App 42

Lutz Katczinsky

Berlin, 5. Mai 2089 – „Verweile doch, du bist so schön“ 

Ein schrecklich normaler Ton riss Alexander Plebus aus dem Schlaf. Es war 8 Uhr, genau wie immer. Keine Minute wollte ihm geschenkt werden. Für einen Moment hielt er inne, ein kurzer Check seines Datenvolumens. Jaja die liebe Gewohnheit. Die letzten 42 Jahre waren ziemlich schnell vergangen. Morgen war sein 67. Geburtstag.
Ein Blick auf seine SmartWatch … 0A 0D 16H 0 Min … stand dort. Als er die Anzeige sah, verspürte er gleichzeitig Freude und Hoffnungslosigkeit. Er sah noch einmal zu seinem verhassten Wecker und verabschiedete sich von seinem alten Freund.
Mit einem Handzeichen öffneten sich die Jalousien und die Sonne richtete all ihre gleichgültige Freundlichkeit und Wärme auf ihn, als wollte sie sagen: „Kopf hoch, morgen ist auch noch ein Tag“.
Alexander genoss die Sonnenstrahlen trotzdem!
Und den blauen Himmel!
Und die Vögel am Horizont!
Es war einfach wunderschön! Ein normaler Tag, daran ließ sich nichts ändern. Auch heute rief wieder die Pflicht. Er ging ins Bad, wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne, machte sein tägliches Selfie vor dem Frühstück. Zur Feier des Tages hatte Alexander Anspruch auf alle Spezial- Luxusangebote der App42 und so hatte er sich bereits vor einer Woche Frühstück per Drohne bestellt: Frisch zubereitet von einem 3 Sterne Koch schwebte sein Essen nun vor seinem Küchenfenster. Er ließ das Ding rein. Die Drohne stellte das Essen ab und verschwand wieder hinaus in den Morgen. Das Öffnen des Fensters brachte die warme Sommerluft in seine Wohnung. Es war immer warm im Mai in Berlin, warm und malerisch mit einem klaren, wolkenlosen Himmel. Einen Monat später würde die Hitze wieder unerträglich werden. Der Duft des Frühstücks drang in sein Bewusstsein. Er setzte sich an den Tisch, begann zu essen und auf seinem MobileDevice die wichtigen Nachrichten des Tages zu streamen.
Alles ganz normal in der Welt – wie immer! Die Aktien von ‚Bite‘ waren gestiegen – was nicht verwunderte. Irgendein Star verklagte einen anderen – nichts Neues. Das ‚App42 Selfie des Tages‘ (wieder nicht er, nicht einmal heute). Eine Nachricht ließ ihn doch kurz innehalten: „Ein Anschlag in Malawi in Südafrika“. Seine Tochter war dort stationiert. Sie war keine App Userin und hatte sich für den Friedensaufbaudienst am Arsch der Welt entschieden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie war erwachsen und konnte frei entscheiden…
Schade war nur, dass sie nicht zu seinem Geburtstag nach Hause kommen konnte. Nun gut, er hatte keine private Nachricht von ‚Bite‘ bekommen, also war sie am Leben. Immerhin würde Nikolas heute kommen, sein Sohn. Er scrollte die Bilder von ihm durch und seine Augen leuchteten. Sein Sohn würde zu seinem Geburtstag nach Hause kommen!
Was für ein Glück!
Das würde ein fröhlicher Tag werden!
Genauso hatte er es sich geschworen!
Nikolas war zum Studium nach München gezogen und eigentlich immer sehr beschäftigt. Er war drittbester seines Jahrgangs in Systeminformatik und hatte glänzende Aussichten für sein Leben. In Gedanken bei seinem Sohn kontrollierte Alexander sein Datenvolumen und seinen Kontostand. Ganze drei Petabyte und etwas über 13k Eurodollar würde er ihm vererben, wenn es so weit war. Er hatte gut was angespart in den letzten Jahren. 

Dass Nikolas gut versorgt sein würde, stimmte ihn noch glücklicher. Und als hätte es nicht noch besser kommen können, ploppte in diesem Moment eine Nachricht von ihm auf: „Hi Dad. Ich bin um 12.03 Uhr am HBF, sys Nik :)“
Na das war doch wirklich perfekt. Mit ein paar Klicks bestellte er sich ein H2car aus dem App CarPool nach Hause. Zur Feier des Tages war die Miete kostenlos und er bekam sogar noch ein Update auf ein besseres Modell.
Als er fertig war mit Frühstücken, ging er raus und wartete auf den Wagen. Alexander nutzte die Zeit, um sich alles noch einmal genau anzusehen. Die Straße, in die er als Jugendlicher gezogen war. Die neonfarbenen Graffiti. Die Häuserreihen. Sie standen immer noch an Ort und Stelle, nur die Fassaden und die Dächer waren neu. Alles war mit Solarfolie beklebt und die alte Straßenbeleuchtung diente nun nur noch als Stativ für Kameras. Die Stadt leuchtete sowieso auch bei Nacht so hell, also waren extra Laternen irgendwann überflüssig geworden. Er tiefer Atemzug. Der Duft der Großstadt Berlin. 

