Andere Zeiten

von Tina Kowska

«Schöne Schuhe trägst du. Die passen zu dir.»
Sein Körper liegt rücklings verdreht auf den helltürkisen Fliesen gleich hinter der Badezimmertür, der flauschige Bademantelsaum am Haken aufgehängt berührt ganz knapp seine verschwitzte Stirn. Eingeklemmt zwischen seinem schlaffen Körper und der Badezimmerwand versucht er den zur Brust geknickten Kopf ein wenig zu drehen, um meinen schwarzen italienischen Schuh genauer betrachten zu können.
«Wie bin ich nur hier angelangt?», flüstert er leise. «Aber schön, dass du da bist. Ein schöner Anblick bin ich bestimmt nicht, tut mir leid.»

Die Haustür hatte gastfreundlich offen gestanden, und ich hatte naiv geglaubt, dies wäre ein gutes Zeichen. Wer Türen offen stehen lässt, hat entweder nichts zu verbergen oder nichts, woran man hängt. Oder, man möchte gefunden werden, obwohl man sich abgemeldet hat.
Ohne dass man um Hilfe rufen muss. Dies wäre nämlich ein Zugeständnis, man würde das Versagen offen in die Arme schliessen mit einem Hilferuf. Da lässt man lieber die Türe offen stehen. Er hatte noch nie viel über sich selbst gesprochen, und heute mit einem Hilferuf zu beginnen, nein, das passt nicht zu ihm. Lieber Türen offen stehen lassen und gefunden werden zulassen.
«Geschlossene Türen machen Agnostiker zu Atheisten», hatte ich gedacht, als ich da gestanden hatte, unschlüssig, ob ich ihn suchen durfte. Ich war noch nie in sein Schlafzimmer gegangen zum Beispiel, obwohl wir dieses Sich-dem-Schlafzimmer-nähern-Spiel oft gespielt hatten. Ich war noch nie in seinem Badezimmer, kenne die marokkanischen Fliesen aber, weil er mir einmal eine geschenkt hatte.
«Für unter deinen Teekrug, damit du den Tisch nicht verbrennst», hatte er gesagt, als er von einer Malreise zurückgekehrt war und gebräunt vor meiner Tür gestanden hatte.

Und nun liegt dieser Mann vor meinen schwarzen italienischen Schuhen.
«Setzt du dich ein wenig zu mir?» fragt er, seine Augen sind wieder geschlossen, seine rechte Hand zieht er mühsam unter seinem Rücken hervor, damit er mich zu sich hinunter winken kann. Die Badezimmertür, die ich mit aller Kraft aufstossen musste, um überhaupt eintreten zu können, schliesse ich jetzte hinter mir, und ich knie mich seitlich zu ihm auf den Boden, lege den Kopf auf seine Brust und seine rechte Hand auf meine linke Wange.

«Du riechst gut», rutscht es mir heraus und gleite über die Jahrzehnte alte Grenze der Unnahbarkeit. Meine rechte Wange spürt ein zuckendes Lächeln in seiner Brust.
«Ganz alles habe ich nicht aufgegeben.» Ohne mein Gesicht zu bewegen suchen meine Augen nach Halt im Raum. Auf dem kleinen Schrank unter dem Waschbecken stehen ein paar präzise aufgestellte Fläschchen mit teurem Flair, jene, die seine Frau zurückgelassen hatte, um sich nicht erinnern zu müssen. Denn Duftreisen sind zwar kostenlos, aber unberechenbar. Das Badezimmer ist hell und sauber und aufgeräumt, und wenn ich nicht auf dem kalten Boden neben meinem ältesten Freund seitlich gebeugt knien würde mit der Wange auf seiner Brust und mit meinem Arm um seinen zitternden Körper, dann wäre doch alles ganz und gar normal, in diesem Badezimmer. Aber nichts ist mehr normal.

Für eine Zeit lang waren Schiff, Ente und Wasserrad auf dem Wannenrand normal, Haarbänder und ein rot geblümter Schemel, auf dem sich die kleine Vera stehend alleine die Zähne putzen konnte, während man beim Familienessen in kleinen Schlucken trank, vernünftig am Tisch und versteckt in der Küche und dabei so tat, als wäre der Wein für die Sauce gedacht. Veras strahlendes Gesicht war ein Schutzschild gegen das Masslose gewesen, ihre kindliche Reinheit die Wächterin des klaren Gewissens.
Jetzt kauere ich wieder in einem Junggesellenbadezimmer ohne Plastik, neben einem scheinbar siebzigjährigen Mann, der vor nicht allzu langer Zeit gerade mal fünfzig war, bevor die Weinregale im Keller hemmungslos leergetrunken worden waren und das Leuchten aus seinen Augen gewichen war.

«Ich habe eigentlich einen Plan. Wenn ich nicht besoffen im Bad flachliege.» Er spricht sehr langsam und kaum hörbar. An anderen Tagen hätte ich gelächelt, aber gerade jetzt kommt mir dieser Satz so dünn vor wie die spröde Haut an seinen Händen. Pläne gibt es in seinem Leben so viele wie auf den Regalen im Architekturbüro nebenan, fein säuberlich eingerollte, viel zu teure oder unpraktische aber stets sehr eindrücklich handcolorierte Pläne. Der Architekt ist heute mehrheitlich arbeitslos und hatte auch beim Kelleraustrinken geholfen.
Als ob das nicht alleine ginge, hatten sie gemeinsam oft lange schweigend nebeneinander dagesessen, bis die Schemel rote Kreise in ihr Sitzleder gepresst hatten. Die hatte man auch noch drei Stunden später sehen können, als die beiden auf den vollen Weinbäuchen auf Strandtüchern im überwucherten Sommergarten gelegen hatten, um den Rausch auszuschlafen. Im Juli.

