Brief an meine Tochter

von Nadine K.

Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Meinung hier und Meinung dort,
es gibt keinen meinungsfreien Ort.
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.
 

Meine geliebte Ida,

eben bist Du fröhlich aus der Tür, Ranzen auf, Tüte voller Mitbringsel für Deine Klassenkameraden in der Hand, mit Freude und Aufregung im Herzen. Die ausgepackten Geschenke liegen auf dem Wohnzimmertisch, Kuchenreste in der Küche, in mir ist Dankbarkeit, für das Spüren Deiner Begeisterung, für unser Lebensumfeld, dafür, dass ich Dich gebären durfte.
Bis zu meiner Entscheidung, dass ich einen Segen wie Dich empfangen möchte, war es ein langer Weg und dann warst Du plötzlich da. Bist Du durch die Enge des Geburtskanals aus meinem Mutterleib in die Freiheit gewandert oder bist Du mit Deinem Tag 1 in einer Welt internalisierter Unfreiheit gelandet?

Da ist eine Freiheit, die vor der Geburt und nach dem Tod liegt, dazwischen ist ein Leben. Ich wünsche Dir ein Leben in Freiheit, Deinen Körper stets frei bewegen zu können, Deine Gefühle stets frei ausdrücken zu können und Deine Gedanken stets frei denken und wenn es Dir wichtig ist, aussprechen zu können. Dass das eigene Kind eine eigene Meinung entwickelt, hört sich für mich nach einem lohnenswerten Ziel an. An diesem heutigen Tag, mit viel Rückblick und Fokus auf Dich, nagt an mir der Zweifel, dass ich Dir geholfen habe, diesem Ziel näher zu kommen.

Nach dem ersten Ultraschallbild und all den daraus natürlich folgenden Zuständen, ist mir das erste Mal bewusst geworden, dass der größte Teil der Menschen sehr unachtsam von seinem Bedürfnis nach Meinungsäußerung Gebrauch macht. In dem Bemühen alles gut und richtig zu machen, ist die Fülle und die Bestimmtheit der Meinungen von Babymarkt-Verkäufern bis hin zu medizinischen Personal zu selten eine Hilfe und führt tendenziell in die Hölle der Unsicherheit. Daraus folgen Entscheidungen, die ich aus jetziger Perspektive schnell als „falsch“ bezeichnen würde, um dann – nach einem tiefen Atemzug -, mir liebevoll zu verzeihen, dass ich zum damaligen Zeitpunkt meine Meinung nicht geäußert habe. Weil es sie dort noch nicht gab, meine Meinung in ihrer Freiheit und Klarheit, wie es sie heute gibt.

Ich fühle meine Intuition, in mir ist Liebe und ich habe ein Gespür,
wenn das die Basis der Meinung ist, dann öffnet die Meinung eine Tür.
Steckt hinter meiner Meinung die Angst, die Ohnmacht, Wut oder altes Leid,
so bleibt die Tür verschlossen und geht immer schwerer auf, mit der Zeit.
 
Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Wo kommt sie her? Wo will sie hin?
Welchen Inhalt hat ihr Sinn?
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.
 
Vor der Meinungsäußerung liegt die Meinungsverinnerlichung. Das, was da raus kommt, als Meinung, muss erst mal reingekommen sein, in Körper, Geist und Seele. Mit welchem Körper, an welcher Stelle der Erde, wir hier landen, kann das geistige Denken im hohen Maße beeinflussen, vielleicht noch höher ist der Einfluss durch die emotionale Steuerung. Jede Meinung entsteht aus jahrelanger Beeinflussung. Jede Meinung schwimmt in einem durch tägliches Meinungsfutter getrübten Teich im Kreis umher, frisch sind die selten, die Meinungen. Bei Bedarf fische ich mir eine Meinung heraus und dann habe ich eine Meinung. Oder hat die Meinung mich?

Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Ich hörte Deine Meinung, was mach ich jetzt bloß,
wie werde ich wieder meinungslos?
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.

