Stereo-Typen

von Jan Lammertz

Ich bin mal wieder in Hundekot getreten. Kein Wunder, denn hier auf dem Dorf sind die Straßen nur spärlich beleuchtet. Ich laufe die wie ausgestorben wirkende Gasse zwischen Kirche und Gemüsehof entlang. Im Schein der einzigen Laterne weit und breit trete ich die Sauerei am feuchten Gras einer Grünfläche so gut es geht ab.
Mein Ziel liegt unweit entfernt hinter der nächsten Straßenecke. Durch das kleine gekippte Buntglasfenster höre ich die vertrauten Geräusche aus dem Gastraum: durcheinandergehende Stimmen, klirrende Gläser, die in aufreizendem Lachen und seichtem Schlager-Gehämmer aus den kratzigen Musikboxen untergehen. Ich schaue auf meine Uhr – 20:35 Uhr. Sportlich, wenn schon jetzt die ersten ordentlich getankt haben. Wobei, in ein paar Stunden werde ich in der Masse der Betrunkenen mitschwimmen – um es in dieser bräsigen Atmosphäre der aufgesetzten guten Laune überhaupt auszuhalten.
Ich ziehe die Eingangstür des 74er auf und der vertraute Geruch nach abgestandenem Bierdunst und modriger Nässe schlägt mir aus der Kneipe entgegen.
„Wat is‘ denn mit dir passiert, Wagner?“
Ich liebe es ja, wenn man mich mit Nachnamen anspricht…
„Biste unter‘n Rasenmäher geraten?“
Was er meint, ist wohl mein kurzer Haarschnitt, den ich so noch nie getragen habe.
Es ist ausgerechnet Ralf, der in seiner großkotzigen Art in meine Richtung raunzt. Er lacht dabei lauthals und blickt nach Anerkennung heischend in die Runde.
Köpfe, die sich zu mir drehen. Ich versuche schief zu grinsen. Schallendes Gelächter der anderen am Tisch folgt. Die unsympathischen Fratzen, die mir entgegenglotzen, gehören den jungen Männern, mit denen ich meine halbe Jugend verbracht habe. Ralf, der Großkotz, der sich für unwiderstehlich und den geistreichen Wortführer dieser Runde hält; Philipp, der Schüchterne (ab dem zehnten Kölsch wird er gesprächiger); Oliver, der erste Mitläufer von Ralf (wenn Ralf nicht dabei ist, ist er auch ganz in Ordnung) und schließlich Daniel, mein bester Freund.
Sie alle sehe ich durch meine plötzlich beschlagenen Brillengläser nur schemenhaft am Tisch links vom Eingang hocken. Dennoch erkenne ich, dass sie ausnahmslos Karohemden tragen. Die restlichen Gestalten, die vor der Theke oder an den anderen Tischen lungern, sehen mindestens genauso langweilig, austauschbar und selbstgefällig aus.
Was ich jetzt brauche, ist tatsächlich erstmal ein Kölsch, denke ich.
Ich lasse die kalte, abendliche Novemberluft hinter mir und betrete den Kneipenraum, werfe meinen Parker auf das Jackenknäuel an der Wand und weiß schon jetzt, dass ich ihn für die nächsten drei Tage nach draußen zum Lüften werde hängen müssen.
„N’abend“, sage ich und nicke in Richtung Tommi. Tommi lächelt zurück und zeigt auf die Zapfanlage, um mich so über die lauten Stimmen hinweg zu fragen, ob ich auch ein Kölsch wolle. Ich nicke. Damit wäre geklärt, welches Getränk ich bis zum Verlassen der Kneipe trinke. Sonderwünsche sind hier nicht so gerne gesehen.
Ich gehe zum Tisch meiner Freunde und kremple die Arme meines neuen fliederfarbenen Rollkragenpullovers zurecht.
„Drei Kölsch musste aufzuholen, Zuckerpüppchen!“ Ich bemerke seinen Blick auf mein neues Oberteil. Er grinst.
„Schicke Pelle haste da an. Aus dem Kleiderschrank von deiner Frau?“
Seine dreckige Lache übertönt den Rest der trinklustigen Leute. Er knufft Oliver in die Seite. Dann lacht auch er.
Das wird ein großartiger Abend, denke ich.
„Bist aber spät dran“, sagt Daniel zu mir als ich mich links neben ihn an unseren Tisch setze.
„Kleine Zündung heute?“, fragt er und meint damit, ob wir heute mit Ansage besoffen werden wollen.
„Klar!“, höre ich mich sagen. Dabei hatte ich mir vorgenommen, heute nicht viel zu trinken. Morgen habe ich meinen Abgabetermin. Und ich muss das Manuskript nochmal durchgehen.
Wie auf Kommando kommt Tommi mit einem Tablett an den Tisch, auf dem fünf Gläser Kölsch und fünf klare Schnäpse hin- und herschwappen.
