Oder – Freiribbeln
Der braune Faden ist sehr lang geworden. Ich ziehe jeden Tag daran. Das Loch ist innen entstanden. Da wo meine Körpermitte ist. Ich kann es weiter aufribbeln. Ohne dass sie’s merken.
Die Morgensonne fällt auf die dicke Bolzenplatte. Selbstgezimmert. Patina, Kerben, speckige Flecken. Drei Generationen.
Der Haferschleim schmilzt in meinem Mund. Ich sehe meine Schwestern auf ihren harten Stühlen. Kerzengerade, still, wie Eisen. Mit strengen Blusenärmeln. Meine Mutter hackt in der Küche. Mein Vater verbreitet mit Teeschlürfen Angst.
Wir bereiten uns vor. Auf den Feind. Jeden Tag. Wenn wir uns morgens am Zulauf waschen. Mit eiskaltem Wasser, das am Körper schmerzt: Tausend Nadeln für den Angriff. Wenn meine Schwestern an ihren Webstühlen sitzen, um Faden um Faden zu kreuzen: Unsere Rüstungen gegen Konsum, Kapitalismus, Lügner. Wenn meine Mutter schabend den Haferbrei rührt. Selbstgezogener Hafer, Gerste, Korn: Unsere Nahrung gegen Genderwahn, Verschwulung, Entmannung. Und wenn mein Vater Ausschau hält. Über drei Felder. Rahmen uns’rer Siedlung. Wechselfelder: Unsere Mauer gegen diversen Einheitsbrei, gegen Volksverräter, den großen Austausch.
Ich stelle mir vor, wie sie kommen. Über das brache Feld. In ihren Amistiefeln. Ich stelle mir vor, wie einer vor mir steht. Kaugummi kaut. Wie in Filmen der Dreißiger. Und wie ich ihn nicht absteche. Wie ich frage. Wie Coca-Cola schmeckt.
Der Haferschleim fließt meine Kehle runter. Ich ziehe am Faden, spüre die Maschen sich ergeben. Stück für Stück. Kleine Bewegung. Befriedigend. Wie das Klicken der Kette, durch die Öse eines Flaschenzugs. Am Brunnen, wo wir das Wasser Eimerweise heben.
Meine Schwestern kauen wie die Hinterwälder Zuchtochsen. Alte Nutztierrassen. Abseits leben. Von Rinderwahn, Schweinepest, Vogelgrippe, Gammelfleisch. Lieder singen vom Dönermörder. Ich ziehe am Faden. Sein Fransenende streicht gegen meinen Blusenbauch. Ich war nie shoppen wie die Mädchen von draußen. Ich hatte nie ein bunt bedrucktes T-Shirt an. Ich trage Trachtenrock und blaue Bluse. Wanderrock und blaue Bluse. Arbeitsrock und blaue Bluse.
Ich trage den alten braunen Pullover. Den schon Sieglind getragen hat, den schon Freya getragen hat. Imke, Solveigh, Hanna, ich.
Ich ziehe am Faden. Am Faden aus wolligem Schaf. Ich werde am Faden ziehen, bis er weg ist. (Nach mir wird ihn niemand mehr tragen) Den alten ausgelutschten braunen Pullover. Aus zweiter, aus dritter, aus vierter Hand. Second Hand darf man bei uns niemals sagen. Handtelefone empfangen nicht. Gut so, sagt mein Vater. Wegen der Spione. Schlitzaugen, Amis, LKAschweine.
Mein Vater schlürft. Meine Mutter hackt. Ich stelle mir vor, wie ich an ihnen ziehe. An ihrer Körpermitte. Wo der Magen ist, wo die Leber ist, wo die Lunge ist. Da, wo wir zustechen, wenn die Amis kommen. Ich stelle mir vor, wie ich Organe rausziehe, wie den Faden aus dem Pullover. Sie aufhängen kann. Meinen Vater. Meine Mutter. Ihr Fleisch jetzt ein Faden. Wie bei den Schafen, an deren Wolle wir ziehen. Um sie zu Fäden zu machen, zu Stoffen, zu Kleidung. Mädchen ziehen die Fäden in der Siedlung. Halten sie in der Hand. Obwohl sie nichts bestimmen, ist die Siedlung voll, von Handspindel-Mädchen.
Ich sehe sie sich drehen. Immer im Kreis. Immer um sich selbst. Einsam aufgehangen. Auswegslos. Ein Brummkreisel zwischen den Schenkeln der Mädchen. Ich sehe ihren Holzkörper umsäumt von Faden.
Braun gefärbt mit Wallnussschalen, Frauenmantel. Für den nächsten Pullover. Eine immer dicker werdende Säule, birnenförmig wie die Fledermaus im Schlaf. Einkokoniert. Gefangen wie im Netz. Spinne. Acht Beine. Acht Kinder. Keimzelle. Ungeheuer. Drehende Spindel. Wie der Reigen bei Wendefeiern. Meine Schwestern, verzückt, die Augen gesenkt. Wie der Rock sich öffnet mit jeder Pirouette. Wie Glocken auf dem Festplatz. Brummkreisel im Schein der Fackeln. Des Feuers.
Der Haferschleim liegt in meinem Magen. Alles ist Blei. Der Gedanke an meinen fertig gepackten Affen.
Was werden sie sagen, wenn ich weg bin? Wahrscheinlich nichts. In keinem Fall weinen. Mich jagen?
Vielleicht.
Ich höre wieder die Zelte im Lager rascheln. Wie Plastikmüll. Reißverschlüsse auf und ab. Messer im Nebel. Psst, Kamerad. Aufstehen, Taschenlampen, raus. Ich fühle das Gras, nasskalt vor Nacht. Rechts links Ohrfeigen dünner Astkrallen. Flieg Kamerad, flieh Sturmvogel. Die Bullen kommen. Renn, was Du kannst. Lichtkegel im schwarzen, schweigenden Wald. Ich sehe die Lichtung. Im Mondlicht weiß-blau. Das Gras wie durch Filter verzaubert. Ich sehe den Schweinekörper. Aufgehangen. Unterdrückte Quietscher, niemand kann sie verhindern. Das Lachen der oberen Kader. Gelungener Streich! Das Hecheln der Hunde. Das Fiepen, Winseln, Ersticken an den Leinen.
Ich sehe meine Eltern an ihrer Körpermitte aufgehangen. Wie die Spindeln. Sich lustig drehend im Wind. Auf dem Festplatz, wo kein Feuer mehr brennt. Wo keiner mehr singt, Polka tanzt, klatscht.
Der Haferschleim ist alle. Das Hacken vorbei. Das Schlürfen verstummt. Meine Schwestern sitzen draußen. Ihre Silhouetten wie Gräber. Ich warte. Ich ziehe.
Bei Auflösung des Pullovers, gehe ich fort.
Kommentar zur eingereichten Geschichte:
Völkische Familien, die teilweise seit über einem Jahrhundert, also schon vor den Nazis, ihre fragwürdigen Traditionen weitergeben, sind seit Langem dabei, in ländlichen Gebieten Deutschlands, systematisch Land und Gehöfte auszukaufen und dort ihre Völkischen Siedlungen zu errichten. Sie unterwandern geschickt und oft lange unbemerkt regionale Institutionen und Politik. Kinder, die in den abgeschlossenen Parallelwelten dieser Siedlungen und Ideologien aufwachsen, haben kaum eine Chance auf einen Ausstieg aus denselben. Noch eine Chance auf wahre Hinterfragung des ihnen indoktrinierten völkisch-nationalistischen und zutiefst rechten Gedankenguts.
Die Freiheit ihres Gewissens wahrzunehmen oder gar auszuüben, dazu haben sie so gut wie keine Möglichkeit.