Es war halb zwölf. Er musste seinen Sohn vom Bahnhof abholen, es war höchste Zeit! Am Berliner Hauptbahnhof trafen seit jeher Licht und Schatten aufeinander. Heute kam es Alexander so vor, als würde die große Glasfassade nur für ihn strahlen und versuchen ihn zu blenden. Er genoss es. Da kam auch schon sein Sohn auf ihn zu.
„Hallo Papa, schön dich zu sehen!“, sagte Nikolas freudig.
„Nikolas, sieh dich nur an, du siehst ja richtig erwachsen aus“, entgegnete Alexander mit einem Lächeln.
„Ist der Mantel neu? Den hab‘ ich noch auf keinem Pic gesehen.“
„Ja den habe ich vorhin in München gekauft. Ich wollte dich überraschen.“
„Na das ist dir gelungen! Komm, wir machen ein Bild. Vater und Sohn zusammen.“
Der Wagen brachte sie nach Hause in Alexanders Wohnung. Auf dem Weg machten sie noch einmal Halt bei Ihrem alten Lieblingsimbiss und bestellten sich zwei Curryvegs. Alexander hatte sich schon seit Wochen gefreut seinen Sohn zu treffen und jetzt war er tatsächlich da.
„Wie geht es dir, Nik? Ich meine, ich sehe ja die Fotos und die Videos, aber wie geht es dir?“ „Mir geht es gut, Dad, mach dir keine Sorgen. Das Studium läuft super und ich habe die Chance mit der nächsten Zwischenprüfung auf Platz zwei meines Jahrgangs aufzurücken.“
„Das sind ja fantastische Nachrichten! Und was ist mit dem Praktikumsplatz?“
„Na was soll damit sein? Im September fange ich für drei Monate bei ‚Bite‘ als Trainee im Bereich Systemadministration an, das habe ich doch erzählt!“
„Ich will ja nur, dass du auch alles hast, das ist das Recht eines Vaters. Hast du dich denn nun eigentlich entschieden, ob du die App nutzen willst?“
„Nein“, Nik seufzte kurz …“Bis ich 25 bin, habe ich ja noch etwas Zeit. Aber sag mal, wie geht es eigentlich mit deiner Wohnung weiter?“ „Der neue Mieter kommt heute Abend auch und stellt sich vor. Keine Sorge, ich habe alles in tadellosen Zustand gebracht, der wird nichts zu meckern haben.“
„Na ich frage ja nur…. Du weißt ja nicht, wie die Leute drauf sind und am Ende stellt der noch kurz vor Knapp Forderungen. Ich habe erst gestern eine News dazu gelesen, dass der Nachmieter sich noch Daten vom Vorbesitzer eingeklagt hat und das alles nur eine Woche vor „ ….“ seinem 67. Geburtstag“, korrigierte Nikolas schnell.
Das war ein Fehler, wie Nikolas auch sofort merkte. Eine seltsam trübe Stimmung legte sich über die beiden. Alexander hatte zwar verfügt, wie mit seinem 67. Geburtstag umzugehen sei – ganz normal, hatte er geschrieben und mehr nicht – aber das Gespräch war nun doch etwas abgerutscht.
„Komm schon, alter Mann!“, sagte Nikolas in spaßigem Ton und sprang auf. Wir dekorieren die Wohnung ein bisschen. Ich habe im Zug meine 100 Lieblingsbilder von dir und uns zusammengestellt. Lass sie uns auf allen Screens zeigen.“
„Ja unbedingt, hast du vielleicht auch Bilder von Nadja?“
„Natürlich, ich vergesse doch meine Lieblingsschwester nicht.“
Er zeigte lächelnd auf das Foto aus dem Krankenhaus. Es war irgendwann entstanden, als die zwei sich gerauft und im Anschluss beide Platzwunden hatten. Auf dem Foto lachten und weinten sie zusammen und lagen sich in den Armen.
