Das Hängebauchschwein

von Antonia Spohr

Wer über den zugigen Friedrichsauer Platz eilt, sieht moderne Bänke ohne Rückenlehne, minutiös verlegten Granit und Mülleimer aus feuerverzinktem Stahlblech. Wuchtige Glaskuppeln ragen aus dem Boden; Hunde heben hier gerne ihr Bein. Rumpelt man mit der Rolltreppe zu den unterirdischen Bahnsteigen des Sieflinger Bahnhofs hinab, erkennt man den Sinn dieser gläsernen Riesenpickel. Es sind Oberlichter, die das trübe Licht des Friedrichsauer Platzes einfangen und auf die Bahnsteige weiterleiten. Oft liegen Essensreste neben diesen Kuppeln. Meist sind es Äpfel, manchmal auch Karotten oder Chips.

Ein renommierter Architekt hat lange über die Platzierung von Rolltreppen und Verbotsschildern nachgedacht und manch europäische Metropole beneidet uns um unsere indirekt beleuchteten Anzeigetafeln. Wir Sieflinger aber meiden die Bahnsteige, denn früher war hier kein Bahnhof, sondern ein Park: Ein Park mit einem Teich zum Entenfüttern, einem Restaurant, einem Mini-Golf-Parcours, einem Spielplatz mit Rutsche und Seilbahn, zwei Biergärten und sogar einem kleinen Tierpark.

Wir fütterten Enten, sahen unseren Kindern beim Schaukeln zu oder trockneten ihre Tränen nach einer verlorenen Mini-Golf-Partie. Wir bestaunten die Streifen der Zebras und die buschigen Ohren der Koalas, die im Tierpark träge an ihren Eukalyptuszweigen herumkauten. Wir tranken Radler und Hefeweizen in den Biergärten und gingen an Hochzeitstagen ins Restaurant. Manchmal saßen wir einfach nur auf einer Bank und sahen zu, wie die Schwäne im herbstlichen Nebel des kleinen Sees verschwanden.

Dann lasen wir in der Zeitung von dem geplanten unterirdischen Bahnhof. Wir hielten das für einen schlechten Scherz. Milliarden ausgeben, um im beschaulichen Sieflingen einen Bahnhof unter die Erde zu legen? Doch als Gerüchte über Immobilienspekulationen laut wurden, gründeten wir, nachdem wir es eine Zeit lang vergeblich mit dem Schreiben von Leserbriefen versucht hatten, ein Aktionsbündnis.

Einer der Biergartenpächter bastelte aus Bettlaken ein großes Transparent, besprayte es mit großen Lettern und befestigte es zwischen zwei alten Kastanien.

„Die Sieflinger sind wutenbrannt – Wir grillen für den Widerstand“ lasen wir nun, wenn wir auf dem Weg zu unseren Bürgerversammlungen durch den Park gingen. Bauzäune tauchten über Nacht auf und wurden von uns mit Plakaten verhängt.

Dann stand ein Minibagger neben einem Stapel Baustahlmatten. Ein winziger Bagger nur, gewiss. Doch für uns ein untrügliche Zeichen. Wir gingen mit unseren Unterschriftenlisten in die Fußgängerzonen, die Schwimmbäder und die Seniorenheime. Unsere Forderung nach einer Volksabstimmung der Sieflinger Bürger wurde vom Gemeinderat niedergeschmettert. Die regelmäßigen Montagsdemonstrationen vor dem Sieflinger Münster schienen weder Stadt, Land noch Bahn von der Unsinnigkeit ihres Großprojekts zu überzeugen. Wir kauften einem Stuttgarter Umweltschützer drei Pärchen Juchtenkäfer ab und fotografierten sie in ihrem neuen Habitat als Beweis für die Schutzwürdigkeit unseres Parks. Junge, im Demonstrieren erfahrene Menschen hielten kostenlose Workshops ab, in denen sie uns beibrachten, wie man sich von der Polizei wegtragen lässt, ohne sich zu verletzen.