„Ah, endlich!“, sagt Oliver, nimmt die Getränke vom Tablett und stellt jedem ein Kölsch und einen Schnaps hin.
„Was macht der Nachwuchs?“, fragt Tommi mich.
„Ach, es läuft ganz gut. Die Kleine hält uns natürlich auf Trapp. Aber wir haben uns langsam eingespielt.
„Klingt doch gut“, sagt Tommi mit einem Lächeln und klopft mir auf die Schulter.
„Tommi, machsse mir no einss‘?“, lallt jemand hinter mir und verlangt Kölsch-Nachschub.
„Ich komme gleich“, sagt er. Tommi zwinkert mir zu, dann verschwindet er wieder hinter seinem Tresen.
„So, genug gelabert!“, bestimmt Ralf.
„Hallo! Anstoßen! Sind ja schließlich nich‘ zum Spaß hier! Prost!“
Er hebt Schnaps- und Bierglas vor sich. Dann kippt er beides nacheinander auf Ex in sich hinein. Die anderen tun es ihm nach. Ich auch.
Daniel fragt mich, was denn meine „Schreiberei“ macht.
„Läuft ganz gut“, antworte ich. „Hier und da ein Schreibwettbewerb – außerdem sitze ich immer noch an einem Roman.“
Er nickt, doch meiner Antwort hört er nur mit halbem Ohr zu, denn er verabschiedet sich kurz darauf zum Rauchen.
Damit ist das Thema vom Tisch.
Oliver deutet auf meinen Rollkragenpullover.
„Interessante Farbe“, sagt er.
„Ich habe ihn neu gekauft“, sage ich.
„Guter Haarschnitt. Siehst jünger aus“, erwidert er und lächelt. Ich weiß nicht, ob er es ernst meint.
Tommi lädt schon wieder fünf neue Kölsch und Schnäpse bei uns ab.
„Trink‘ jetzt mal! Wieso warst du so spät dran heute?“
Ralf hat schon wieder beide Gläser in der Hand und prostet der Runde zu.
„Also?“, setzt Ralf nach.
„Was denn?“, frage ich zurück.
Eigentlich ist mir das zu doof und ich will nicht antworten. Doch dann rechtfertige ich mich erneut, dass ich meiner kleinen Tochter auch mal die Flasche gebe, sie wickele, das Spielzeug im Wohnzimmer aufräume und die Wäsche aufgehängt habe, bevor ich hierhin gekommen bin. Außerdem habe ich gekocht – einfach nur, weil ich Zeit mit meiner Familie verbringen und darüber hinaus meine Frau etwas entlasten möchte. Und ich sage, dass ich heute nicht so lange bleibe. Ich will ein guter Vater sein. Und die Schreibtischarbeit wartet ja auch noch.
„Oh, man und was macht deine Frau in der Zeit?“ Ralf will mich mal wieder provozieren. Ist nicht das erste Mal.
Als die Corona-Pandemie begann, Betriebe und Schulen im ersten Lockdown geschlossen wurden und die ganze Welt mit der Ungewissheit und Ohnmacht überfordert schien, war es Ralf größte Sorge, wann das 74er wieder aufmacht. Er überredete Oliver und Philipp dazu, Tommi 50 Euro zu bieten, die Kneipe wenigstens freitags für ein paar Stunden für sie drei aufzumachen. Tommi lehnte zum Glück ab, hat er mir mal erzählt.
„Clara war baden“, antworte ich etwas verspätet auf seine Frage. Er prustet in seine Hand. Dann flüstert er Oliver etwas ins Ohr. Die beiden schauen mich an und grinsen.
„Naja, muss ja jeder selber wissen“, sagt Ralf.
„Aber ich lass‘ das nicht mit mir machen.“
Ich weiß nicht, was genau er mit das meint. Ich sage nichts.
Wir trinken die Gläser aus. Und dann kommt Tommi schon wieder. Mir wird etwas flau im Magen.
Ich hasse diese Druckbetankung.
Doch ich lasse mir nichts anmerken und schaue auf die Uhr. Ich bin gerade eine viertel Stunde hier. Den Plan, früh zu gehen, kann ich mir abschminken; genauso wie der letzte Blick ins Manuskript.
Jetzt auch egal.
Im 74er, wie Tommi die Dorfkneipe nach seinem Geburtsjahr
benannt hatte, hatten wir alle „das Trinken gelernt“. Der erste gemeinsame Schnaps, der erste gemeinsame Rausch, volltrunken nach Hause gehen. Auf dem Weg dorthin in Schlangenlinien durch einige Vorgärten stolpern. Und irgendwann hatte sich unser Stammtisch etabliert: alle vier Wochen trafen wir uns freitags. Heute bin ich nur gelegentlich dabei.
