Schlachten in der Schleife

von Siegfried Schwartz

Fassungslose Blicke jener, auf die man anlegt. Augen, Reflektoren von Hass, Verzweiflung, Angst … zerschießen mein Innerstes. Gleich den Patronen, deren ausgediente Stahlhülsen fast lautlos den Boden treffen. Ihren grausigen Dienst, ergänzt um beißenden Pulversmog, aushauchen. Endgültig. Wie der Delinquenten Leben. Zeitweise waren deren Augen verbunden. Schlafen Mörder dann besser?
Meine Gespenster der Vergangenheit poltern. Gnadenlos. Scheuen nicht das Tageslicht. Die Zeichen, ständig präsent. Auch jetzt. Ukraine. Wochen nach der sowjetischen Offensive. Ein Wagen auf der Wagramer Straße, stadteinwärts vor mir. Rot! Rost wie Zeit mindern die Qualität des Lacks. Das Pickerl aus einer Hinterhofwerkstatt im Überlebenskampf? Wer weiß?! Vielleicht nur ein anderer Bezug zur Wertigkeit von Mobilität? Oder Widerstand gegen die technisierte Entmündigung? Vorurteile sind die renommiertesten Platzhalter für Wissen.
Auf der Heckscheibe der Karre pickte kein Bekennerschreiben zu einer gewissenhaften Fahrweise. Kein: »Kevin an Board«. Kein: »Bremse auch für Tiere«. Scheibenfüllend prangerte ein von Hand bemalter Pappkarton. Blutrote Letter schrien: »Putin ist Hitler.« Die Aussage im Sinne absurd. So sinnentleert wie all diese territorialen gewalttätigen Überfälle und Missachtung der Völkerrechte. Kein Mensch ist ein anderer. Selbst ein zweites ›s‹ würde hinken. Bedingt eine Konservierung des Zweitgenannten. Beschwerlich genug, dessen vergammeltes Gedankengut aus der verzerrten Finsternis ins Licht der Sonne zu bringen. Unter Verzicht auf künstliche Flutlichtanlagen, deren Licht- und Schattenspiele, zielgerichtet auf Details und Gewissen, den Zugang zur Wahrheit beharrlich verblenden.
Doch zurück zur jüngsten Vergangenheit. Des Wagens Kennzeichen begann mit W. Nicht UA. Deren zurzeit zahlreich in Wien. Vollgestopft mit Hab und Gut. Oder nur mit Leben. Keine Zeit blieb. Tausend und mehr Schüsse pro Minute aus nur einer Waffe! Einige Gerettete finden Asyl in unserer Wohnung.
Bis zu erwähntem Zeitpunkt hatte ich keinen Dunst: Natascha hat ukrainische Wurzeln! Siebzehn Jahre sind sie und ich ein Wir. Ungetraut vertraut. Verzichten auf den standesamtlichen Status wie auf den Segen der Kirche. Verbunden durch unsere Herzen und unser Engagement für Menschen, Tiere und Umwelt. Wir reden über die Gegenwart. Das Notwendige über die Zukunft. Kaum über unsere Vergangenheit.
In nur zwei Monaten lernte Natascha die Sprache ihrer Ahnen. Es lag ihr im Blut. Ich dagegen habe in zwei Jahren Serbokroatisch gelernt. Seit meiner Rückkehr, vor gut dreißig Jahren, kam davon kein einziges Wort über meine Lippen. Verhalten. Nicht verdrängt.
»Wer bist du, Vordermann? Ein Vater? Ein Bruder? Ein Geflüchteter? Ein Spion? Welche Schandtat dieser Welt meinst du, mit deinem lahmen Gleichnis verhindern zu können? Kennst du Wladimir Putin? Was weißt du von Adolf Hitler? Hast du überhaupt Ahnung? Vom Krieg? Durchschaust du die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Anstifter? Das weltumspannende Konzept der Oligarchie? Weißt du um den seit Jahrzehnten rotierenden Konflikt rund um die Ukraine?« Spricht er überhaupt meine Sprache? Meine Sprache?!
