Manchmal, wenn die älteren Jungen auf dem Schulhof die Parolen des Vaterlands brüllen- die sich in ihren Mündern so groß und doch irgendwie leer anfühlen- schleichen sich Mathilde Erinnerungen an Edith in den Kopf. Und dabei fühlt sie sich schuldig und beschämt und so verwirrt und würde am liebsten gar nicht daran denken.
In der Schule sitzt Emma neben ihr. Sie ist blond, blauäugig und ihre Freundin. Ihre Eltern mögen Emmas freundliches und unbesorgtes Wesen. Mathilde mag ihre Sorglosigkeit nicht. Dennoch gehen sie immer zusammen den Schulweg und zum Bund Deutscher Mädel.
Jedes Mal, wenn der Lehrer über Rassefeinde spricht, wenn die Mütter ihrer Freundinnen Volksschädlinge erwähnen, dann wächst die Schuld ein kleines Stück. Aber dabei lassen sich diese kleinen Zweifel- diese Scherben von glücklichen Erinnerungen einfach nicht unterdrücken und unter deren Worten begraben. Diese ganz leisen Stimmen in ihren Kopf finden die Worte der Älteren falsch, weil sich diese ganz leisen Stimmen an Edith erinnern.
Dann ist da wieder ein Gedanke und Mathilde ist nicht mehr auf im Klassenraum, sondern in der verlassenen Scheune im Kiefernwald nahe ihres Heimatdorfs. Dann ritzt sie wie so oft mit spitzen Fingernägeln kleine Figuren ins morsche Holz, weil sie einfach nicht zuhause sein kann. An einigen Tagen ist Edith auch da und dann ritzen sie zusammen mit den Buttermessern ihrer Oma.
Jetzt ist Edith weg.
„Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude.“, trichterte die Führerin ihrer Mädelschaft ihr ein und hielt wie als Beweis eine Auslage von Mein Kampf hoch. Die Seiten des Buchs waren leicht vergilbt, das Cover wies einige Kratzer und Gebrauchsspuren auf, wie sie nur durch massenhaftes Lesen entstehen können. Das Gesicht des Führers war prominent auf der Seite abgebildet und schien wachsam auf die dutzend Mädchen herabzublicken. Das ältere Mädchen drückte es an ihre Brust und fuhr fort: „Es gibt keine Gleichheit der Rassen, sondern…“
Den Zettel für die Eltern nahm Mathilde und fuhr im Sommer mit ins Zeltlager. Aber damals war die Schuld noch nicht so schwer, denn damals war Edith noch da. Nur an einigen Tagen, wenn ihre anderen Freunde gemütlich in Decken eingewickelt am Lagerplatz über die Stärke der Arier sprachen, wünschte sie, dass Edith keine Jüdin wäre.
„Wo warst du?“ Hat Edith gefragt und Mathilde hatte gewissenhaft geantwortet. „Im Zeltlager“.
„BDM?“, murmelte sie bedrückt und ruckte unruhig hin und her, verschränkte dann ihre Arme unwohl vor der Brust. Mathilde war kurz verwirrt, bis sie sich erinnerte, dass Edith nicht im Bund war.
„Uh-hum,“, antwortete sie und fuhr abwesend mit dem Buttermesser die Konturen eines Vogels auf dem Holz nach. „Ich wünschte, du wärest auch mitgefahren.“
Nach einiger Zeit schreckte Mathilde aus ihrer Arbeit erschrocken auf, denn da war ja was, da waren ja, aber-
Edith war schon gegangen.
Jedes Mal würde sie wieder kehren, bis sie es dann nicht mehr tat.
Als ihr Vater am Abend von der Fabrik zurückkam, da war es Mathilde immer noch seltsam. Es war ein mulmiges Gefühl im Buch, ein Zwicken in ihrem Kopf und als der Vater den Juden Schuld an ihrer Armut gab, da öffnete sich ihr Mund.
