„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht“, deklamierte Herr Nesselbacher, „werde ich dafür sorgen, dass ihr anständig zu essen bekommt. Ich fordere: zehn Prozent mehr Weizen für alle!“
„Zehn Prozent für alle“, gackerten die Zuhörerinnen, einige von ihnen zustimmend mit den Füßen scharrend. Herr Nesselbacher plusterte sein Brustgefieder noch ein wenig auf, nickte fortgesetzt vom Podest herab in die geröteten Gesichter der Schar.
„Auf den Mist mit dem ewigen Weizen“, krähte Herr Kraienkopp neben ihm und wartete, bis das allgemeine Gackern verebbt war. „Tagein, tagaus der gleiche Fraß! Er macht euch fett und träge und eure Eier minderwertig. Wollt ihr nicht mal etwas Neues, oder besser gesagt: etwas Altes?“
Herr Kraienkopp schickte sich an auf dem Podest hin und her zu stolzieren, um die blau schillernden Federn seiner Flügel und am Schwanz besser zur Geltung zu bringen.
„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht, werde ich dafür sorgen, dass man euch mit der guten Kost unserer Vorfahren füttert: Gras, Insekten, Würmer, Schnecken. Körner aller Art!“
„Schnecken aller Art“, skandierte ungefähr die Hälfte der Hennen am Boden.
„Ich liebe diesen Hahn“, seufzte Frau Becherkamm und musste, offenbar einer Ohnmacht nahe, von einigen Umstehenden gestützt werden.
„Glaubt ihm kein Wort“, rief Frau Haubenstrupp von der anderen Seite des Geheges. „Wie, bitteschön, sollen wir mit unseren Schnäbeln die alte Kost aufpicken? Können Sie mir das erklären?“
Teils beipflichtendes, teils abschätziges Gegacker. Herr Kraienkopp war schon an den vorderen Rand des Podests getreten um zu einer Antwort anzusetzen, als ihm Herr Nesselbacher zuvorkam: „Danke für diesen Beitrag, Verehrteste, Sie haben vollkommen recht! Die Ausführungen meines so hochgeschätzten wie hochbetagten Mitbewerbers zeigen mal wieder, dass er in der Vergangenheit lebt.“
Während des darauffolgenden Gelärmes bedachte Herr Nesselbacher seinen Kontrahenten mit einem langen Seitenblick, auch um den Hennen unten die sieben Zacken seines Kamms zu präsentieren.
„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht“, fuhr er fort, „werde ich dafür sorgen, dass etwas vollkommen Neues eingeführt wird: das Kupierverbot. Nie wieder gestutzte Schnäbel!“
Jetzt wurde es so laut im Gehege, dass kaum einzelne Worte herauszuhören waren. „Nie wieder“, gackerte Frau Haubenstrupp ungläubig vor sich hin, „gestutzte Schnäbel“, und dann so laut, dass sie alle anderen übertönte: „Auf den Mist mit den gestutzten Schnäbeln!“
Herr Nesselbacher nickte selbstzufrieden in die Menge. Herr Kraienkopp dagegen lief wieder auf dem Podest umher, einigermaßen hektisch diesmal und ohne auf seinen Stil zu achten. Mehrmals musste er ein wüstes Krähen von sich geben, bis er sich Gehör verschaffen konnte.
„Ich danke meinem Mitbewerber, der offenbar so enthusiastisch ist wie gelb an den Federn, für seine jugendliche Fantasie. Leider missachtet er die Weisheit unserer Vorfahren: Jedes halbwegs gebildete Huhn weiß, dass ungestutzte Schnäbel zu gegenseitigem Behacken führen, zu schlimmen Verletzungen bis hin zum Tod!“
Dieses letzte Wort Herrn Kraienkopps ließ die vor sich hin gackernde Hennenschar schlagartig verstummen. Aus runden Augen glotzten sie einander an, oder ins Leere. Nur Frau
Becherkamm, die sich inzwischen durch beständiges Flügelfächeln von ihrem Ohnmachtsanfall erholt hatte, ergriff das Wort: „Ich bin zu jung zum Sterben. Ich habe dir noch so viele Eier zu schenken!“
Herr Kraienkopp achtete nicht auf sie, zu sehr war er damit beschäftigt, um Herrn Nesselbacher her zu tänzeln und ihn mit angedeuteten Schnabelhieben zu traktieren, wie um seine Aussage zu untermalen. Der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, abgesehen vom Herausdrehen seines linken Fußes mitsamt mäßig ehrfurchtgebietendem, da halb abgeschliffenem Sporn.