Die Rotphasen zu kurz … gar Impulsgeschwächt von Metallicas: Suizide & Redemption aus den Boxen … ich nicht aus meinem Auto sprang, um die Tür des Vordermannes (der Lenker erschien im Außenspiegel definitiv männlich) aufzureißen, um Antworten zu erhalten. Allenfalls war er bloß ein Follower der Mantras der Propaganda. Oder ein Wichtigtuer. Den ganzen Tag durch die Stadt protestiert, fernab der Verbrechen in der Ukraine, bis ihn die Polizei abmahnt. Denn hätten sie ihn bestraft – bei der abgefuckten Karre aufgelegt –, wären sie vermutlich als Nazis auf den neuzeitlichen Scheiterhaufen verheizt worden. Jener Zündler, die uns auflagenstark und digital den Unterschied zwischen den Guten und den Bösen suggerieren.
Ich weiß, was Krieg bedeutet. Das Instrument ewiger Disharmonie. Hab’ Schlachten erlebt. Sah die Leblosen auf Feldern, in Gräben und Bombenkratern. In ausgebrannten Wracks. Zerstörten Häusern. Erfror angesichts der geisteskranken Lust der Misshandlung und Vernichtung. Inmitten der Abnormität und Sittenlosigkeit. Jetzt, nach notgedrungener Auseinandersetzung, zu lebenslänglich verdammter gewissenhafter Aufarbeitung, meine ich die Hintergründe erkannt zu haben. Seit Jahrtausenden dieselben sind. Wohl mit Übel auch so bleiben werden. Verabscheue Bilder und Berichte menschlicher Verwahrlosung. Und ist keineswegs Gleichgültigkeit, die mich abstößt. Es ist mein ganz persönliches Martyrium. Die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine nähren den Teufel in mir. Seit Frühjahr 2022 thront er hämisch, von Massakern frisch gefüttert, in meinem Domizil. Mitunter einem Matratzenlager gleicht. Unsere Kleiderkästen, nun halb leer, waren ohnehin zu voll. Werde bombardiert mit authentischen Erzählungen, Handyfotos von Heimen und vertrauten Menschen, wie sie sind … oder bis vor Kurzem noch waren. Der Folterknecht schafft es in seinem digitalen Auswuchs bis zu Natascha und mir ins Schlafzimmer. Jedes Läuten rattert wie eine Gewehrsalve. Jede WhatsApp-Nachricht gleicht dem Einschlag einer Granate. Wir tun gewiss Gutes. Ich fühle mich dennoch miserabel.
Und hätte nie so kommen dürfen. Mach dir einen Plan. Dein Schicksal jedoch grinst dir hinterfotzig in die Visage. Ich hatte Pläne. Wusste jedenfalls, was ich nicht will. Leben und enden wie der Baierl Joschi. Er besaß die Zimmerei in meinem Heimatort. Bruder Karl das Sägewerk. Ein Nest, in das es meine Großeltern nach einem dieser vielen Kriege verschlagen hat. Es hier Arbeit gab. Die Kleiderfabrik ist weg. Die halbe Ortschaft ist weg. Vater blieb. Auch wegen Mutter. Stadtflüchtling. Entgegen dem Stream. Verliebt in Land und Ort. Er durfte sein Lebtag pendeln. End to end mit dem Kaiser Franzl seiner Bahn. Jeden Tag. Nichts mit Homeoffice seinerzeit.
Meine drei Jahre schuften für Josef den Zimmermann – in den Niederungen von Leibeigenen – nannten sich Lehrzeit. Sein Geschimpfe über Unzulänglichkeiten, Lernen und Lehren nun mal an sich haben, stand einer Peitsche um nichts nach. Wäre nicht diese sonntäglich heilige Ruhe, das Gebot, Glockengeläut und Gebetsgemurmel nicht mit Nagel-Schussapparat und Kreissägen zu peinigen, hätte ich diesen Tag nicht frei gehabt.
