Ich habe ihn umgebracht, meinen Hund. Und jetzt soll ich dich zum Sterben begleiten? Während ich packe, kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Es verschwimmt alles. Irrational. Was gehört in einen Koffer, wenn die Reise zum Tod geht? Ich bin Emilia, 51 Jahre alt. Ständig schaue ich auf mein Handy. Wie eine Übersprungshandlung. Ich muss gleich los. Rechtzeitig zum Flughafen. Zu Dir.
Als du das erste Mal gesagt hast, du willst nicht mehr, war ich wütend. Wir saßen beidir im Wohnzimmer und tranken Earl Grey. Ich hatte die Walnusskekse mitgebracht,die du so magst. „Was heißt das, du willst nicht mehr? Wir tun alles für dich, wirsorgen für dich, du bekommst alles, was du brauchst. Wieso sagst du das, Mama?Wir sterben alle. Du kannst nicht sagen, ich mach das jetzt, ich sterbe am Freitag in drei Wochen.“
Aus dem Bad hole ich meinen Kulturbeutel. Ich habe nur Handgepäck. Am Ende braucht man nichts mehr, denke ich. Suche einen Plastikbeutel für die Kosmetika. Keine Flüssigkeiten über 100 ML. Ich fülle die Cremes und Fluids um in kleinere Tiegel. Etwas, was du nicht mehr kannst. Deine Hände lassen es nicht mehr zu. Die Verknüpfungen zwischen Hand und Hirn sind aufgeweicht. Bald weißt du nicht mehr, wie das geht. Du wirst dich nicht mehr erinnern. Es sei denn du stirbst vorher.
Am Anfang waren es Kleinigkeiten, die mir und meiner Schwester Carla auffielen. Auf dem Spaziergang in deinem Lieblingspark, einmal um den See und dann sich auf die Bank bei den Trauerweiden setzen. Carla wollte geradeaus über die Brücke und du wusstest nicht mehr, dass der Weg dort langführt, der Weg zu deiner Lieblingsbank. Bei allen Spaziergängen, die folgten, mussten wir dir mehr helfen. In die Jacke, die Treppe herunter, einhaken, damit du Halt hast. Deine Schritte wurden schleppender und schwerer. Schlurfend. Plötzlich hast du einen engen Bekannten nicht mehr erkannt. „Wo ist deine Brille Mama? Siehst du nicht, dass das David ist? Warum trägst du deine Brille nicht?“
Ich darf meine Lesebrille nicht vergessen. Sonst kann ich die Dokumente nicht unterzeichnen. Ich schiebe das Brillenetui in meine Handtasche. Pass, Portemonnaie und Medikamente stecke ich dazu. Du wolltest deine Medikamente irgendwann nicht mehr nehmen. Hast alles durcheinander gebracht, hast gesagt, du brauchst sie nicht mehr. Da warst du im dritten Stadium von vier. Da wussten wir, dass es keine Alterserscheinungen sind. Die Diagnose war: Frau Ribeira hat eine progressive neurodegenerative Erkrankung. Demenz.
Carla und ich, wir hatten dich abwechselnd zum Arzt begleitet, als deutlich wurde, das ist nicht mehr Altwerden. Erst zum Geriatrie-Spezialisten, dann zum Facharzt für neurodegenerative Erkrankungen. Für dich war es schlimm. Du wolltest nicht schwach und krank wirken. Alt sowieso nicht. Alt werden war keine Option für dich. „Ich sterbe vorher“, hast du immer gesagt. „Vor was Mama?“ „Bevor ich nicht mehr alles allein machen kann. Bevor ich aus meiner Wohnung raus muss.“ „Keiner weiß, wann er stirbt Mama. Das Ende ist nicht klar. Sterben ist alterslos. Zeitlos. Klassenlos.“ „Ich will nicht dahinvegetieren“, hast du erwidert. „Natürlich nicht. Keiner will das.“
Aus der Kommode im Flur hole ich einen Corona-Test. Muss ich den machen? Spielt das eine Rolle? Positiv, negativ. Ich will Ansteckung ausschließen, schiebe mir das Teststäbchen in die Nase. Ein geübter Ablauf. Du hast all deine Kraft zusammengenommen bei den Tests und ärztlichen Untersuchungen. „Merken sie sich folgende drei Begriffe: Katze, Kerze, Auto. Rechnen sie bitte 89 weniger 7?“ „82.“ „82 weniger 7?“ „75.“ „Was waren die drei Begriffe?“ Katze… Kerze?“ Volle Konzentration, keine Defizite offenlegen. Dein Wille hat Höchstleistungen ermöglicht. Nur den fortschreitenden Abbau konnte dein Wille nicht aufhalten.
Ich nehme meinen Schlüssel vom Haken. Habe ich alles? Nein. Ich kann nicht. Ich bin nicht bereit, nicht überzeugt. Ich bin komplett durcheinander. Wieder der Gedanke an meinen Hund Hilde. Mein Lebensbegleiter. Zehn Jahre. Wo ich war, war Hilde. Lebensfroh, schlau, verspielt. Plötzlich ist Hilde krank geworden. Keiner wusste, was sie hat. Sie wurde dünner, müder, schwächer, hatte Schmerzen. Schließlich war klar, sie hat Lymphdrüsenkrebs. Nix zu machen. Fatal die Frage vom Tierarzt: wollen sie den Hund einschläfern? Wie kann ich bestimmen, dass das Leben meines Hundes nicht mehr lebenswert ist? Tagelang habe ich neben ihm gelegen, ihn festgehalten, ihn gestreichelt. Hilde, meine Hilde. Ihr Bellen klang wie ein Husten, sie konnte sich kaum aufrichten. Unerträglich anzusehen. In dem Moment habe ich entschieden, sie einschläfern zu lassen. Sie zu erlösen. Ich habe mich gefühlt, als hätte ich sie getötet.
Mit Hildes Tod war mir klar, ich will niemals vor der Entscheidung stehen, das Leben eines mir nahestehenden Menschen zu beenden. Ebenso soll keiner die Verantwortung tragen, wenn ich nicht entscheidungsfähig bin, lebenserhaltende Maßnahmen zu veranlassen oder einzustellen. Niemand soll bestimmen müssen. Ich muss meinen Tod selbstbestimmen. Vorher. Wie du Mama. Nur das bei mir der Zeitpunkt klar definiert ist. Wenn es ohne Geräte nicht mehr geht. Wenn ohne Strom kein Leben mehr ist. Bei dir Mama handelt es sich um Sterbehilfe, assistierten Suizid. Die Voraussetzung dafür ist Freiverantwortlichkeit – selbstbestimmt und bei klarem Bewusstsein die finale Medizin eigenhändig einnehmen. Ich suche die Unterlagen raus: Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Generalvollmacht. Die Dokumente kommen in die Handtasche. Nicht in den Koffer. Falls der verloren geht.
Ich habe noch ein paar Minuten bevor das Taxi kommt. Ich bin nervös, würde gerne rauchen. Ich rauche nicht. Grundsätzlich nicht. Doch es ist ein Rauchmoment. Was verbrennen, Dampf ablassen. Noch was Mama. Ich habe selbst oft über das Sterben nachgedacht. In Momenten der Ungewissheit. „Ist der Knoten in meiner Brust Krebs?“ „Wie, sie wissen nicht, ob meine einzige Niere schrumpft?“ Ein innerer Schrei, die drängende Frage in meinem Kopf: was ist lebenswertes Leben? Was ertrage ich? Wo ist die Grenze? Schmerz? Abhängigkeit? Eingetrübtes Bewusstsein? Kann ich das meinen Liebsten zumuten? Halt, nein, der Tod ist privat. Es geht nicht um die anderen. Ich entscheide mich nicht gegen das Leben, für jemand anderen. Das ist kein Gefallen. Niemals darf Druck der Grund sein. Meine Hände zittern.
Handcreme ich brauche Handcreme. Ich reibe meine Finger ein, streiche über die Haut. Pflege. Pflege ist wesentlich. Körperliche und mentale Gesundheit benötigt Pflege. Steigende Pflegebedürftigkeit ist normal im zunehmenden Alter. Der Grad der Pflege ändert sich bei Demenz. Rapide. Aber Du bist nicht Hilde Mama. Du bist ein Mensch. Was Du geschafft hast, all die Jahre. Ohne Dich würde es mich nicht geben. Du bist einzigartig. Ich konnte kaum Schritt halten mit Dir. Du bist durchs Leben gerannt. Schnell, unaufhaltsam. Nun mit 82 ist alles Zeitlupe. Wie rückwärts. Erst fast forward, dann rewind. Du hast beschlossen, die Stopptaste zu drücken. Der Gedanke, Dich auf ewig einschlafen zu lassen ist unfassbar, nicht begreiflich.
Mein Blick geht auf die Uhr. Wo bleibt das Taxi? Der Flieger wartet nicht. Was, wenn ich einfach nicht komme? Lässt sich der Tod nicht verschieben Mama? Du hast nicht aufgehört, vom Sterben zu reden. Der Ruf nach dem selbstbestimmten Ende wurde beständig lauter, als die Selbständigkeit konstant abnahm und der Weg in ein Pflegeheim unausweichlich näher rückte. Bei jedem Besuch wurdest Du weniger, bist langsam verschwunden. Erst hast du versucht, es zu überspielen. Hast es geleugnet. „Ich hab nix. Das ist normal, altersbedingt. Horst ist 79 und vergisst viel mehr als ich.“ Mit einmal waren die Geräte kaputt. „Das Handy ist runtergefallen. Microsoft hat meinen Computer gehackt. Der Fernseher braucht ein Update.“ Wir haben uns um deine Finanzen gekümmert, den Papierkram, Steuer, dir die Geräte wieder erklärt. Aufgeschrieben wie was funktioniert. Wir haben dir Hilfe für den Alltag organisiert. Solange es geht, solltest du in deiner Wohnung bleiben. Deine Lebensader.
Ich merke, wie müde ich bin. Letzte Nacht war kaum an Schlaf zu denken. Du hast mit der Zeit angefangen tagsüber zu schlafen, hast viel gegähnt, warst erschöpft. Lagst eingekuschelt in der Sonne unter der Decke auf deiner Chaiselongue. Eine spürbare Lebensmüdigkeit oder -sattheit. Genug gelebt. Das selbstbestimmte Sterben hatte sich als Wunsch fest etabliert. Zwischentöne ließen anklingen, dass du dich unnütz fühltest. Der Wert deines Lebens hängt doch nicht von einer Leistungsfähigkeit ab Mama. Nicht ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein, heißt doch nicht, dass es besser ist, nicht mehr zu existieren. Wo ist da der Selbstwert? Du hast unermessliches erreicht, familiär, beruflich, menschlich. Warum nicht den Tod dem natürlichen Rhythmus des Lebens überlassen? Deine Entscheidung blieb von Dauer. Keine Information, Ermutigung wie dein weiterer Weg sich auf eine sorgenfreie Weise gestalten könnte, hat dich von deinem Entschluss abgebracht.
Mein Blick geht auf das Mobiltelefon. Der Fahrer ist unterwegs. Die Wetterapp warnt vor Regen. Ich packe den blau gepunkteten Schirm in die Tasche. Du hast mir den geschenkt Mama. „Pass auf, dass Du nicht nass wirst und dich erkältest Emilia!“ Ernsthaft Mama. Geht es nicht genauso um den Schutz des Lebens, für das du gekämpft hast. Ein gutes, erfülltes Leben. Ist wirklich Krankheitsverleugnung, das Gefühl der Bedrohung, Annahme der Diagnose und Sterbenswunsch die einzige mögliche Entwicklung? Fragen, die der Sterbehilfe-Verein dir gestellt hat. Motivation und Dauerhaftigkeit des Entschlusses einen assistierten Suizid vorzunehmen. Sind alle anderen Maßnahmen zum Erhalt des Lebens bekannt und erwogen worden? Aus der Tür des Gesprächszimmers raus, war ich wie betäubt, stumpf, konnte nicht atmen. Nichts war offengeblieben. Die Vorgehensweise, wie du liegst, welche Medikamente verabreicht werden, was im Körper passiert. „Wollen sie Musik Frau Ribeira?“ „Ja, Musik und Blumen.“ Sterben in den eigenen vier Wänden, deinem Zuhause, deinem Bett, dein letzter Wunsch.
Es klingelt. Ich zucke zusammen. Es geht los. Die Reise beginnt. Ich denke an die Bremer Stadtmusikanten. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, sagt der Esel. Hat der Esel nicht Recht Mama? Wollen wir nicht lieber ans Meer fahren? Willst du nicht in der Gischt stehen und Salz atmen, statt Abschied zu nehmen? Lieber den Hotelkatalog anschauen als Informationsmaterial über das begleitete Sterben? Ich greife meinen Mantel. Zurück wird die Wohnung anders sein, ich werde anders sein, alles wird anders sein. Du bist dann nicht mehr.
Ich ziehe die Tür zu. Der Schlüssel klemmt. Mit einer Gegenbewegung löst er sich. Ich kann dich verstehen Mama. Ich bin trotzig. Wie können wir denn ausschließen, dass du nicht morgen ganz natürlich deinen letzten Atemzug nimmst. Ich weiß nicht, ob du egoistisch bist oder ich. Bleib noch ein bisschen. Selbst im letzten Stadium der Demenz nimmt der Erkrankte feinfühlige Ansprache war, kann durch Mimik und Gestik antworten. Du könntest Blinzeln. Einmal: Ja, zweimal: Nein. Nein. Wir werden uns verabschieden, Carla und ich, dich begleiten beim Übergang in Würde. Ich habe Angst Mama. Was wird das mit mir machen? Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit, wir tragen sie alle in uns. Das ist Leben. Es ist fragil. In einer Sekunde kann alles anders sein.
Ich renne die Treppe herunter. Keine Zeit zu trödeln. Will ich wissen, wenn mein Ende naht? Will ich es bewusst erleben? Ausweglos, die Lage scheint ausweglos. Ich gebe Dir Recht, bei einer irreversiblen Erkrankung, die mein Selbst auflöst, würde ich mich für das Sterben entscheiden. Denn ohne Selbst kann ich mir Leben nicht vorstellen. Kofferraum auf, Gepäck rein. Ich springe ins Taxi. Es ist alles gesagt. Ich fliege zu Dir. Ein letztes Mal.