Marie steigt in die Straßenbahn. Ihre Augen suchen einen Sitzplatz, doch ihr Blick ist leer, nach innen gerichtet, in einen Hohlraum, eine diffuse Dunkelheit, die keinerlei Halt bietet. „Möchten Sie sich setzen?“, fragt eine ältere Dame und deutet auf einen der wenigen freien Plätze. Marie schüttelt den Kopf. Diese Sitzplätze sind alten, schwachen oder hochschwangeren Personen vorbehalten. So weit ist es noch nicht. Misstrauisch mustert Marie ihr Gegenüber: „Ob sie etwas weiß? Ob man es mir schon ansieht?“ Die alte Dame wirkt besorgt: „Ist alles in Ordnung?“ Eine Fremde nimmt Anteil. Marie möchte am liebsten losheulen, doch sie lächelt. „Danke, mir geht es gut“, lügt sie. Erleichtert hört sie, wie überzeugend ihre Stimme klingt. Die Lüge fällt ihr leicht. Gut so. Das wird sie in den nächsten Tagen noch öfter brauchen.
Als der Wagen in ihrer Station hält, steigt sie aus. Wie immer wendet sie sich gleich nach links, geht zügig in Richtung ihrer Wohnung und läuft dann ebenso zügig an dieser vorbei. Zwei Blocks weiter öffnet sie die Tür zu einem Kaffeehaus und setzt sich an einen kleinen Tisch in einer der hinteren Nischen. Trotzig bestellt sie einen Cappuccino. Sie muss ihn ja nicht trinken, aber bestellen wird sie ihn wohl noch dürfen! Nachhause kann sie jedenfalls noch nicht. Nicht mit dieser Leere im Kopf. Was wohl früher kommt? Der Kaffee oder ein klarer Gedanke? Der Kellner stellt das Tablett mit Tasse und Wasserglas vor ihr ab. Der Kaffee. Natürlich. Marie lächelt. Dann eben kein Gedanke. Gut. Dann eben nicht. „Haben Sie noch einen Wunsch?“, fragt der Kellner. „Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, was ich mir wünsche!“, schreit sie ihn natürlich nicht an, sondern murmelt stattdessen: „Danke, alles bestens.“
Sie nimmt einen Schluck und konzentriert sich auf die Wärme und Bitterkeit des Kaffees. Der Geruch erinnert sie an Normalität. Es wird Zeit, die Fakten zu sortieren. Jakob hat Schluss gemacht. Es tut weh, daran zu denken. Sie macht ihm keinen Vorwurf. Er geht zurück nach Berlin und Marie bleibt hier in Wien. Sie haben nie vorgehabt, sich zu verlieben. Wozu auch. Jakob kann es sich nicht leisten, seinen Studienplatz zu verlieren, und Marie geht immer noch zur Schule. „Vielleicht danach?“, hat Jakob angeboten. „Vielleicht kommst du auch nach Berlin und wer weiß, vielleicht machen wir dann dort weiter, wo wir aufgehört haben?“ Er hat sie in den Arm genommen und noch einmal geküsst. Es war ein inniger Kuss und danach hatten sie zum allerletzten Mal Sex. Ein Abschied. Traurig schön und unendlich romantisch. Wenige Tage später ist er abgereist und Marie hat geglaubt, ihn nie wieder zu sehen. Sie hätten beide nicht im Traum daran gedacht, dass er einen Teil von sich in Wien zurücklassen würde.
Dann, vor knapp einer Stunde: „Gratuliere! Sie sind schwanger!“ Das idiotische Grinsen der Ärztin brennt immer noch in Maries Bauch. Tief in der Magengrube diese Übelkeit. Schwanger? Woher besaß die Ärztin die Präpotenz, sich darüber freuen zu dürfen? Marie nahm all ihren Mut zusammen: „Ich werde das Kind nicht bekommen.“ Das Kind. In dem Moment, als sie es aussprach, wusste sie, dass es ein Fehler war. Eine winzige Verbindung von Zellen, kaum mehr als Eizelle und Sperma, als Kind zu bezeichnen, war nicht im Entferntesten zutreffend.
„Das ist Ihre Entscheidung“, hat die Ärztin kühl geantwortet und mit einem Blick auf die Karteikarte ergänzt: „Sie sind volljährig.“ Ja, seit drei Wochen. Happy Birthday, Marie! Dann drückte ihr die Gynäkologin eine Broschüre in die Hand und sagte: „Hier finden Sie Adressen mit Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Schauen Sie sich aber bitte auch die Kontaktdaten für psychologische Betreuung an. Sie sind sehr jung. Sie sollten mit jemandem sprechen.“ Marie hat genickt, die Broschüre eingesteckt und die Ordination verlassen. Wie ferngesteuert ist sie in ihre Jacke geschlüpft, hat die Tür hinter sich geschlossen und mit dieser auch alles hinter sich gelassen, was bis dahin ihr Leben ausmachte.
