Und siehe...

von Ursula Strätling

„Und siehe,
Schrecken und große Finsternis überfiel ihn“
1. Mose 15, 12

Prolog
Tiefschwarz umhüllt ihn noch immer die Nacht. Wie eine bleierne Decke legt sich die Angst auf sein Gemüt, verstopft ihm die Atemwege, so dass er panisch nach Luft zu schnappen beginnt.
Sein Mund formt einen lautlosen Schrei – ungehört.
Dann – über Stunden hinweg, in denen er erschöpft und reglos an der Wand hockt – nichts mehr!
Die Stille frisst sich in sein Hirn, bis er fast irr wird, dehnt sich ins Endlose.

„Wir werden dich auslöschen!“, hatten sie zu ihm gesagt, „du wirst ein Niemand sein, nicht mal mehr eine Nummer! Von jetzt an nennen wir dich ‚Zahl‘ – einfach ‚Zahl‘, ohne irgendeinen Wert!

Ihn auslöschen! Was hatten sie mit ihm vor, was würden sie ihm antun?
„Zahl? Nein, ich . . .“, er schlägt mit der geballten Faust gegen die Wand, an die er sich lehnt. „Au! Schsch. . .“ Er sucht den Schmerz mit seiner anderen Hand zu verreiben.
In seinem Kopf beginnt sich zugleich ein Mühlrad zu drehen, dumpf und quälend. Das Denken fällt ihm schwer.
Die stundenlange Befragung hat Spuren hinterlassen. Sie waren nicht zimperlich gewesen.
Nun tastet er sich langsam mit der Hand vor, im-mer an der Wand entlang, bis . . ., da geht’s nicht weiter, wie ist es auf der anderen Seite? Er sucht sich zurechtzufinden, will wissen . . ., auch hier kommt er schon bald an ein Ende, die Schmalseite? Also weiter, wie sieht es mit der anderen Wand aus?
Sie fühlt sich kalt an. Er beginnt unwillkürlich zu frösteln und zieht die Jacke enger um seinen Körper. Zwei kleine Schritte, dann ist auch hier das Ende erreicht. Nicht mehr?
Kann – kann er sich hier überhaupt lang ausstrecken? Er wagt kaum, den Gedanken zu Ende zu denken.
Und dann probiert er es aus. Es geht so grad. Wenn er die Arme ausstreckt, kann er mit den Händen die Wände berühren.
Vorsichtig richtet er sich zu voller Größe auf – und berührt mit seinen Haaren die Decke.
Jetzt entsteht eine räumliche Vorstellung in seinem Kopf. Aber was ist das hier? Kein Zimmer, keine Zelle . . ., eine Gruft! Wie eingemauert ist er! Wollen sie ihn hier verrotten lassen? Weiß überhaupt irgendjemand davon? Das geht ja nicht mit rechten Dingen zu, ist alles nicht legal, was diese Verbrecher da mit ihm machen! Aber dann wird er ja vielleicht nie mehr . . ., dann wird er möglicherweise niemals mehr das Tageslicht sehen. Er beginnt, am ganzen Körper zu zittern, als ihm das so richtig klar wird. Und dass sie es ernst meinen mit ihren Drohungen, davon haben sie ihn be-reits mehr als überzeugt.
Gerade will er sich der Verzweiflung überlassen, als ein Geräusch ihn hochfahren lässt. Er hört, wie eine Klappe geöffnet wird, während ein leichter Lichtschein das Gelass erhellt: „Zahl! Dein Essen!“
Ein blecherner Knall, als die Schüssel auf dem beschlagenen Brett aufschlägt, dann wieder Dunkelheit und sich entfernende Schritte. Erst als die Stille wieder lauter wird, kommt Bewe-gung in den Mann. Er tastet sich langsam zur Tür und zu der Schüssel vor, die er mit sich nimmt, als er sich auf den Boden setzt. Dann befühlt er deren Inhalt, ohne ihn ergründen zu können.

Die weiße Kälte so laut, dass meine Gedanken bersten.
Endlose Weite dringt ein in mein Hirn.
Gleich! Gleich werden sie kommen und mich holen!