Da schleppte ich Oma zur Messe. Intuitiv nicht wegen des Rituellen. Gewissenhaft, sie, nach geschätzt 100.000 Stunden an der Nähmaschine, mit arthritischen, zerstochenen Händen, wie ihr ans Kreuz genageltes Liebkind, meiner Gehhilfe bedurfte. Sie war gütig. Auch zufrieden, vorausgesetzt, sich irgendeiner der mobilen Prediger auf seiner apostolischen Bezirks-Rallye mit einem Sack Hostien und einem Doppler G’wasserten einbremste. Sonntags in der vom Verfall gezeichneten Ortskirche das Leiden Christi to go zelebrierte.
Der Präsenzdienst rettete mich davor, als jüngster Burnout-Kandidat Schlagzeilen zu machen. »Jüngste« als Kandidaten ins Rennen um Reputation zu schicken halte ich für ein Kuriosum. Jugend ist ein Privileg. Gewiss kein Garant der Tugendhaftigkeit. Ob als Kanzler oder wie in meinem Fall als Soldat. Die Missachtung von Reife sehe ich vom Start weg verurteilt zum Scheitern. Und stehe selbst für den Beweis.
Bei Unserem Heer mustern sie fast alles, was in die Panier passt. Heute sogar Mädchen. Oder so was in der Art. Ich gebe zu, das uniformierte Dasein kam prickelnder als die Rückkehr zum Baierl. Vergleiche: drei Jahre, mitunter bis zu sechzig Wochenstunden, harte Knochenarbeit. Und hätte Vater dem Knabenschinder bei Wirt und Bier nicht energisch das Wort Urlaub ins Gewissen buchstabiert, wäre ich auch um den umgefallen.
Für den kontra-evolutionären Mechanismus der militärischen Befehlskette, Unterwerfung sich kompetenzlos an Sternen festkrallt, war ich mit Leichtigkeit gerüstet. Verpflichtete mich als Zeitsoldat. Der Sold aus der Staatskasse für null Arbeitsleistung akzeptabel. Wenn nicht in der Kaserne oder auf dem Schießplatz, haben wir draußen die Stöpsel knallen lassen. Ich eroberte Tanja. Meine erste feste Freundin. Mobilisierte mich mit einer Honda Enduro. Mietete eine Wohnung. Es waren meine unbeschwertesten Jahre. Ich habe es nicht gewusst.

Sommer 1992 telefonierte Vater mich aus meinem Lotterdasein. Zitierte mich in die Einschicht. »Den Joschi hatʼs vom Dach gʼhaut. Die Beisetzung ist den Samstag.« Eine Frage des Anstands. Sah ich gegenteilig. Vaters Wunsch Pflicht. Dies sind nun mal die dörflichen Spielregeln. Ich tachinierte mit meiner Truppe gerade in Allentsteig. Frischgebackener Zugsführer … ergo drei Kekse auf dem Rockkragen … der Urlaubschein ging problemlos. Ein Manöver ist Kriegsspielen mit Krach und Flurschäden. Ein abgängiger Soldat wegen der Beerdigung eines Zivilisten keine Gefährdung der Staatssicherheit. Quasi ums Eck warʼs auch. Ich erschien zum Begräbnis in Uniform. Waren meine Eltern stolz?
Laut Helfer fiel dem Baierl oben am Giebel plötzlich die Druckluft-Nagelpistole aus der Hand. Dann griff er sich ruckartig ans Herz. Den Blick hat Werner zwar in seinen Worten geschildert: »… meiʼ, leck den Teufel, der hat dreingʼschaut wie ein Ochs, wennʼs blitzt …«, aber ich hatte den Joschi gut gekannt. Bringe es mit Pietät auf den Punkt: Aus dessen Augen quoll das Unverständnis der Gegebenheiten. Es dürfte ihm gar nicht geschmeckt haben, der freche Tod während der Arbeit anklopft. Er war einundsechzig. Den Rest besorgte der freie Fall. Genickbruch. Der Leichenbeschauer durfte wählen. Das Unglück in der Statistik der Herzinfarkte oder Arbeitsunfälle zu verewigen.