„Es ist schade, dass sie heute nicht kommen kann“, sagte Nikolas in die Leere.
„Ja, aber ihre Mission ist wichtig und wir sollten Ihre Entscheidung gegen die App respektieren.“
Die Wohnung war fertig hergerichtet und so setzten sich die beiden noch auf den Balkon. Mittlerweile war es 17:30 Uhr. Der Tag war vorbei, kaum dass er angefangen hatte. So wie immer in dieser Welt. Die Sonne neigte sich langsam gen Horizont. Die Abendluft war herrlich, die Wärme wunderbar und Alexander hatte Nikolas an seiner Seite. Er wollte wirklich IN diesem Moment leben. Nikolas erkannte, in welcher Stimmung sich sein Vater befand, griff nach seiner Hand und lächelte ihm zu. Wirklich ein perfekter, schöner Tag und nun kam die Nacht, es war an der Zeit seinen Geburtstag zu feiern. Alexander genoss noch die letzten Minuten zusammen mit seinem Sohn.
Es war 18:30 Uhr oder wie es auf seinem MobileDevice angezeigt wurde …
0A 0D 5H 30MIN.…
Da klingelte auch schon der erste Gast. Es war sein Nachmieter, ein Herr um die 40. Alexander hätte nachsehen können, wie alt der Mann war und was er alles so machte, aber wozu? Der Mann schien nett zu sein. Auch Nikolas stellte sich vor. Es entstand ein kleines, steifes Gespräch mit dem bereits erwarteten Eindringling.
Kurz darauf kamen die nächsten Gäste und die 120m² Maisonette Wohnung in der Berliner Innenstadt füllte sich mit Leben. Es wurde eine bunte Truppe von bestimmt 50 Leuten, die alle Alexanders Geburtstag feiern wollten.
Alexander stand auf der Galerie und überblickte die Situation. Ihm wurde immer wieder zugeprostet. Es wurde gegessen, gebechert und ausgelassen getanzt und gefeiert. Sein Sohn trat neben ihn.
„Hättest du heute nicht noch etwas Besonderes gewollt?“
„Nein Nik, alles gut. Es war schön hier. Sieh dir nur an, wie fröhlich alle sind. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Es war schön, noch einmal Vater- Sohn-Zeit zu verbringen. Hey, schau, ist das nicht dein Freund Henry?“
„Ja tatsächlich, ich hatte ihm erzählt, dass ich heute hier bin.“
„Dann geh runter und begrüß ihn. Es freut mich, wenn du einen Freund gefunden hast, der dir so wichtig ist.“
Nikolas umarmte seinen Vater lange und ging los, um seinen Freund zu begrüßen. Niemand achtete auf die Uhr, niemand außer Alexander. Es war 10 min vor Mitternacht. Er zog sich still und heimlich in sein Schlafzimmer zurück, setze sich in seinen Liegestuhl und betrachtete den Mond. Es war eine klare und warme Sommernacht. Wunderschön friedlich, also für Berlin. Sterne sah er leider keine, aber das konnte man hier wirklich nicht erwarten. Er blickte zur Uhr – 5 vor 12 – und dachte an das Dorf, in dem er aufgewachsen war und an den Sternenhimmel. An seine verstorbene Frau und an Nikolas und Nadja.
Er schloss die Augen, er war müde.
Die große Uhr im Wohnzimmer schlug 12 und es wurde nicht stiller auf der Party. Nur Nikolas betrachtete die Uhr und suchte hektisch seinen Vater. Er fand ihn friedlich auf seinem Liegestuhl, als wäre er einfach eingeschlafen. Sein MobileDevice leuchtete auf dem Nachttisch:
App42 … 0A 0D 0H 0Min …
Alexander Plebus war gestorben. 