Etwas zerrte an meiner Jacke.
„Au!“, ich riss meinen Arm zurück. Das tat weh! „Was soll das?“ Ich suchte meine Augen zu öffnen – auch wenn es schwerfiel – und prallte entsetzt zurück. Ein Wolf! Er schien ebenso erschrocken wie ich und machte einen Satz zurück, als unsere Blicke sich trafen. Erst jetzt spürte ich den brennenden Schmerz in meinem linken Bein. Das Aufstehen bereitete mir Mühe, doch im Angesicht des offensichtlich hungrigen Tieres, das aus relativ kurzer Distanz jede meiner Bewegungen genau beobachtete, durfte ich meine Schwäche nicht offenbaren, sonst war ich schon gleich dem Tode geweiht. Ohne das Raubtier aus dem Blick zu lassen, raffte ich mich wieder auf die Beine. Misstrauisch beäugten wir uns gegenseitig eine Weile, bevor ich mein Gewehr vom Boden hochhob. Zum Glück waren auch der Munitionsbeutel und das Messer noch da, sonst hätte ich mich nur noch mit bloßen Händen verteidigen können. Ich atmete auf und sah mich um. Wo es einen Wolf gab, waren meistens auch noch andere zu finden. Doch weit und breit konnte ich nichts dergleichen entdecken. Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich nach kurzer Überlegung Richtung Westen in Gang.
Es war mühsam, sich durch den Schnee vorwärts zu bewegen, auch der Wolf blickte skeptisch, wie mir schien. „Ja, brauchst gar nicht so zu gucken, ich schaff das schon, wirst sehen!“, knurrte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Von Zeit zu Zeit blickte ich mich um. Aber er schien mich als Beute noch nicht aufgegeben zu haben, denn er folgte mir beharrlich, wenn auch in einigem Abstand.

So schleppte ich mich, wie mir schien, einige Stun-den lang voran. Irgendwo hier in der Nähe musste eine Holzhütte stehen, wenn ich mich nicht arg täuschte. Aber der Schnee hatte die Landschaft so verändert, dass ich mich kaum noch auskannte.
Schon begann es zu dämmern, und das konnte bei diesen Temperaturen den Tod bedeuten. Auch ohne Wölfe. Ich musste dringend nach meinem Bein sehen, es schien stark verletzt zu sein. Doch konnte ich mich nur noch dunkel daran erinnern, wie das denn überhaupt geschehen war.

Ich blieb stehen.
Es war nichts zu hören als diese alles übertönende Stille. Als ich weiterging, nur noch das leise Knirschen des Schnees unter meinen Füßen. Alle Geräusche sonst wurden verschluckt. Verschluckt von einer wachsenden Verzweiflung, die ich nur noch schwer in den Griff bekam

Mit der untergehenden Sonne aber tauchte endlich die Hütte auf. Ich stieß ein Freudengeheul aus. Als dies jedoch prompt beantwortet wurde, schrak ich sofort heftig zusammen und nahm das Gewehr zur Hand. Es hörte sich sehr nah an. Das schien auch meinen Verfolger nachdenklich zu machen, denn er verhielt sich still, anstatt zu antworten. „Oh, hast wohl auch Bedenken, wie? Sind das nicht deine Brüder?“ Der Wolf blieb stumm, sah mich aber unverwandt an, als habe er verstanden, was ich sagte. Als wir schließlich bei der Hütte anlangten und ich die beinahe festgefrorene Tür endlich aufstieß, nutzte das Tier die Gelegenheit, mit mir zugleich ins Innere zu schlüpfen. Mir verschlug es die Sprache! Unsicher überlegte ich noch, ob ich die Tür schließen sollte, da ließ mich ein aus nächster Nähe ertönendes Geheul sie entsetzt hinter mir zuwerfen. Schnell schob ich auch den Riegel vor. Erst danach schaute ich mich wieder nach meinem „Mitbewohner“ um. Der Wolf aber hatte sich in eine Ecke verkrochen und horchte, genau wie ich, aufmerksam nach draußen. „Da sind wir wohl Leidensgenossen, wie?“, brummte ich unbehaglich. „Ich werde mal erst ein Feuer machen, auch wenn du das wahrscheinlich nicht magst!“ Zum Glück lag genügend trockenes Holz säuberlich an der Innenwand des kleinen Raumes aufgestapelt. Um keinen Preis der Welt hätte ich mich jetzt nach draußen getraut!
Allerdings hatte ich mein Messer immer in griffbereiter Nähe, ließ meinen ungewollten Begleiter in der Hütte nicht aus den Augen.