Und wenn ich/du/er eine Meinung an der Angel habe/hast/hat oder die Meinung mit ihrer großen Eigenenergie von selber an die Oberfläche gesprungen kommt, dann schreit sie nach Aufmerksamkeit, welche sie sich gerne einfach nimmt. Braucht die Äußerung der Meinung eine Anfrage beim potentiellen Empfänger oder besitzt sie ein automatisiertes Anrecht dafür? Hat die Veräußerung der Meinung eine institutionalisierte Empfängererlaubnis?
Welche Freiheit besitzt das Ohr, in das die Meinung eindringen möchte? Darf es sich schützen, darf es Nein sagen oder kommt die Meinungsfreiheit daher mit einer integrierten Mithörpflicht?

Die Freiheit, die ich meine.
Ist die Meinung wirklich meine?
Oder deine oder seine?
Es meint hier, es meint dort, jeder will was sagen,
und jeder hat die Antwort schon, drum spart euch eure Fragen.
Oft wünsch’ ich, ich hätte keine.

Worin besteht dieses drängende Bedürfnis nach Meinungsäußerung? Was will die Meinung von ihrem Gegenüber? Gehört werden? Reicht ihr das? Will sie Bestätigung? Will sie verändern?
Sie will meist Recht haben, wenn die Meinung aus einem angstgetränkten Teich gefischt wurde. Dann gibt es keinen Platz für eine Gegenmeinung, dann hat die Meinungsfreiheit sich gegenseitig aufgelöst.
In der Liebe liegt die Akzeptanz, die Liebe meint nicht, die Liebe ist und damit ist sie meinungslos.

Eine Meinung zu haben als Mutter, meine ich, sollte ich. Oder besser nicht?
Ich möchte Dich von Deiner Meinung befreien,
wie kannst Du wieder meinungslos sein?
gemein, so viel Gemeintes floss in Dich ein.
Ich such’ Dich vergeblich, in deinen Worten, so versteckt,
von den Meinungen der Anderen wurde Deine Ursprünglichkeit verdeckt.
Ich wünsch’ Dir, Du wärst wieder rein.
 

Meine geliebte Ida,

dies ist sicherlich kein Brief, den ich Dir heute an Deinem 9. Geburtstag zum Lesen überreichen werde, er wird in Deine Erinnerungskiste gepackt. Ich habe die Worte geschrieben, damit ich nicht vergesse, dass ich es als meine Verantwortung sehe, meine gemeinte Meinungsfreiheit zu leben, inspiriert von einem Schreibwettbewerb über den ich im Internet stolperte letzten September, meinem Geburtsmonat.

Seit neun Jahren wirst Du vollgepumpt mit Meinungen. Worte gelangen an Deine Ohren, die meist angstgetriebene unachtsame Münder verlassen haben. Auch von mir gab es viele solche Abladungen, wertende Bemerkungen, laute Worte der wütenden Ohnmacht und täuschende, manipulierende, erpressende Sätze der Hilflosigkeit. Elternschaft als täglicher Störenfried der kindlichen Entwicklung der Meinungsfreiheit.

Und welche Art von Meinungen hast Du eigentlich, frage ich mich. Die Antwort ist zäh. Dein Geist meint viel und vieles, viele Wörter sprudeln aus Dir raus, nur oft höre ich nicht Dich.
Ich höre Deine Eltern, Deine Mama aus dem Westen oder Deine Mami aus dem Osten, oft höre ich Deine Mitschüler, erahne Meinungen Deiner Lehrer. Ich höre Meinungen wie „Mama, dein Essen schmeckt scheiße.“ oder „Putin ist ein Arschloch,“ aus Deinem Mund und während ich das höre, fliegen lauter irritierte, erklärende Gedanken dazu an mir vorbei und wir sind plötzlich im nächsten Moment.

Ich suche Dich, in Deinen Worten. Ich finde Dich nicht, in Deinen Worten. Wo bist du? Wo ist die unbedeckte, unversteckte, unbefleckte Tochter, die Du einst warst? Dies zu schreiben, macht mich traurig und genau deswegen schreibe ich es, damit wir unsere nächsten gemeinsamen Schritte auf neutralerem Boden gehen können.

Mein Versprechen heute an mich, ist, achtsam jeden Tag mehr und mehr den friedvollen Weg der Meinungslosigkeit zu gehen.
Mein Versprechen heute an Dich, ist, Dir einen Raum zu wahren, in dem Du Dich mit Deiner eigenen freien Meinung finden kannst.

Ida, ich möchte Dich kennenlernen.
In Liebe,
Deine Mama