Die Revolution findet in Schlafzimmern statt. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass Frauen und Männer sich tatsächlich ebenbürtig sind. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass Liebe und Zärtlichkeit zu- und nicht abnehmen, wenn man sie lebt. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass es keine Wahrheit gibt, und dass Meinungsverschiedenheiten auszuhalten sind. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass eine Frau selbst über ihren Körper bestimmen darf und über ihr Leben. Die Revolution beginnt, wenn Frauen zu Hause und auf der Straße keine Angst mehr vor Männer haben müssen. Die Revolution beginnt, wenn die Sehnsucht nach Freiheit stärker ist als die Angst um das Leben.
(1)
Ich liege auf dem Bett und starre auf mein Handydisplay: Sie ziehen an ihren Haaren, sie treten ihr den Bauch, so viele Männer, tut doch etwas. Ich lege das Handy weg, nehme es nach zwei Sekunden wieder in die Hand. Wie kann das passieren? Sie zwingen sie in das Polizeiauto, sie drängen sie hinein, treten diese junge Frau – ihr steht da herum, so tut doch etwas. Warum tut keiner etwas? Was würde ich tun? Was mache ich hier? Ich will wegschauen, muss hinschauen; ist es nicht das Mindeste, dass wir hinschauen? Liken, teilen. Liken, teilen. Liken, teilen – das bin ich ihnen schuldig, den Menschen, die dort auf die Straße gehen und ihr Leben für die Freiheit lassen. Ich weiß, dass ich auch auf diesen Straßen stehen müsste. Würde ich, wenn ich dort leben würde, an ihrer Seite stehen? Wäre ich mutig genug? Aus der Ferne ist es leicht, zu behaupten, ich würde mitmachen. Aber die Demonstration vor dem Konsulat morgen – da gehe ich hin. Sie beginnt um 16 Uhr.
Ich drehe mich auf die Seite, setze mich auf die Bettkante, stehe auf und laufe zum Fenster, öffne es einen Spalt und drücke mein Gesicht gegen die kalte Scheibe. Blicke in die Dunkelheit. Mitternacht. Stille. Was mache ich hier? Morgen muss ich wieder arbeiten. Wofür das alles? Ich spüre die Kälte auf meiner Stirn nachwirken, laufe zum Bett zurück, drücke das Nachtlicht aus, lege mich auf den Rücken und umklammere das Handy fest in meiner rechten Hand. Starre an die Decke. Ich höre die Schreie des 13-jährigen Mädchens, das auf dem Boden kauert und ihren Vater sehen will, der vor ihren Augen abgeführt wurde. Sollte ich also nicht wenigstens hinsehen, die Augen nicht verschließen? Ich, in meinem stillen Schlafzimmer, kann nicht aufhören, ihre Schreie zu hören.
(2)
Es ist 15:30 Uhr. Ich drehe mich auf meinem Drehstuhl hin- und her und warte seit zwanzig Minuten auf einen unwichtigen, aber notwendigen Anruf. Sitze heute allein im Büro, mache nebenher BBC Persian an: Eine Eilmeldung. Sie haben den 23-jährigen Rapper Mohsen Shekari in den frühen Morgenstunden hingerichtet, ermordet, weil er an einer Demonstration teilgenommen hat. Sie behaupten, es sei wegen „Kriegsführung gegen Gott“, dabei führen sie Krieg gegen ihr eigenes Volk. Mein Gott, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun. Ich höre auf, mich zu drehen.
Was mache ich hier? Das Telefon klingelt. Es ist zu spät. Ich muss jetzt los, muss hier raus, zur Demo. Ich packe meine Tasche, schalte den Anrufbeantworter ein. Das Telefon klingelt weiter, ich schreibe einen Zettel und klebe ihn an meine Bürotür: Musste leider los, habe Migräne.
(3)
Wirre Gedanken, schweres Herz. Laufe auf den Platz, und zwischen der Menschenmenge, vom weiten, da lächelst du mir zu. Wer bist du. Mit beiden Händen hältst du ein Plakat hoch: „Women, Life, Freedom“. Deine vertrauten schwarzteebraunen Augen, diese langen Wimpern.
Aus einer Heimat, die nicht meine ist. Die meine sein sollte. Was ist das. Ich kann das Gefühl nicht zuordnen. Ich laufe in deine Richtung. Verstehst du sie. Sie rufen laute Protest-Schlachtrufe. „In Hame Sal Yenayat, Marg bar in Velayat. In Hame Sal Yenayat, Marg bar in
Velayat¹“.
Was sagen sie?
„Verstehst du das?“, ich stelle mich neben dich. Du schüttelst den Kopf. Wir sollten das verstehen, ich sollte das verstehen.
„In Akharin Payame, hadefe mun kol-e Nezam-e. In Akharin Payame, hadefe mun kol-e Nezame²“.