Die Leiche keine Stunde unter, zog mich Karl nach dem Schmaus beiseite. »Horch, Gruaber Spezi …«
Mein Vorname, bei uns nur jede zweite Generation im Repeat-Modus, war den meisten im Ort zu heilig. Opa Nickerl, zwar krumm wie Quasimodo (von der Last der Stoffballen, nicht erblich), aber ansonsten noch quietschfidel.
» … der Joschi hat viel auf dich gʼhalten. Zwei Mille und Hof und Werkstatt gʼhören dir.«
Er durfte das. War Bruder und Erbe. Kinder: negativ. Zumindest nichts Offizielles. Frau Baierl war vor ewig rechtskräftig in die Stadt geschieden. Der Klassiker: Eifersucht. Der Joschi sei allein mit seinen Holzbalken verheiratet.
Die zwei Millionen, seinerzeit Schillinge, rumorten. Die Selbstständigkeit reizvoll. So spontan kam mir ein Impuls. Ich kaufte den Bauern ihre alten Stadel ab. Zu Hunderten standen sie hier und in umliegenden Dörfern. Teils unbenutzt. Dem Verfall trotzend. Relikte einer Epoche, als Bäume noch per Hand nach Mondzyklen geschlägert wurden. Nicht die Holzindustrie automatisierte Schlägertruppen in ihrem Verwüstungsfeldzug gegen die Natur in die Wälder trieb. Für die immer monströseren Traktoren und Landmaschinen waren die Schupfen ohnehin zu filigran. Wurden zunehmend durch Beton und Blech ersetzt.
»Ablösen, Abtragen, aus Brettern und Balken Gartenhütten bauen. Die Leute stehen auf so Retro-Schnickschnack, glaub mir.«
Vater war begeistert: »250.000 haben Mutter und ich auf der Kante.«
Er meinte schenken. Verborgen bringt Sorgen.
»Zu früh. Ich hab noch keinen Groschen gespart.«
Ich wollte weder beim Karl betteln … das Angebot schien fair … noch in diesem Ausmaß der Banken Schuldknecht werden. Habʼs familiär leidig mitbekommen. Grad mal vier Jahre her, die Hypothek getilgt und aus dem Grundbuch verschwunden ist.
»Dann machʼs wie der Bruckner. Rennt dir ja nix davon.«
Vater meinte Peter den Großen. Ich nannte ihn so. Fand ihn immer schon tough. Gewinnertyp. Wenn sein Onkel Elmar abdankt – gemeint ehrenamtlich, nicht leiblich –, wird Peter fix nächster Ortvorsteher. Jahre war er auf den Golanhöhen UNO-Soldat. Kam zurück … da war ich grad mal Hauptschule. Haus gebaut, geheiratet, sich fortgepflanzt. Jetzt repariert er Autos, Traktoren und sonstige Anlagen und Gerätschaften. Nebenher wartet er noch Melkmaschinen. Damit die Saugzapfen, die man den von Medikamenten aufgeschwemmten Kühen an deren Euter fixiert, ergiebigst funktionieren. Bei Joschis Beisetzung hat mir Peter salutiert.
Dies war das letzte Vater-Sohn-Gespräch auf Augenhöhe. Unser visionärer Business Run, zerschossen mit scharfer Munition. Gewissenlos vereitelt wie Mutters biologisch bedingtes Herzflattern: ihr Bub im Ort haften bleibt … Familie … bestenfalls glupschäugiges Krabbelvolk? Deren Unschuld oft dahin, bevor ihr Sprachvermögen daher. Nicht angelegt. Auch später nicht. Natascha war einunddreißig, als wir uns verliebten. Hellblauäugig, blond und weißhäutig wie ein Albino. Sie strahlte im Mondlicht wie ein fluoreszierender Engel. Mich keine finsteren Gedanken heimsuchten, wenn ich ihren Körper berühren durfte.