Schon kurze Zeit, nachdem ich das Feuer im Ofen entfacht hatte, fingen auch die nachgelegten dicken Scheite Feuer und begannen, eine wohlige Wärme zu verbreiten.
Der Wolf verblüffte mich damit, dass er sich nun behaglich ausstreckte, und zusammen mit mir ganz offensichtlich die Nähe der Flammen zu genießen schien.
„Na, das ist ja eine Überraschung! Du bist gar kein richtiger Wolf, wie?“ Ich befüllte einen Topf mit dem zu Eis gefrorenen Inhalt meiner Wasserflasche, den ich zu diesem Zweck erst zerklopfen musste. Während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte, betrachtete ich das Tier nachdenklich. „Du bist an die Menschen gewöhnt, stimmt’s? – Doch komm mir erstmal nicht zu nahe, ich muss jetzt mein Bein versorgen, hörst du? Das tut nämlich saumäßig weh!“
Draußen schien jetzt alles still, und so schnitt ich behutsam die Hose auf und suchte, sie von der Haut zu lösen, mit der sie bereits wie verbacken war. „Sssssss“, scharf zog ich die Luft ein vor Schmerz, als ich das Tuch schließlich mit einem Ruck vom Bein löste. Prompt fing die Wunde wieder an zu bluten. Schnell drückte ich etwas von dem vorher zurechtgelegten Mull darauf und zog eine Wickel fest darüber, um die Blutung zu stillen. Zum Glück war es nur ein Streifschuss gewesen, so dass ich nicht noch in der Wunde herumstochern musste, um eine Kugel herauszuholen!
Inzwischen war auch meine Erinnerung an das Davor zurückgekehrt. Aber daran wollte ich jetzt erst mal nicht denken. Ich brauchte dringend etwas Schlaf! Doch was war mit dem Wolf, überlegte ich argwöhnisch? Schließlich kippte ich den Tisch und legte mich dahinter, das Feuer in meinem Rücken. In der Hand hielt ich mein Messer.
Neugierig sah mir der Wolf bei meinen Vorbereitungen zu. „Dass du bloß nicht auf dumme Gedanken kommst! Lass mich ein bisschen schlafen, hörst du?“
Kurz darauf fielen mir vor Erschöpfung die Augen zu.