Nicht die rechthaberischen, überzeugten Worte, nicht die Schelle, die sie sich nach leisen Widerworten gefangen hatte, ließen das Gefühl sterben. Ja, es blieb selbst, als sie abends im Bett lag und nicht schlafen konnte. Mathilde verstand nicht viel von Wirtschaft und Krieg, aber sie wusste, dass nicht alle Juden schuldig sein konnten. Denn Edith war unschuldig. Wie sollte sie auch bestimmen, wer arm oder unglücklich war? Was war dann mit den anderen Juden?
Auf dem Küchentisch lag die alte Zeitschrift des Vaters geknickt. Sie griff danach, um sie glatt zu falten, bis sich die mit Eselsohren markierte Seite aufschlug. Das rot gedruckte Wort Rassenschande fiel in ihr Auge. Dann: Todesstrafe für Juden.
Sie befeuerte den Kamin mit den Seites des Der Stürmer Magazins im März und schrie nachts in ihr Kissen, als sie nicht mehr schweigen konnte. Sie wagte es nicht zu sprechen, was sie dachte. Und doch fühlte sie, dass sie diese eine Sache richtig hatte; dass Juden normal waren. Und wenn die anderen sagten, sie seien eine Schande, dann waren die die eigentliche Schande für die Welt, flüsterte ihr eine Stimme zu.
„Edith, verzeih mir.“, rutschte ihr hastig heraus, als sie die auseinanderfallende Tür der Scheune aufdrückte und ihre Freundin auf dem Strohhaufen sitzen sah. Als Edith zu ihr aufblickte, war nichts zu sehen, was sie die letzten Tage so gefürchtet hatte. Kein Zorn, keine Enttäuschung und keine Ablehnung.
„Ich vergebe dir.“, sagte sie und zuckte mit den Schultern, als wäre das alles ganz alltäglich.
Damals war alles leichter und auch wenn sie nie mehr darüber sprachen, so hatte sich dieser Moment in Mathildes Gehirn eingebrannt.
„Oma meint, die Sprache von denen ist wie Arsen.“ Sagte Edith eines Tages in der Scheune und dann verschwand sie für zwei Monate. Aber sie kam wieder. Noch.
Ihre Schule bekam einen neuen Lehrer frisch von der Universität in Berlin. Dirk erlaubte ihnen ihn mit Vornamen anzureden, weil sie bald ihren Abschluss haben würden. Er war besonnen, ruhig und schien besonders Mathilde viel Aufmerksamkeit zu schenken (auch wenn ihre Freundinnen behaupteten, es sei dasselbe bei ihnen). Sie mochte ihn, sie mochte ihn wirklich. Bis er anfing ihnen die Rassenideologie beizubringen. Bis er sie an die Tafel rief und sie die Unterschiede der Gesichtsmerkmale von Juden aufzählen musste. Bis er ihr sagte, dass sie von Natur aus besser war. Sein Lob- denn sie war sich sicher, er glaubte sie zu loben- hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Der ging nicht weg, als er den Jahrgang zum Zelten an den See mitnahm. Der ging nicht weg, als sie ihn beim Spenden in der Wohlfahrt sah.
Wie konnte so ein guter Mensch solche falschen Ansichten haben?
Das fragte sie sich. Oder, wie konnte so ein böser Mensch gute Dinge tun? Und dann wurde ihr bewusst, dass nicht alles schwarz und weiß sein konnte. Egal, was der Führer sagte.
Denn tief in ihr drin da hatte sie ganz heimliche Gedanken.
Und doch war alles nur in ihrem Inneren und sie hütete es wie die kostbarsten Schatz. Denn die anderen würden das nicht verstehen. Denn es waren verbotene Worte und Gefühle.
Und dann war November und alles veränderte sich.
Schreie weckten sie in der Nacht, als sie ihr beschlagenes Zimmerfenster zur Straße aufschlug, so kam ihr gleich der beißende Geruch von Rauch in den Nase. Grölende Schattengestalten schlugen mit schweren Pflastersteinen klirrend die Fenster der Druckerei auf der anderen Straßenseite ein. Hastig duckte sie sich von dem Fenster weg tiefer in die Dunkelheit des Zimmers, dass die Laternen nicht beschienen. Mit pochenden Herzen versteckte sie sich unter ihrem Bett.
Sie wagte sich erst aus dem Bett, als die Sonne schon lang aufgegangen war und sie die munter klirrenden Geräusche der Töpfe aus der Küche vernahm.
„Mutter?“, fragte sie leise, als sie das Wohnzimmer betrat. Ihr Vater lag in dunklen Arbeitsklamotten schlafend auf dem Sofa, die Hände mit Schnittwunden verwundet, die unter Bandagen hervorlugten. Still schlich sich die besorgte Mathilde zu ihm hin.
Tod dem internationalen Judentum stand auf der Zeitschrift, die auf dem Schoß des Vaters lag und sie erst übersehen hatte. Und dann stand da noch viel mehr abartig, unmenschlich Verstörendes.
Sie wandte sich von dem Mann ab.
Sie weigerte sich, die neuen modischen Kleider zu tragen, die ihre Mutter von der Wohlfahrt hatte. Dabei sahen sie besser aus, als alles, was sie jemals besessen hatte. Doch egal, wie oft ihre Mutter sie gewaschen hatte, der rauchige Geruch blieb wie ein Phantom in ihrem Gedächtnis. Schließlich erklärte sie der Mutter: „Ich will kein Leichenkleid eines Juden tragen. Mir lehrst du Diebstahl sei gegen das Gesetz und mir lehrst du den Glauben an Gott- verstehst du nicht, dass das falsch ist?“
Sie verstand es nicht. Mathilde bezweifelte, dass irgendjemand sie verstand. Sie hörte nun öfter hin, was die Erwachsenden sagten. Sie sprachen viel über Volk und Rasse und das Recht des Stärkeren.
Die Mutter zwang sie die Kleider zu tragen. Mathilde hatte das Gefühl, ihre Haut würde brennen.
Sie fühlte sich einsam. Die Parolen grenzten Mathilde nun ab, wo sie anderen Einheit und Gemeinschaft brachten. Das mulmige und unwohle Gefühl in ihr verschwand nicht, denn es schien ein Eigenleben zu haben. Sie konnte es nicht ersticken, und jedes Mal, wenn sie glaubte zu gewinnen, dann kam es doppelt und dreifach zurück. Es wollte nach draußen, aber sie konnte es nicht lassen, denn alles war anders.
Da waren Fotografien von zerstörten Synagogen in den großen Städten und auch in ihrem Dorf waren die Druckerei und die Metallverarbeitungsfabrik, in der ihr Vater arbeitete, nicht unbeschadet davongekommen. Sie hatte gehört, dass der Inhaber der Fabrik die Gerechtigkeit für ein Attentat in Frankreich zu spüren bekommen hatte. Sie kannte den Juden nicht, sie wusste einzig, dass ihr Vater jetzt mehr Lohn bekam, weil der Betrieb dem Staat gehörte.
Sie sah nur das Blut auf den Münzen.
Noch schlimmer als all die neuen Dinge in ihrer Wohnung war die leere Scheune. Mathilde war selten dar, nur noch wöchentlich um zu sehen, ob Edith zurück war oder ihr eine geritzte Nachricht hinterlassen hatte. Mit jedem Mal, das sie in die leere Scheune blickte, wuchs ihre Schuld und ihre Furcht. Denn was war, wenn man auch Edith bestraft hatte? Muss eine Strafe nicht Schuld vorrausetzen? Als sie Edith das nächste Mal vor der Scheune sah, umarmte sie ihre Freundin stürmisch und dankbar. Edith lächelte schwach und dann zeigte sie ihr die neue Scheune. In der Scheune lebten jetzt Menschen. Juden.
Wenn ihr Vater am Mittagstisch über Sonderbehandlung und Parasitenbekämpfung sprach, dann redeten die Leute aus der Scheune über Vertreibung und Angst und Mord. Mathilde mochte die Leute in der Scheune. Manchmal brachte sie ihnen die gute Wurst vom Metzger und die Kleidung von der Wohlfahrt, wenn die Mutter nicht achtsam war. Sie hörte nicht mehr hin, wenn die Leute aus der Schule über Rassen sprachen. Wie automatisch beantwortete sie die Fragen der Lehrer und in der Mädelschaft, sagte ihnen, was sie hören wollten und kam jeden Abend mit neuen Sachen in die
Scheune und unterhielt sich mit den Leuten über die Sachen, die sie dachte. Sie verschwieg ihr Gefühl und die Menschen in der zerfallenen Scheune jedem anderen. Auch wenn die Flugblätter, Reden der hohen Parteifunktionäre und Bücher sie geradezu anzuschreien schienen, dass das falsch war, dann war sie sich so sicher, wie sie es noch nie in ihrem Leben war, dass sie im Recht war.
Anfang Dezember waren sie weg. Die Scheune war leer, all die Decken und Koffer verschwunden. Nur aufgewühltes Heu blieb zurück. Zögernd war Mathilde einige Schritte in den so großen und leeren Raum hineingetreten. Auf einem kleinen morschen Brett, das zerschmettert im Stroh lag, war ein letztes hastig eingeritztes Wort. Polska.
Mehr noch als die Menschen, die faule Worte wie Äpfel aßen und selbst verdarben, hasste sie sich selbst. Sie hasste jede Parole aus ihrem Mund, hasste ihre Machtlosigkeit und hasste ihre Untätigkeit. Sie war gefangen, nicht nur von der Welt um sich herum, sondern auch von den Ketten des Gewissens. Nur, dass es gute Ketten waren, Ketten, die sie an die Menschlichkeit banden und mit ihr verbanden.
Ihr Volk war ihr fremd. An manchen Tagen hoffte sie, dass da andere waren wie sie. Und dann hoffte sie es doch nicht, weil; wie sollte sie die finden, die auch ganz heimlich Gedanken hatten? Mathilde hatte gelesen, was mit den Volksverrätern passiert, die gefunden wurden. Mathilde hatte Angst und wollte mitlaufen und zu den Anderen gehören. Die Anderen waren sicher, sie waren wertvoll, weil sie deutsch waren. Sie fühlte sich aber immer weniger deutsch ganz tief in ihr drin.
Da waren keine Zeltlager mehr. Die Eltern schrieben Briefe und dann schickte ihre Jungmädel Führerin sie zu einem Militärhospital. Das Leid der Männer war erdrückend und sie ging zur Hand, wo auch immer die Militärärzte es zuließen. Es war laut, doch die Männer schrien Schmerz und keine Parolen. Da waren Leute, deren Schädel geöffnet werden musste, da waren leichenblasse Menschen deren Hand sie hielt, als ihnen zerfetzte Glieder amputiert wurden. Und dann waren manche Männer, die mühsam geheilt wurden, wieder da. „Warum,“, hat Mathilde gefragt, als der junge Soldat noch in seine blutige Uniform gekleidet seinen Verletzungen erlag „bist du zurückgegangen?“
„Für die Befreiung der Welt.“, würgte er hustend heraus und nahm einen pfeifenden letzten Atemzug. „Für den Führer!“
Da waren andere und sie gingen und kamen zum Sterben zurück. Manche erzählten wie ihre Kameraden in der Schlacht gefallen waren, andere beteten zu Gott, erhofften ewige Erlösung für die Schlachtung der namenlosen Juden. Mathilde zögerte jetzt, wenn sie den Verletzten Morphium gab. Ihre Hände zitterten, wenn sie die blutigen Verbände wickelte. Während die Soldaten in Uniform das Hospital verließen, stand sie versteckt hinter den Gardinen der Krankenzimmers, ihre Hände zu Fäusten geballt. Denn sie fragte sich heimlich, ob es ihre Schuld war, wenn die Fremden von deutschen Soldaten erschossen wurden. Trug sie dazu bei? Waren die Schwestern keine weißen Engel sondern Todesengel, welche die Besiegten zurück in die Schlacht führten, damit sie mehr Leid anrichten konnten? Die weiße Kutte brannte auf ihrer Haut mit jedem helfenden Handgriff, den sie tat. Aber da war mehr als die leblose Uniform, da waren ängstliche und schmerzerfüllte Schreie und da waren Jungen der Hitlerjugend noch in ihrem Alter und doch schon fast tot.