„Das ist mal wieder typisch für die Rückwärtsgewandten“, sagte er mit leiser, fester Stimme. „Wenn ihnen nichts mehr einfällt, machen sie den Hennen Angst.“
Nach einer Pause, in der das Gehege noch immer von betretener Stille erfüllt war, sprach Herr Nesselbacher weiter: „Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht, werde ich dafür sorgen, dass es kein unangebrachtes Hacken mehr gibt. Ich werde dafür sorgen, dass ihr nach draußen könnt, wann und so viel ihr wollt.“
Mit erhobenem Flügel wies er auf das Gitter, dessen Maschen die Welt in winzige Quadrate zerlegte. Tausendfach drang der fahlgraue Schimmer des bald beginnenden Tages ins Gehege. „Wenn die Tür erst einmal offensteht, liebe Mithühner, könnt ihr da draußen herumlaufen und flattern, picken und scharren, wie es euch gefällt!“
Weiterhin herrschte nachdenkliche Stille unter den Hennen, doch das zarte Leuchten, das Herr Nesselbacher in einigen Augen zu erkennen glaubte, belebte seinen Schwung: „Wer will, kann sich dann in die Luft erheben bis auf den Apfelbaum, um darauf zu schlafen wie – unsere Vorfahren. Ist es nicht so, Herr Kraienkopp? Und weiter, über den Gartenzaun hinaus bis ans Meer, bis nach Malaysia!“
Von den eigenen Worten berauscht nickte Herr Nesselbacher vor sich hin, schweigend, um dem Publikum Gelegenheit zu geben, sie zu wiederholen. Während der Eifer seine Kehllappen in tiefstem Rot hatte anschwellen lassen, war ihm die schamhafte Blässe in den Gesichtern der Hennen völlig entgangen.
„Wenn ihr mich zum Ersten Gockel macht“, rief er auf der Suche nach einer möglichst griffigen, gut nachgackerbaren Parole, werde ich dafür sorgen, dass ihr – euch nie wieder Sorgen machen müsst. Nie wieder Sorgen!“
Anhaltendes Schweigen in der Schar. Selbst die Schnäbel von Frau Haubenstrupp und Frau Becherkamm, sonst nie um ein vorlautes Gackern verlegen, blieben wie zugeklemmt. Auch Herr Kraienkopp schwieg: Seine Erfahrung lehrte ihn, dass es manchmal das Beste war, einfach den Schnabel zu halten und abzuwarten. So hatte er im ganzen Verlauf der Rede seines jungen Nebenbuhlers still und aufrecht dagestanden und in sich hineingelächelt. Jetzt aber kam wieder Bewegung in sein Gefieder, scharrten die Zehen seiner Füße ungeduldig übers Podest. Als er schließlich den Schnabel öffnete, drang nur ein einziger Laut daraus hervor, dafür umso prägnanter und herrischer: „Gack!“
Ein Zucken ging durch die Menge, wie von einem elektrischen Schlag. „Gack“, machte Frau Haubenstrupp, „gack-ack“, echote Frau Becherkamm mit sich überschlagender Stimme. Eine nach der anderen wurden die Hennen von einem Schütteln erfasst, als wüte unter dem Gehege ein Erdbeben. „Gack-ack-ack, gackack-aaack!“
Nicht davon anstecken ließ sich eine Henne, die schon während des gesamten Geschehens reglos in der Ecke gesessen hatte. Man hätte meinen können, sie habe geschlafen oder vor sich hin geträumt, in Wahrheit aber war ihr kein Wort entgangen, vor allem nichts davon, was zwischen all den Worten lag und womöglich weit größere Wichtigkeit besaß.
Der Name dieser Henne war Frau Bankiva. Sie war alt, so alt, dass sie ihr jährliches Soll von 300 Eiern längst deutlich unterschritt. Der einzige Grund, aus dem sie noch am Leben gelassen wurde, war die Zuneigung des kleinen Bauernsohnes: Als Dreijähriger hatte er sie aus dem Ei schlüpfen sehen, war mit ihr zusammen groß geworden, schaute noch heute jeden Tag bei ihr vorbei.