2

Er schreckt hoch, findet sich nicht zurecht.
War da nicht gerade noch der Wolf? Dann fällt es ihm wieder ein. Der Kerker!
Immer noch hält er die Essensschüssel fest in der Hand. Eben hatte er noch geglaubt, es sei sein Messer.
Draußen auf dem Gang ein Klappern, das immer näherkommt. Er nimmt die ungeleerte Schüssel und tastet sich zurück zum Brett, wo er sie abstellt. Schon wird die Klappe aufgerissen. Einen kurzen Moment lang kann er im trüben Lichtschein die ganze Enge seines Verlieses erfassen. „Was soll das, Zahl? Besser, du würdest was essen, sonst machst du es nicht mehr lang!“, der schnoddrige Ton lässt es sogleich noch um einige Grade kälter werden.
Der Gefangene bemüht sich gar nicht erst um eine Antwort für den Aufseher. Aber der hat die Klappe ja auch schon wieder zugeworfen.
Ihm wird immer deutlicher, er ist nur in einer einzigen Hinsicht noch wichtig für seine Häscher. Sie erwarten Informationen! Doch was wird aus ihm, wenn sie die bekommen haben? Noch ist er klar genug bei Verstand, um sich nichts vorzumachen. Es liegt auf der Hand, dass er dann ganz einfach wertlos für sie ist, und das heißt, dass er nicht nur verschwinden darf, sondern sogar muss! Sie werden ganz sicher dafür sorgen, da gibt er sich keinerlei Illusionen mehr hin.
Mit dieser Erkenntnis breitet sich auch die Kälte immer weiter in ihm aus. Unwillkürlich beginnt er wieder zu zittern.
Zudem machen sich jetzt auch noch Blase und Darm bemerkbar.
Irgendwo muss es doch eine Möglichkeit geben . . ., er tastet den Boden ab. Nichts!
„Hallo! Haaalloo!“ Er schlägt gegen die Tür. Nach einer ganzen Weile: „Hey Zahl, was machst du da für´n Getöse?“, die Stimme des Aufsehers klingt genervt.
„Ich muss mal zur Toilette!“ „Ach, der Kleine muss mal! Was glaubst du denn wo du hier bist? Dafür störst du meine Mittagsruhe? Bist du etwa ein Baby?“ „Bitte!“
„Weißt du was? Wenn du nicht aussagen willst – scheiß dir doch in die Hosen, aber lass mich in Ruhe!“, ein Fußtritt des Aufsehers lässt die Tür erbeben. Dann dessen, sich entfernende, Schritte.
Ungläubig verharrt er momentlang vor der geschlossenen Tür – bevor er sich schließlich langsam abwendet und in die äußerste Ecke vortastet, um sich dort hinzuhocken.

3

Ein lautes Scheppern riss mich aus dem Schlaf. „Ach du meine Güte! Was machst du denn da?“ Der Wolf suchte sich erschrocken und mit eingekniffenem Schwanz vor den gerade aus dem Regal purzelnden Metallschüsseln zu retten.
„Hahaha, wolltest wohl nach was Fressbarem suchen, wie?“, frotzelte ich.
„Hast du schon einen Namen? Na, guck nicht so! Hast ja recht, ein Wolf hat keinen Namen! Aber irgendwie muss ich dich ja nennen!“ Das Tier legte den Kopf schräg. „Na gut, nenne ich dich also Wolf! – Mein Name ist übrigens Ove! Das heißt so viel wie die Schwertschneide, die Spitze! – Aber davon verstehst du nichts!“
Der Wolf ließ ein kurzes Winseln hören.

„Also – wollen mal sehen, ob es hier was Essbares gibt!“ Ich stand auf und wühlte im Regal. „Hier haben wir tatsächlich ein paar Konserven, das dürfte fürs Erste reichen! Zumindest, bis ich etwas gejagt habe.“
Kurz horchte ich an der Tür, dann öffnete ich sie einen Spaltbreit, um hinauszuschauen. „Die Luft scheint rein, deine Kumpels haben sich verzogen!“ Auch Wolf kam herausgesprungen und suhlte sich fröhlich im Schnee.
„Also ich mach jetzt Frühstück!“, damit ging ich wieder hinein und begann, etwas von dem Konservigen in der Pfanne zu brutzeln. Ich brauchte dringend etwas Warmes in meinem Bauch. Kaum hatte ich es mir mit großem Appetit einverleibt, fühlte ich mich schon verpflichtet, nach dem Wolf zu schauen. Hatte ihm vorsorglich auch eine Portion bereitgestellt, dachte: Immer noch besser, als wenn er mich anknabbert.
Ich ging mit einer Schale Futter hinaus und sah mich nach ihm um. Nirgends eine Spur von ihm zu entdecken. Ein Gefühl von Enttäuschung über-raschte mich. Wo war er denn hin? Ob er schon weitergezogen war?