Das Gefühl nagte an ihren Gedanken, brachte ihr Blut zum Rauschen und ließ ihren Blick öfter auf den Wiederkehrenden ruhen, als sie wollte. Wie viel Blut war an ihren Händen? Wie viele Menschen waren durch ihre Taten, durch ihre Heilung umgekommen? Sie konnte nicht helfen und sie konnte nicht nicht helfen. Ihre Gedanken entglitten öfter und ihr Kopf drehte sich, in ihr ein ewiger Kampf zwischen sollen und wollen. Sie fühlte sich schuldig, wenn die Männer das Hospital gesund verließen und mehr Leid anrichteten oder selbst starben. Sie fühlte sich schlecht mit dem Gedanken, die Soldaten im Hospital hilflos ihrem Schicksal zu überlassen. Mathilde würde gerne nicht da sein, nicht sein.
Einige Tage nachdem sie zurück ins Dorf geflohen war, zwangen ihre Eltern und der Lehrer sie zurück. Jeder sollte für den totalen Krieg und Endsieg mithelfen. Ihre Zukunft, sagten sie, hänge von ihrer Hingabe für das deutsche Volk ab. Welche beruflichen und akademischen Möglichkeiten ihr offen stehen würden, wie viel Geld- welcher Ehemann- wie viel Ehre sie ihrem Vaterland und ihrer Familie bringen würde. Man ließ sie jedoch nicht mehr zu den verwundeten Soldaten, sie teilten Mathilde in einem anderen Pflegeheim der Altenpflege zu.
Da waren zwei Arten von Menschen. Die einen sollten von ihrem Leid befreit werden. Die anderen wollten von ihrem Leid befreit werden.
Zu gut erinnerte sie sich an die Poster am schwarzen Brett der Schule, die aufzeigten wie die Anzahl der Behinderten- nein, Minderwertigen- wächst und das Volk vergiften würde. Ihr Vater selbst war wütend wegen der Sozialausgaben die durch besondere Ausgaben für Behinderte erzeugt werden.
Sie schob den Rollstuhl von Heinz öfter auf die kleine, schmutzige Betonterrasse, als man ihr vorschrieb und unterhielt sich mit dem Greis über Schach. Nicht über das Völkische Schach, dass sie mit Freunden an Spieleabenden spielte, sondern das alte. Sie las den Bettlägerigen aus den Büchern, die sie aus der benachbarten Kinderstation mitnahm und manchmal stahl sie der Mutter die guten Häkelnadeln für die alte Frau aus Bett Neun, die manchmal nicht mehr wusste, wer sie selbst war und doch noch häkeln konnte. Der Mann im Bett am Fenster sprach nicht mit ihr oder den anderen Pflegern. Nur manchmal, wenn sie ihm den Haferbrei mit einem großen Löffel brachte, dann blickte er ihr in die Augen. Als sie am Montag nach Jahresanfang wiederkam, hatten sie ihn am Bett festgemacht und ganz weit weg von dem Fenster geschoben. Am Bett stand ein älterer Mann in Parteiuniform, der stürmisch auf den Alten, der ausdruckslos auf die blanke Wand schaute, einredete und wild gestikulierte. Die diensthabende Schwester zog sie zur Seite, als sie, angetrieben von dem nagenden Gefühl, einen Schritt in den Raum machen wollte
Einige Zeit später stand sie unsicher, das Klemmbrett und den Bogen unsicher unter den Arm geklemmt wieder im Krankenzimmer. Zögernd blickte sie auf Meldebogen mit der Nummer 6021. Dann drückte sie den Kugelschreiber testend auf das Feld mit dem Namen. Heinz, schrieb sie nieder und seinen Nachnamen. Dann waren da andere Felder; Beruf, Abstammung, vererbte Defekte, Diagnose, Grad der Behinderung.
Jeder Buchstabe fühlte sich wie ein Todesurteil, als würde sie mit jedem Strich ein Stück schuldig werden. Und doch war da der ruhige Atem der Schwester in ihrem Nacken, die ihr über die Schulter blickte und ihre Angaben mit denen auf dem wahren- auf dem Meldebogen in der Hand der Schwester abglich.
Mathilde fühlte sich weniger, als würde sie einen Menschen helfen. Es fühlte sich eher an, als würde sie üben, die Schäden an einem Gerät in grausamster Weise katalogisieren.
