Abschied

von Peter Getta

Claudia öffnete die Haustür. Ihr rotbraunes Haar war zu einem Zopf gebunden, der über ihrer rechten Schulter lag und fast bis zur Taille reichte. Ich umarmte sie. Sie trat einen Schritt zurück, schob eine Haarlocke aus ihrem Gesicht hinter ihr linkes Ohr. Ihre Haut war faltig geworden. Ich schloss die Haustür.
„Du weißt ja, die Garderobe ist da hinten.“
„Hier geht’s doch auch“, sagte ich.
Ich zog meine Jacke aus und legte sie auf die Sitzfläche des Rollators, der neben der Treppe stand.
„Christian ist oben im Schlafzimmer“, sagte sie.
Ich folgte ihr. Ihre Jeans war verblasst, hatte kleine Risse.

Christian lag rechts im Ehebett, sein Kopf ruhte auf der gepolsterten Lehne. Er richtete sich auf, zog mit einer Hand, dann mit beiden Händen die Decke über seine Beine. An seiner Seite saß ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren und Brille. Neben seinem Stuhl stand eine große schwarze Tasche. Der Mann nickte mir zu. Claudia setzte sich auf einen zweiten Stuhl zu ihm.
Christian lächelte mich an. Er zeigte auf einen Hocker am Fußende des Bettes. „Mehr Platz haben wir hier leider nicht“, sagte er.
Ich setzte mich. Die Luft war stickig, das Fenster geschlossen, der Rollladen halb heruntergelassen.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte Christian.
„Ist mir nicht leicht gefallen.“
„Ich weiß. Wie ich dich kenne, hast du dich schlau gemacht.“
„Ja“, sagte ich.
„Du siehst doch den Rollstuhl an Claudias Bettseite. Ich kann meine Beine kaum noch bewegen. Mit den Armen geht es auch immer schlechter.“
„Aber es muss doch … Die Ärzte, was sagen die?“
„Es gibt keine Chance. Die Krankheit ist unheilbar. Nur diese eine Möglichkeit …“, sagte Christian.

Er schaute Claudia an. Sie starrte auf den Boden.
„Sicher?“, fragte ich.
„Ganz sicher. Ich kann nicht mehr. Nicht für mich und vor allem nicht für meine Frau.“
Claudia hatte ihre Hände verschränkt, rieb die Finger aneinander. Das kleine silberne Kreuz, das sie an einer Kette am Handgelenk trug, schwang immer langsamer, stand schließlich still.
Christian lachte auf. „Wie lange kennen wir uns?“, fragte er.
„Seit der Realschule. Über 50 Jahre“, sagte ich.
„Also kennst du mich. Verstehst du mich auch?“
„Ich versuche es.“
„Kannst du dich noch erinnern?“, fragte Christian.
„Woran?“
„An unser erstes gemeinsames Konzert, auf dem wir waren.“
„‘Genesis‘?“, fragte ich.
„Ja.“
„Natürlich“, sagte ich.
„Wir haben unser ganzes Geld zusammengekratzt“, sagte Christian, „für die Fahrt und die Karten.“
„Haben wir. Genau. Der letzte Zug ist uns vor der Nase weggefahren.“
„Stimmt, weil du noch auf der Toilette warst“, sagte Christian.
„Ging nicht anders nach dem langen Konzert. Aber du, was hast du gemacht?“, sagte ich.
„Das weiß ich nicht mehr.“
„Natürlich weißt du das noch. Du hast dir noch zwei T-Shirts der Gruppe gekauft und mich überredet, auch eins zu kaufen.“
„Jetzt tu mal nicht so. Das war eine gute Investition“, sagte Christian und grinste.
„Na ja, wenn du das sagst. Jedenfalls hatten wir kein Geld mehr für ein Taxi. Mussten 20 Kilometer zu Fuß laufen. Mitten in der Nacht.“
„Das werde ich nicht vergessen“, sagte Christian.

„Ich auch nicht. Mir taten so die Füße weh.“
„Stimmt. Du wolltest sie bei mir im Gartenteich kühlen. Da war ich aber dagegen.“
„Genau“, sagte ich. „Wir haben hier unten am Teich gesessen, Bier getrunken. Und …“
„Nein, sag nichts. Wir haben getrunken und gesungen. Alle Lieder des Konzerts. Ziemlich laut. Zum Glück ist Claudia nicht aufgewacht. Es wurde irgendwann Morgen.“
„Die Sonne ging auf“, sagte ich. „Deine Fische kamen an die Wasseroberfläche.“
„Ja“, sagte Christian. „Es stimmte alles. Damals. Zwei Kumpels am Teich.“
„Zwei Kumpels am Teich. Das war es“, sagte ich.
„Ich habe die Elritzen verkauft.“
„Warum?“
„Meine Frau mag eigentlich keine Fische“, sagte Christian.
Claudia schaute ihn an. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist jetzt nicht wichtig. Man muss Abschied nehmen.“
„Bist du wirklich ganz sicher?“, fragte ich.
„Denk immer an das, was wir beide alles erlebt haben“, sagte Christian. „Jetzt geht es noch so gerade, aber es wird schlimmer. Täglich schlimmer. Claudia meint zwar, dass …“
Er blickte sie an. Sie saß da, still, mit geschlossenen Augen.
„Ich habe mich entschieden“, sagte er.
„So, Herr Doktor, ich denke, es wird Zeit.“
Der Mann öffnete seine Tasche, holte ein Fläschchen und einen kleinen Plastikbecher heraus. Er schraubte das Fläschchen auf, goss den Inhalt in den Becher und reichte ihn Christian, der den Becher leerte und ihn dem Doktor zurückgab.
„Keine Sorge“, sagte Christian. „Das hier war nur, um ein Erbrechen zu unterdrücken.“
„Aber …“, sagte ich.

„Ich weiß, was du fragen willst. Nein, ich werde keine Schmerzen haben. Durch das Schlafmittel, das ich noch bekomme, werde ich bewusstlos und danach wird alles schnell vorbei sein.“
Ich stand auf, strich einmal mit der flachen Hand über die Decke, die über seinen Beinen lag.
„Danke, mein Freund“, sagte Christian. Er hob ein wenig seinen linken Arm, ließ ihn sofort wieder fallen, blickte zur Seite. Der Doktor griff erneut in seine Tasche. Ich verließ den Raum.

Am Fuß der Treppe nahm ich meine Jacke vom Rollator und zog sie an. Ich wischte den Staub von der Sitzfläche, klappte den Rollator zusammen und lehnte ihn an die Treppe. Draußen atmete ich einmal tief ein und aus. Der Teich in der Gartenecke wurde beschattet durch die hohe Ligusterhecke, die das Grundstück von der Straße trennte. Er war mit einer Holzplatte abgedeckt. Daneben stand ein Junge. Sein Fahrrad lag auf dem Kiesweg. Er drehte sich um.
„Hallo“, sagte er. „Sind die Fische weg?“
„Die Fische, ja, nun, die …“
„Ach, ich weiß“, sagte er, „Onkel Christian hat gesagt, die Fische brauchen auch mal Ruhe.“
Er setzte sich auf sein Fahrrad, fuhr an mir vorbei.
„Ich komme wieder, wenn die Fische ausgeschlafen sind.“
Er steuerte auf den Eingang zu, hob seinen linken Arm ganz hoch, winkte und bog auf die Straße ab. Über mir wurde ein Rollladen langsam heruntergelassen, bis er leise auf die Fensterbank fiel.