Berauschende Einsichten

- eine beschämende Anekdote aus meiner Zeit als Molchforscher

von Heiner Lekszas

Eine Studie über das Sozialverhalten des europäischen Schlupfmolches, die mein Doktorvater angeregt hatte, war mir widerwillig Anlass, die heimischen Gefilde mit Lupenglas und Klemmbrett für einige Tage zu verlassen.

Folgenreich entschied ich mich zur Bahnreise:


1 Verregnete Fenster, trockene Polster

Ich hatte mir im Speisewagen einen gemütlichen Eckplatz ausgesucht und bestellte bei der verträumten Bedienung einen verlängerten Kaffee. Als einziger Gast im Abteil genoss ich die Ruhe und gastronomische Gelassenheit, die dem alten Zug zu eigen war. Während wir leise ratternd der städtischen Einöde entkamen, geriet ich zunehmend in die beobachtende Haltung, die meinem Berufsstand üblich ist.

Ich entsandte suchende Blicke, die wie Fühler aus dem geschützten Ecksitz hervortasteten und schließlich aus dem warm umhüllten Zugabteil durch tropfenreiche Scheiben ins unwirtliche Außerhalb gelangten:

Es gab nichts zu sehen.

Für einige Stunden plätscherte die Fahrt dahin bis mich der Harn zu drängen begann. Ich kam dem nach und hörte auf dem Weg zur Toilette eine Unterhaltung zwischen Schaffnerin und Reisendem:

„Hier noch jemand zugestiegen?“, sie kam auf einen Mann mittleren Alters zu, dessen Grinsen mir übel aufstieß. Er hielt ihr seine Fahrkarte entgegen:

„Ich lass mir keinen Maulkorb verpassen, sie brauchen gar nichts sagen!“

Er klang herausfordernd, doch die Schaffnerin biss nicht an: „Ich hatte nicht vor, ihnen etwas vorzuschreiben.“

„Sehr gut, wir lassen uns nichts sagen, von denen da oben, nicht wahr?“, er wollte sich wohl solidarisieren. Sie erwiderte jedoch etwas bekümmert:

„Für sowas lass ich mich nicht abstechen. Nein, soweit kommt’s noch.“ Damit distanzierte sie sich.

Als ich zurück an meinen Sitzplatz kam, war alles Behagliche verflogen und ich saß den Rest der Fahrt aus.


2 Habitus und Habitate

Ich stieg an einem abgeschiedenen Bahnhof aus, der in der bergig-sumpfigen Region lag, die angeblich meine Studienobjekte beheimaten sollte. Um mich zu orientieren und einen Plan zu fassen, wie ich meine Suche beginnen wollte, beschloss ich in die Bahnhofskneipe einzukehren. Sie trug den klangvollen Namen ‘Absteige 5’ und warb auf einem Aufsteller mit dem Slogan ‘Hier wird man es noch sagen dürfen!’. Mir war nicht ganz wohl dabei, doch bereits beim Eintreten gerieten meine klassizistischen Vorurteile ins Wanken. Die Stube verströmte ein einladendes Ambiente.

An den Wänden hingen Bilder, die Menschen ins Gespräch vertieft zeigten. Regale voller Bücher und Gesellschaftsspiele sowie das Blubbern des langen Aquariums kulminierten die beruhigende Ästhetik des dunkelhölzernen Mobiliars, getaucht in buntgläsernes Licht. Vergnügt setzte ich mich an den Tresen und bestellte einige Biere, während ich eine alte Wanderkarte des Umlandes auf molchgeeignete Lebensräume untersuchte.

Über dieser Bequemlichkeit war es Abend geworden und ein anbrandendes Gespräch machte mich darauf aufmerksam, dass ich nicht mehr der einzige Gast in der Kneipe war. Durch das Aquarium konnte ich verschwommen erkennen, wer sich da unterhielt und beschloss kurzerhand, meinen Verstand darauf zu lenken, ehe er vernebelte:

„Doch ich sage euch abermals, wir müssen mit den Vorbereitungen für die große Säuberung beginnen! Sie ist unumgänglich, wir müssen handeln.“, sprach eine dunkle Gestalt mit kehliger Stimme. Sein Gegenüber, etwas kleiner und gefleckt, entgegnete:

„Können wir uns nicht wieder in unseren Unterschlupf zurückziehen, Quappmold? Das hat doch auch funktioniert, für die meisten von uns zumindest.“

Eine dritte Person, die sich vor allem durch ihre verwässerte Stimmlage unterschied, ergriff das Wort:

„Aber Molwina, was ist mit denen, die sich nicht einfach unter irgendeinen Stein verkriechen können? Den Alten, den Kranken? Ich sage, wir müssen eine eigene Säuberung vornehmen! Schnell, effektiv und radikal. Danach können wir hier alles nach unseren Vorstellungen gestalten.“

Quappmold kam in Fahrt:

„Ich stimme Bertolm zu. Auf, lasst dies unsere Nacht sein. Fegt durch die Straßen, kein Versteckspiel mehr, reinigt die Scheiben dieser Welt! Auf jetzt, in eine bessere Zukunft!“

Perplex sprang ich auf und sah über das Aquarium hinweg. War hier eine Verschwörung im Gange? Würde sogleich ein Akt der Gewalt über die friedliche Schenke hereinbrechen?

