„Es gibt drei Kräfte auf dieser Erde, die das Gewissen dieser
schwächlichen Rebellen zu ihrem eigenen Glück für immer besiegen und fesseln können: Das Wunder, das Geheimnis und die Autorität.” So schrieb Fjodor Dostojewski in „Die Brüder Karamasow”. Alles kommt in einem Begriff zusammen: dem Wert. Ein Wert hat nach der Definition des Anthropologen Clyde Kluckhohn das desire, das Begehren, im Zentrum. An diesem Begehren mißt sich ein Gewissen. Ist es richtig oder ist es falsch? In einem Wert steckt Wahrheit. In ihm versammelt sich alles, was dem Zweck des Begehrens zuträglich ist. Wahrheit ist etwas, das sich dem indogermanischen Wörtchen wēr nähert. Wēr hat die Begriffe Vertrauen, Treue, Zustimmung als Inhalt. Faktizität ist dagegen Kern der modernen rationalen Definition. Ihr fehlt etwas Substantielles: Die Antwort darauf, wie man aus Fakten ein Begehren erzeugen kann. Goethes Faust lebt das Drama: Trotz allem Wissens fehlt ihm das Erstrebenswerte und mit ihm die Orientierung auf eine Wahrheit hin. Der Zukunft kann man nur mit Sorge entgegen schauen oder Vertrauen schenken. Das ist ein Gefühl. Und das Gewissen? Orientiert es sich nicht an Wert und Wahrheit, um Form zu bekommen? Ein wert-freies Gewissen ist substanzlos. Das freie Gewissen versteht sich dagegen als die Möglichkeit zu einer eigenen Entscheidung deren Konsequenzen – post ante – zu Gewissen führen.
Im Jahre 1989 war ich in Sorge. Ich wollte nicht, dass die Mauer fällt. Ich fürchtete, dass der imperialistische Feind auf unsere Seite kommt. Mein vierzehn Jahre altes Gewissen fühlte sich rein an — zumindest wenn man davon absah, dass ich mit meinem Freund Patrick gelegentlich Zigaretten aus der „Ernte 23” Schachtel seines Vaters geklaut hatte. Der Sozialismus war eine Lebensordnung, die ein Kind konditionierte und zugleich behütete. Glücklicherweise endete er als ich zum Jugendlichen initiiert wurde. Sonst hätte ich das Korsett gespürt, das mir wie unter einem römischen Vater, mein ganzes Leben lang keine Emanzipation gewährt hätte.
Ich erinnere mich an die Poster an der Wand in unserer Schule: Tarnkappen-Bomber aus denen schwarze Zigarren fielen. Daneben magere, hungernde Kinder in Afrika. Der IMPERIALISMUS! war der Feind und damit jeder Mensch, der für ihn stand. Es gab gute und böse Menschen in dieser Welt, weswegen es im Kindesalter schon mit den Lobliedern auf unsere Soldaten begann („Gute Freunde in der Volksarmee…”) und dem Stolz auf Zugehörigkeit („Ich trage mein Halstuch, das blaue, seht her…”). Ich besaß ein fremdes Gewissen. Es war rosa als ich Kind war und begann sich rot zu färben. Die Chancen wuchsen, dass ich irgendwann meinen Finger am Abzug gegen einen dieser Imperialisten gekrümmt hätte. Zumindest dieser kollektive Teil meines Gewissens wäre rein gewesen.
Doch selbst der Arbeiter- und Bauernstaat konnte keinem seiner Bürger die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion nehmen. Die Macht des Apparats musste immer absurdere Versuche unternehmen, um ihre Versprechen zur Wirklichkeit hin zu verbiegen. Irgendwann versuchte sie sich am Verbiegen der Wirklichkeit selbst und scheiterte. Imperialisten, Kapitalisten und Kriegstreiber hin oder her; die Lebensumstände im eigenen Land, die Verpetzer der Stasi, die leeren Konsums, die Beschäftigungsmaßnahmen in den Betrieben. Es war nicht zu maskieren oder schönzureden. Nur Druck, Drohung und Gefängnis blieben, welche das Absurde durchscheinen ließen. Übrig blieb nichts mehr außer diejenigen, auf deren Rücken er vierzig Jahre lang getragen wurde. Die real-sozialistische Ideologie war nicht der erste und der letzte Ethos, der an sich selbst erstickte. Aber er verschwand nicht mit dem Mauerfall aus den Köpfen.