Zum Glück, denke ich.
Damals waren wir auch glücklich. Das 74er war für uns ein Ort des Erwachsenwerdens. Doch es hatte sich nichts verändert und die Zeit schien wie in einem Stillleben eingefroren zu sein. Heute wirkt das 74er ziemlich aus der Zeit gefallen – nur nicht für seine Gäste.
Allen voran genießt Ralf hier seine Aufmerksamkeit und das Rampenlicht, in das er sich selbst rückt. Er berichtet, wie er auf der letzten Baustelle den Lehrling zusammengestaucht hat, weil er mit einem Kantholz eine Fensterscheibe eingeschlagen hat. Ist ihm nie passiert.
Natürlich nicht, denke ich. Ein Mann unfehlbarer als der Papst.
Ralf hat alles im Griff. Sein eigentlicher Chef (auch er ist im Prinzip nur Schreiner-Geselle) hat nach seiner Aussage auch keine Ahnung – weder vom Handwerk noch von Mitarbeiterführung oder im Kundenkontakt – alles muss Ralf machen, denn Ralf kann alles.
Ich schaue mich um. Oliver, Philipp und Daniel hängen an seinen Lippen und folgen mit bewundernden Blicken seinen selbstsüchtigen Geschichten als berichte er von der Entdeckung eines Krebsheilmittels.
Das 74er zog immer schon verunsicherte im Allgemeinen und ralfineske Gemüter im Besonderen an. Es ist damals wie heute ein Ort, an dem Männer ihre Männerabende, männliche Stammtische ihre Stammtischabende und männliche Kegelvereine ihre Kegelabende verbringen.
Kleingeistigen Parolen und Feindlichkeiten gegen Fremdes oder Andersartiges sollte man überhören können. Kurzum: hier ist die Welt im Sinne der Anwesenden noch in Ordnung. Es werden gesellige Würfelspiele gespielt – und getrunken. Man verfolgt fasziniert in einem Halbkreis um einen Spielautomaten sitzend, die blinkenden Lichter und klingelnden Geräusche – und dabei wird getrunken. Es wird aber auch über nicht-anwesende Freunde und Bekannte gelästert – und dabei getrunken.
Je länger ein Abend geht, desto belangloser werden die Geschichten und desto öfter wiederholen sie sich.
Ab einer gewissen Uhrzeit werden dann Eingangstür und Fenster verriegelt. Die Musik wird noch einmal etwas flacher, niveauloser und auch lauter. Außerdem kommen die langersehnten Aschenbecher auf den Tisch und man kann – wie in den guten, alten Zeiten – endlich rauchen, ohne sich lästigerweise in Richtung des überdachten und beheizten Außenbereichs bewegen zu müssen. Das 74er mutiert dann vollends zu einem geschlossenen System aus Erwartbarkeit und Einheitsbrei.
Der gesamte Abend im 74er ist durchritualisiert und es gibt keine bösen Überraschungen, nichts Neues, keine neuen Gesichter oder Geschichten. Und das ist es, was man hier schätzt: Die Geborgenheit des Bekannten. Das Interieur, der Wirt und die Leute: seit 20 Jahren hat sich nichts verändert.
Verirrt sich zum Beispiel doch mal eine Frau ins 74er, kann man davon ausgehen, dass sie eine Eingeweihte all dieser Rituale ist und nicht aus der Reihe tanzt. So ist sie akzeptiert und stellt keinen unerwünschten Fremdkörper dar. Das Wichtigste für all jene, die sich hier regelmäßig treffen, ist die Aufrechterhaltung dieses Status Quo.
Das, was uns voneinander unterscheidet, was uns ausmacht, was uns erlaubt, über den Tellerrand zu schauen, geben wir an der Tür des 74er ab. Alles bleibt wie es ist.
„Musstest auch noch Windeln wechseln, wie?“ Ralf lässt nicht locker.
„Ja, die Kleine war ziemlich unruhig und“, beginne ich.
„Du musst dich zuhause mal durchsetzen, Junge!“, unterbricht mich Ralf mit energischer Stimme.
„Guck mich an! Nadine und ich haben die Abmachung, dass ich mir alle zwei Wochen schön einen reinlöten kann. Als Mann musste doch einfach auch mal raus!“
Deine arme Frau, denke ich
Zustimmendes Gemurmel von den anderen am Tisch folgt.
„Ach und Nadine darf das auch?“, sage ich gereizt.
„Was meinste?“, fragt Ralf.
„Nadine betrinkt sich regelmäßig und du kümmerst dich dann ums Kind?“, entgegne ich.
„Naja, nein“, sagt er. „Sie geht aber schon mit den anderen Müttern mal in die Stadt oder so. Aber ist ja eh von der Natur so vorgesehen, dass die Kinder viel mehr bei der Mutter sind“, fügt Ralf hinzu.
