Manina:
Wenn Manina aufwacht, ist Paul schon fast durch die Tür. Aufmerksam und zugleich noch sehr müde lauscht sie seinen Schritten, die wütend klingen und rasen, als ob es einen Wettbewerb gäbe, an dem sie nicht teilnimmt. Sie denkt: Auch dir einen guten Morgen und sagt nichts.
Jetzt dreht sie ihren Kopf zur Wand, an dem ein Traumfänger hängt, der höchstens noch Staub anzieht. Auf ihrem Nachtkästchen türmen sich Bücher, die Manina schon lange lesen wollte, aber bisher nur Dekoration sind und das Wasserglas daneben ist leer, weil sie vergessen hat, es aufzufüllen, und Paul schon lange nicht mehr daran denkt.
Die Stille im Schlafzimmer kommt Manina ohrenbetäubend vor und je länger sie in sie hinein lauscht, umso mehr glaubt sie, sie zu verstehen – panisch reißt sie sich aus diesen Gedanken, die in ihr toben wie tollwütige Füchse. Nachts würde sie die Kopfhörer tief in ihre Ohren drücken und eine Playlist rauf und runter laufen lassen. Melodien, die nichts in ihr auslösen, schluckt sie wie Schlafmittel. Nur morgens kann sie der Realität nicht entkommen.
Die Übelkeit schießt Maninas Speiseröhre hoch bevor sie es auf die Toilette schafft. Sie beugt sich aus dem Bett und erbricht sich auf einem Stapel verstaubter Beziehungs- Ratgeber.
Luise:
Luise mischt Putzmittel mit Wasser, zieht sich die langen, gelben Gummihandschuhe über und beginnt, Dotter und Eierschalenreste von der gläsernen Auslage ihres Cafés zu putzen. Ihr Herz hämmert bei jeder wischenden Bewegung über das schmutzige Glas. Bereits um sieben Uhr früh hatte Luise eine SMS von der Nachbarin von gegenüber erhalten, dass ein paar Männer mit Eiern geschmissen hätten. Wohl eher Männer ohne Eier, hatte sie sich gedacht und einen Pulli zum Umziehen eingepackt.
Nun reinigt Luise einen Buchstaben nach dem anderen, fährt mit liebevoller Genauigkeit über das „f“, das „r“, das „e“ und das „i“, bis der Schriftzug wieder in Weiß erstrahlt. Luise trägt den Eimer mit dem Schmutzwasser gerade zum Waschbecken als ihre Freundin Manina an die Tür des noch geschlossenen Cafés klopft. Der Überraschungsbesuch erhellt Luises Laune sofort, doch bereits ein Blick in Maninas starrende Augen reicht, um die Vorfreude zu trüben. Luise öffnet die Glastür und das Glöckchen über ihren Köpfen klingelt.
„Hey, alles in Ordnung?“
„Nein, nichts ist in Ordnung“, sagt Manina leise. „Ich will dich nicht bei der Arbeit stören, ich wusste halt nicht, wo ich sonst hin soll. Ich kann wieder gehen, wenn es ungünstig ist.“
Maninas Blick huscht verstreut durch den leeren Innenraum und Luise fällt der Zigarettengeruch auf, den Manina hereinträgt.
„Du störst nicht. Lass uns da hinten sitzen.“ Luise nickt in Richtung Sitzecke am hinteren Ende des Cafés. „Ich mach uns schnell einen Kaffee, mit Mandelmilch oder ohne?“
„Ohne, bitte“, erwidert Manina, die den Reißverschluss ihrer Jacke zwar öffnet, aber sie anlässt, als ob sie jeden Moment weg müsste. Sie setzt sich an den Tisch und vergräbt ihr Gesicht in beiden Händen. „Nein, gar nichts eigentlich“, entfährt es ihr plötzlich. „Nur ein Wasser, sonst nichts.“
Luise stellt die Kaffeetassen wieder ins Regal und lässt ihnen stattdessen zwei Gläser Wasser ein. Bis auf das mechanische Geräusch, das Wasser macht, wenn es durch den Wasserhahn fließt, ist es still im Café. Ausnahmsweise ist Luise froh darüber. Es ist kurz nach neun Uhr, aber weder Hanna, noch Selma waren da, um sich ihren Morgenkaffee zu holen. Auch die Studentinnengruppe, die gerne vor ihrer ersten Vorlesung im „frei“ vorbeischauen, ist heute nicht gekommen. Und die Männer (mit den Eiern), die sonst immer etwas an ihrem Café auszusetzen haben, waren heute wohl schon nachts da. Luise verdreht innerlich die Augen. Wenn sie da ist, hat sich noch keiner getraut, etwas zu werfen. Feiglinge, denkt sie sich, während sie die Gläser vor Manina und sich auf den Tisch stellt.
