Letzter Tag

von Rita Janaczek

Valentina ist leichenblass. Schon jetzt, Stunden bevor es losgeht. Wie ein weggesperrtes Tier streift sie durch unsere kleine Wohnung. Sie steuert um den Teppich herum, quert ihn, umgeht ihn, verschwindet in die Küche, kehrt zurück. Eine Weile beobachte ich sie dabei, dann schaue ich aus dem Fenster. Mein Blick folgt der von Plattenbauten gesäumten Straße bis zum Laden an der Ecke. Das Gesträuch, das den Gehweg säumt, zittert bei jeder Windböe. Monatelang haben wir mit uns gerungen, wochenlang eine Entscheidung immer wieder vor uns hergeschoben. Dennoch wussten wir, dass sie unumgänglich werden würde. Die Beobachtung schnürte unser Leben immer weiter ein. Die Gängelung beschnitt all unsere  Möglichkeiten. Die Luft zum Atmen war nur noch der Gnade des Staatsapparates geschuldet. Unsere Situation war am Ende durch die Vorbereitungen hochbrisant.

Nicht mehr lang, dann wird sich unser letzter Tag hier verabschieden. Ich gehe kurz auf den Balkon. Es ist windig und es ist kalt. Schlechte Bedingungen für unser Vorhaben, zumindest, wenn es übers Wasser gehen sollte. Doch die  Umstände haben wir nicht auszuhandeln, nicht das Wie, und nicht das Wann. Wir haben sie zu akzeptieren. Ich schließe die Balkontür, das vertraute Knarzen klingt auf einmal wie eine Warnung. Wie gelähmt verharre ich neben der gelb-grün gemusterten Gardine. Wir wissen nichts. Ich stelle mir einen alten Kahn vor, ein Spielzeug der Wellen. Ich rudere mit den zwei Menschen, die mir am meisten bedeuten in dieser Nussschale durch die Dunkelheit. Es regnet und von Weitem kann ich die Lichter der Patrouillenboote sehen. Wir haben keine Schwimmwesten und Lotta weint. Ich atme schwer, hier, jetzt. Das wird mir erst bewusst, als Valentina mich aus großen Augen ansieht. Während ich um meine Beherrschung kämpfe, legt sie ihre Hand auf meine Schulter. Nur das. Es gibt nichts zu bereden, wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen. Ein Konglomerat widersprüchlicher Gefühle begleitet mich seit diesem Moment. Ich versuche mich gedanklich auf die positive Seite zu schlagen. Wir werden woanders leben, mit der Möglichkeit über uns selbst zu entscheiden. Valentina kann endlich wieder in dem Beruf arbeiten, den sie liebt, der ihr versagt wurde, weil sie Position bezogen hat. Lotta wird sich entfalten können. Sie wird zu einer Frau heranwachsen, die nicht anhand ihrer Linientreue bewertet wird.

Ich befürchte, dass unser Weg tatsächlich über das Meer führen wird. Wer würde einen Grenzübertritt mit einem versteckten Säugling im Fahrzeug riskieren? Da müsste das Kind schon sediert sein. Doch das kommt nicht in Frage, da waren wir uns von Anfang an einig.  

Es ist jetzt dämmrig. Die Zeit scheint sich rückwärts von uns wegzubewegen. Wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa und schweigen. Vielleicht kämpft Valentina gerade mit genau den Gedanken, die auch mich gerade beschäftigen. Wir werden sie  nicht wiedersehen. Karla und Paul, Kiki und Herbert, Tante Eva, Omi Ostsee und Omi Schwerin, Gerhard den Witzbold und Norbert. Auch Tobi nicht mit seinem dreibeinigen Schäferhund Wolle. Wir werden uns nicht einmal von ihnen verabschieden. Das ist der Preis, den wir zahlen, es ist ein exorbitant hoher Preis. Zum zigtausendsten Mal wankt mein Entschluss, der doch so unumstößlich zu sein schien. Mit einem ruhigen Atemzug recke ich meinen Körper und verbiete mir jeden Zweifel. Ich stehe auf und gehe zum wiederholten Mal zum Fenster. Dunkle Wolken ziehen vom Horizont auf die Stadt zu und schieben ein gelbliches Grau vor sich her. Ich wende mich von diesem Schauspiel ab. Auf einmal scheint alles irreal. Der Raum, in dem ich stehe, der blaue Rucksack, der auf dem Sessel bereitsteht, die eng verschnürten Decken, Valentinas bleiches Gesicht und das Zittern ihrer hageren Gestalt. Abwägen? Das Ganze noch einmal überdenken? Jetzt noch? Ich kann meiner Frau die Sorge ansehen, sie spricht nicht nur aus ihrem Blick, sie schreit aus jeder ihrer Regungen. Bereut sie unsere Entscheidung? Sicher nicht. Ich kenne sie und ihren Widerwillen gegen Zwang, ihre Wut auf das System. Ihr loses Mundwerk hat uns mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht. Ich liebe sie dafür. Aber ich kenne auch ihre Skrupel. Was wird geschehen, mit unseren Verwandten und Freunden? Reicht es, dass sie völlig ahnungslos zurückbleiben? So ahnungslos wie nur irgend möglich? Sicher nicht! Die Menschen, die uns am nächsten sind, stürzen wir in eine irrwitzige Situation. Das ist für mich der schlimmste Gedanke. Ich quere sinnlos das Zimmer und starre eine Weile auf das Muster der Tapete.