Jetzt ist Dezember, der Keller leer und der Architekt hat sich frisch verliebt. Auch bei ihm stehen keine Wasserräder mehr im Badezimmer, aber seine Tochter wird wenigstens einmal pro Woche für eine Nacht zu Besuch gebracht. Seine Weingläser habe er verschenkt, hat mir der Architekt einmal im Oktober beschämt gestanden, scheinbar entsorgt ist damit das schlechte Gewissen und auch die peinliche Blösse, die man sich auf runden Bäuchen im Sommer gegeben hatte, und die an den Gläsern wie fettige Fingerabdrücke geklebt hatte.

«Hast du schon einmal etwas gestohlen?» frage ich und möchte mich aufsetzen, meine Beine schlafen ein. Ich weiss nicht genau, warum mir gerade diese Frage in den Sinn kommt. Eine Notfallfrage aus Verlegenheit.
«Ich habe immer für alles bezahlt», antwortet mein ältester Freund. «Auch jetzt. Schau mich doch an.» Wieder spüre ich sein Lächeln. Fast ein Hüsteln. Er räuspert sich.
«Manchmal ist nichts zu teuer, aber das kennst du ja. Immer schön masslos.»
Langsam entziehe ich mich unserer allerersten Umarmung, ich stehe auf und blicke auf ihn hinunter. Seine dunklen lockigen Haare sind schweissverklebt, die Haut an seinen rechten Fingerspitzen ist vergilbt von zu tief herabgebrannten Zigaretten. Im grauen weichen Wollpullover sind ein paar Brandlöcher an den Ärmeln.
«Kannst du mir einen Gefallen tun?» Seine tiefe Stimme klingt nüchterner und fest.
«Sicher. Was denn?»
«Kannst du für mich einen Brief einwerfen? Er liegt auf dem Regal im Wohnzimmer.»
Er holt tief Luft und versucht erneut, seinen Körper aufzurichten. Ich gehe in die Knie und ziehe ihn etwas zur Seite, weg von der Tür, dann setze ich ihn auf, wie eine träge regennasse Heupuppe lässt er sich bewegen, aber sein Körper ist zu schwer für mich und ich setze mich wieder. Nun lehnt sein Oberkörper mit dem Rücken gegen meine Brust, Beine ausgestreckt.
Die nackten Füsse sehen alt aus, denke ich. Wann beginnen Füsse alt auszusehen, frage ich mich, und es gelingt mir nicht mehr, wegzuschauen.

Ich erinnere mich an seine jungen nackten Füsse, als er mir vor drei Jahrzehnten sein erstes Atelier gezeigt hatte, als wir zusammen auf dem breiten Sofa unter einer Bogenlampe in der leeren Halle sassen und übermütig über Kunst philosophierten. Damals war ich unnachvollziehbar verliebt gewesen, obwohl er einen undurchsichtigen Ruf hatte. Für diesen ersten Besuch im Atelier hatte ich ein Mixtape zusammengestellt, auf dem Boden kauernd, Kette rauchend hatte ich Songs von Sängern in schwarzen Rollkragenpullovern ausgesucht, um musikalisch ein möglichst subtil zweideutiges aber doch beeindruckendes Verliebtheitgeständnis zu verfassen. Ich hatte mir vorgenommen, dass ich die Kassette ganz
beiläufig einlegen würde zwischendurch, während er uns vielleicht Kaffee brauen würde. Ich hatte gedacht, dass ich mit exquisitem Musikgeschmack und minimalsitisch gestalteter Kassettenhülle aus Helvetica und Man Ray Herzgeschichte schreiben würde. Tatsächlich hatte sich der Mutprobemoment ergeben, ich hatte das Tape hastig in das Kassettendeck hineingeschoben, den Startknopf gedrückt. Aus den Lautsprechern war zuerst ein Knacken gebrochen, gefolgt von einem baritonen Brummeln.
«Was machst du da?» hatte er aus der kleinen Küche gerufen. «Die Anlage ist kaputt, aber das weisst du ja jetzt!»
Mit übertriebener Vorsicht hatte er später das verquirlte Band aus dem Deck gezupft. Die Kassette würde er auf Bandsalat gebettet in einer kleinen Schale auf einem der Regale aufbewahren, bis aus dem Schwarzband die letzten Melodien verklungen waren, und meine Verliebtheit auch.

«Willst du denn, dass ich gehe?» frage ich.
«Nein. Aber ich will mich scheiden lassen. Der Brief geht an den Anwalt. Bringst du mir etwas Wein mit, wenn du wiederkommst?»

Wein werde ich keinen kaufen. Ich weiss, dass ich den Brief mitnehmen, aber statt in den Briefkasten, in den Hundekoteimer daneben werfen werde, zusammen mit meinem Anflug eines schlechten Gewissens.
Vor vielen Jahren ist es mir nicht gelungen im Spiel gegen das Schicksal zu gewinnen.
Heute gelten andere Regeln.