München, 6.Juni 2089 – „Gretchenfrage“ 

Mit leichten Kopfschmerzen erwachte Nikolas Plebus am Morgen und richtete sich auf. Sein Wecker zeigte 7:15 Uhr an, zu zeitig, viel zu zeitig. Er war gestern Abend nach der letzten Vorlesung noch mit Henry und ein paar Kommilitonen in einer Bar versackt und das Bier hatte besser geschmeckt, als gut für ihn gewesen wäre. Trotzdem, mal eine Auszeit musste drin sein. Er hatte es vor einer Woche endlich geschafft, auf Platz 2 der Bestenliste seines Jahrganges aufzusteigen. Das hatte einen fetten Datenbonus gegeben und außerdem noch eine Monatsmiete bezahlt von ‚Bite‘. Aber warum musste die Vorlesung heute schon um 8 Uhr beginnen? Das war zu zeitig, viel zu zeitig! 

„Na gut ok, auf geht’s“, sagte er zu sich. In seiner Wohnheim WG schliefen wahrscheinlich noch alle. Er schlich ins Bad und machte sich fertig. Nikolas musste sich beeilen, um den Bus zur Uni noch zu bekommen. „Dabei lebe ich doch in München, warum beeile ich mich also so?“, schoss es ihm durch den Kopf. Der nächste Bus kam in 10 Minuten. Na egal, los geht’s. Zum Zu-Spät kommen war er nicht erzogen worden.
Im Bus kam er endlich dazu, sein MobileDevice zu nehmen. Noch 563 Gb Datenvolumen auf seinem Konto, das sah gut aus. Alles in Ordnung. Er scrollte durch die Nachrichten: Alles so normal, wie es nur ging. Friedenstuppen in Malawi machten Fortschritte, es wurden Videos von Kindern gezeigt, die den Soldaten Blumen überreichten – also alles ok bei seiner Schwester, auch wenn sie nicht zu sehen war.
Von den Kopfschmerzen mal abgesehen lief der Tag gut an. Als er an der Uni ankam, machte er sich auf den Weg zum Audimax. Henry wartete bereits vor dem Gebäude auf ihn und dampfte vor sich hin. Er kontrollierte ebenfalls seinen Feed.
Henry war ein Jahr jünger als Nikolas. Sie hatten sich auf einer Semesterstartparty kennen gelernt und nach zwei offiziellen Dates beschlossen, dass sie lieber Freunde werden sollten. Das war fast 2,5 Jahre her und Henry war eine der wichtigsten Personen in seinem Leben geworden. Außerdem war er der Beste der derzeitigen Bachelorrotation, was ihn eigentlich zu seinem Konkurrenten machte, aber sie genossen es, die beiden ersten Plätze zu besetzen.
Als Henry ihn sah, lächelte er ihm zu und winkte ihn heran: “Mann, da bist du aber gestern mal ganz schön abgestürzt, was?“
„Danke, aber du siehst genauso scheiße aus, wie ich mich fühle“, grinste Nikolas zurück.
„Besser, wir setzen uns heute mal etwas weiter hinten hin, sonst müssen wir uns einen Kommentar vom Prof anhören.“
„Ja, lass reingehen“, entgegnete Henry. „Es ist ja nicht so, als würden die Datenanalysemethoden auf uns warten“.
Im Gebäude zog sich Nikolas noch schnell ein Frühstück aus dem Automaten, dann gingen sie zur Vorlesung. Die war eigentlich Zeitverschwendung, aber sie waren beide immer noch verkatert und konnten etwas Ruhe gebrauchen. Danach gingen sie in die Mensa. Nach dem Essen und zwei Kaffee (für jeden) waren die beiden gut erholt und saßen entspannt auf der überdachten Terrasse. Die Sonne brannte bei 37°C und der Schatten des Daches kam ihnen gerade recht.
„Hast du dich schon entschieden?“, fragte Henry.
„Was meinst du?“
„Na was wohl, Nik? In drei Wochen wirst du 25, was willst du tun? Ein friedliches, ruhiges Leben mit aktiver App oder lieber Dienst für den Konzern wie deine Schwester? Ich meine, mit deinem Abschluss kannst du es auch ohne Alles, auf die altmodische Art versuchen mit zwei, drei Jobs. Aber…
„Ja, ja, ich weiß!“, unterbrach Nikolas ihn. „Mir stehen alle Türen offen, bla bla bla. Du hörst dich ja fast an wie der Beratungstyp von der Uni. … Ich habe noch nicht entschieden, was ich machen soll.“
„Tja bald MUSST du dich entscheiden, sonst aktiviert sich die App von selbst, das weißt du.“
„Mann Henry, mein Dad ist erst einen Monat tot, lass mal das Thema wechseln bitte?“
„Ja schon gut, tut mir leid, ich mache mir nur Sorgen.“
„Du hast es gut, Henry. Du hast noch ein Jahr Zeit bis zu der Entscheidung. Wenn ich die App aktiviere, bekomme ich drei Petabyte von meinem Dad vererbt, das wäre schon was. Ich meine, er hat so viel Datenvolumen angespart, wäre doch echt eine Schande, wenn das verfällt, und Nadja kann es nicht nutzen. Ich bin echt hin und hergerissen!“
„Tut mir leid, ich wollte deine Stimmung nicht runterziehen.“
„Ist schon ok, du hast ja Recht. Irgendwann muss ich mich entscheiden, sonst bin ich automatisch mit dabei.
„Ok ok, was ist mit deinem Praktikum?“
„Ach, die würden mich natürlich am liebsten mit der App sehen. Aber der Admin ist echt korrekt und bedrängt mich kaum mal mit ‘ner Mail. Ach fuck, jetzt reden wir doch drüber.“ Er atmete laut aus, was einen kurzen, schuldvollen Blick von Henry zur Folge hatte. „Was ist eigentlich mit dir und der aus dem vierten Semester, du weißt schon, die mit den krassen Neontattoos?”
Der Themenwechsel hatte sein Zeil nicht verfehlt, Henry wurde rot. Er mochte die Frau, das wusste Nik und bohrte weiter, bis Henry mit hochrotem Kopf verkündete, er habe genug vom Nichtstun und mit einem Grinsen verließen sie die Mensa. Auf dem Weg nach draußen mussten sie doch tatsächlich noch mit ihren MobileDevices bezahlen, weil SmartPay offline war.
Die gute Laune von Henry bekam einen leichten Knick. „Na toll, die Uni war auch schon mal besser. Jetzt müssen wir hier noch unsere privaten Daten nutzen. Vielleicht zahlen wir nächstes Mal ja noch analog!“
„Ach komm, ist ja nicht so, als hätten wir nicht genug.“
„Ja maybe. Ach was soll’s… hier nimm, du blöder Kasten, friss meine Daten und mein Geld. Für mich ist die Uni für heute eh vorbei. Mach‘s gut Nik. Ich geh jetzt in die Bib zur Lerngruppe.“
„Mit wem gehst du denn lernen?“
Erwischt und mit glänzenden Augen lächelte Henry und ging in Richtung Bibliothek zu seinem Lerndate.
Nikolas hatte gerade den Bus verpasst und entschied sich deshalb zum Wohnheim zu laufen. Das Universitätsviertel war ein abgeschlossener Bereich innerhalb der Stadt. Daher war es kein Problem, auch mal ein paar Meter zu Fuß zu gehen.
Auf dem Weg nach Hause kreisten seine Gedanken immer wieder um die Frage, wie er sein Leben gestalten sollte: Mit dem Job bei ‚Bite‘ als Systemadministrator bräuchte er das Einkommen aus der App nicht unbedingt. Aber wie sollte er den Job nur ohne App42 Abo bekommen? Sicher, es wäre gut, auf das Grundeinkommen und die Krankenversicherung zurückgreifen zu können. Außerdem hatte sein Vater immer alles für seine Schwerster und ihn kaufen können. Es waren schöne Zeiten gewesen und sein Vater wirkte auf seiner Geburtstagsfeier auch recht glücklich. Aber das hier war sein Leben, seine freie Entscheidung. Wie seine Schwester wollte er es nicht machen. Es war unnötig, zum Friedensdienst zu gehen und er kannte die Meldungen und auch einige der Gerüchte dahinter. Klar war das alles gefiltert. Wer wusste das besser als er selbst? Sie lebten schließlich alle irgendwo in ihrer eigenen Bubble. Er war einfach nicht für den Feldeinsatz ausgebildet, sondern würde Systemadministrator werden.
„Gut, zurück zum Thema Nik, App 42 – ja oder nein?“, sagte er laut. Er erhielt keine Antwort, von wem auch? Sonst war niemand so dämlich, mitten im Hochsommer einfach zu Fuß zu gehen. Er schwitzte aus allen Poren, stieg in den nächsten Bus und fuhr heim. Im Wohnheim angekommen ging er ins Bad und schaute in den Spiegel. Er war feuerrot vom Sonnenbrand. Heute Abend würde er ganz sicher kein Selfie posten. Solange er noch die Wahl hatte, würde er sie nutzen und auf blöde Kommentare konnte er gerade sehr gut verzichten.
„Wer den Schaden hat… und so weiter“, dachte er. Das Web war gnadenlos. „Aber nicht heute.“ Nikolas setzte seine HoloLense auf. Sein HoloMe kannte keinen Sonnenbrand und so ließ er den Abend entspannt im Web ausklingen. Morgen war wieder ein Unitag. 