Während die Werteordnung des sozialistischen Arbeiter- und
Bauernstaats zerbröckelte, begann ich in der Folge an meiner
Gewissheit über meine (die rote) Weltanschauung zu zweifeln. Das, was gut und böse oder richtig und falsch bestimmte, verlor Substanz. Die Wahrheit verlor Substanz. Wie kann ich handeln, ohne zu wissen, wie ich richtig handle? Mein Gewissen reduzierte sich auf die Kategorien von gut und böse eines kleinbürgerlichen Anstandes: Man schlägt nicht, man klaut nicht, man übervorteilt nicht, etc. Es hatte sich auf das Minimum meiner kindlichen Konditionierung und Zweckmäßigkeit zurückgezogen.
Jahrzehnte später überlege ich noch immer, was Freiheit und
Gewissen bedeuten. Noch schwieriger wird es, wenn man beide zusammenführen will: Freiheit, das große Negativum mit dem Gewissen, dass eine positive Ethik fordert. Vielleicht ist kollektives Gewissen ein Indikator von Unfreiheit; einem Gefangensein in fremd vorgegebenen Werten und Urteilen über die Welt. Schon von der Kindheit an. Vielleicht ist ein freies Gewissen das Gewissen eines von fremden Werten freien, dafür ewig zweifelnden Menschen, welches in seiner Freiheit aufhört zu existieren. Die Werte des minimalen Anstands sind ein Thema für sich. Darüber liegt, was mir mit der Wende abhanden gekommen ist: Die normalisierten Werte der Gesellschaft. Sie wurden zu „gemeinsamen Werten”, die eine offene, demokratische Gesellschaft zusammenhalten sollen, welche keine gemeinsamen Werte kennt. Ein Paradoxon, das uns heute zu schaffen macht.
Schauen wir mit Dostojewskis Begriffen, die das Gewissen binden — Wunder, Geheimnis und Autorität —, auf die Moderne.
Das Wunder
Einer Ideologie abzuschwören ist nichts anderes, als einem
Glauben abzusagen. Es ist ein aufklärerischer Schritt. Ein Wunder war es für mich, nach der Wende in eine Gesellschaft hineinzugeraten in welcher keine zentrale Instanz die Welt in Gut und Böse unterteilte. Ich und alle „Ossis” mit mir wurden emanzipiert vom diktierten Wir und in eine neue Freiheit des Ich entlassen. So wie über 12.000 Arbeitende des VEB Robotron Sömmerda. Darunter meine Eltern. Die Veränderungen vollzogen sich in rasender Geschwindigkeit. Die sozialistische Hypernormalisierung wurde aufgelöst und seine positivistischen Werte und Wahrheiten mit ihm. Vor allem diejenigen, die ihre Arbeitsplätze verloren, spürten das. Die sozialistische Normalisierung hatte sich bis tief in die tatsächlichen Lebensumstände der Einzelnen eingegraben. Ob jemand eine Wohnung besaß und wo er arbeitete, waren unmittelbare Resultate des vergangenen Gesellschaftssystems. Zurück blieb eine existentielle Leere, die Zweifel hervorrief, nämlich wann eigene Urteile und Handlungen richtig oder falsch waren.
Die neue Freiheit war, ein freies – ein eigenes – Gewissen zu haben; Potenz im existentiellen Niemandsland. Ihr Preis war die Unmöglichkeit eines Gewissens ex ante — bevor allem Denken, Urteilen und Handeln. Ein freies Gewissen zeigt sich beim Urteilen über die Welt, beim Handeln und bei der Reflexion der Handlung im Nachhinein. Jedesmal gibt es Zweifel: Wer über die Welt urteilt, kann nicht wissen, ob sein Urteil wahr (also richtig oder falsch) sein wird; wer handeln will, kann dessen Folgen nur einschätzen und wer die Konsequenzen seines Handelns betrachtet, schaut in die unabänderbare Vergangenheit. Die neue Freiheit war Fluch und Segen: Die Aufgabe, persönliche Werte (Wahrheiten) zu finden, aus denen sich freie Gewissen bilden ist eine, die nie erledigt ist. Sie lädt der Person fortwährenden Zweifel auf. Aber nur so bleibt ein Gewissen frei.
Das war, was sapere aude! bedeutete: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ein Wunder ist es, wie die ältere Generation der Ossis den aufgebracht hat. Immanuel Kants und Friedrich Nietzsches Philosophien gewannen plötzlich neue Bedeutungen. Sie wurden zu Negativität, in denen kein normalisiertes richtig und falsch existierte. So, wie die deutsche Verfassung von 1949, die ein Gesetzeswerk ist, das keine Rechte zuschreibt, sondern Abwehrrechte gegen jedermann und den Staat festschreibt. Das, was ich für richtig oder falsch halte, darf nicht von anderen beeinflußt, verboten oder bestraft werden. Die Grundrechte schützen den Kern meiner Freiheiten vor Eingriffen. Und sie geben anderen ein Recht zur Abwehr von Eingriffen durch mich. Sie helfen mir nicht dabei, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.
Glücklicherweise gab es die protestantische Ethik, eine „Moral- Light”, an der sich die Ossis orientieren konnten: Alles war erreichbar, wenn man tüchtig sei. Vom Trabi zum VW Golf, vom Tellerwäscher zum Millionär. Das wie war jedem selbst überlassen. Und wenn man von Ethik reden wollte, dann war es die des anthroposophischen Weltbildes vom gnädigen Unternehmer, dessen Vermögen das Soziale als trickle-down am Laufen hielt. Live and let live.
Aber wie ist Demokratie möglich, wenn es keine gemeinsamen (normalisierten) demokratischen Werte gibt? Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich um die Demokratie nicht kümmere, einmal alle vier Jahre oder gar nicht wähle? Wenn ich antidemokratisch bin? Ernst Wolfgang von Böckenförde hat das Problem der Demokratie in den 1960ern schon erkannt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Heute wird es uns drastisch vor Augen geführt durch Umverteilung, demokratiefeindliche Bewegungen und den Klimawandel. Allerdings hat die Werte-freie Demokratie einige Jahre lang weitgehend funktioniert. Bloß wie?
Die Antwort findet sich im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896. Es enthält den Grundsatz der Vertragsfreiheit. Er ist das moderne Wunder, welches erlaubt eine Gesellschaft ohne zentrale Moral, Ethik und Gewissen zusammenzuhalten. Er wird nur durch zwei kurze Gesetzestexte eingeschränkt: Sittenwidrigkeit und Wucher. Beide sind äußerst dehnbar und ändern ihre Bedeutungen mit der Zeit. Ganz im Sinne einer freien Entfaltung, die ihre Werte immer neu aushandelt.
Vertragsfreiheit besagt, dass freie, gegenseitig abgegebene Willenserklärungen zu einem Vertrag führen, in dem sich jeder Teil zur Erbringung einer Leistung verpflichtet. Jeder Vertragspartner erhält einen Anspruch auf Gegenleistung. Jeder Vertragspartner schuldet dem anderen eine Leistung. Diese Schuld macht einen Vertragspartner für den anderen berechenbar: Ich frage den Bäcker nach einem Brot und gebe das Angebot ab, ihm Geld dafür zu zahlen. Sobald der Bäcker Anstalten macht, das Brot aufzugreifen, hat er mein Angebot angenommen und schuldet mir das Brot. Ich schulde ihm das Geld. Wir beide erwarten eine Leistung und dabei sind wir uns sicher, dass mein Geld in seine Kasse klimpern und sein Brot in meiner Tüte verschwinden wird. Diese Sekunden haben uns untereinander zu einem Verhalten verbunden, das für einen winzigen Moment Stabilität in unserem menschlichen Verhältnis schafft. Bis die Verfügung (Übergabe von Geld vs. Brot) zum Abschluss des Vertrags führt.
Diese individuellen Schuldverträge binden mich und meine
Mitmenschen. Sie sind die zu Milliarden verbunden Fäden in der ökonomischen Gesellschaft, die sich damit politisch stabilisiert. Es sind heute die maßgeblichen Dispositive, von denen Michel Foucault schrieb; die zu komplexen Netzwerken verbunden Bindungen und Machtbeziehungen. Schuldverträge sind die tatsächlichen Gesellschaftsverträge geworden. Bis zu den Jahren 2002 (dem Dotcom-Crash) und 2008 (dem Bankencrash) schien das eine wunderbare Angelegenheit, die nur eine persönliche Ethik brauchte: Das Anerkenntnis, dass man Schulden zu begleichen habe.
Diese Schuldgeflechte sind dafür verantwortlich, dass Politik und Wirtschaft unzertrennlich scheinen. Politische Menschen hörten ab circa 1980 auf zu existieren. Was einst als Hippie-Culture galt wurde zu einer neoliberalen Idee, in der jede Person ihre eigene Selbstverwirklichung anstrebt. Eine Gesellschaft ohne Staat und ohne staatlich diktiertes Gewissen. Inzwischen ist offensichtlich, dass Banken und Versicherungen zu „Institutionen der Freiheit” geworden sind, weil sie als große Stabilisatoren fungieren. Ihre Schuldverträge sind auf lange Zeit angelegt und binden Menschen, die danach ihre Schulden abarbeiten und Lotto spielen. Friedrich Nietzsche hat so etwas vorausgesehen: „Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit…” Ein durch Schuld gebundenes Gewissen ist nicht frei, aber es existiert: Wer Schulden hat, hat eine ethische Pflicht, sie zu begleichen. Das Gewissen eines Schuldners muss sich allerdings nicht moralisch „schlecht” fühlen. Dafür gibt es Zinsen und Vertragsstrafen.
Im Dunkeln bleibt, warum man einen Vertrag eingehen sollte. Das meinte schon David Hume, als er von der „wertlosen Fiktion” des allgemeinen Gesellschaftsvertrags schrieb, den Thomas Hobbes als Leviathan und Jean Jaques Rousseau als volonté generale konstruierten. Die privaten Verträge sind heute das Wunder, das freie Gesellschaften stabilisiert und das Gewissen bindet. Ihr Abschluss ist autonom, weswegen heute die Privatautonomie mit freiheitlicher Demokratie verwechselt wird. Wo sie sich entfaltet, wird so getan, als hätte sich Aufklärung ihren Weg gebahnt. Aus diesem Grund gebiert sich Ökonomie als Wissenschaft und trennt säuberlich das Rationale vom Emotionalen. Auf der einen Seite stellen sich Schauspieler in weißen Kitteln hin und empfehlen Zahnpasta mit einer implizierten Autorität der Wissenschaft. Auf der anderen Seite häufen sich Studien und Gegenstudien zu Belangen wie der Schädlichkeit von Nikotin oder der Frage nach dem menschengemachten Klimawandel. Der informierte Geist glaubt sich als Autorität, welche autonom über den Abschluss von Verträgen verfügt. Aus ihm folgt die Verpflichtung zur Leistung, die Schuld, die man sich autonom auflädt. Diese Verantwortung wird zur ethischen Bewertung des Handelns: Alles, was zur Vertragserfüllung dient ist grundsätzlich richtig. Der Fokus bleibt dabei auf der Freiheit des Vertragsschlusses selbst, autorisiert durch die Person und ihre freie Entscheidung. Im Sinne Dostojewskis ist das Gewissen in jedem Vertragsschluss gebunden und mißt sich an der Schuld zur Leistung, die man sich auflädt.
Das Geheimnis
Für das Gewissen eines Ossis war die Privatautonomie und die protestantische Ethik großartig, denn richtig war alles, was zum Begleichen von Schuld führte. Ein Gewissen entsteht durch Bindung innerhalb eines Vertrags. Es ist ein Gewissen, das sich allein auf die Verantwortung aus einer autonomen Willenserklärung ergab und zu einer höchstpersönlichen Schuld wurde. Bis von Kinder- und Sklavenarbeit gesprochen wurde. Bis bei Foxconn Arbeiter in den Tod sprangen und in Verpackungen chinesischer Produkte Zettel mit Hilferufen von Zwangsarbeitern gefunden wurden. Das waren Probleme, die außerhalb der Verträge lagen, in der Frage, ob man überhaupt das billige T-Shirt oder die Sneaker hätte kaufen sollen. Für so belastete Gewissen gibt es inzwischen eine Menge von Gütesiegeln (Versprechen), an denen es sich zurückziehen kann: MSC, FSC, Bio- Siegel, EU-Ecolabel, Rain Forest Alliance Certified, Fairtrade, UTZ, SA8000, Leaping Bunny, etc. etc. Die Rettung der Welt liegt in der Hand der einzelnen Person und erfordert wenig Gewissensanstrengung vor dem Vertragsschluss.
Das Geheimnis, von dem Dostojewski behauptet, dass es das
Gewissen fessele ist der Glaube an das Konzept des freien Willens. Hier materialisiert sich das, was Kant unter sapere aude! zusammenfasste. Eine Person, die Aufklärung als Rationalismus versteht fokussiert auf diesen immanenten freien Willen, der sie autonom macht und in die Lage versetzt, Verantwortung zu übernehmen. Freier Wille ist Voraussetzung zur Möglichkeit von Privatautonomie. Gütesiegel und Zertifizierungen sind eines von vielen Mitteln, den Fokus des Einzelnen von der Frage abzulenken, warum sie ein Vertrag schließt. Ein Gewissen außerhalb von Verträgen wäre gefährlich für die Stabilität dieses Systems, weil es den Abschluss von Verträgen hindern könnte. Das Bestehen von Verträgen ist wichtiger als ihre Inhalte — ihre Ethik — geworden. Das Geheimnis liegt im fortwährenden Antrieb, der sich als rational-modern gibt und das Verweilen im Moment unmöglich macht. Eine Vernunft, die immer von hier und jetzt weg muss, um zur Freiheit hin produktiv zu sein. Sie ist ein Getriebensein in Bindung.
Ökonomen reden seit Auguste Comté oder Eduard Spranger vom „Nutzenoptimierer”: „Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.“ Sie reden von einem egozentrischen Gewissen, das keine soziale oder ökologische Verantwortung kennt. Der Psychologe und Wirtschaftswissenschaftler Daniel Kahnemann hat am Ende des letzten Jahrhunderts diesen nutzenmaximierenden homo oeconomicus widerlegt. Im „Anker-Effekt” macht er beispielsweise deutlich, dass Menschen dazu tendieren, sich bei Entscheidungen an zufälligen oder vorgegebenen Werten („Ankern”) zu orientieren, auch wenn diese Werte für den (rational erwarteten) Nutzen irrelevant sind. Seine Erkenntnisse sorgen für allgemeine Verwirrung, denn sie hat Risse in die pseudo-aufklärerische Begründung der Ökonomie als „vernünftige Ordnung” gebracht. Hier zeigt sich Aufklärung als Prozess: Menschen Freiheit durch Zweifel zuzugestehen. An einem solchen Punkt steht das frühe 21. Jahrhundert: An dem alle Register einer neoliberalistisch dogmatisierten Gesellschaft gezogen werden. Dogma ist der oben genannte Nutzenmaximierer, dem umfassende Individualität und ein freies Gewissen nicht gut tut. Es scheint wichtiger, die Autonomie der Person zu betonen als Inhalt und Ursprung des „Nutzens”.
Das Konzept des freien Willen macht uns gottesgleich. Oder sagen wir, unser Glaube daran. Denn nach Kant ist eines der (wenigen) geistigen Vermögen des Menschen die Herstellung von Kausalität. Alle Wirkung hat eine Ursache. Allerdings hat der freie Wille gerade keine Ursache, sondern er ist Ursache selbst. Wir lassen uns allenfalls dazu hinreißen, der Emotion, die durch — kausale — Sinneseindrücke geweckt wird, einen gewissen Einfluß zu verleihen. Dennoch trennen wir die Emotionen (die Affekte) sorgfältig vom Rationalen ab; und das Ich, der Ursprung des freien Willens und des Gewissens, wird damit zum Erzeuger von Urteil und Handlung in der Welt.
Dieses autonome Ich ist ein Konstrukt unseres Verstandes, der sich selbst schmeichelt. Denn wenn die Person die originäre Ursache von Veränderungen in der Welt wird, dann ist sie Gott. Dann ist das, was sie entscheidet ohne eine Ursache davor entstanden. Aus dem Nichts, so wie Gott die Welt schuf. Diese Egozentrik ist notwendig für das Gefühl, seines eigenen Glückes Schmied, also fähig zu Selbstwirksamkeit zu sein. Es führt dazu, die Welt nur noch als Umwelt zu begreifen, als etwas, das außerhalb von uns existiert und das es zu kontrollieren gilt. Und obwohl die Neurowissenschaft dieses Konzept schon eine Weile lang kritisiert, fesselt uns die Moderne mit diesen Glauben an das autonome Ich als Erzeuger eines Willens, der mit Mündigkeit im Sinne der Aufklärung gleichgesetzt wird.
Das Ökonomische versteckt sich hinter der Fassade einer falsch verstandenen Aufklärung. Sie rückt die denkende und frei entscheidende Person in den Mittelpunkt als fraglose Autorität und läßt ihre Motivation, ihr Begehren im Dunkeln. Deswegen funktioniert sie auch politisch — bei jedem von uns — indem sie sich liberal gibt. Freier Wille wird aus Verantwortung begründet. Ohne Verantwortung gibt es keine Schuld, die einen Vertrag bindend macht. Verantwortung für meine Handlungen ist nur dann möglich, wenn es frei-willentliche Handlungen des (verantwortlichen Ichs) sind. Der freie Wille ist dazu notwendig — aber aus diesem Zirkelschluss nicht erwiesen. Er bleibt das Geheimnis, das unser Gewissen nicht frei sein läßt, weil der Antrieb unserer Entscheidungen emotional und kollektiv schwer zu reflektieren ist. Die Substanz, die das Konzept des freien Willens möglich macht ist demnach nur der Glaube daran. Er ist eine Wertung, eine Wahrheit, die nicht erwiesen ist und unsere Gewissen vor dem Eingehen eines Vertrags nicht frei sein läßt.
Die Autorität
Was richtig – also von Wert – ist, entscheidet eine Person für
sich und sie empfindet es anmaßend, wenn in diese Urteile eingegriffen wird. Daher fühlt sich die gegenwärtige Gesellschaftsordnung frei an. Wir verhandeln Werte untereinander. Für Verträge, die uns in Schuld mit anderen setzen, fehlt allerdings ein entscheidendes Element, das uns dazu bewegt, solche einzugehen: Motivation oder das desire von dem Kluckhohn meint, es sei die Essenz von Wert.
Auch wenn uns die Moderne (bzw. wir selbst) uns glauben machen, dass wir (das Ich) die Autorität sind, die sich in Verantwortung begibt, steckt etwas anderes dahinter. Siegmund Freud hat das vor über hundert Jahren mit dem Unbewußten auf die Gefühle geschoben. Zwar mit dem kapitalen Fehler, diese Triebe als böse zu deklarieren, allerdings mit Folgen für das ganze 20. Jahrhundert. Es ist akzeptiert, dass unsere Motivationen emotional und nicht rational herleitbar sind. Der Neoliberalismus setzt auf diese individuellen Motivationen, ähnlich wie der Schutz individueller Freiheitsrechte. Das bedeutet allerdings nicht, dass Neoliberalismus individuelle Freiheit unangetastet läßt.
Im Vertrag, bzw. seiner Leistung für mich, liegt ein Wert auf
welchen ich hinstrebe. Was wert ist, angestrebt zu werden, muss logisch wahr für mich sein. Erinnern wir uns an seine
indogermanischen Wurzeln: Vertrauen, Treue, Zustimmung. Vertrauen schafft, wie u.a. Kahnemann darlegt, die ständige Wiederholung einer Botschaft. Sie wurde zu DDR-Zeiten in mich hineingetrommelt und -gesungen. Bis ich glaubte, dass der Sozialismus wertvoll sei und alle seine realen Begleiterscheinungen. Das war Propaganda. Heute heißt das public relations. Werbung schafft Vertrauen durch ständige Wiederholung. Wenn man mit einem Produkt zufrieden ist, bleibt man ihm treu. Und neuen Produkten der selben Marke stimmt man tendenziell a priori zu. Man schwört auf Adidas, BMW oder Coca-Cola. Es ist der Affekt, der uns motiviert einen Vertrag einzugehen.
Der Affekt ist etwas, das von Außen auf mich eindringt und
Emotionen weckt. Er schiebt mich als Person aus meinem Zentrum indem er Erstrebenswertes und damit Wert erzeugt. Aber ist es mein Wert? Die Kehrseite dieses Bedürfnisses ist, dass dieses Erstrebenswerte mich unzureichend macht: Ein Gefühl von Unvollkommenheit wird geweckt. Ohne diese Smartwatch oder dieses E-Auto komme ich nicht weiter. Es wird zur Aufgabe, auf den Wert hin zu streben, der von diesem Gefühl des Unzureichend-Sein befreit. Die Moderne hat sich die Verknappung des Glücks zum Gegenstand gemacht. Plakativ zeigt sich das dort, wo man zu arm, zu dick, zu faul, zu häßlich, zu dumm gemacht wird. Das Ziel wird die eigene Mitte, die es wiederzufinden gilt. Das optimale Ich, das dem tatsächlichen überlegen ist, das besser ist. Die Traumvorstellungen dieses Ichs zeigen sich in digitalen Filtern. Was hat das alles mit Gewissen zu tun?
Das Gewissen bindet sich am Affekt, aus dem Erstrebenswertes (desire) entsteht. Der Wert ist immer ein Befreiungsakt vom Unzureichend-Sein. Autonom ist nur die Rationalität, mit der wir versuchen, uns zu befreien. Gegenüber der Ursache des Wertes, nach dem wir streben, sind wir ignorant. Dummerweise bewahrt Ignoranz geistige Integrität. Das eigene Weltbild schützt sich vor unbequemen Tatsachen, um rund und intakt zu bleiben. Hat man allerdings das eigene Unzureichend-Sein aus Affekt akzeptiert, schließen wir Verträge, um einen Befreiungsakt von dieser Unvollkommenheit zu erreichen. In diesem Licht wird Freiheit zum ultimativen Wert.
Wer vorbehaltlos, kritiklos und wertungsfrei eine Affektion
aufnimmt, nimmt inhärent Ignoranz gegenüber seinem eigenen Gewissen auf. Wer Make-Up auflegt, befreit sich vom Gedanken an Tierversuche. Wer digital produziert, denkt kaum an die Energie, die dafür aufgewendet werden muss. Wer Fleisch ißt, denkt nicht an Schlachthöfe. Wer billige Klamotten kauft, hat keine Gerberei in Bangladesch vor Augen. Ignorance is bliss.
Die Gewissen-bindende Autorität ist nicht das autonome Ich, sondern der Affekt, der uns zum Eingehen von Schuld und Verantwortung bindet.
Normalisierung
Neoliberalismus hat uns ein Leben ermöglicht, welches die
Wirklichkeit einer offenen demokratischen Gesellschaft greifbar macht. Er hat uns von der Notwendigkeit politischer Ideologie befreit — ganz im Sinne der Verfassung. Er hat jedoch eine Bedingung: den Rückzug des Gewissens in’s Egozentrische in Form von affektgetriebener Privatautonomie unter dem Leistungsgedanken. Im Gegenzug verspricht er für jedes schlechte Gewissen Werte in Form von Lösungen und Produkten. Seine Konsequenzen sind weltweit spürbar: Ausbeutung, Ressourcenverschwendung, ein absurdes Wachstumsparadigma und Klimawandel.
Neoliberalismus hat uns vom Zweifel am Dasein weitgehend befreit und unter dem rationalen Tüchtigkeitsgedanken, dass jedes Problem (technologisch) lösbar sei, (u.a. zu Konsumenten) normalisiert. Preis ist die Akzeptanz, unzureichend und unvollkommen zu sein. Eine Ethik, welche mit Ängsten operiert. Indem sie die Gegenwart oder die Zukunft als sorgenvoll darstellt, treibt sie zu rationalen Lösungen an. Mit der positivistischen Aufladung von Affekten stellt sie sich gegen die aufklärerische Negativität, der Abwesenheit von allgemein gültigen Wahrheiten und postuliert dennoch eine eigene.
Mit Absurdität kämpfen wir gegen das Absurde an: Wachstum ist notwendig, um das Versprechen jederzeit erneuern zu können, sich immer wieder von diesem Unzureichend-Sein befreien zu können. Daher gibt es App gesteuerte Mülleimer, USB-beheizte Handschuhe, Bananenschneider, Selfie-Sticks für Haustiere, etc. Utopien wie selbstfahrende Autos oder Marsflüge sind Propaganda konservativer Technokraten, welche die Definition von „Fortschritt” für sich einnehmen. Kaum anders als in der späten DDR: Die Versprechen werden so absurd, dass sie sich nicht mehr an der Wirklichkeit messen lassen können. Und die Versuche, die Wirklichkeit an die Versprechen („Befreiung”) anzupassen, haben die Ausrufe von Terror, von Inflation und Deflation, Staatsschulden und Kriegsgefahr gezeigt. Die 2001 in den USA eingeführte „Terror-Ampel” steht seitdem auf Gelb. Fortwährend. Diese Getriebenheit macht müde. Sie ist die Achillesferse jenes neuen Liberalismus an, der gerade zugrunde geht und droht, die offene Gesellschaft mitzureißen.
So finde ich mich als ehemaliger DDR-Bürger in einer Gesellschaft wieder, deren Bindung durch Affekte erzeugt wird, die ich kaum verstehe. Wieder bin ich von fremden Urteilen beherrscht, die einen Ewigkeitsanspruch tragen. Die permanente (Selbst-)Befreiung von unserem Unzureichend-Sein hatte den Vorteil von der grundlegenden Absurdität des Daseins abzulenken. Wir sind immer damit beschäftigt, uns aus scheinbar dissonanten Lagen zu befreien. Diese Verhaltensmuster tragen wir in die gegenwärtige Transformationsphase. Es kommt für freie Gewissen darauf an, ob wir uns selbst von diesen Konditionierungen lösen können oder nicht.
Dostojewksi sieht es kritisch: „Oder hast du vergessen, daß Ruhe und sogar der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse? Nichts kann den Menschen mehr verführen als Gewissensfreiheit, aber auch nichts ist qualvoller für ihn.“ Die gegenwärtige Suche nach „gemeinsamen Werten” scheint ihm recht zu geben. Viele Menschen flüchten sich von einer Ideologie in die nächste und nehmen willkommen eine positive Aufladung ihrer Weltbilder durch fremde Werte an. Überragend ist dabei ihre naivste Form: Die Flucht in’s Konservative, die zum Identitären reicht. Menschen, die jahrzehntelang unpolitisch waren, suchen nun nach ihrem Selbstwert, weil sie sich von der Möglichkeit zu Verträgen in der neoliberalen Gesellschaft ausgeschlossen fühlen – oder in Sorge darüber sind.
Wer nicht mehr in der Lage ist, sich in Verträge zu begeben, kann sich nach dieser Logik nicht aus dem Unzureichend-Sein befreien. Zuflucht wird gesucht in Identität und Zugehörigkeit. Es geht nicht darum, „deutsch” zu sein, sondern um den wärmenden Inhalt der Versprechen drumherum: Ein freier, sorgenloser Mensch zu sein. Eine neue Ethik wird gesucht, weil Transformationsphasen aufklärerisch und furchteinflößend sind: sie sind ungewiß und stellen den Ewigkeitsanspruch eigener Wahrheiten, die plötzlich zerbröckeln, in Frage. Zweifel wird zur Qual.
Freiheit wird plötzlich zur unbegrenzten Möglichkeit, deren
Begriff leer und offen ist — und das Gewissen ebenso. Freiheit gewinnt ihre Konturen erst dort, wo sie verletzt wird. Wird Freiheit beispielsweise mit „Abwesenheit von Mauern“ definiert, ist das eine negative Abgrenzung. Das Substantielle findet sich allerdings darin, dass ein Umstand festgelegt wird, der im Denken immer einen positiven Begriff der Mauer erfordert. Diese Mauer tritt als substantielles Etwas in die Definition ein, die sie gerade ausschließen will. Das Nicht-an-den-rosafarbenen-Elefanten-Denken scheint notwendig und ist paradox: Erst wenn ich weiß, woran ich nicht denken soll, kann ich nicht an dieses Etwas denken. Diese Mauern werden wieder mit den alten Sprüchen bepinselt: Die Asylanten, die Eliten, die Verschwörungen gegen „uns” und unsere Freiheit. Ein dissonantes Gefühl der Unfreiheit zu erzeugen und zu nutzen ist Voraussetzung und der älteste Affekt im Buche. Oder wie Albert Camus schreibt: „Ich mache es wie so viele Beamte des Geistes und des Herzens, die mir nur Abscheu einflößen und die, das sehe ich jetzt genau, nichts anderes tun, als die Freiheit des Menschen ernst zu nehmen.“
Das aufgezwungene Gefühl von Unfreiheit trägt immer das
trügerische Versprechen, dass wir uns von ihr befreien könnten. Ein freies Gewissen ist eins, welches ewig geltende, positivistische Werte nicht akzeptiert. Sie sind die Gesichter, die der Angst gegeben wird. Freien Gewissens zu sein bedeutet, den Ewigkeitsanspruch von Wahrheit immer in Zweifel zu ziehen — und damit sich selbst.