Die Zeiger der Plastikwanduhr quälen sich vorwärts. Valentina hat ein paar belegte Brote im Rucksack verstaut. Der Rest wartet auf dem Teller, doch jeder Biss würde in meinem Inneren protestieren. Ich gehe zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Abend ans Fenster. Es ist jetzt dunkel. Ob sie uns beobachten? Ich spüre den heißkalten Schub in der Magengrube und trete einen Schritt zurück. Schon möglich, dass sie uns bereits im Visier haben, obwohl wir uns die letzten Wochen wie immer verhalten haben. Aber vielleicht ist gerade das Unauffällige auffällig. Das leise Weinen macht mir den Wahnsinn der Situation noch bewusster. Wir schauen uns einen Moment lang in die Augen. Wenn ich mir jemals eingebildet habe, die Gedanken meiner Frau lesen zu können, habe ich mich mit dieser Annahme übernommen. Die stille Explosion zurückgehaltener Gefühle lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Valentina dreht sich schweigend von mir weg. Mit Lotta auf dem Arm und einem Fläschchen in der Hand kehrt sie zurück. Ich fixiere die beiden. Eine Einheit, aneinandergeschmiegt in einer Blase, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Reine Gegenwart, ein Augenblick liebevoller Stille, ein Strudel warmer Emotionen.

Lotta schläft wieder. Meine Frau räumt alles zurecht, beinahe so, als würden wir Besuch erwarten. Das Fläschchen ist gespült, die Kissen liegen dekorativ auf dem dunkelgrünen Sofa. Die Vorhänge sind zugezogen, sie zupft eine Weile daran herum. Ich nicke ihr zu und sie lächelt. Es ist ein warmes Lächeln, ich nehme sie kurz in die Arme. Am liebsten würde ich jetzt mit ihr so stehen bleiben, stundenlang, das Vorhaben einfach vergessen. Ich räuspere mich und schiebe sie vorsichtig von mir. Wir wissen beide was zu tun ist. Immer und immer wieder sind wir diesen Tag durchgegangen, haben jede Minute geplant, miteinander und jeder für sich. Der wirkliche Moment übersteigt die Vorstellung, die sich monatelang in mir entwickelt hat. Wie es weitergeht, wenn wir am Treffpunkt angekommen sind, liegt in den Händen anderer.

Es ist Mitternacht.

Alles ist vorbereitet, verstaut. Es gibt nichts mehr zu tun. Wir sind bereit. Noch eine Stunde Galgenfrist bleibt uns. Darauf hätte ich gern verzichtet. Dreitausendsechshundert Sekunden, die noch vor uns liegen und jede einzelne wird sich zäh wie Klebstoff vor uns ausbreiten. Mein Gedankenkarussell wirft sich einmal mehr ungefragt an und beschert mir einen Puls, den ich im ganzen Körper zu fühlen glaube. Es ist durchaus möglich, dass wir geradewegs in eine Falle laufen. Diese Bedenken habe ich nie laut ausgesprochen, aber wozu auch? Valentina kennt das Risiko so gut wie ich.

Ruhig, beinahe gelassen, wickle ich das Tragetuch um meinen Körper, dass meine Frau für Lotta genäht hat. Die Kleine passt perfekt hinein, ihr Köpfchen liegt an meiner Brust. Ich atme ihren cremigen Duft. Ich schließe die weite Jacke um mich und ihren Körper und ergreife den Rucksack.