„Ja eben!“, stimmt Daniel nun auch mit ein.
„Oder willste die Kinder an dein Gesäuge lassen“, feixt er und will mir in die linke Brust kneifen.
„Hey, was soll das?“, fahre ich ihn an und schlage seine Hand weg.
„Junge, du willst nur nicht zugeben, dass du deine Eier verloren hast“, sagt Ralf. „Wie hast du überhaupt dein Kind gezeugt?“
Ralf geht zu weit, besonders jetzt, wo er ordentlich getrunken hat. Er will bei Tommi erneut eine Runde Getränke bestellen, doch der hört ihn nicht, denn er dreht die Musik auf und verteilt Aschenbecher an die Gäste, die sie ihm gierig aus den Händen reißen.
Aus dem Lautsprecher, der in der Ecke, über unseren Köpfen krächzte, dröhnt Ne schöne Jroß der Kölschrock-Band BAP: „…Met singem Rallyestreifen Opel GT, ner Stehplatz-Mitte-Jahreskaat vum FC…“
(…Mit seinem Opel GT samt Rallyestreifen, einer Stehplatz-Mitte Jahreskarte beim 1. FC Köln…)

Und weiter:
…dä veezehn Daach Benidorm paradisisch fingk Zwei Johr beim Bund wohr, weil ihm Männerkameradschaft jefällt. Dä freut sich jetz ald op sing Zokunf als Rentner
(…der vierzehn Tage Benidorm paradiesisch findet, zwei Jahre beim Bund war, weil ihm Männerkameradschaft gefällt. Der freut sich jetzt schon auf seine Zukunft als Rentner…)

Ich merke plötzlich, dass ich bis vor ein paar Jahren auch diesem Klischeé entsprach: ich hatte eine Dauerkarte für den 1.FC Köln, war regelmäßig ziemlich betrunken und den zehntägigen Pauschal-Urlaub mit meiner damaligen Freundin an der Costa Blanca hielt ich für fantastisch. Und damals ich hatte zuweilen das Gefühl gehabt, dass ein durchschnittliches Leben alles war, was ich erwarten konnte: ein langweiliger Bürojob, Mittelklasse-Urlaube in Süddeutschland und montags schon an den Vollrausch am nächsten Wochenende denken. Natürlich mit den immer gleichen Leuten. Und das Woche für Woche. Und irgendwann Rente empfangen. Herrlich!
„Du kannst es ja nicht mal richtig deiner Alten besorgen; lass mich da mal ran!“ Ralf brüllt. Und mittlerweile lallt er. An die Hälfte dessen, was er heute wieder mal vom Stapel lässt, kann er sich morgen sicher nicht erinnern. Die Festplatte wird gelöscht. Im 74er kann man gut vergessen.
Ralf funkelt mich mit herausfordernden Augen an.
Wie gesagt, heute geht er zu weit.
Immerhin bin ich nicht schon zwei Mal geschieden, denke ich.
„Du bist betrunken“, entfährt es mir und ich blicke Ralf an.
„Pah, betrunken“, lallt er und rülpst. „Isch kann immer! Bring nochma ne Runde!“, brüllt er Richtung Tommi.
Plötzlich wirkt er traurig auf mich und ich weiß, was er in mir auslöst: Mitleid. Ralf fristet das Dasein eines bedauernswerten Proleten, der seine Unsicherheit mit einer zwanghaften Männlichkeit überspielen muss. Dieser Testosteron-Schutzpanzer muss unglaublich viel Kraft kosten: Das Image eines Ich-habe-keine-Schwächen-und-alles-im-Griff-Mannes Tag für Tag aufrecht zu erhalten, ist sicher nicht einfach. Der traurige Clown sitzt in seiner Manege der Sorglosigkeit, in der er der Star ist. Doch was bleibt ihm, wenn das Licht ausgeht?
„Du tust mir wirklich leid“, sage ich. Es fühlt sich verdammt gut an.
Ich lasse meinen Blick durch das 74er schweifen. Alles hat seine Zeit. Mit einem Mal merke ich, dass ich hier nicht mehr reinpasse.
Ich muss raus. Sofort.
„Ja, dann verpiss dich halt“, sagt Ralf als hätte er meine Gedanken gehört.
Ich lächele Ralf an und stehe auf. „Hey, lass doch gut sein“, sagt Daniel und versucht mich zaghaft zurück zu halten. Ich beachte ihn nicht.
Tommi lasse ich im Vorbeigehen ein paar Scheine da, greife meinen Parker und verlasse die Kneipe ohne einen Blick zurück. Vielleicht für immer? Ich weiß es nicht.
Was ich jetzt wirklich brauche, ist meine kleine Familie. Und Abstand zu all dem hier. Ich bin nochmal ein Stück erwachsener geworden heute Abend. Danke 74er!