‚Bite‘ Hauptbasis Malawi, 16.April 2090 – „Auf einem Osterspaziergang“ 

Ein Sirenenton durchschnitt die Luft und weckte Nadja Plebus. Dank ihrer modifizierten Soldatenreflexe reagierte ihr Körper automatisch auf das Signal und so lag sie im nächsten Moment bereits mit der Waffe im Anschlag in ihrem Gefechtsunterstand.
Sie hatte diese Woche Frontdienst. Das bedeutete für sie, eine Woche lang den ersten Grenzposten der ‚Bite‘ Basis abzusichern. Eine Woche lang bei 45°C im Schatten und 30°C in der Nacht eine beschissene Straße bewachen. Dank der Gefechtsanzüge und BodyMods von ‚Bite‘ war es zwar auszuhalten, aber gefährlich war es trotzdem. Es war die ganze Woche ruhig gewesen und natürlich ausgerechnet an ihrem letzten Tag mussten sich die ʺRebellenʺ zu einem Angriff hinreißen lassen? Scheiße! Sie scannte die Umgebung mit ihren Augen und mit den Kameras. Keine Auffälligkeiten, also erlaubte sie sich einen kurzen Blick nach rechts zum anderen Gefechtsstand, in dem Isa lag. Sie hatten sich während der Woche angefreundet und gelegentlich per Videochat kommuniziert, auch wenn es auf die eigenen Daten ging. Aber was machte das schon, wenn man hier irgendwo im nirgendwo in der Wüste im Staub lag. Isabella war ganz ruhig und schien auch nichts zu bemerken.
So lagen sie da…. Nach vielleicht fünf Minuten hörten Sie aus der Ferne hinter ihnen dumpfe Einschläge aus Richtung der Basis! Das verhieß nichts Gutes, aber solange kein Befehl kam, würden sich die beiden nicht vom Fleck bewegen.
Deshalb warteten Isabella und sie zehn Meter voneinander entfernt in ihrem staubigen Unterstand und beobachteten die Gegend. Als endlich das Entwarnungssignal über ihr Headset erklang, schloss Nadja kurz die Augen, atmete durch. Ein letzter Blick auf den Kamera Feed, dann richtete sie sich auf und verließ den Unterstand, um sich etwas zu bewegen. Isa tat es ihr gleich. Sie grinsten sich an. Nichts passiert! Ein paar Minuten später traf eine Nachricht ein. Die Hauptbasis war mit Raketen und Drohnen beschossen wurden. Das Abwehrsystem hatte fast alle Geschosse abgefangen, es gab mehrere Verletze, keine Toten.
Ein mulmiges Gefühl blieb nach der Meldung, doch beschweren konnte sich Nadja über ihren Frontdienst nicht mehr. Raketenangriffe waren nichts neues, die hatte sie schon vier Mal mitgemacht. Die Laser des Abwehrsystems brachten die Geschosse zur Explosion, bevor sie die Basis erreichten, aber manchmal eben nicht alle.
Der Rest des Tages war ein Spaziergang. Es passierte nichts, so wie die anderen sechs Tage zuvor. Die Sonne brannte, der Wind heulte und wirbelte braun-grauen Sand durch die Luft.
Um 18 Uhr kam die Ablösung und zwei andere Kameraden übernahmen für eine Woche ihren Platz.
Als sie im Konvoi in die Hauptbasis einfuhren, sahen sie die Ursache für den Signalton vom Vormittag. Einige Raketen waren in die Schutzmauern der Gebäude gekracht. Eine hatte ihr Ziel gefunden und eine Baracke getroffen. Zum Glück war es nur der Lagerbereich gewesen. Trotzdem verfluchte Nadja den internen Meldedienst. Die Gefechtsmeldung war mal wieder außerordentlich beschönigend korrigiert worden. „Einige Verletzte“ hatte daringestanden. So ein Schwachsinn, bei so einer großen Basis gab es nacheinem derartigen Angriff nicht nur „ein paar Verletzte“. Die Krankenstation wall voll mit Opfern und es glich einem Wunder, dass sonst niemand gestorben war. Bis jetzt. Scheiß Zensur!