Am Abend kann Mathilde nicht einschlafen. Sie liegt wach, nicht gequält von ihrem Gewissen, sondern der Welt um sie herum. Wie soll ihr Gewissen sie quälen, wenn es ein natürlicher Teil von ihr ist? Nur das, was sie gezwungen ist gegen ihre Natur zu tun, nur das kann sie quälen. Mathilde ist an dem Tag im Heim ein kleines bisschen gestorben. Und dann denkt sie an Edith, an die Soldaten und an Heinz und findet, dass nicht ihr heimliches Denken schuld ist, sondern die Welt. Sondern die Nazis. Manchmal war Mathilde froh, dass ihr Gewissen ganz sicher und tief in ihr drin verborgen war, wo niemand es ihr wegnehmen konnte. Aber mit jedem Wort und jeder Tat entgleitet ihr Gewissen ein kleines bisschen mehr und ganz heimlich bezwingt es alles andere in ihr.
Nachdem Heinz nach einigen Tagen verschwunden ist, überhört Mathilde das Gespräch zweier Schwestern über die Ursache seines Ablebens. Über den Mord. Dann hat sie schon einige Zeit später mit den anderen Mädchen aus dem BDM darüber gesprochen und auf einmal findet sie sich vernetzt mit verschiedensten Pflegeinrichtungen und Schwestern. Wie eine Welle, die aus den Tiefen der überzeugten Nationalsozialisten den kleinen Funken Gewissen aufzuwühlen scheint, geht der Unmut über die Morde an den Alten durch die Region. Mathilde schreibt Briefe. Viele. Sie schreibt den Zeitungen, sie schreibt den Anwälten und den verbliebenden Familienangehörigen der Verstorbenen, deren Adressen ihr von unbekannten Mädchen und Frauen aus dem Bund Deutscher Mädel zugetragen werden. Manchmal, wenn Mathilde abends im Bett liegt, dann summt sie überwältigt von den Gefühlen der totalen Einheit und Hilfsbereitschaft der Anderen. Wenn ihr dann Gedanken über die judenfeindlichen und rassistischen Lieder kommen, die sie damals am Lagerfeuer gesungen haben, dann drängt sie die und das nagende Gefühl ein kleines bisschen zurück und konzentriert sich auf das, was sie bewirken kann.
Für einen Augenblick hat sie eine laute Stimme, weil Andere im Chor mit ihr schreien.
Für einen Augenblick, da ist sie nicht mehr machtlos, weil Andere ihr ihre Stärke leihen. Der Augenblick ist kurz.
Wie eine Lawine scheint der Unmut in der Region Fuß zu fassen und dann hört sie Gerüchte von Klagen der Angehörigen und für eine kurze Zeit rumort man, Behinderte jeden Alters und jeder Rasse seien betroffen und dann ist alles wieder still, denn die Zeitungen sind noch ruhiger als sonst und die Meldebögen verschwinden aus ihrem Alltag im Hospital.
So still es auch ist, so laut schreit das Gefühl in ihr. Es klingt wie Edith, wie die Leute aus der Scheune und wie tausende tosende Chöre. Als habe es Blut geleckt, will es wieder ausbrechen, will wieder verändern, will wieder berichtigen. Es lässt sich nicht bezwingen von den Drohungen der Regierung, nicht von Worten wie Volksverräter, Rassenschande und Ausstoßung. Es lässt sich auch nicht befreien, denn nichts kann es gefangen nehmen. Das Einzige, das in dieses große, schwere und bedeutende Buch geschrieben werden kann und wird, ist der Schutz der Natur des Menschen und der Handlungen, die dem überwältigenden Ruf des Gewissens folgen. Denn in einem drin, da ist das Gefühl ein unzähmbarer Drang, der nicht zum Schweigen gebracht werden kann. So kann es nicht Recht sein, den Menschen für seine Natur zu bestrafen und zu zwingen die eigene Menschlichkeit verkümmern zu lassen.
Vielleicht war das nicht die letzte Handlung Mathildes gegen die falschen Parolen und der letzte Schrei des Volkes.
Denn Mathilde hat verbotene Gedanken.
Ganz heimlich.