Verschlossen frei sein

von Yasemin Kamisli

Und vielleicht war sie einfach zu jung. Zu jung, um zu verstehen. Zu naiv, um zu glauben.  Zu klein, um zu begreifen. All das war sie frei. Frei von Liebe, gelöst von Sorge. Verliebt in das Leben, verloren in Gefühlen. Was bedeutet Gewissen, wenn wir nicht wissen, was Liebe ist? Wenn wir nicht fühlen, wie verletzt wir sind? Wer beantwortet uns die Frage der Schuld, wenn alles zu brechen scheint? Sie  schaute aus dem Fenster. Vor ihr lag eine Tür, eine verschlossene, die sie selbst bastelte. Die Tür war braun, sie sah alt aus, rostig. Wie eine Tür eben aussah. Das Schlüsselloch war klein, der Schlüssel fehlte. Aber die Tür war nicht echt. Hinter ihr verborg sich ein Bild. Ein Foto der Unendlichkeit, der Zeit ohne Gewissen. Sie spielte auf den Wiesen, wie ein kleines Kind es auch sollte, fröhlich und gelassen. Auf dem Stück Papier fragte sie niemand, wer sie sei, wieso ihr Haar so dunkel war, und ob Deutschland wirklich ihre Heimat sei. Das Blatt konnte man schnell zerreißen, entsorgen, zerknüllen. Sie hielt es aber gegen das Fenster, Licht durchflutete die Zeichnung. Plötzlich verlor die Tür an Farbe, alles erhellte. Hinter ihr schien nur noch die Sonne, der dunkle Schatten des Tischs verschwand. Keiner begegnete ihr mehr, die Fragen stellte sie sich plötzlich nur noch selbst. Wer bin ich, flüsterte sie, ohne all das? Ohne die Antworten anderer, ohne jegliche Anforderungen? Wer war sie, wenn alle Lichter ausgingen und nur noch das Rauschen des undichten Fensters zu hören war? Sie wusste nicht, was Gewissen war. Gewiss spielte sie mit ihren Gedanken, ob auf Wiesen, Feldern oder im Regen.

Doch irgendwann verstand sie. Sie verstand die Liebe, die Freiheit und die Schuld. Sie spürte zum ersten Mal das Gefühl der Schuld, als sie erfuhr, was Unschuld bedeutet. Unschuldig verließen neun Menschen die Welt. Ohne zu wissen, welche Leben nun auf dem Gewissen des Täters liegen. Ermordet. Sie wurden getötet. Am 19. Februar 2020 wurden sie getötet. Weil sie dunkle Haare hatten, wie sie. Weil sie in einer Bar saßen, die einem Besitzer gehörte, der aussah wie sie. Ermordet, weil sie anders beteten. Weil der Notausgang verschlossen war, hier war es eine echte Tür. Eine Tür, die man nicht einfach zerreißen konnte wie das Bild, was sie einst malte. Eine Tür, die Freiheit gewähren sollte, aber das Ende symbolisierte. Weil sie durch Menschen verschlossen wurde, die diese neun Menschen anders sahen, als sich selbst. Und der Richter liest vor, Artikel vier des Grundgesetzes. Er sagt laut und deutlich, die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Der Richter erhebt seine Stimme, die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Niemand, sagt er, darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.

Sie hebt ihre Hand. Aber wer, fragt sie leise, tötete Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin und Kaloyan Velkov, mit einer Waffe und reinem Gewissen, Herr Staatsanwalt? Auch ohne Krieg und in der Freiheit, Herr Staatsanwalt, tötete er sie. Wer bestraft diejenigen, die das Gewissen anderer für immer einsperren und festhalten, egal wie freiheitsliebend diese Menschen sind?

Sie weinte,

„Ich wünsche mir Frieden.“