Die Freiheit, die ich meine…

von Melanie Rahimpour

Ahmed

Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen. – Voltaire

Ich möchte von meinem Recht Gebrauch machen.

Wir haben viele Freiheiten in diesem Land. Mehr als in vielen anderen Ländern. Mehr als im Land meiner Eltern und Großeltern. Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Religionsfreiheit. Wir dürfen unseren Beruf wählen, unseren Wohnort, unseren Partner, unsere Geschlechtsidentität. Wir dürfen frei reisen und überall arbeiten. Wir dürfen über Politiker, die Kirche, den Papst, Jesus, Mohammad und Moses Witze machen und lachen.

Autoritäten wie unserem Chef oder unserem Lehrer dürfen wir die Meinung sagen. Wir dürfen uns frei versammeln, einen Verein gründen, wir dürfen wählen und wir dürfen demonstrieren. In diesem Land ist alles möglich.

Aber stimmt das wirklich?

Frei reisen und überall arbeiten war die ersten Jahre für meine Eltern nicht möglich. Sie kamen als Flüchtlinge hierher. Zuerst hatten sie eine Duldung, dann einen sogenannten begrenzten Aufenthaltsstatus. Sie durften nicht arbeiten und auch nicht umziehen. Sie durften nicht einmal aus ihrem Bundesland raus. So viel zu Berufs- und Bewegungsfreiheit. Frei demonstrieren darf man hier auch nur, sofern die Demo offiziell angemeldet wird. Sogar Nazis dürfen das.

Hätte ich meinem Chef oder Lehrer jemals die Meinung gesagt, wäre ich heute sicher nicht hier, wo ich bin. Ich bin in Deutschland geboren und ich habe den deutschen Pass und doch bin ich nur auf Bewährung hier. Stelle ich was an, wird meine Identität sofort diskutiert, wird nach meinem Namen und meiner Herkunft gefragt. Und so wird es auch noch meinen Kindern und Enkeln gehen. Außer sie wechseln ihre Namen, ihre Religion und die Farben ihrer Augen, ihrer Haare und ihrer Haut. Leider darf ich auch nicht laut über Mohammad lachen, auch wenn ich das gerne wollte. Manchmal beneide ich die Deutschen darum, dass sie das können. Meine Eltern sind sehr liberal, aber ich glaube, mein Vater hätte schon ein Problem damit, wenn ich mich plötzlich für ein anderes Geschlecht entscheiden würde oder von der Norm abweichende sexuelle Neigungen hätte. Ich glaube, dass das selbst in deutschen Familien schwierig wäre.

Religionsfreiheit. Wir dürfen unsere Religion frei ausüben. Frauen dürfen mit Kopftuch zur Schule gehen, studieren und ihr Referendariat machen. Frauen mit Kopftuch dürfen danach aber weder als Lehrerin noch als Anwältin arbeiten. Und auch sonst bekommen sie kaum einen Job. Ich habe noch nie eine Frau mit Kopftuch im Frisörladen, an der Kasse oder als Fernsehmoderatorin gesehen. Warum nicht?

Redefreiheit. Das ist schön und gut. Aber darf ich wirklich alles sagen? Alles ist nur noch Schwarz und Weiß. Dafür oder dagegen. Bin ich gegen Abtreibung, bin ich gegen die Frauenrechte. Bin ich für Abtreibung, bin ich ein Mörder. Bin ich für die Rettung des Klimas, bin ich ein Klimaterrorist. Bin ich gegen die Rettung des Klimas, bin ich ein Querdenker. Bin ich für die Impfpflicht, bin ich ein Diktator. Bin ich gegen die Impfpflicht, bin ich ein Coronaleugner. Bin ich für das Gendersternchen, bin ich kein Mann mehr. Bin ich dagegen, bin ich ein Macho und Chauvinist. Bin ich gegen noch mehr Ausländer, bin ich ein Rassist. Bin ich für mehr Ausländer, bin ich ein Gutmensch. Bin ich für Israel, bin ich ein Kindermörder. Bin ich gegen Israel, bin ich Antisemit. Bin ich gegen Waffenlieferung, bin ich ein Putinversteher. Bin ich für Waffenlieferung, bin ich ein Kriegstreiber. Bin ich dafür, dass Straftäter für ihre Verbrechen angemessen bestraft werden, egal woher sie kommen, bin ich ein Rassist und Unterstützer der Rechten. 