Ihre Wut ließ etwas nach, als sie ihre Wohnbaracke erreichte. Bei dem Gedanken nach einer Woche endlich mal wieder den Sanitärbereich zu betreten, stahl sich sogar ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Nach einem Fronteinsatz durfte man volle 10 Minuten duschen und sie würde jede Sekunde genießen. Danach gab es eine doppelte Portion in der Kantine. Richtiges Essen. Nicht diese Riegel, die sie die ganze Woche lang jeden Morgen essen musste. Jetzt war ihr Dienst beendet und sie hatte 48 Stunden frei auf dem Gelände der Basis. Diese Zeit würde sie zu nutzen wissen, soviel war klar!
Nach dem Essen legte sie sich aufs Bett ihrer Wohneinheit und setzte die HoloLense auf. Die VR Umgebung war wunderschön. Kaum zu vergleichen mit der Wüste, in der sie vorhin noch gelegen hatte. Sie saß auf einer grünen Wiese in der Nähe eines Flusses. Der Himmel war freundlich blau, in der Ferne sah sie Berge, deren Spitzen gerade noch so mit Schnee bedeckt waren. Die Kälte schien gerade zurückzuweichen und dem Leben Platz zu machen. Der ewige Kreislauf der Natur, den der Mensch so barbarisch unterbrochen hatte. Es war ein Witz, dass sie nun in genau diese Idylle floh, die schon lange nicht mehr existierte.
Also in die VR, um einen kurzen Moment der Illusion vom Menschsein zu verspüren und nicht nur ein Konzernsklave zu sein. Sie atmete tief durch, fast konnte sie die frische Luft schmecken, aber eben nur fast. Der Moment war verflogen, ihr Nachrichtenpostfach meldete sich und sie begann wieder Anschluss an die Welt da draußen zu finden. Bilder, Selfies, kurze Videos von ihrem Bruder waren dabei.
Nikolas, ihr kleiner Bruder. Er hatte die App42 aktiviert und war damit Teil des Zoolebens geworden. Jeder konnte sehen, wo er war, was er postete, was er kaufte und wann er krank, fröhlich oder auch nur angespannt war. Beim Sport oder auch anderen Aktivitäten. Live Standort, Kontostand, Puls und natürlich auch das unaufhörliche Ticken der Uhr, die sein Leben bis zur letzten Minute bestimmen würde.
Der Konzern ‚Bite‘ würde all die Daten nutzen, um seine Algorithmen noch weiter zu verfeinern. Alles für Werbeeinnahmen und um die Bubble um die Nutzer noch enger zu schnallen. Das wusste sie und das wusste auch Nik. Klar, es hatte auch seine Vorteile…. Ein gutes Grundeinkommen, Krankenversicherung, Datenvolumen, von dem sie nur träumen konnte… aber war es das wirklich wert?
Es war jedermanns freie Entscheidung und was hatte sie selbst schon getan? Sie hatte sich für 30 Jahre für den Friedenseinsatz verpflichtet. Als sie dann hier war, wurde ihr bewusst, dass sie in einen handfesten Konzernkrieg geraten war, in dem die Global Player ihr neustes Spielzeug testeten, um es an den Meistbietenden zu verkaufen. Damals war sie auf die Propaganda hereingefallen, hatte sich freiwillig gemeldet. Am Ende war es ihre eigene Entscheidung gewesen, aber was heißt das schon, wenn man seit frühester Kindheit die Konzernpropaganda und Eigenwerbung eingeimpft bekommt.
Sie war sauer.
Sie konnte ihre Situation nicht mehr ändern und weder ihrem Bruder noch sich selbst helfen. Wenn sie ihm eine Nachricht schrieb, würde der ZensurBot sie so umschreiben, dass Nik denken würde, sie mache hier Urlaub. Am Anfang hatte sie es versucht, aber musste schnell einsehen, dass die KI hinter den Bots über die Jahre einfach zu gut geworden war. Darum schrieb Nadja ihrem Bruder nur noch selten. Wenn sie gar keine DM’s schrieb, würde das auch der Bot übernehmen und diesen Sieg gönnte sie dem Konzern nicht.
Ihr blieb noch die Zeit in der VR… Da Nikolas ein App 42 Nutzer war, konnte sie ihrem Bruder wenigstens folgen und an seinem Leben teilhaben. Er hatte gerade ein Praktikum bei ‚Bite‘ beendet und würde bald seinen Abschluss machen. Dann hätte er im besten Fall das Grundeinkommen plus das Gehalt von seinem Job. Er würde eine Familie gründen und sein Leben genießen. All das würde sie erst können, wenn und vor allem FALLS sie das hier überlebte. 