Ich schaue mich um. Ich kenne diese Menschen nicht, ihre Gesichter fühlen sich heimisch an, vertraut. Als hätte ich sie einmal irgendwo gesehen. Die ältere Dame vorne, sie könnte meine Großmutter sein. Die junge Frau mit dem Mikrofon in der Hand, sie sieht aus wie meine Schwester. Und dann bist da noch du.
„Du kannst auch nicht so gut Farsi?“, frage ich dich. Du schüttelst den Kopf. „Meine Mutter ist Deutsche. Mein Vater konnte sich nicht durchsetzen.“ Du bückst dich zu mir und flüsterst in mein Ohr: „Aber komisch ist das schon, ich würde schon gerne verstehen, was sie rufen. Ich will ja auch mitrufen.“
Du und ich, wir gegen sie, unsere fremde Muttersprache, Heimatlosigkeit, Einsamkeit. Zweisamkeit, heute sind wir nicht allein.
„Marg bar setamgar. Che shah bashe, cher rhabar. Marg bar setamgar. Che shah bashe, cher rhabar“.
„Ich weiß, was das heißt“, ich grinse dich an.
„Sowas wie: Tod der Unterdrückung. Egal, ob durch einen König oder einen Führer.“
„Was sagen sie, setamgar? Was heißt das?“
„Unterdrücker.“
„Hey. Ich heiße übrigens Massoud. Hab mich noch gar nicht vorgestellt.“ Deine Augen lächeln mich an. Ich vergesse, zu atmen und beeile mich, um „Ich bin Daria“, zu sagen.
„Cool“, sagst du. „Darf ich dich umarmen?“
„Klar“, sage ich, wir halten uns, eine Sekunde zu lange und rufen gemeinsam mit der Masse:
„Marg bar setamgar. Che shaah bashe, cher rhabar.“
„Du hast gar kein Schild“
„Komme gerade von der Arbeit. Dein Schild ist jetzt auch nicht sonderlich originell.“
„Schau die Rückseite“, du drehst dein Schild um. „Real men are feminists“.
„Immer noch nicht originell“, sage ich.
„Lass uns doch das nächste Mal zusammen welche basteln, Azizam³.“ Du hältst mir dein Handy hin: „Hier, wenn du magst, gib mir doch deine Nummer.“
(4)
Wir bei dir, Perserteppich auf dem Boden, in deiner Küchenzeile steht ein verschnörkelter Behälter mit Safran. Du kochst gerne, Worte über Worte, Stunden über Stunden, wir auf deinem Sofa, du mir gegenüber. Gespräche über das Leben zwischen den Welten, Heimatlosigkeit, Einsamkeit, du kennst viele meiner Leben. Du fragst mich: „Kennst du diesen Gedanken, dass du dir vorstellst, wie es wäre, einfach hinzufliegen, zu den anderen, mit den anderen auf die Straße.“ Dar râhe to key arzeši dârad in jâne mâ⁴.
Du fragst mich: „Stellst du dir auch manchmal vor, wie es wäre, wenn sie dich gefangen nehmen; wie lange du wohl die Folter dann aushältst, die Isolationshaft?“
Du sagst: „Das Leben kommt mir hier bedeutungslos vor, wenn mir die Bilder und Videos der iranischen Jugend auf dem Display erscheinen.“
„In den letzten Monaten habe ich mich oft gefragt, wer ich bin“, flüstere ich.
„Bin ich Iranerin, bin ich Deutsche, bin ich Deutsch-Iranerin.“ Du greifst nach meiner Hand.
„Manchmal kann ich mein Glück über die vermeintlich selbstverständlichen Dinge nicht fassen, wie zu einer Demo gehen. Zu wissen, das ist Freiheit, erdet mich in Demut. Und gleichzeitig ist da diese Wut und die Frage: Wie mein Leben, unser Leben verlaufen, wenn wir nicht in einem freien Deutschland, sondern in einem freien Iran aufgewachsen wären?“
„Wir könnten dann zumindest die Nachrichten voll verstehen“, du grinst mich an.
„Nichts deprimiert mich mehr als der Versuch, die Nachrichten auf Farsi zu schauen und davon gerade mal so die Hälfte zu verstehen. Wie ist das möglich? In den Augen der Deutschen bin ich doch der Iraner. Der Iraner, der seine eigene Muttersprache nicht versteht.“
Deine schwarzteebraunen Augen werden glasig. Grenzenlosigkeit, will sie mit dir fühlen, in
dich eintauchen, So viele Worte, diese Tiefe, fühlst du es.