Plötzlich griff ich nach meinem Gewehr. Ich vermeinte, eine Bewegung in der Ferne wahrgenommen zu haben und schaute durch das Zielfernrohr. Tatsächlich! Da löste sich ein Wolf aus den Bäumen des nahen Waldrandes! – Aber war es auch „Wolf“, oder war es einer von den anderen, den wilden, Wölfen?
„Er ist es, ja! Er ist es! Und er bringt gleich was zum Frühstücken mit!“, jubelte ich plötzlich und musste über mich selber lachen. „Na, das kommt davon, wenn man zu lange in der Wildnis alleine ist, dann redet man mit Wölfen und schon mal mit sich selbst!“, feixte ich wohlgelaunt. „Was bringst du denn da Feines, mein Guter? Gib schon her und hör auf zu knurren! Schau mal, ich hab auch was für dich!“

Ich wusste, dass man Wölfe nicht zähmen kann, daher versuchte ich es auf meine Art, und hatte Erfolg. Das Tier schien mich zu respektieren. Und es schloss sich mir an. In der folgenden Zeit blieb es in meiner Nähe, auch wenn es zwischendurch immer mal wieder Erkundungsgänge unternahm. Aber jedes Mal kam es auch wieder zurück.

Beinahe hatte ich alles Vergangene von mir abgestreift. Und mein Bein war inzwischen relativ gut verheilt.
Es war nicht zu befürchten, dass meine Verfolger noch hier auftauchen würden, denn sie wähnten mich wohl tot. Das glaubte ich jedenfalls.

4

Die Schritte kommen näher, laut und unheilkündend.
Dann wird die Tür aufgerissen, so dass das grelle Licht ihn blind werden lässt. „Ach du meine Güte, stinkt das hier! Wir werden dich wohl erst abspritzen müssen, du Schwein!“ Schon spürt er den eiskalten, harten Strahl des Wassers wie einen Schlag. Als der sein Gesicht trifft, nimmt es ihm sogleich die Luft zum Atmen, und er stürzt der Länge nach hin!
Sogleich wird er wieder hochgerissen, und sie schleifen ihn hinaus. Hinaus aus seinem Kerker! Beinahe möchte er darüber jubeln, doch er kann noch nicht mal irgendetwas erkennen, nach der langen Dunkelhaft.
Nur langsam gewöhnen sich seine Augen wieder an die Helle, so dass er zumindest die Umrisse des Verhörraumes zu erfassen vermag. Grob wird er auf einen Metallstuhl gedrückt.
Ist es schon soweit?
Er hebt seinen Kopf. Ihm gegenüber am Schreibtisch sitzt ein Mann, doch er ist nicht imstande, dessen Gesicht zu identifizieren. Eine Weile lang passiert gar nichts. Da beginnt er unruhig zu werden. „Was, was haben Sie mit mir vor?“ Seine Stimme klingt rau und zittrig.
„Mein lieber „Zahl“! Das hängt doch ganz allein von dir ab, wie du weißt!“ Diese Stimme! Er kennt doch diese Stimme!
In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. „Können Sie die Lampe etwas drehen, sie blendet mich!“, wagt er anzumerken! „Aber sicher doch, Zahl!“
Die Leuchte wird etwas gedreht, aber nun fällt ihm das Licht noch direkter in die Augen, so dass er sie schließen muss. „Nnein, nicht so, bitte!“
„Wohl nie zufrieden, was?“ Völlig unerwartet trifft ihn ein Schlag mitten ins Gesicht. Und mit einem Mal weiß er, woher er diese Stimme kennt.
Kann das denn sein? Ist es wirklich möglich, dass dies . . . das dies sein früherer Nachbar ist?
Er ist geschockt!
Nein, ein Irrtum ist nicht möglich. Er ist es!
Das verschlägt ihm für eine Weile die Sprache. Doch dann fährt er hoch: “Carl! Das bist doch du?“
Als keine Antwort kommt, fleht er: „Du musst mir helfen, Carl!“ Das Flüstern zweier Männer ist zu hören, doch er kann nicht verstehen, was da geredet wird, so sehr er sich auch anstrengt. Jetzt ist es eine andere Stimme, die ihn anherrscht: „Du Hurensohn, wenn du nicht bald sprichst, wirst du es nie mehr tun – können! Ist dir das klar? Ist dir das klar, hab ich gefragt!“
Jemand zerrt an seiner Schulter. Er nickt. „Ja, ja das ist mir klar!“ Seine Stimme ist beinahe tonlos.
„Und?“
Ungeduldig trommelnde Finger auf dem Schreibtisch vor ihm. Er räuspert sich und ihm wird unmissverständlich deutlich: Ja, es ist soweit!
Mit gesenktem Kopf flüstert er: „Bringen Sie mich zurück!“