„Läuft es gut?“, fragt Manina wie um Luise von sich abzulenken. „Kommen viele Frauen?“
Luise nimmt einen Schluck Wasser und erzählt, dass das Bezirksblatt einen Artikel über „das frei“ veröffentlicht hatte und seitdem – besonders nach Büroschluss – viele neue Gesichter im Café auftauchten. Dass sie die Croissants-Bestellungen vom Bäcker erhöhen ließ und sie doppelt so viele Gespräche am Tag führte wie sonst. „Ich merke einfach, dass immer mehr Frauen reden wollen. Und sich anderen öffnen. Es gab schon einen richtig tollen Gesprächsabend mit einer Gruppe, die sich hier kennengelernt hat. Vielleicht wäre das ja auch etwas für dich?“
Manina lächelt und nickt, aber die Zustimmung erreicht ihre Augen nicht. „Ich freue mich für dich“, sagt sie. „Ich glaube, wenn es mir besser geht, komme ich auch mal abends vorbei.“
Luises Blick schweift über die leeren Polstermöbel und die frisch abgewischten Tische. Sie war die Letzte, die geglaubt hatte, dass das Konzept eines männerfreien Cafés funktionieren würde. Aber Manina hatte nicht nachgegeben. Die Idee eines sicheren Ortes, an dem sich Frauen untereinander treffen und austauschen konnten war Luise schließlich nicht ohne Grund gekommen. „Stell dir das vor, Lu, du kannst in Ruhe deinen Kaffee trinken und dir sicher sein, dass dich kein Typ dabei stört.“ Manina hatte ihr das Geld für die Einrichtung geliehen. Luise war es umso wichtiger, dass immer alles glänzt.
„Du willst es nicht, oder?“, fühlt Luise vor und beginnt ihre Hände zu kneten. Sie schwitzt, kalt, ohne es gemerkt zu haben. „Bist du deshalb hier, um meine Unterstützung zu holen?“
Manina atmet aus, ehe sie sich dem Blick ihrer Freundin stellt. „Ich kann das nicht, Lu“, beginnt Manina und die Fassade fällt. „Paul und ich – wir sind nicht mehr zusammen. Keiner traut sich, den ersten Schritt zu machen. Aber das ändert nichts dran, dass wir uns nur noch anschweigen. Wir leben wie Geister, völlig aneinander vorbei!“ Maninas Stimme bricht.
„Ich verstehe, hey, ist ja okay.“ Luise greift über den Tisch und umfasst die Hände ihrer Freundin. „Du musst dich nicht rechtfertigen.“
„Ich will es nicht. Ich will dieses Kind nicht. Allein der Gedanke, dass sich da etwas von ihm mit mir vermischt.“ Manina drückt Luises Hände. „Es wird alles anders werden. Ich muss ausziehen, einen Job suchen, die Scheidung-“
„Du bist nicht allein, Nini“, wirft Luise ein. „Ich bin für dich da. Wir machen das alles zusammen. Und- und in der Zwischenzeit kannst du bei mir aushelfen. Ich schulde dir noch Geld. Ich verkaufe Omas Standuhr, die sowieso keiner mehr hören kann. Wir besorgen dir die beste Anwältin.“
Maninas Mundecken verziehen sich allmählich zu einem Lächeln, das ihre Augen erreicht. Für einen Moment sehen sich die Freundinnen an und schweigen. „Danke“, formen Maninas Lippen. „Ich wusste nicht wie ich es dir sagen soll.“
Luise schluckt. „Natürlich“, antwortet sie nur und denkt dabei an ihren Bauch, der leer ist. Der sich seit Monaten, nein, seit Jahren nicht befüllen ließ, egal wie oft Mark und sie Sex hatten. Mit den Kosten ihres Cafés waren die teuren Invitro-Behandlungen einfach nicht drin. Seitdem schliefen sie nicht mehr miteinander, denn jeder Orgasmus erinnerte Luise daran, dass etwas mit ihnen nicht stimmte.
