Treppenturmzimmer

von Joelle Anouk Kannapin

Anfang August. Neuer Job. Neuer Arbeitsweg. Über den Rhein. Die einzige Brücke, die nur Treppen hat. Keine Rampe, kein Fahrstuhl, keine Straßenbahn. Nicht barrierefrei und auch nicht fahrradeinfach. Auf jeder Seite ein Treppenturm. Man kann da mit vielen Wendungen bis zur Brückenebene hochlaufen. Und bis zur Straße runter. Auf dem Weg gibt es zwei Ebenen, die sind so groß wie mein WG-Zimmer.
Ende August. Gewohnter Arbeitsweg. Dort, auf der Seite wo es wieder runter geht, schläft einer. Er steht immer um 10 auf und räumt seine Sachen ordentlich zusammen. Außer heute. Weil er noch nach dem Aufwachen onaniert. Habe ich auch. An ihm laufen dabei viele Leute vorbei. Sie schütteln mit dem Kopf und heben ihr Fahrrad an, damit es über seine Beine passt. Es wäre für alle besser, wenn er woanders onanieren würde. Geheim, so wie ich. Vielleicht kann ich ihm mein altes Wurfzelt hinstellen. Aber vielleicht will er es auch mit Publikum. Mitte September. Wir habe das erste Mal unsere Gesichter gesehen. Ich frage mich, ob er mich erkennt. Nicht wegen dem Gesicht, das sieht er nie, weil er schläft. Sondern an meinen Schritten. So, wie ich früher wusste, ob Mama oder Papa die Treppe hochkommt. Die schweren Schritte meiner Designerstiefel und das Tapsen meines Hundes und mein „NEIN“, wenn er hingeht, um an ihm zu schnuppern. Oder an seinen Wienerl aus dem Glas. Vielleicht kann ich anderes Essen hinlegen. Aber jemand hat schon Yoghurette mitgebracht.
Ende September. Er trinkt jetzt mehr Bier. Abends standen viele Flaschen da und morgens ist im WG-Zimmer eine größere Urinpfütze als sonst. Manchmal Erbrochenes. Er versucht dann, das mit Blättern zu bedecken. Man riecht es trotzdem. So wie in meinem Badezimmer nach einer WG-Party. Vielleicht kann ich ihm Mülltüten bringen oder Lappen oder eine Zahnbürste. Aber ich vergesse es.
Anfang November. Immer eine Skiunterhose unter meiner Jeans. Ich bin spät zur Arbeit, er ist schon aufgestanden. Neben seinen ordentlich zusammengepackten Schlafsäcken hat jemand einen Zettel gelegt. Mit Nummern von Notunterkünften. Dafür braucht er ein Handy. Vielleicht kann ich da anrufen für ihn. Aber ich traue mich nicht.
Ende November. Regenschirm aufgeklappt. Der Rhein hat jetzt 8 Meter Wasserstand. Ich verstehe nicht, von wo man misst. Auf der anderen Seite steht eine Statue und wenn die überschwemmt ist, sind es 7 Meter. Die ist schon lange überschwemmt, also sind es mehr. Und mit ihr das Zeltlager unter der Brücke, in dem andere geschlafen haben. Man sieht nichts davon. Ich frage mich, ob der aus dem WG-Zimmer die anderen kannte und ob er Angst hat. Vielleicht kann ich ihn fragen, er liegt da und ist wach und löst Kreuzworträtsel. Aber bestimmt versteht er mich nicht oder möchte nicht gestört werden.
Mitte Dezember. Mein Hund trägt eine Jacke. Ein leerer Haufen mit Schlafsäcken und einer leeren Bohnendose und Dosenbier. Es ist morgens, vor seiner Aufstehzeit. Vielleicht ist er jetzt früher als sonst draußen. Es ist zu kalt zum Schlafen. Mir ist fast zu kalt zum Gehen. Gestern habe ich neue Handschuhe gefunden, vielleicht kann ich meine alten dalassen. Aber vielleicht braucht er auch keine.
Ende Dezember. Nach Weihnachten. Ich war eine Woche nicht hier. Das Bettenlager ist nicht
mehr ordentlich. Überall liegen Mandarinenschalen. So wie heute morgen bei mir, auf
meinem Tisch in meinem WG-Zimmer. NEIN Hund, nicht fressen. Gestern war ein Artikel in der Zeitung. Über einen anderen, der unter einer anderen Brücke schläft. Da steht, dass der trinkt, wegen der Sucht. Aber wenn man betrunken ist, wird einem warm und man zieht sich aus. So wie ich am Wochenende beim Tanzen. Und dann erfriert man. Und dass Geld am meisten hilft oder eine warme Mahlzeit. Es gibt hier keinen Imbiss in der Nähe. Vielleicht kann ich Geld hinlegen. Aber ich habe gerade nur Scheine dabei.
Anfang Januar. Weihnachtsbäume blocken den Wind von den Fenstern des WG-Zimmers. Ich frage mich, wie lange es gedauert hat, die hier her zu bringen. Er liegt zwischen und unter den Bäumen. Auf dem Schlaflager, mit dem Kopf unter der Decke. Macht was Verstecktes. Eine Spritze aufziehen? Ich gehe langsamer, weil ich neugierig bin. Nur auf das, was er da macht, auf nichts anderes. Es ist wieder ein Kreuzworträtsel. Die letzte Seite aus dem Heft. Die Hände zittern. Meins habe ich aufgegeben. Ich wusste nicht, was ein französisches Wort für „alt“ ist. Frustrierend. Vielleicht kann ich ihm das bringen. Aber das ist zu Hause und ich bin jetzt schon unterwegs.
Mitte Januar. Der Wind pfeift. Eiskalter Regen in meinem Gesicht. Endlich der Treppenturm mit Dach. Die Weihnachtsbäume sind weg. Überall Tannennadeln. Das Schlaflager darunter leer. Am Ausgang des Treppenhauses ein Krankenwagen.
Ende Januar. Gewohnter Arbeitsweg. Mein Hund schnuppert am Dreck. Da, wo mal das Schlaflager war. Vielleicht hätte ich helfen können. Aber ich wollte nicht.