Die restlichen drei Stunden bis zum Strom Aus lag sie in der VR am Strand und ließ sich von der Simulation treiben. Ihre Gedanken kreisten um ihren Vater und ihren Bruder. Wieder einmal kam der Punkt, an dem nichts mehr Sinn machte. Sie kämpfte für ‚Bite‘. Die „Rebellen“ für einen anderen Konzern, eine andere App. Alles nur Rädchen im Uhrwerk der Zeit. Nadja entschied sich eine Pille zu schlucken und schlafen zu gehen. Morgen war wieder ein neuer Tag in der Wüste, zumindest das war mal sicher.

München, 3 Juli 2090 – „Der kleine Gott der Welt“ 

Vor einer Woche waren seine Eltern aus London für seine Graduierung eingeflogen. Henry Ädilen hatte als Jahrgangsbester abgeschlossen und dachte, seine Eltern wollten bei seinem großen Tag dabei sein. Wollten sie auch. Nur auf das, was noch passierte, war er nicht vorbereitet gewesen. Eben stand er noch mit Hut und Robe auf der Bühne im Theater der Universität. Er hielt die Abschlussrede, seine Eltern im Publikum. Seine Mutter vergoss ein paar Tränen, sein Vater hatte eine sehr ernste Miene aufgesetzt. Nach dem feierlichen Abschluss fielen sich alle Familien und Freunde in die Arme.
Zu Henrys Überraschung war außer seinen Eltern niemand gekommen. Etwas verwundert aber immer noch überglücklich über ihre Anwesenheit fiel er seiner Mutter um den Hals. Sein Vater reichte ihm kurz die Hand zur Begrüßung, er wirkte nervös.
Der Universitätsdekan begrüßte und beglückwünschte sie. Nach einer belanglosen Plauderei lud der Dekan, welcher seinen Vater zu kennen schien, die ganze Familie in sein Büro ein. Er sagte, es gäbe mit so einem speziellen Absolventen noch etwas zu besprechen im Hinblick auf seinen baldigen Geburtstag.
Als die Tür zum Büro ins Schloss gefallen war, nickte der Dekan seinem Vater zu. Dieser bestätigte kurz und Henry bekam seine Abschlussurkunde und einen Vertrag für die App42 PRO vorgelegt. Ihm wurde erklärt, dass es ihn und seine gesamte Verwandtschaft in höchste Schwierigkeiten bringen würde, sollte er gegen die Geheimhaltung verstoßen. Es machte ohnehin keinen Sinn, so etwas zu versuchen, die Filter die App42 PRO betreffend waren die besten, deshalb würde auch niemand von seinem Abschlusstag erfahren. Verwirrt und verängstigt unterschrieb Henry den Vertrag. Mit der Unterschrift wurde sein Vater etwas entspannter. 

Gestern war der Tag, der sein ganzes Leben verändert hatte. 

Nun klingelte der Wecker. Henry öffnete nur widerwillig die Augen. Es fiel ihm schwer, aufzustehen. Mit dem 25. Geburtstag musste sich jeder Bürger entscheiden, wie er in Zukunft der Gesellschaft dienen konnte, nur mit dem kleinen Unterschied, dass diese Entscheidung für ihn schon vor langer Zeit getroffen worden war. So viel war ihm jetzt klar. Sein Blick glitt auf das MobileDevice – alte Gewohnheiten ließen sich nicht so einfach ablegen, egal wie sehr es schmerzte. Und so scrollte er durch die Nachrichten. Aktienwerte, großer Hack, Bla Bla Bla und Prominente… eine Nachricht jedoch versetzte ihm einen Stich: „Terror in Malawi, Rebellen verüben großangelegten Terroranschlag auf die Gemeinschaftsbasis von UN und ‚Bite‘ – Anzahl der Toten 577“. Die Liste der Toten war natürlich schon online, mit allen Bildern und weiteren Links. „Zur Ehrung der Toten“ stand da. Er suchte und er fand den Namen – Nadja Plebus, die Schwester von Nikolas. Ihm kamen die Tränen.
Es war über ein Jahr her, da hatte sich Nik für die App 42 entschieden. Damit war der Kontakt zwischen ihnen abgebrochen. Einfach so. Nach drei Jahren enger Freundschaft und gemeinsamen Studiums. 

Auch Henry hatte die App aktiviert, sein Vater hatte ihn dazu gedrängt und seit einer Woche wusste er auch warum. Wieder kamen ihm die Tränen, es war ein Wunder, dass er überhaupt noch welche hatte. Er konnte Nikolas sehen, die Bilder und die Videos, die er Tag für Tag ins Netz stellen musste. Ihm ging es anscheinend gut. Er war mit irgendeiner Frau in Südfrankreich und machte Urlaub. Henry sah die Bilder von Strand, Partys, Essen und immer wieder den Zeitstempel ticken. All das konnten er und jeder andere sehen. 

Nur andersherum funktionierte das nicht. Nikolas steckte in der Blase der App fest und die wurde immer kleiner und kleiner. Das wusste Henry. Im Gegensatz zu Nikolas, der hatte noch nicht einmal von seiner Schwester erfahren, so schien es. 

Henry legte seine Finger auf das Display. Im Hintergrund schimmerte das Logo der App42 PRO … 42A 0D 0H 0 MIN… 

Der Timer stand still. 

Die Ewigkeit hielt ihn fest, für 12 Millionen €$ pro Jahr natürlich.