Fast zerbrach ich an der Tatsache, dass der Tisch, den ich durch die trüben Scheiben beobachtet hatte, leer war. Ich haderte mit mir und wollte schon dem Bier meine Hirngespinste anlasten, als ich im schlammigen Wasser der Gestalt dreier Molche gewahr wurde, die drauf und dran waren, das Innenleben des Aquariums auf den Kopf zu stellen.


3 Das Sozialverhalten der Schlupfmolche

In dieser Nacht war mein anfänglicher Schock in atemlose Beobachtung übergegangen. Stundenlang starrte ich in die Untiefen des langen, trüben Wassers und notierte eilig

kritzelnd, was sich dort abspielte: Der zeitgeraffte Aufbau einer Gesellschaft vernunftbegabter Schlupfmolche im aquarianen Mikrokosmos – eine Sichtung, die meinem Berufsstand glücklicher nicht hätte sein können. Da mich die Beobachtung letzten Endes vor eine Entscheidung stellte, deren Treffung mich bis zum heutigen Tage tief beschämt, möchte ich die Vorgänge im Aquarium beschreiben, die dahin geführt haben.

Gleich zu Beginn zeigte sich, dass mit ‘Säuberung’ tatsächlich das Saubermachen der veralgten Scheiben gemeint war. Immer mehr Molche beteiligten sich daran, unter der Führung von Quappmold das Wasser zu filtern und mir die Sicht ins Innere zu erleichtern. Ich schloss aus den Unterhaltungen der redseligen Tiere, dass beim Wasserwechsel durch den Barmann immer wieder Molche ums Leben kamen, was letztendlich zu der Revolution führte, der ich beiwohnen durfte. Als nächstes kam es immer seltener zu Streitgesprächen mit Schlupfmolchen, die sich nicht beteiligen wollten und lieber unter Steinen der Veränderung harrten. In ihrer Abwesenheit ließ sich der Anführer zu einer Art Staatsoberhaupt wählen. Er begann die Inneneinrichtung des Aquariums nach seinem Plan umzugestalten und erließ Vorschriften, nach denen die Molche zu leben hatten. Doch die Stimmung schlug bald um.

Als Quappmold zum Kampf gegen die Shrimps aufrief, mit denen die Molche sich das Becken teilten, kam es zu den ersten Ausschreitungen. Alle, die sich gegen den Anführer aussprachen, wurden als Molchsverräter erschlagen. Bald war das lange Aquarium in Gänze erobert und sämtliche Bewohner, die einmal koexistiert hatten, einander fremd und hierarchisiert. Auf diesen grausigen Taten baute der Molchstaat auf, den ich als das erkannte, was er war: eine feuchtfaschistische Keimzelle.


4 Entschieden zu weit

Trunken stand ich auf, griff zum Bierkrug und zerschmetterte die gläsernen Grundmauern dieser verkommenen, amphibischen Gesellschaft. Was blieb mir anderes übrig? Wie lange hätte es gedauert, bis ihre Ideologien an Land kämen und ihre Parolen an den Stammtischen wiederholt würden? Eilends verließ ich die Bahnhofskneipe und fand erst am leeren Bahnsteig so langsam wieder zu mir. Verloren versuchte ich mir den Akt der Gewalt zu vergegenwärtigen, den ich soeben verübt hatte. Da setzte sich der Barmann zu mir, den ich um sein ansehnliches Aquarium gebracht hatte.

„Diese Molche könnens einfach nicht lassen, das war schon das dritte Becken, das gesprengt werden musste.“

Heute stehe ich vor Ihnen, Doktor Rübenschnitt und möchte mich verantworten. Sie haben diese Forschungsreise initiiert und ihr Ruf wurde durch meine Taten so geschädigt, wie ich durch sie beschämt wurde. Ich habe all diese faschistischen Schlupfmolche auf dem Gewissen, aber ich bedauere nicht, dass ich mit meinen Forschungsprinzipien gebrochen habe. Vielmehr bedauere ich, dass ich nicht eher hinter meinem Stein hervorgekommen bin und mit den Molchen die Rahmen der Freiheit verhandelt habe.