in meinem Kopf ab. Ein lauter Knall, es muss die Tür gewesen sein. Die Musik ging aus, das Licht auch. Dann Taschenlampen, es müssen fast zehn Leute gewesen sein. Ich kenne einen Hinterausgang, ich kenne das Szenario. Es ist schon mal passiert. Ich nehme Navids Hand, wir rennen nach oben. Es ist früher Morgen und die Straßen sind warm und ruhig. Wir küssen uns, ein letztes Mal. Ich laufe nach links, weise ihn an, nach rechts zu rennen. So soll es sein, so lautet das Protokoll. Ich bestimme seine Richtung, ohne zu wissen, dass dort der Teufel auf ihn wartet. Schläge, Männerstimmen, eine Autotür. Navid wehrt sich, aber kurz darauf startet der Motor. Ich stehe hinter der Ecke, bewege mich nicht, helfe ihm nicht. Stattdessen fange ich an zu rennen.
Immer weiter weg von ihm.
In der erdrückenden Dunkelheit der Zelle, begleitet vom Surren der Fliegen, gibt mein Körper nach. Der Raum wird still, als ich den kalten Boden an meinem Rücken spüre. Die Müdigkeit flutet meine Arme und Beine, während meine Gedanken um die schmerzhaften Erinnerungen der letzten Tage kreisen. Die Unausweichlichkeit meines eigenen Schicksals wird mir bewusst, als mich der Boden unter mir verschlingt und ich in einem Meer aus gelebten und erhofften Erinnerungen versinke. Erinnerungen weit weg von unserer Realität, von unseren Familien und Bekannten, aber in Freiheit und Sicherheit.
Während das Surren der Fliegen in meinen Ohren verblasst,
verschwimmt die Grenze zwischen Bewusstsein und Dunkelheit und in diesem erlösenden Dunkel finde ich zumindest vorübergehend Frieden, während die Welt um mich herum verschwindet.