Als die Baumfäller an einem nebligen Oktobermorgen anrückten, setzten wir unseren Schlachtplan in die Tat um. Unser Aktionsbündnis formierte sich. Über Sms, Telefonketten und soziale Netzwerke informierten wir uns gegenseitig. Wir waren perfekt organisiert: Vormittagskaffeekränzchen brachen geschlossen auf, Lehrer brachten ihre Schulklassen mit, und einige arglose Spaziergänger wurden von unserer Euphorie angesteckt und schlossen sich mitsamt ihren Vierbeinern unserem Protest an. Noch ein bisschen zögerlich stellten wir uns um die Bäume. „Oben bleiben! Oben bleiben!“ Innerhalb kürzester Zeit hatten wir einen Großteil des Parks okkupiert. Es war kalt, aber wir waren guter Laune und wir wurden immer mehr. Um keine Blasenentzündung zu bekommen, hatten wir uns für die Sitzblockade Kissen mitgebracht. Wir ließen Chipstüten und Gummibärchen kreisen, Sprechchöre skandierten Schmähverse auf Bahn und Bürgermeister, Entwürfe für Pressemitteilungen und Flugblätter machten die Runde, bekannte Lieder wurden zu Gitarrenbekleitung umgedichtet, sodass die Unsinnigkeit des Tiefbaubahnhofs offensichtlich wurde.

Die Mitarbeiter der Baumfällerfirma hatten sich vor ihren Lieferwagen gestellt und berieten sich. Unschlüssig stiegen sie von einem Bein aufs andere, rieben sich frierend die Hände. Einer telefonierte. Um sie herum standen ungefähr zehn Polizisten. Breitbeinig aber ebenso ratlos warteten sie in der nebeligen Kälte. Auch einer von ihnen telefonierte. Offenbar forderte er Verstärkung an, denn keine halbe Stunde später sprangen Kampftruppen aus gepanzerte Polizeibussen, angetan mit einer Montur, als wollten sie zum Eishockey.

Der Anblick von schwarzen Helmen und kugelsicheren Westen verunsicherte uns kurz, dann wurden wir von unserer eigenen Courage überrascht. Adrenalin flutete unsere Blutbahnen und ließ unsere Herzen schneller schlagen.

Jetzt erst recht. Gemeinsam waren wir stark und wir würden nicht weichen. Motorsägen heulten auf, wir hielten dagegen: „Oben bleiben, oben bleiben!“

Wir hakten uns unter. Kampfbereit. Die Kinder sammelten Kastanien und begannen, sie in Richtung der Polizisten zu werfen. Als die sich schwarze Atemschutzmasken überzogen, wussten wir, dass es nun ernst werden würde.

Dann sahen wir ihn: aus dem Nebel tauchte unter dem Transparent des Biergartens ein Wasserwerfer auf. Kurz diskutierten wir, ob wir eine Bewaffnung mit Schlägern aus der Minigolfanlage organisieren sollten, entschieden uns aber dagegen; der Weg war bereits abgeschnitten. Megaphondurchsagen der Polizei forderten uns auf, den Park zu räumen. Wie ein mechanisches Urzeittier kroch das Kriegsgerät auf uns zu. Noch hielten wir die Handykameras in die Höhe. Wer hatte, spannte seinen Regenschirm auf. Die Polizisten kesselten uns von der Seite ein. Vorne der Wasserwerfer, rechts die Polizisten mit Tränengas, links der Ententeich. „Oben bleiben! Oben bleiben!“, schrien wir und griffen nach unseren Kindern. Aber wir waren schon im Zurückweichen begriffen.

Vielleicht war es Zufall. Aber genau zu dem Zeitpunkt als der Wasserwerfer tatsächlich von einem Kind mit einer Kastanie getroffen wurde, schoss er los. Die Regenschirme wurden uns aus den Händen gerissen. Ja, die ganzen vorderen Reihen wurden nach hinten geschleudert. Panik brach aus. Wir wollten fliehen, stürzten aber übereinander, hatten Angst, von der reißenden Menschenflut erdrückt zu werden, kamen nicht schnell genug aus der Schusslinie. Auf der Flucht mussten wir Sitzkissen, Proviant und Musikinstrumente zurücklassen. Freunde und Familien wurden auseinandergerissen. Unsere Schreie gingen in den Schreien der anderen unter. Die Verwundeten, über die wir stolperten, wurden untergehakt und mitgeschleift.

Als der Wasserwerfer mit dem Schießen aufgehört hatte, wandelte sich unsere Angst in Wut. Noch nie waren wir so aufgebracht gewesen. Dieses Unrecht! Ohne Grund und Verstand auf friedlich demonstrierende Demonstranten zu schießen! Diese Ungeheuerlichkeit konnten wir nicht auf sich beruhen lassen. Niemand lässt sich von einem Wasserwerfer niederschießen und geht dann friedlich nach Hause, um sich einen Gurkensalat zu machen. Wir waren fassungslos. Wir waren entsetzt. Wir waren wütend.

Wir eröffneten ein notdürftiges Lazarett, in dem Augen ausgespült und erste Hilfe bei jeglicher Art von Quetschungen, Zerrungen und Brüchen geleistet wurde.