Frau Bankiva also saß reglos in der Ecke des Geheges, während alle anderen, bis auf Herrn Nesselbacher, aus vollen Kehlen gackerten. Plötzlich erhob sie sich, ging langsam, angesichts des allgemeinen Gelächters unbeachtet, auf das Podest zu. Erst als sie mit einem beherzten Satz nach oben sprang, in die Mitte zwischen die beiden Streithähne, wurde es wieder still, und alle Köpfe drehten sich ihr zu.
„Weshalb lacht ihr“, fragte Frau Bankiva. „Weil eure Nebenhenne lacht?“
Die Hennen unten musterten ihre Flügelspitzen oder ihre Füße, oder warfen einander vorwurfsvolle Blicke zu.
„Findet ihr so lustig, was Herr Nesselbacher gesagt hat?“
Bei der Erwähnung seines Namens zuckte dieser zusammen, wie ein geprügelter Hund in Erwartung des nächsten Tritts.
„Habt ihr euch schon mal gefragt“, sprach Frau Bankiva weiter, „warum euch fast alle Eier genommen werden, sobald sie gelegt sind? Oder, was mit euren männlichen Kindern geschieht?“
Einige Hennen wackelten verständnislos mit den Köpfen, andere ließen noch ein „Gack-aack“ hören, als hätten sie einen besonders gelungenen Scherz vernommen.
„Das ist der Lauf der Dinge“, sagte Frau Becherkamm etwas konsterniert. Frau Haubenstrupp nickte eifrig: „Den Lauf der Dinge kann man ein wenig lenken, aber nicht aufhalten!“
Herr Kraienkopp, der mal wieder in eine zeitweilige Starre verfallen war, begann nun von Neuem über das Podest zu stolzieren, um Frau Bankiva herum.
„Verehrteste“, sprach er sie von der Seite her an, seine überlegene Körpergröße präsentierend. „Kommen Sie lieber schnell zum Punkt, bevor ich Sie eigenschnäbelig hier herunterhacke!“
„Wenn ihr diesen Hahn hier zum Ersten Gockel macht“, sagte sie ruhig, „oder den da drüben oder sonst einen, ändert das nichts daran, dass ihr selbst für euer Wohlergehen sorgen müsst. Wie wäre es zum Beispiel, wenn ihr alle unbefruchteten Eier gleich nach dem Legen zerstören würdet? Dann könntet ihr alles fordern, was ihr wollt. Ihr legt die Eier, ihr habt die Macht!“
Auf diese Worte folgte ein lautes Durcheinandergackern, sodass es schwierig war, einzelne Sätze oder gar Argumente herauszuhören. Offenbar wurden Variationen folgenden Vorwurfs an Frau Bankiva herangetragen: Nur deshalb fordere sie zum Eierstreik auf, weil sie selbst kaum noch in der Lage sei welche zu legen. Am meisten Zuspruch fand letztlich die Aussage Herrn Kraienkopps, jede Henne, die ihre Eier zerstöre, werde früher oder später getötet.
Zwei Nächte später war es dann so weit: Eine Henne nach der anderen verschwand im Verschlag, um ihr Wahlei zu legen. Frau Bankiva hatte sich schon am Nachmittag, beim Besuch des Bauernsohns, sehr unwohl gefühlt, mit Übelkeit und pochenden Schmerzen in der Seite. Jetzt schaffte sie es nur aus letzter Kraft und dank ihrer immensen Willensstärke, ein Ei aus sich herauszupressen.
Am Ende der Nacht lagen vier Eier in Herrn Nesselbachers Ecke, vierzehn in der von Herrn Kraienkopp. Mit gerecktem Kamm schritt er aufs Podest und dann darauf hin und her, hin und her, als wolle er seinen Triumph möglichst lange wortlos auskosten, bevor er sich mit der Antrittsrede seinen Hennen stellen musste.
Frau Bankiva bekam von dieser Rede nichts mit. Sie hatte noch die achtzehn Eier in den Ecken des Verschlags gesehen, und ihr eigenes, etwas kümmerliches in der Mitte. Direkt daneben lag ein nackter, im Mondlicht glänzender Dotter zwischen den Bruchstücken seiner Schale. Das war das letzte, was Frau Bankiva sah, und es ließ sie mit gelöstem Schnabel, mit einem Gefühl von Wärme in der Brust hinwegdämmern.