5

Und dann waren sie plötzlich doch da!
Mitten in der Nacht überraschten sie mich, als ich überhaupt nicht mehr damit gerechnet hatte.
Als Wolf zu winseln begann, dachte ich zunächst an die anderen Wölfe, doch dann wurde mit einem Schlag die Türe aufgebrochen, und schon standen sie mitten in der Hütte.
Wolf machten sie sogleich den Garaus, als er Anstalten machte, sie anzugreifen. Die Kugel traf ihn mitten zwischen die Augen. Mein lieber Freund: Wolltest du mich denn tatsächlich verteidigen?
Der Schmerz über deinen Verlust ist groß! Dabei kannten wir uns erst so kurze Zeit. Und doch reichte unsere Verbindung tiefer, als es bei Menschen so schnell möglich gewesen wäre. Wir waren Seelenverwandte, wie es nur echte Freunde sind!
Deine treuen braunen Augen ließen mich nicht mehr los.
Tränen rannen über mein Gesicht – doch das rührte die Jäger in keiner Weise.
Nicht einmal mit Steinen durfte ich dich bedecken, zum Schutz vor Tierfraß, denn sie hatten es furchtbar eilig.
Es tut so weh, wenn ich daran denke.

Ein anderer Schmerz wurde an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült. Ich hatte ihn bisher erfolgreich verdrängt, sonst hätte ich nicht überleben können.

Nun jedoch legte er sich mit ganzer Schwere auf all meine Gedanken. Jetzt forderte er sein Lebensrecht ein! „Jytte!“ – Ich muss es laut ausgerufen haben, denn einer der Männer presste mir sofort den Mund zu! Alle duckten sich, um nicht gesehen zu werden. Mich nahmen sie in den Würgegriff, bis mir Sterne vor den Augen tanzten. Eine bezeichnende Geste, wie Halsabschneiden, tat ihr Teil dazu bei, mir klarzumachen, was mit mir geschehen würde, falls ich nicht kooperierte.
Als wir die grüne, bzw. jetzt schneegeweißte Grenze passierten, wurde mir klar, dass ich nicht mehr auf die Hilfe meiner Landsleute rechnen durfte. Sie ahnten wahrscheinlich noch nicht einmal etwas von meinem Schicksal.
Ich weiß auch nicht, wieso ich trotzdem noch so voller Hoffnung gewesen war. Hatte mir wohl selber etwas eingeredet.
Meine Liebste, Jytte, war tot, da gab es keinen Zweifel! Ich hatte ja selbst gesehen, wie sie ihr mit dem Messer den Hals aufgeschlitzt hatten. Doch ich wollte, ich konnte es einfach nicht glauben! Ich würde später zu ihr zurückkehren und dann . . .
Wie oft hatte sie mich gebeten, mir einen anderen Job zu besorgen, wie oft! Es war ja klar, dass die Arbeit gefährlich war! Und geheim noch dazu!
Ich hatte sie benutzt! Hatte sie miteingebunden in meine Spitzeltätigkeiten, hatte mir damit große Schuld aufgeladen! Ich weinte lautlos, haltlos.
„Hör auf zu flennen!“ Der Mann stieß mich mit dem Fuß an.
Dann ging es weiter, bis wir schließlich dort landeten, wo ich mich noch jetzt befinde.

6

Wie betäubt sitzt er nun schon seit Stunden nur so da. Doch je regloser er in seinem Äußeren erscheint, um so turbulenter geht es in seinem Inneren zu. Als er wieder aus seinen Gedanken auftaucht, erscheint ihm seine Lage schier unerträglich! Am liebsten möchte er sich selbst sogleich vom Leben zum Tode befördern. Doch wie soll er das anstellen? In diesem Gelass gibt es nichts, was er als Hilfsmittel für solches Tun gebrauchen kann.
Probeweise untersucht er die Wand, kratzt an ihr und sucht nach Lücken, doch nichts, außer zersplitterten Fingernägeln!