„Massoud, auf der Demo wurde mir klar: Meine Muttersprache ist nicht persisch, meine Muttersprache ist auch nicht deutsch. Meine Muttersprache ist der Widerstand. Er wurde mir mit der Muttermilch eingeflößt und durch meine Venen fließt eine Revolution. Wer, wenn nicht ich, wer, wenn nicht wir, sollten die Stimmen der Unterdrückten unerschrocken verstärken und verbreiten, die seit Jahren nach Freiheit rufen.“
„Darf ich dich umarmen?“, flüsterst du. Auf dem Wohnzimmertisch liegen zwei große leere Plakate.
„Wir wollten die Schilder malen“, flüstere ich. Du grinst und ziehst mich zu dich. Wer bist du, fremder Vertrauter. „Azizam, Azizam. Baraye Daneshamusan, Baraye Ayande⁵“.
Wo bin ich. Was ist Raum, was ist Zeit. Dein Atem gegen meine Halsschlagader, atme, atme, wie du durch meine Haare greifst, halte mich. „Wollen wir lieber die Plakate…“ – Dann sagst du, du stehst eigentlich auf weiße, blonde Frauen und schiebst deine Hand unter meine Hose. „Nein, hör doch auf. Lass mich los.“ –
Wieso. Hörst du nicht auf. Wieso. Hörst. Du. Nicht. Auf. Du hörst nicht auf. Ich starre die leeren Plakate auf dem Wohnzimmertisch an. – Wie lange liege ich. – Tränen, und es hallt in meinem Ohr, Azizam. Azizam.
(5)
Wirre Gedanken, schweres Herz, das Telefon klingelt, und wenn schon, ich mache den Anrufbeantworter nicht an, laufe aus dem Büro, Kollegen schauen mir hinterher, lasse die Tür offen.
Ich stehe wieder auf dem Platz vor dem Konsulat, zwischen den vertraut-fremden Gesichtern, mische mich zwischen die Menschenmenge. Sie haben heute morgen Seyed Mohammad Hosseini und Mohammad Mehdi Karami hingerichtet. „Ich werde für die Freiheit der Frauen meines Landes mein Leben geben“, hat Hosseini aus dem Gefängnis noch gesagt. Ich blicke um mich, überall ist die Fassungslosigkeit, Ohnmacht, die Wut in ihren Gesichtern geschrieben. Es ist ein Monat seit der ersten Hinrichtung vergangen. Wann hört das auf. Um mich herum sind auf vielen Schildern und Plakaten die Gesichter der zwei jungen Männer abgebildet, sie umkreisen mich, wachen über mich am Himmel. Ich blicke hoch. Ich spüre, dass sie hier sind, hier unter uns, ich weiß, dass sie sehen, dass wir an sie denken. Ich stelle mir die letzten Minuten vor, an denen sie noch geatmet haben. Wie sie sich fühlen mussten. Sie waren allein. Warum mussten sie gehen. „Es tut mir leid“, flüstere ich und schaue hoch zum Himmel. Die Masse ruft: „In Hame Sal Yenayat, Marg bar in Velayat⁶.“ Ich kämpfe mich weiter durch die Menge, nach vorne. Ich wusste, du wirst hier sein. Du stehst mit dem Rücken zu mir und hältst dein Plakat mit beiden Händen festumklammert, ich lese von der Rückseite deines Plakats: „Real men are feminists.“
(6)
Die Revolution findet in Schlafzimmern statt. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass Frauen und Männer sich tatsächlich ebenbürtig sind. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass Liebe und Zärtlichkeit zu- und nicht abnehmen, wenn man sie lebt. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass es keine Wahrheit gibt, und dass Meinungsverschiedenheiten auszuhalten sind. Sie beginnt in den Köpfen und mit der Einstellung, dass eine Frau selbst über ihren Körper bestimmen darf und über ihr Leben. Die Revolution beginnt, wenn Frauen zu Hause und auf der Straße keine Angst mehr vor Männer haben müssen. Die Revolution beginnt, wenn die Sehnsucht nach Freiheit stärker ist als die Angst um das Leben.
————————————————-
1 Aus dem Persischen übersetzt: „All die Jahre dieses Elends, Tod dem Unrechtsregime“
2 Aus dem Persischen übersetzt: „Das ist unsere letzte Nachricht: Unser Ziel ist der Sturz des gesamten
Regimes“
3 Aus dem Persischen übersetzt: Schatz, Liebling
4 Aus dem Persischen aus der inoffiziellen iranischen Nationalhymne übersetzt: „Im Vergleich zu dir
Mutterland, welchen Wert hat unser Leben“
5 Aus der ausgezeichneten Grammy-Iran-Protesthymne 2023 „Baraye“ von Shervin Hajipour. Aus dem
Persischen übersetzt: „Für die Studierenden, für die Zukunft“
6 Aus dem Persischen übersetzt: „All die Jahre dieses Elends, Tod dem Unrechtsregime“