Valentina schafft es nicht, mit mir zu gehen, ohne vorher noch einmal in unsere drei kleinen Räume zu blicken. Dann schließt sie die Wohnungstür ab und wir steigen leise die Treppe hinunter. Wie besprochen wickelt sie den Schlüsselbund in ein Taschentuch und lässt ihn vorsichtig in den Briefkasten gleiten. Er fällt kaum hörbar auf das Metall. Draußen schlägt mir der Wind scharf ins Gesicht. Valentina blickt zu Boden, während wir auf unseren Trabant zugehen. Er wartet zuverlässig auf seinem Parkplatz, papyrusweiß mit schilfgrünem Dach. Rucksack und Decken legen wir auf den Rücksitz. Valentina setzt sich hinters Steuer und ich lasse mich mit Lotte neben ihr in den Sitz sinken. Der Zweitakter war nie vorher so laut wie in dieser Nacht. Ich weiß, dass es mir nur so vorkommt, doch es beunruhigt mich zutiefst. Ich sehe die Gardine, die im zweiten Stock zur Seite geschoben wird, ein Streifen Licht. Ich weiß, wessen Wohnung das ist. Der Nachbarin habe ich noch nie über den Weg getraut. Valentina setzt rückwärts auf die Straße und fährt los. Der gleichmäßige Rhythmus, den die Nähte der Betonplatten erzeugen, beruhigt mich. Lotta liegt warm und entspannt an meinem Körper. Mehr als alles andere wünsche ich mir, dass wir den Treffpunkt unbehelligt erreichen.

 

Seit wir die Stadt hinter uns gelassen haben, ist uns kein Auto mehr begegnet. Über das Kopfsteinpflaster geht es nur langsam voran, doch die Route scheint uns sicherer. Die schmale Straße ist von Bäumen gesäumt und die Scheinwerfer des Wagens leiten uns wie durch einen Tunnel. Es ist ein skurriler Anblick. Meine Müdigkeit, begleitet vom vertrauten Motorengeräusch, fixiert uns auf der Stelle, während sich die Landschaft bewegt und die Buckelpiste scheinbar unter uns durchrutscht. Ich blinzle und bemühe mich, wieder in die korrekte Wahrnehmung zurückzufinden. Inzwischen sehe ich weit vor uns einen kleinen Stern, der wohl auf die Straße gefallen ist. Valentina steigt vehement auf die Bremse, das holt mich in die Wirklichkeit zurück. Sie schaltet das Licht aus und setzt im Blindflug rückwärts. Es holpert und ruckelt, ich höre es splittern, Plaste und Elaste. Vermutlich haben wir einen Rückspiegel eingebüßt. Als der Wagen hält und der Motor aus ist, höre ich Valentinas schweres Atmen. Lotta bewegt sich auf Tuchfühlung mit meinem rasenden Herzen. Es dauert eine Weile, bis das Licht an uns vorbeifährt. Vielleicht Volkspolizei, vielleicht auch nicht. Wir sind weit genug entfernt, zwischen den Bäumen. Es ist stockdunkel um uns herum. Ich habe keine Ahnung, ob hier überhaupt ein Weg ist, oder ob meine Frau uns geistesgegenwärtig einfach in die Wildnis katapultiert hat. Nach diesem Schrecken verharren wir noch im Nichts, ohne ein Wort, bis Valentina den Wagen wieder anlässt und das Gefährt zur Straße zurückbugsiert.  

Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, als wir endlich das abgebrochene Gatter erreichen. Valentina biegt in den Feldweg ab und wir holpern einige hundert Meter über eine grasbewachsene Piste. Im Licht der Scheinwerfer können wir die baufällige Halle erkennen. Auch den Lieferwagen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern davor wartet. Ein Mann steht rauchend daneben, ich kann sehen, wie er die Kippe zu Boden wirft und darauf tritt. Er gestikuliert und weist uns an, hinter das Gebäude zu fahren. Es beginnt zu nieseln und auf den letzten Metern schaltet meine Frau die Scheibenwischer ein. Der Wagen winkt uns nochmal zum Abschied. Als ich aussteige merke ich jeden Knochen. Ich schiebe Lotta vor meinem Körper ein wenig zurecht und greife den Rucksack. Valentina lässt den Schlüssel des Trabant einfach stecken. Sie klemmt sich das Bündel mit den Decken unter den Arm und wir gehen vorsichtig los. Der Boden ist uneben und im schwachen Mondlicht kaum zu erkennen. Eine Windböe erfasst uns, der Regen wird stärker und als der Mond hinter den Wolken verschwindet stehen wir in völliger Dunkelheit. Ein Lichtkegel tanzt von der Seite über den Boden. Der Mann, der uns hierher gelotst hat, schaut um die Ecke der Halle und leuchtet uns mit einer Taschenlampe den Weg. Ich setzte erstaunliches Vertrauen in diesen wildfremden Menschen, der genauso gut unsere Endstation sein könnte. Doch ich will daran glauben, dass er unser Ausweg ist. Er kommt auf uns zu. Jetzt sehe ich auch einen weiteren Unbekannten direkt hinter ihm. Als sie nur noch wenige Schritte von uns entfernt sind halte ich inne. Es gibt kein zurück. Ich spüre Lotta warm an meinem Körper, greife Valentinas Hand und presse mit heiserer Stimme das Codewort hervor.