Schwanger! Das bedeutet vor allem, dass sie ab jetzt alle anlügen muss, denn ihre Mutter würde sie zu dem Kind drängen und der Vater würde sie am liebsten vor die Tür setzen und erwarten, dass ab jetzt der Kindesvater für sie sorgen sollte. Und Jakob? Wiederwillig würde er die Vaterschaft annehmen. Und dann? Er würde es ihr nie verzeihen. Immerhin war es ihr Körper und damit auch ihre Verantwortung zu wissen, ob sie empfängnisbereit war oder nicht. Natürlich würde er für das Kind bezahlen. Vermutlich würde er es sogar kennenlernen wollen, wenn es älter war. Und sobald man mit ihm Spaß haben konnte, würde er es auch zu sich nach Deutschland einladen und den perfekten Vater spielen. Marie hat ein ziemlich klares Bild davon, wie er seine Rolle als Vater ausleben würde. Vaterschaft als Fernbeziehung.
Und Marie? Die letzten Prüfungen würde sie mit dickem Bauch machen. Bald danach wäre die Geburt und dann, wenn alle Freunde studieren oder arbeiten, bliebe sie daheim, bei einem Vater, der sie und den Balg nur duldet, weil seine Frau es von ihm verlangt. Nach jeder durchwachten Nacht voller Kindergeschrei, bei jeder Windel, die aus dem Mülleimer stinkt, bei jedem Tropfen Babykotze auf der Couch, würde er ihr Vorwürfe machen und auch ihrer Mutter, wenn sich diese schützend vor sie stellte. Das kleine Würmchen, das sich in Maries Körper breit macht, würde ihr aller Leben zerstören. Und gleichzeitig in eine Welt hineinwachsen, in der es nicht erwünscht ist. Kann man das einem Kind wirklich wünschen?
Marie lächelt bitter. Sie denkt an den Ethikunterricht Anfang des Jahres. In der Klasse ist hitzig diskutiert worden. Man hat sich in eine Pro-Life versus Pro-Choice-Debatte gestürzt, als ginge es – nicht nur theoretisch – um Leben und Tod. Marie hat, eigentlich nur zum Spaß, für Pro-Life Partei ergriffen und mit Feuereifer gegen Abtreibung gewettert. Die Argumente auf ihrer Liste damals sieht sie immer noch deutlich vor sich. Eigentlich hätte sie gut auf die Entscheidung vorbereitet sein sollen, die sie jetzt vor sich hat. Doch, womit sie nicht gerechnet hat, ist das Gewissen, das sich plötzlich immer deutlicher einen Weg in ihr Bewusstsein bahnt. Dieses verdammte Gewissen, das von ihr verlangt, die richtige Entscheidung zu treffen, mit der sie dann auch leben kann. Ist man wirklich „gut“, wenn alle anderen leiden? Oder bedeutet es, „gut“ zu sein, wenn man bereit ist, zum Wohl aller, Schuld auf sich zu laden und möglicherweise „Böses“ zu tun.
Wie soll sie das wissen? Wer – um Himmels Willen – kann von einem einzelnen Menschen verlangen, die richtige Wahl treffen zu können? Wenn es tatsächlich so etwas wie Gut und Böse gibt – wieso ist dann nicht ganz einfach das Böse verboten und das Gute für alle gleich? Wäre sie gezwungen, das Kind auszutragen, weil es nun einmal das Richtige, das Gute ist, dann würde sie es ganz einfach tun. Und sie wäre bestimmt nicht die einzige mit dickem Bauch in ihrem Jahrgang. Für ihren Vater wäre es ganz normal, dass seine Tochter auch ohne Ehe schwanger werden kann. Wer weiß? Vielleicht würde er sich sogar darüber freuen und sie unterstützen. Und Jakob würde das Kind ebenso ohne Vorwurf annehmen und selbstverständlich helfen, so gut er konnte.
Wenn aber nach reiflicher Überlegung klar wäre, dass in diese Situation kein Kind geboren werden sollte, wenn es bedeutete, das Richtige zu tun, indem man das Falsche abbricht, dann sollte der Arzt gleich nach der Diagnose das Zellgewebe entfernen. Wie eine Zahnsteinentfernung oder ein verdächtiges Muttermal. Einfach Schnipp und Weg. Man könnte offen darüber sprechen, ohne Scham und ohne Vorurteil. Und es gäbe keine vorwurfsvollen Blicke der Eltern, sondern maximal ein mitfühlendes: „Schatz, hat es weh getan? Soll ich in der Schule anrufen und dich ein paar Tage krank melden?“ Einfach so, ein Schwangerschaftsabbruch wie ein grippaler Infekt. Nichts, was man geplant hätte, aber was nun mal jedem passieren kann. Das Kind nicht auszutragen, wäre dann nicht einmal eine Entscheidung, über die man diskutieren könnte, sondern einfach eine logische Konsequenz.
Marie nimmt noch einen Schluck. Der Kaffee ist in der Zwischenzeit kalt geworden. „Ob das Koffein dem Kind schadet?“ Erstaunt schaut sie auf. Sie sieht sich in dem Kaffeehaus um, als wäre sie gerade erst angekommen. Sie nimmt den Raum wahr, das Licht, die Geräusche, die Farben und die Menschen, die sich darin bewegen. Plötzlich ist sie hellwach. Sie holt die Broschüre der Ärztin aus der Tasche. Dann tippt sie eine Nummer in ihr Handy und wartet: „Hallo? Ja. Ich hätte gerne einen Termin. Es geht um einen möglichen Schwangerschaftsabbruch.“