Wenn er sich ihnen so nicht entziehen kann, dann muss er es eben anders schaffen! Er kann sie nicht siegen lassen! Jyttes Tod, er muss einen Sinn gehabt haben! Doch bevor er diesen Gedanken weiterdenken kann, ist er schon wieder abgedriftet.
Seine Konzentrationskraft hat deutlich nachgelassen, seit er aufgehört hat, zu essen.

Wiederum befindet er sich in einem Bewusstseinsstrom, der ihn hilflos, wie in einem Fluss, dahintreiben lässt, sein Gemüt unkontrolliert in dessen Wellen hin- und hergeworfen.
Später, als ihm bewusst wird, welche Gefahr dies für ihn bedeutet, beginnt er damit, einen Plan zu schmieden. Er weiß, dass die Zeit dabei gegen ihn arbeitet.

Über Stunden bemüht er sich verzweifelt darum, sich immer wieder neu zu konzentrieren, um klare Gedanken zu fassen. Die Anstrengung ist so groß, dass er darüber mehrfach wegdämmert, ohne voranzukommen. Schließlich aber ist er soweit.
Ja, so allein kann es gehen! Denn wenn er ihnen in diesem leiblichen, irdischen Sein auch hilflos ausgeliefert ist, so können sie ihm in dem viel umfassenderen, größeren doch überhaupt gar nichts anhaben! Und genau das sollen sie erfahren! Sie werden ihm keine Angst mehr machen können! Er weiß, dass es in seinem Zustand nicht einfach sein wird, das umzusetzen – oder war es vielleicht gerade darum leichter? Ab sofort wird er auch nichts mehr trinken, er wird überhaupt nichts mehr zu sich nehmen.
Und dann will er meditieren, aus Enge und Dunkelheit endlich ins Licht treten!

7

Wir hatten uns im Sommer, auf einer Party, kennengelernt. Jytte kam ein wenig verspätet, das Fest war schon in vollem Gange. Als sie in mein Blickfeld geriet, war es gleich um mich geschehen. Sie entsprach in etwa meinem Traumbild von einer Frau.
Doch ganz so leicht machte sie es mir nicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es war, als ahnte sie schon damals, was da auf sie zukommen sollte. Ganz anders als ich. Ich war ja so arglos, so sorglos, dumm?

Nein, nein, einfach total verliebt war ich, bin ich immer noch! Hatte ihren Tod noch ganz und gar nicht realisiert.
Es fehlte die Zeit, der Trauer ins Gesicht zu blicken. Zwei unterschiedliche Denkweisen in einem einzigen Kopf, das musste zu Irritationen führen! Wenn erst mal ins Licht des Bewusstseins trat, was ich krampfhaft versuchte, auszublenden, dann bedeutete das großes Leid für mich.
Doch jetzt war wohl die Zeit gekommen, sich damit auseinanderzusetzen!

„Oh Jytte, mein geliebter Schatz!“
Ein tiefer Schluchzer entfuhr meiner Kehle. Ihr Gesicht schien dem meinen plötzlich so nah, dass ich vermeinte, ihren Atem auf meiner Haut zu spüren. Tränen lösten sich aus meinen Augen und rollten mir unkontrolliert über die Wangen. Sie schwollen an zu einem Strom unstillbaren Leids, das mich zu Boden warf und schüttelte, bis ich schließlich in eine gnädige Erschöpfung versank.