Das ist seit Neuestem das letzte Redeverbot, das auch gegen Menschen wie mich angeführt wird. Bestimmte Dinge soll man nicht mehr sagen dürfen, man soll sie nicht einmal mehr denken dürfen. Gerade einer wie ich, der Angst haben muss, an irgendeiner Ecke oder nachts in einer Shisha-Bar über den Haufen geschossen zu werden. Verbrechen sollten bestraft werden, nicht aber die freie Meinungsäußerung, das Ansprechen von Problemen sollte ermöglicht werden und nicht das Aufstacheln und Aufwiegeln von aufgebrachten Gemütern durch Lügen, Fake News und Hassreden.

Ich teile die Meinung vieler nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass sie sie äußern dürfen.

 

Ziba

Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster. – Antonio Gramsci

Ich möchte nicht mehr in Angst leben. Ich möchte mich frei bewegen können und den Wind in meinen Haaren spüren. Ich möchte Wein trinken, wenn ich Lust dazu habe. Ich möchte vielleicht auch einmal Schweinefleisch probieren. Ich möchte die neuesten Songs der englischen Charts hören und die aktuellsten Filme aus Hollywood sehen. Ich möchte freie Auswahl haben, in der Wahl meiner Kleidung, meiner Bücher, meines Berufs, meiner Träume, meiner Gedanken, meines Partners, meiner sexuellen Orientierung, meines Glaubens, meiner Phantasien und meiner Meinungen. 

Vor allem aber möchte ich angstfrei leben. Keine Angst mehr haben müssen, dass mein Kopftuch nicht richtig sitzt oder mein Mantel zu kurz ist. Mein Lippenstift zu rot und meine Nägel zu lang sind. Ich möchte auf der Straße singen und tanzen können mit wehenden Haaren im Wind, ohne Angst haben zu müssen, von der Staatsgewalt mitgenommen zu werden, gefoltert, angefasst und tot geschlagen zu werden. Ich möchte meine Wut und Trauer in die Welt hinausschreien und friedlich demonstrieren, ohne Angst davor, morgen verurteilt zu werden, ohne Angst davor, im Gefängnis zu landen oder am Galgen zu hängen.

Ich habe in diesem Land keine Rechte. Wir haben hier keine Rechte. Keine Zukunft, keine Träume, keine Hoffnung. Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster. Gestern wurde der erste Häftling hingerichtet. Sein Name war Mohsen Shekari. Er war 23 Jahre alt. Viele weitere werden noch folgen. Junge Männer und Frauen. Manche sind noch minderjährig. Die Zeit der Monster ist noch lange nicht vorbei. Und auch nicht die Zeit der Angst.

Ich will nur eins: Ich möchte nicht mehr in Angst leben.

Und ich möchte den Wind in meinen Haaren spüren.

 

Oksana

Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt. – Friedrich Schiller

Ich möchte in einem Land leben, das das Recht hat zu existieren.

Ich möchte, dass meine Kinder in einem freien Land aufwachsen. Dass sie die Sprache sprechen, die Lieder singen, die wahre Geschichte unseres Landes kennenlernen und die Fahnen schwenken dürfen, die sie selbst gewählt haben. Das Recht auf eine freie, eine eigene Identität. Unsere Identität.

Unsere Kultur. Unsere Sprache. In diesem Krieg soll uns all das genommen werden. Nicht nur unser Land, unser Grund und Boden, sondern auch unsere Vergangenheit und unsere Zukunft.

Unser freier Wille, unsere Zugehörigkeit, unsere Kinder.

Welches Land hat das Recht dazu, ein anderes Land derart zu vernichten, so dass es droht, im Nichts zu verschwinden wie in einem schwarzen Loch. Ich schäme mich für dieses andere Land. Ich schäme mich, deren Landessprache meine Muttersprache zu nennen. Eine Mutter, die ihre Kinder nicht nur beherrschen, sondern ausrotten will. Mit allen Mitteln. Ich will sie nicht mehr sprechen, diese Sprache des Unterdrückers.

Zugleich tut es mir leid und es bereitet mir innere Schmerzen, denn diese Sprache war lange meine Heimat, nicht aber deren Kultur. Was kann eine Sprache für die Schrecken eines Kriegs und die Zerstörungswut eines Unterdrückers? Nichts. Eine Sprache ist eine Sprache. Doch genauso wie sie unsere Sprache und Kultur bekämpfen, so werden wir die ihre nun negieren. Sie wollten uns besetzen, uns einschüchtern, klein machen und vereinnahmen, doch sie haben genau das Gegenteil erreicht. Von ihrer Kultur, von ihrer Sprache, wollen wir nun nichts mehr wissen. Sie haben uns stärker gemacht, stärker noch als in jeder anderen vorherigen Revolution und in jedem anderen Bürgerkrieg zuvor. Stärker als je zuvor. Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt. Oder im Krieg.

Ich möchte in Freiheit leben.

Ich möchte das Recht haben zu existieren.