Aus dem Geräteschuppen der städtischen Gärtnerei hatten wir einen Sitzrasenmäher entwendet und nutzten ihn als Krankentransporter. Schon kamen Kamerateams, um Großaufnahmen von den tränenden Augen zu machen. Motive boten sich ihnen reichlich, denn der vom See aufsteigende Nebel vermischte sich mit dem Tränengas, so dass unsere Netzhäute nirgends mehr sicher waren. Trotzdem wurde der Nebel zu unserem stärksten Verbündeten. In seinem Schutz wuchs ein brillanter Plan:

Im Nachhinein wusste niemand mehr, wer auf die geniale Idee kam, die Tiere aus dem Tierpark freizulassen. Fakt ist aber, dass wir den Maschendraht aufschnitten und die Tierpfleger nötigten, die Käfige aufzuschließen.

Die Koalas verkrochen sich lieber in ihren Gehegen und wir mussten sie aufscheuchen und nach draußen jagen. Die Zebras hingegen schienen auf diese Chance schon ihr Leben lang gewartet zu haben und galoppierten begeistert ihrem Leithengst hinterher in die Freiheit. Die Flamingos machten sich sofort auf zum Teich, wo sie von den alteingesessenen Schwänen angefaucht und wieder vertrieben wurden. Das Hängebauchschwein schob seinen dicken Bauch interessiert in das Gestrüpp des Parks und versuchte, die Krümel aus liegengelassenen Chipstüten zu lecken.

Per Funk wurden die Polizisten angewiesen, sofort den Einsatz von Tränengas einzustellen, um die Tiere nicht zu gefährden. Die Zebras kannten kein Halten mehr. Besonders der junge Deckhengst konnte sich kaum mehr beruhigen und nutzte die Gunst der Stunde, um seine Stuten durch den ganzen Park zu jagen. Glücklich, dem Streichelzoo entkommen zu sein, ließen sich die Ziegen wiederkäuend auf einer kleinen Anhöhe nieder. Die Koalas reagierten zuerst skeptisch auf die vegetabile Artenvielfalt. Dann entschlossen sie sich, es mit einer Ulme zu probieren. Anscheinend ließ sich auf deren Ästen ganz besonders gut ein Verdauungsschläfchen halten. So war sofort klar, dass die Baumfällarbeiten wegen der Koalabären bis auf weiteres eingestellt werden mussten. Denn ob sie tatsächlich nur auf den Ulmen saßen und nicht mittlerweile auch auf Platanen und Rosskastanien, konnte aufgrund des Nebels niemand genau sagen. Die Einsatzleitung versammelte sich vor den Wasserwerfer, um über einen geordneten Rückzug zu beratschlagen.

Und wir? Wir lagen uns jubelnd in den Armen. Wir umarmten Rentner, Studenten, Kinder, Bäume und im Freudentaumel und weil der Nebel so dicht war, erwischten wir auch versehentlich den ein oder anderen Polizisten.

Die Einsatzkräfte, die näher am See standen, hatten weniger Glück. Der Nebel kesselte sie ein und weil sie Tränengas und Nebel nicht unterscheiden konnten, hatten sie ihre unbequemen Schutzmasken abgenommen und litten nun ebenfalls unter Atemnot und tränenden Augen. Sie hatten unterschätzt, dass sich aufgrund der Kessellage des Parks das Tränengas nicht sofort verflüchtigt hatte.

Die Flamingos interessierten sich nicht für den nun folgenden Volksentscheid und die auf Phoenix live übertragene Schlichtungsrunde, für deren Leitung Heiner Geißler, ein Mann mit mittlerweile sehr viel Erfahrung, gewonnen werden konnte. Die Ziegen tollten noch eine kurze Weile am Ufer des Sees umher und die Koalas ließen sich von der Feuerwehr mit langen Leitern von den Bäumen holen. Andere Tiere trieb der Hunger in ihre Käfige zurück. Selbst die Zebras kamen nach gutem Zureden wieder in ihren Stall getrottet.

Wir sind uns deshalb alle einig, dass das Hängebauchschwein der Robin Hood unter den Tieren ist. Es blieb unauffindbar. Selbst die Suchtrupps der Hundestaffel kamen erfolglos zurück.

Seitdem legen wir Äpfel, Karotten und Chips neben die überirdischen Glaskuppeln des Bahnhofs und manchmal in der Dämmerung, wenn es sich im Schutz des Nebels sicher fühlt, kann man ein leises Schmatzen hören.