8

Ein Schrei lässt ihn hochfahren. Kerzengerade kniet er auf dem nackten Boden seines Verlieses und horcht in die Dunkelheit.
Wieder dieser, beinahe heulende, um Gnade bettelnde Schmerzenslaut, der nichts Menschliches mehr an sich hat. „Aufhören!“ Entsetzt hält er sich beide Ohren zu und schlägt mit dem Kopf gegen die Wand.
„Aufhören!“ Von außen donnert jemand gegen seine Tür. „Noch einen Ton und du kommst auch gleich dran!“ droht der Wärter. Entsetzt steckt er sich die Faust in den Mund, um seine Schreie zu ersticken. So werden sie bald auch ihn . . .
Er fängt leise an zu summen, summt und findet seinen eigenen Ton – unhörbar für die Schergen. Er fließt aus ihm heraus, immer weiter, immer mehr, bis er den Raum ganz erfüllt. Und fließt und drängt durch den kleinsten Spalt – bis hinaus auf den Gang und weiter noch durch die Mauern und ganz hinaus ins Freie! Dort entfaltet er sich erst recht und fährt jubilierend empor, als habe er Flügel bekommen, hebt sich und hebt, bis hinauf ins All!
Und er hört ihn aufsteigen, horcht, wie er langsam leiser wird, immer leiser, bis er schließlich ganz entschwindet.
So wird er es auch machen – vielleicht schon ganz bald!
Erschöpft sinkt er wieder in sich zusammen.

9

Leise bewegten wir uns durch die Nacht, immer auf der Hut vor den Grenzpatrouillen. Ich hatte die Leute vor dem Aufbruch instruiert, wie sie sich zu verhalten hatten. Und sie wussten genau, was sie erwartete, wenn wir entdeckt wurden. Als Systemgegner würden sie in irgendeinem Gulag, würden im Nirgendwo des riesigen Landes verschwinden.
Schon lange wollte ich mit meinen Grenzgängen aufhören, doch immer wieder wandten sich verzweifelte Menschen an mich, ihnen aus ihrer Not herauszuhelfen. Ich konnte sie nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen!
Diesmal war es eine ganze Familie, die ich herüberholen sollte. Die zwei kleinen Mädchen, die von ihren Eltern fest an den Händen gehalten wurden, gähnten müde und taumelten erschöpft mit uns durch die Nacht. Vor uns lag eine weite Ebene, die wir zu durchqueren hatten, doch noch lag kein Schnee, und so war die Gefahr der Entdeckung nicht gar so groß. Als aber plötzlich, nicht weit hinter uns, ein Licht durch die Dunkelheit zitterte, trieb ich die Leute zu höchster Eile an: „Los! Schnell, es ist nicht mehr weit! Gleich haben wir es geschafft!“
Die Freiheit war bereits in Sichtweite, und tatsächlich schafften wir es bis dorthin, schafften es hinaus aus diesem Land. Schon wähnten wir uns aber in Sicherheit, da mussten wir mit Entsetzen feststellen, dass wir noch immer gejagt wurden. Unsere Verfolger konnten dem Drang nicht wiederstehen, uns dennoch zu überwältigen.
Wohl nach der Devise: Wo kein Kläger, da kein Richter!
Zuerst nahmen sie sich die Familie vor: Peng! Peng! Peng! Peng! Jütte kam aus unserem Haus gelaufen, heftig mit den Armen gestikulierend, auf uns zugelaufen: „Nein, nein! Nicht doch!“, schluchzte sie noch. Dann war sie selbst dran. Mir gefror das Blut in den Adern, ich konnte nicht glauben, was ich mit eigenen Augen sah. Doch dann ging ein Ruck durch meinen Körper, als ich begriff! Noch waren sie beschäftigt, und ich nutzte meine letzte Gelegenheit zur Flucht.

10

Lange Zeit dämmert er nur so dahin.
Bald wird er Jütte wiedersehen, bald! Schon wird ihre Kontur klarer – tritt sie lächelnd auf ihn zu. Er streckt ihr seine Arme entgegen: Liebste!
Doch dann wird er plötzlich unruhig und merkt auf.
Entkräftet liegt er noch immer in seinem dunklen Gefängnis. Er kann sich kaum mehr bewegen, so schwach ist er geworden.
Er sehnt sich so – will nicht länger in diesem Dasein gefangen bleiben! Da, ein Schimmer in der Ferne!
Und bald spürt er, wie ihn sein Wunsch ganz langsam hinüberträgt.
Als ein wenig später die Wärter kommen, ihn zu holen, finden sie nur noch seine Leiche vor.
Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln.