Roberts Revival

oder: Auf der Suche nach der Meinungsfreiheit

von Renate Wüsthoff

Mach es dir bequem, Mark! Du ahnst gar nicht, wie dankbar ich dir bin, dass du heute Abend deinen Stammtisch ausfallen lässt, um mir beim Verfassen meiner Rede auf die Sprünge zu helfen. Ich hatte – wie man so sagt – den totalen „Durchhänger“.

Kein Problem, Simon! So wichtig sind die Gespräche unserer Tennis-Gruppe nicht, und bei dir gibt es auf alle Fälle den besseren Rotwein. Aber du musst mir erst mal genau erklären, worum es eigentlich geht. Am Telefon habe ich nur verstanden, dass du demnächst etwas zum Thema Meinungsfreiheit vortragen sollst.

So ist es! Im Mai findet die Woche der Meinungsfreiheit statt; sie reicht vom 3.5. – dem Tag der Pressefreiheit – bis zum Tag der Bücherverbrennung am 10.5. Wie du weißt, bin ich Gründungsmitglied unseres Literaturforums, und deshalb hat man ausgerechnet mich gebeten, zum Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen eine Rede zu halten.

Du hast dich eben schon durch originelle Laudationen auf Preisträger und die Begrüßung internationaler Gäste bewährt – wo liegt also der springende Punkt?

Diesmal fehlt mir einfach noch die zündende Idee, vor allem für den Anfang. Ich habe mir etliche Zitate ‘runtergeladen, denn die Berufung auf Autoritäten kommt häufig gut an und sorgt für Abwechslung. Aber irgendwie muss noch der „rote Faden“, also der passende Kontext, her.

Verstehe – wir beide sollten es mal mit so einer Art Brainstorming versuchen!….. Ich habe spontan einen vielleicht etwas sonderbar wirkenden Einfall: Was hältst du davon, den Fliegenden Robert sozusagen als „Aufhänger“ für deine Rede zu wählen?

Na ja, ich finde den Balanceakt, den unser Wirtschaftsminister ständig zwischen ökonomischen und ökologischen Ansprüchen leisten muss, durchaus bewundernswert. Er verfügt außerdem über beträchtliche rhetorische Fähigkeiten und jettet zu Verhandlungen durch die Welt, doch das ergibt nur einen sehr schwachen Zusammenhang mit unserem Thema.

Eine interessante Variante, an die ich noch gar nicht gedacht habe! Mir kam etwas völlig anderes in den Sinn. Du kennst doch bestimmt den Fliegenden Robert aus dem Struwwelpeter.

Na klar, aber du empfiehlst mir doch wohl nicht ernsthaft, mich auf eine Gestalt aus einem Kinderbuch zu beziehen, das für viele als Musterbeispiel der Schwarzen Pädagogik gilt. Was schwebt dir also vor?

Schweben ist schon das geeignete Verb! Überleg mal, Simon! Warum ist der kleine Robert aus oder eventuell sogar: vor seiner Familie weggelaufen?

Wenn ich mich richtig erinnere, wollte er nicht wie die anderen Kinder brav und artig zu Hause bleiben, sondern das Regenwetter und der Sturm lockten ihn nach draußen.

Genau! Er widersetzte sich also den elterlichen Anordnungen, folgte seinen eigenen Wünschen und suchte die Freiheit.

So lässt sich sein Verhalten sicherlich deuten, etwa nach dem Motto: „Wenn du deine Flügel nicht ausbreitest, hast du keine Ahnung, wie weit du fliegen kannst.“ Nur, dass bei ihm der Regenschirm die Flügel ersetzte! Mir fällt sogar noch der letzte Vers des Gedichts ein. Dort heißt es nämlich von Kind, Schirm und Hut: „Wo der Wind sie hingetragen,/ Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.“

Und wir spinnen jetzt die Geschichte weiter, um aufzuzeigen, wo es ihn „hingetragen“ hat. Wahrscheinlich hat er es irgendwann aufgegeben, die Jahre zu zählen, die er in den Lüften verbracht hat, und die dabei zurückgelegten Kilometer nachzuhalten. Von oben – aus einer gewissen Distanz heraus – blickt er auf die Menschen hinab und wundert sich, was aus ihnen geworden ist.

Langsam merke ich, worauf du hinauswillst! Er hat sich seine kindliche Neugierde und seinen Freiheitsdrang bewahrt und verfolgt mit großem Interesse, wo und inwieweit sich das Bestreben nach Unabhängigkeit und freier Meinungsäußerung inzwischen durchsetzen konnte.

Dann sag doch mal spontan, was dir dazu einfällt: Wen oder was beobachtet er?

Hm, das hängt natürlich ganz davon ab, welche Gegend er gerade überfliegt. Bei der momentanen Nachrichtenlage denken wir z.B. an Russland.

Wie du willst, Simon! Einer der prominentesten russischen Vorkämpfer gegen die Hexenjagd der Regierung auf Oppositionelle ist wohl der Dokumentarfilmer und Aktivist Nawalny. Nur mühsam überlebte er einen Giftanschlag und wurde zu neun Jahren Haft verurteilt.

Verzeih mir den Zynismus, doch in dem Zusammenhang kann ich mir den Hinweis auf Nietzsches Behauptung „Überzeugungen sind Gefängnisse“ nicht verkneifen.

Diese Äußerung ist ja wohl nicht wörtlich zu verstehen, so als käme man wegen einer festen Anschauung hinter Gitter. Nietzsche will vielleicht eher zum Ausdruck bringen, dass verhärtete Ansichten und Ideologien die Akzeptanz abweichender Positionen verhindern und den Geist förmlich „einmauern“.

Eine plausible Interpretation, Mark, doch in Verbindung mit Russland denken die meisten momentan weniger an Dissidenten als an den brutalen Überfall auf die Ukraine und den Versuch, eine ganze Nation auszulöschen.

Du hast vollkommen Recht, und dabei spielt die Manipulation der Bevölkerung durch Kontrolle der Medien, einseitige Berichterstattung und Sprachregelung ebenfalls eine zentrale Rolle. Putin ging ja sogar so weit, die Verwendung des Wortes Krieg unter Strafandrohung zu verbieten.

Wundere dich nicht, doch auch dazu gibt es in meiner Zitatensammlung etwas Passendes. Du erinnerst dich bestimmt an Orwells 1984.

Na klar, eine der wenigen Lektüren in unserem Englischunterricht, die mich wirklich berührt hat! Aber einzelne Textstellen sind mir nicht mehr geläufig.

Warte mal kurz – hier hab ich‘s! In einem Dialog heißt es: „Begreifst du denn nicht, dass Neusprech nur ein Ziel hat, nämlich den Gedankenspielraum einzuengen? Zu guter Letzt werden wir Gedankendelikte buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Wörter mehr geben wird, um sie auszudrücken.“

Der gute Orwell verfügte offensichtlich über hellseherische Fähigkeiten, und unser Robert wird das russische Gebiet schnellstens verlassen. Begleiten wir ihn weiter auf seiner virtuellen Reise – wohin begibt er sich dann?

Nun, er könnte z.B. aus der Vogelperspektive den Iran betrachten, der zu seiner Zeit noch Persien hieß.

Okay, ich folge euch! Dort sieht er die Protestaktionen, die nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod der jungen Mahsa Amini das Land erschüttern.

Ja, und es sind vor allem mutige Frauen, die gegen das Mullah-Regime protestieren, indem sie u.a. als Zeichen des Aufbegehrens gegen die Repressalien ihre Kopftücher wegwerfen.

Was für eine bewundernswerte Entschlossenheit! Nur leider wird der öffentliche Widerstand durch eine Welle von Gewalt, Inhaftierungen und Folter unterdrückt und schwelt inzwischen eher im Untergrund weiter.

Zur Abschreckung wurden ja sogar Demonstranten nach Scheinprozessen hingerichtet – die erschütternden Bilder gingen durch alle Medien. Benjamin Franklin sagt zwar treffend: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“, aber hier verlieren Menschen für ihr beherztes Auftreten und ihre Überzeugung das Leben.

Bleiben wir noch einen Moment bei den mutigen Frauen, Simon! Glaubst du, dass unser Robert es bis nach China schafft?

Aber locker! Wenn Saint-Exupérys Petit Prince mehrere Planeten besucht, dürfte diese Distanz für Robert kein Problem sein. Worauf willst du hinaus?

Ich habe vor Kurzem in der Tageszeitung eine aufschlussreiche Reportage über die Zivilcourage junger Chinesinnen gelesen. Sie nahmen an einem Trauermarsch gegen die rigide Null-Covid-Politik teil, doch die meisten wollten sich auch gegen die Überwachung durch Nachbarschaftskomitees und die ideologische Kontrolle durch die Regierung zur Wehr setzen.

Von diesen Kundgebungen habe ich Fotos gesehen: Als Symbol ihres Protestes hielten sich die Studentinnen ein weißes Blatt vor das Gesicht. Für viele dieser engagierten, emanzipierten Frauen hat sich damit der Traum von einer beruflichen Karriere wohl erledigt.

Ja, leider – und ähnliche Verhältnisse herrschen in den meisten Diktaturen und sozialistischen Systemen. Aber bevor wir immer weiter in die Ferne schweifen, sollten wir mit Robert einen Abstecher in seine Heimat unternehmen. Ihn wird es bestimmt besonders interessieren, wie es Kindern und Jugendlichen dort heutzutage ergeht.

Eine gute Idee und endlich mal was Erfreuliches! Robert sähe mit Genugtuung, dass absoluter Gehorsam und Unterordnung unter Autoritäten bei uns nicht mehr als Erziehungsideale gelten.

Gott-sei-Dank! Er hätte sich vielleicht der Fridays-for-future-Bewegung oder den Klima-Aktivisten angeschlossen, die seit Monaten für die Rettung der Natur und die Bewahrung einer lebenswerten Umwelt auf die Straße gehen.

Auf diese Weise haben sie auch bei vielen Erwachsenen ein stärkeres Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels und einen veränderten Umgang mit den Ressourcen bewirkt.

Darüber hinaus sähe Robert viele andere Aktionen und Demos mit unterschiedlichsten Zielsetzungen. Einige der Teilnehmer nutzen diese Gelegenheiten leider, um ihren Aggressionen und ihrer Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Sie sind eher auf Krawall aus als auf die Durchsetzung sinnvoller, realisierbarer Programme und übernehmen unreflektiert populistische Parolen.

Das Gefühl habe ich leider auch oft. Unter uns wage ich mal die provokante These, dass es fast schon ein Überangebot an abstrusen Standpunkten gibt und viel – verzeih mir den Ausdruck – „sprachlicher Müll“ produziert wird.

Diesmal fällt ausnahmsweise mir ein treffendes Zitat ein, und zwar von Karl Kraus: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“

Das spricht mir aus der Seele! Den Aphorismus werde ich gleich meiner Sammlung einverleiben.

Da wir gerade bei den Auswüchsen der Meinungsfreiheit und -vielfalt sind, sollten wir den Missbrauch in den sozialen Medien nicht vergessen, also die fast unbegrenzten Möglichkeiten, andere unter dem Deckmantel der Anonymität zu bedrohen oder mit Hasstiraden einzuschüchtern.

Ein wichtiger Punkt! Die Kehrseite dieser Netzwerke liegt tatsächlich darin, dass man sich kaum gegen die Verunglimpfungen wehren kann, weil es sehr schwer ist, Fehlinformationen zu widerlegen oder zu tilgen, wenn sie erst mal in die Welt gesetzt sind.

Dazu passt ein Ausspruch von Mark Twain, auch wenn der unsere modernen Kommunikationsmittel noch gar nicht kannte: „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“

O je! Wir können unserem Robert also selbst hier keine richtige Wohlfühlatmosphäre bieten. Was bleibt dann noch? Soll der arme Kerl etwa in die Geschichte zurückkehren, aus der er stammt?

Jetzt enttäuschst du mich aber, alter Freund! Wir können ihm doch auf gar keinen Fall zumuten, wieder in die spießbürgerlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts einzutauchen, denen er so tollkühn entronnen ist! Und um es mit Adorno auszudrücken, spürt er: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Über diesen Satz lohnt es sich bei Gelegenheit ausführlich zu diskutieren. Aber wir sollten nicht nur Pessimismus verbreiten. Wir haben ja eben schon einige positive Entwicklungen angesprochen, und es gibt zahlreiche Persönlichkeiten, deren Vorbild Mut und Hoffnung weckt und andere mitreißt.

Natürlich! Martin Luther King, Nelson Mandela oder ….

Stopp, Simon! Wir können nach unserer tour d’horizon heute Abend nicht auch noch die vergangenen Jahrzehnte nach berühmten Freiheitskämpfern und Bürgerrechtlern durchforsten, das müssen wir auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Ich brauche jetzt erst mal ein Glas von deinem vorzüglichen Bordeaux.

Kommt sofort! Ich habe schon kurz vor deinem Eintreffen eine Flasche aus dem Keller geholt und entkorkt.

Wunderbar! Aber sag mir noch eins, bevor wir – wieder mal – auf unsere Freundschaft anstoßen: Hat dir unser Gespräch denn ein paar brauchbare Ideen für deine Rede geliefert?

Auf alle Fälle! Ich werde einige Aspekte modifizieren, vertiefen oder hinzufügen, doch das Entscheidende ist: Ich weiß endlich, wie ich anfangen muss.

Ich habe da so eine Ahnung…. lass hören!

Die einleitende Frage an meine Zuhörer lautet natürlich: „Erinnern Sie sich eigentlich noch an den Fliegenden Robert?“