Der Zug. Abgefahren. Dachte ich. Doch die biologische Uhr ist tückisch. Schlägt einem mitunter schockartig: »Du wirst Vater!« Mein Lächeln war bloß eine Reflektion auf ihre Freude. Punkto Frost so resistent wie die Arktis, beim Versuch, ihr mit dem Schneidbrenner den Garaus zu machen. Abortus im fünften Monat. Was hat dieses Wesen gespürt? Es die irdische Landung verweigerte? Die Zeichen?

Ein unbedachter, verheerender Schritt … den setzte ich Tage später in Allentsteig. Die Bewerbung zu den Blauhelmen, sprich: UN-Friedenstruppen, wäre Formsache gewesen. Des Teufels Lockruf kam aus dem Munde eines Kameraden: »Die zahlen besser.«
Der Preis der Torheit war hoch. Die Connection lief über Deutschland. Wir ließen uns beide anwerben. Mein Kumpel sprang Tage vor dem Treffen in München ab. Weiche Knie? Jemanden ins Vertrauen gezogen? Ich nicht. Im Gegenteil. Der Dämon bediente sich meiner Stimme: »Feige Sau!« Diese Worte, mein Stolz … auch Sturheit … jedenfalls eine Menge Flaschen Bier kappten meinem Ego den Rückzug. Im September 1992 trug ich eine kroatische Uniform, eine scharf geladene Waffe und verkaufte auf dem Balkan dem Teufel meine Seele. Die Gruppendynamik der Armee war ein morbider Selbstläufer. Soldat gehorcht. Soldat funktioniert. Hinterfragen galt als militärisches Sakrileg. Das Bestialische erstickte das Menschliche. Seitdem hänge ich in seiner Schleife. Wie die Kriege der Menschheitsgeschichte. Lediglich die höllischen Schauplätze wechseln.

»Stay with Ukraine«, rieb mir Kollegin Habiba kürzlich, um eine Spende werbend, unter die Nase. Ein Kind bosnischer Flüchtlinge. Die Marković, Petrović, Vuković, Jovanović … waren längst da, als ich 1994 frühzeitig wieder in Österreich aufschlug. Ich war am Ende. Der Fight zwischen ewigem Licht und ewiger Finsternis schien entschieden.
Das Mädel, keine zwanzig, Österreicherin. Kassiererin bei uns im Markt. Nur ihr Name erinnert an die Herkunft ihrer Eltern. An deren Vertreibung ich beteiligt war. Ihre Augen kenne ich nicht. Einen gefalteten Hunderter stopfte ich in den Schlitz der Box. Sich darin hörbar Münzen befanden. Wie billig sich manche ihr Gewissen freikaufen können. Hätte ich meine Wohnung, all mein Hab und Gut reingeworfen, wäre es nicht genug gewesen. Mit nichts kann ich meine Unbeschwertheit zurückkaufen. Mein Gewissen reingewaschen. Befreit, wie damals. Als Zeitsoldat. Mit Tanja. Dem Bike. Einer 35m²-Garconnaire. Meine egoistische Trennung samt beiderseitigem Herzbruch geschah ohne Begründung. Während … auch nachher … kein Signal meinerseits. Ich wurde ein anderer. Malträtiert von der Geräuschkulisse des Kriegs, wie andere von ihrem Tinnitus.
Dem Baierl Karl sagte ich ab. Eltern wie Heimatort mied ich. Bloß ein Besuch. Abends. Im Dunkeln. Die Gehsteige hochgeklappt waren. Der Ort, bis auf die Gäste im Wirtshaus (das letzte seiner Art) und Glotzen-Anbetern, schlummerte. Trotzdem erahnte ich die bohrenden Stimmen: »Der Gruaber-Bua fährt einen Riesen-BMW!« Fragen wären gekommen. »Wo war er denn die ganze Zeit?« Ich bin nicht wie der Bruckner Peter alle paar Monate mit Uniform und blauem Barett selbstbewusst durch die Ortschaft spaziert. Von mir gäbe es keine Antworten. Für niemanden. Menschen nun mal Antworten brauchen, geben sie sich eher mit Fiktion zufrieden als mit Fragezeichen.