Luise streckt ihren Rücken durch, schiebt ihre Sorgen beiseite und sagt: „Du weißt, dass ich dich unterstütze, Nini. Egal, wie du dich entscheidest. Wir können froh sein, in einem Land zu leben, in dem wir uns von Männern nicht vorschreiben lassen müssen, was wir zu tun oder nicht zu tun haben. Ich bin die Letzte, die irgendetwas von dir erwartet.“
„Ich glaube, mir wird schlecht“, bringt Manina noch heraus. Luise kann gerade noch nach dem Putzeimer von heute Morgen greifen. Manina übergibt sich zwei Mal in den Kübel, während Luise ihr die Haare hält. Als Manina fertig ist, entleert Luise den Eimer auf der Toilette, holt Servietten und einen Krug Wasser, und setzt sich wieder an den Tisch. „Ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit“, murmelt Manina zwischen Luftholen und Mund abputzen. „Ehe sich dieses Ding in mir wohlfühlt.“
„Ruf am besten gleich bei deinem Gyn an. Und, wenn du ihn nicht kontaktieren willst, kannst du meine Frauenärztin fragen.“
„Danke, Lu.“ Manina wischt sich mit einer Serviette über den Mund. „Ich muss meine Wäsche holen. Aus dem Wachsalon. Ich möchte dich nicht länger aufhalten. Tut mir leid für die Umstände. Und danke nochmal für alles.“
„Ich bitte dich, das ist doch selbstverständlich.“ Ehe Manina das Café „frei“ verlässt, umarmt sie ihre Freundin fest.
Manina drückt die Augen zusammen und lässt die Sterne vor schwarzem Hintergrund tanzen, ehe sie all die zerstörerischen Gedanken wieder zulässt, die sie Luise verschwiegen hat.
Manina:
Sie verlässt die Küche durch die Terrassentür, mit einem Ruck zieht sie sie hinter sich zu. Die Kühle des heutigen Herbsttages umwickelt ihr aufgeheiztes Gesicht wie ein feuchtes Tuch, das sich auch auf ihre zerkratzten Arme wie frische Bandagen legt.
Sie sieht: einen grauen Himmel mit langen, spitzen Wolken, die langsam in Richtung Sonnenuntergang ziehen. Davor: zwanzig, fünfundzwanzig Häuser, die noch mehr Bauernhof als Fertigteilhaus sind, rauchende Kamine, Wege verschlingende Wälder und Berge, hinter deren Kämmen der Rest der Welt lebt.
Manina fischt eine Packung Zigaretten aus ihrer Hosentasche, greift nach einem dünnen Papierstängel und zündet ihn sich mit vorgehaltener Hand an. Den Rauch verbläst es sofort, weit hinter die Häuserdächer und all dem. Sie zieht noch einmal am glühenden Stängel, ehe sie hustet, hustet und spuckt. Dann drückt sie die Zigarette am Terrassenrand wieder aus, verschränkt die Arme und presst die Augen zusammen. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Augenlidern ist das einzige, was sie wärmt, die Angst kommt ihr seit einigen Tagen mitsamt der Galle hoch.
Sie hatte gegoogelt wie man nebenbei ein bisschen Geld verdienen konnte und nichts Legales gefunden. Entweder sie sollte ihren Freundinnen Billigkosmetik auf Kaufpartys andrehen oder Zeitungsabonnements an Pensionisten verkaufen oder überhaupt erst kostenpflichtig lernen, wie sie aus fünfhundert Euro fünfzigtausend in einem Monat macht. Frustriert hatte sie den Laptop zugehauen und darüber nachgedacht, wie sie ihren Körper auf Social Media verkaufen könnte. Studieren wäre irgendwie auch eine Option, aber dafür bräuchte Manina einen Geldpolster, auf den sie zurückfallen könnte, sobald die Scheidung durch war. Sie dachte, dass das mit Paul und ihr für immer gemeint war. Nicht nur für die nächsten paar Jahre. In der Zwischenzeit hatte Paul sein Studium beendet, einen gut bezahlten Job inklusive aufmerksamer Kollegin gefunden.
Sie reißt die Augen auf, lässt den kühlen Wind ihre nassen Augen trocknen. Sie wollte ihre Beziehung retten. Sie dachte, dass es schade gewesen wäre, das alles einfach wegzuschmeißen. Doch dort, wo Manina versuchte ihren Paul abzuholen, zwischen Haut und Haut und ein, zwei ungeschickten Küssen, war die Neue eingezogen. Und Paul ergriff die Chance, ein letztes Mal mit Manina zu schlafen – ungeschützt, weil sie sich doch immer um die Verhütung gekümmert hatte.