Ahnten meine Eltern, wo … wie ich die beiden Jahre im Dunklen getappt war? Gewiss. Sie akzeptierten mein Schweigen. Stocherten nicht in meinem emotionalen Sumpf. Das Fremdeln ihnen gegenüber tat weh. Vaters Abschied – »Wir lieben dich und sind nicht deine Richter« – trieb mir Feuchte in die Augen. Welcher Ast immer für den Strick hätte herhalten müssen, ich war ihm sehr nahe. Nichts, niemand konnte meine Kaputtheit reparieren. Verdiente ich Hilfe? Mutter dürfte täglich gebetet haben: »Herrgott, lass den Buben am Leben.« Ob die Erhörung sich als Gefallen erwiesen hat?

Ich kaufte eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Kagraner Plattenbau. Die Erkältungen fördernde Anonymität der Stadt erwies sich als Zuflucht. Sollte es bis heute bleiben. Die Wände, so oft ich sie strich … polarweiß … schneeweiß … arktisweiß … blieben rostrot. Aus den Hähnen – angeschlossen an das Wiener Hochquellwasser – floss Blut. Aufgewühlt verfolgte ich die Schauprozesse des UN-Tribunals in Den Haag. Stand ich auf einer Fahndungsliste? Wären die Botendienstfahrer (auch größtenteils Migranten, irgendwer aus ihrer Heimat gelockt, vertrieben hat) so zahlreich, so penetrant gewesen wie seit der Corona-Ära, mehrmals am Tag sämtliche Hausparteien durchläuten, um ihre Paketmassen an die Empfänger … oder Nachbarn … zu bringen, ich hätte auf Drogen zurückgreifen müssen. Sich auf dem Balkan bewährt hatten.
Wenigstens eine Leidenschaft meines Vorlebens holte mich ab: Holz. Der Job in der Zuschnitt-Abteilung eines Baumarktes. Ich bekniete den versöhnlichen Geruch. Weniger das, was mittlerweile aus Holzabfall fabriziert wird. Ich privat häufig mit Cargo-Hose, Arbeitshirt oder Weste herumlief … störte meinen Arbeitgeber nicht. Das Firmenlogo war mein Versteck. Eine Art Uniform. Rot. Menschen sehen, was man zeigt.
Jahre des Vegetierens. Verlernte das Reden. Lernte dafür Lesen. Sogar bei einem Selbstfindungsseminar … ja, habe ich probiert (es gibt keine Selbsthilfegruppe der anonymen Söldner). Menschen öffnen sich. Erzählen ihre Probleme … subjektiv gesehen banal … schluchzen, trösten sich … am zweiten Tag blieb ich den Leidenden fern. Was wäre mein Kummertext gewesen? Niemand darauf geachtet hat, die Glieder der Opfer noch zuckten. Ihre Gurgeln noch röchelten, als sie zu Massen in Gruben verschüttet wurden. Die Männer. Alle. Auch Knaben. Von den Frauen nur die alten. Die Jungen ereilte ein anderes Schicksal. Schrecklicher als das Los der Verscharrten!
Die Zeichen hören nicht auf. Nicht jede Tat verblasst in der Nebulosität. Auf Lebzeiten eingebrannt. Ohne Recht auf Weichzeichnung. Die Scharfrichter warten. Sie sind geduldig. Lassen ihre Opfer schmoren. Erst Natascha, ihre ansteckende Affirmierung des Lebens, wehte nach Jahren der Tristesse einen Hauch von Entschärfung herein. Wird der Teufel irgendwann müde?

»Warum bist du abgehauen?«
Einen beträchtlichen Teil der Ewigkeit starrte Yegor ins Leere. Glasige Augen unter von Denkfalten zerfurchter Stirn. Deutschlehrer aus Kiew. Mein einziger Gast, mit dem ich ohne Nataschas Übersetzungshilfe plaudern konnte.
»Du fragst, was ich mich immerzu selber frage. Was wiegt mehr? Familie oder Land? Ich habe drei Kinder. Wollen sie einen Märtyrer oder einen Vater? Frag sie!«
Habe ich nicht. Anstelle der vorhersehbaren Antwort organisierte ich Sim-Karten bei einem hiesigen Anbieter. Nun unterschieden sich diese Jugendlichen kaum vom Rest jener des zivilisierten Europas. Yegor und ich quatschten wie beste Freunde. Mir gefiel seine Aussage: »Ich kämpfe nicht gegen meine russischen Brüder. Die ukrainische Politik hat versagt. Die russische Politik hat versagt. Beugten sich dem Druck internationaler Interessen – dominiert von Macht und Geld. Ich lasse mich weder schlachten, noch bin ich bereit, Brüder zu töten. Ich bin nicht das Mordwerkzeug der Verfechter einer neuen Weltordnung. Es geht in diesem Konflikt nicht allein um die Ukraine. Es geht um die globale Herrschaft über die Erde.«
»Wirst du zurückkehren?«
»Natürlich. Es wird nicht mehr diese Heimat sein, die wir verlassen mussten. Aber in der Ukraine sind meine Wurzeln. Wir werden genug zu tun haben.«

Warum … wie viele Sternschnuppen eines Abends den Orbit meines kosmischen Gewissens perforierten, nenne ich Mysterium. Yegor und ich wurden mit wenigen Jahren Abstand am selben Tag geboren. Unsere Geburtsorte Kiew und Krems verbindet immerhin das ›k‹ und dritte ›e‹. Mehr Astronomisches will ich da nicht reininterpretieren. Aber mich … ja ausgerechnet mich großzügig und offenherzig zu nennen … ein Ventil platzte. Warum wollte ich gerade ihn vom Gegenteil überzeugen? Worte flossen wie … der Vergleich bleibt aus. Es gibt keinen. Balkan! Das erste Mal war ich in bluttriefender Reue freiwillig zurückgekehrt. Yegors Betroffenheit aufgelegt.
»Wären wir perfekt, wären wir nicht mehr hier! Schlechte Taten als solche zu erkennen, daraus zu lernen, das zeichnet einen Menschen aus. Jetzt stehst du auf der guten Seite. Mag sein, mit zwanzig wäre ich auch geblieben. Hätte zur Waffe gegriffen. Heute sind wir reifer. Lassen uns nicht mehr so leicht missbrauchen.«
Reden mit Yegor … gefühlt wie beichten … war befreiend. End of war? Zu spät bemerkte ich Natascha. Ihre spitzen, durch die Leggins durchscheinenden Knie angezogen – wie sie das oft tut –, kauerte sie während dieses Gesprächs hinter meinem Rücken auf der Couch. Still. Verdauend. Bis mir das Plätschern ihres Mitgefühls in Herz und Ohren drang.
Sechzehn Tage ukrainisch/österreichischer Gastfreundschaft … Abschied. Natascha fand für die fünfköpfige Familie ein Langzeitquartier. Yegor übergab mir ein sperriges Teil, eingewickelt in ein von Malfarben bekleckstes Tuch. Mit den Worten:
»An euren strahlend weißen Wänden ist Platz für ein Symbol des Friedens. Mein Bruder war Maler. Und Seher. Viele seiner Gemälde sind – so wie er – bei einem Bombardement verbrannt. Stay true to yourself, Nikolaus.«

Das Aquarell, ich Tage vorher noch als Kitsch abqualifiziert hätte, zeigt den Hafen von Odessa, die Weiten des Schwarzen Meeres, eine Schar weißer Tauben. Die Konturen der Vögel, so gestochen scharf, als wollten sie aus dem Bild heraus, dem Betrachter entgegenflattern. Ins Gewissen.