„Wir haben uns Monate lang nicht mehr angefasst“, hatte Manina Luise erzählt, im Café, am großen Opening-Tag. „Es könnte jetzt wieder werden, oder?“ Und die Hoffnung, die in ihrer Stimme mitschwang, fesselte an diesem Abend sogar Luise. „Das klingt super, Nini, ich würde es euch so wünschen!“ Sie hatten mit einem Gläschen Sekt darauf angestoßen, während Paul beim Geschäftsessen mit seiner Kollegin einen Blowjob zum Nachtisch bestellte.
Manina hatte nicht gewusst, wo sie beginnen sollte zu recherchieren. Also begann sie zu googeln: „schwangerschaftsabbruch wo“ – „abtreibung straffrei?“ – „schwanger beratung gratis“ – „wie lange wirkt pille danach“. Mit jedem Link, den sie anklickte, wuchs ihre Panik.
Sie wollte nicht lesen, dass sie eine Mörderin war. Sie wollte nicht sehen, wie der Embryo gerade aussah. Sie wollte nicht hören, dass sie für immer in der Hölle brennen würde. Und erst recht nicht wollte sie sehen wie alte weißhaarige Männer dafür protestierten, dass ihr Samen nicht abgetrieben werden dürfe. Also schloss sie ihren Laptop wieder und versuchte sich mit Gemüse schnipseln abzulenken, während der Fernseher auf höchster Lautstärke durch die Wohnung plärrte.
Paul kam an diesem Abend nicht nach Hause. Die unbeantworteten Fragen drückten in ihrem Bauch, sie hatten kaum mehr Platz. Manina schnitt sich in den Finger und spürte nichts.
Luise:
Luise sperrt gerade ihr Café zu als ihr Handy klingelt. Sie dreht den Schlüssel zweimal im Schloss um, ehe sie abhebt und sich das Handy zwischen Schulter und Ohr klemmt. „Ja?“, fragt sie, die übergebliebenen Croissants in ihren Händen balancierend.
Auch, wenn sie nicht spricht, kann Luise ihre Freundin zittern hören. Luise lässt den Sack mit den Croissants zu Boden fallen. „Ist alles okay?“, fragt sie und der weiße Atem zieht von ihrem Mund weg. „Wo bist du? Ich komme jetzt rüber zu dir.“
Manina:
Seit Tagen irrt Manina mit diesem Körper herum, der nicht mehr nur ihr eigener ist. Sie kann an nichts anderes denken. Wenn sie jetzt einkaufen geht hat sie Angst, ihren Lüsten nachzugehen. Dass es schon so weit ist und dieser Fötus etwas an ihr verändert, etwas mit ihren Hormonen macht, dass sich ihr Körper bereits zu sehr an seine neue Aufgabe gewöhnt hat und bestens funktioniert.
Paragraph zweihundert-achtzehn des deutschen Strafgesetzbuches stellt den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe. Nach Absatz drei droht eine Freiheitsstrafe in der Höhe von einem Jahr. Das ist das erste, was sie liest, was sie nicht mehr loslässt: dass sie eigentlich eine Verbrecherin ist. Dass ihre manifestierten Gedanken und allfälligen Handlungen im Strafgesetzbuch abgedruckt sind.
Das zweite, was sie liest, ist die Beratungsreglung in Paragraph zweihundert-achtzehn „a“ und das „a“ – wie sie lernt – steht dafür, dass dieser Paragraph erst nachträglich hinzugefügt wurde. Und dieses „a“ bedeutet auch, dass sie weiterleben kann wie sie es will. Sie könnte also die Ausnahme von Paragraph zweihundert-achtzehn sein, wenn sie den Vorgaben der „Beratungsregelung“ folgt, sie hat zwölf Wochen ab Empfängnis Zeit, wann hatten Paul und sie nochmal Sex-
Und dann setzen ihre Gedanken aus und dieses juristische Vokabular, das sie nicht kennt, rennt durch ihren Kopf wie eine dieser Dauerwerbesendungen ab Mitternacht. Jetzt, sie muss jetzt eine Entscheidung treffen, ehe es zu spät ist, ehe sie dieses fremde Gewebe in sich einnisten lässt.
Manina räumt die Wäsche ein und wieder aus, befüllt den Geschirrspüler, putzt jedes Eck ihrer gemeinsamen Wohnung, schrubbt den Dielenboden, wischt die Fenster ab, bis ihr die Finger schmerzen und die Knie wund sind. Bis sie nicht mehr anders kann als sich der Gegenwart zu stellen. Und dann greift sie zu ihrem Handy.