Martin und die Apfelkiste

von Marcus Straßer

Nach sieben Jahren kehrt Martin zurück. Sieben Jahre, in denen er nichts über seine Heimat gehört oder gelesen hat, nichts hat hören oder lesen wollen, nur einfach vergessen wollte: Wieder und wieder dieses gleiche Schauspiel der zum Schweigen verdammten, dieser Ort, an dem Menschen mit Angst und mit gesenktem Kopf durch die Straßen schlichen, diese Zeit, in der niemand es wagte, auch nur ein falsches Wort auszusprechen, in jedem Gesicht nur versuchte zu erkennen, ob er verraten wurde oder er verraten würde.

Aber dann war es irgendwann mehr als das. Natürlich war es das. Es ist immer mehr, nicht wahr? Es muss mehr sein, damit es zu viel wird. Es war persönlicher. Viel. Der eine Tag, an dem er seinem Vater nicht in die Augen schauen konnte, weil dieser nicht einmal mehr den Mut aufbrachte, in seinen eigenen Räumen die verdammte Wahrheit auszuflüstern. Das bleiche Gesicht eines alten Mannes, die zitternden Lippen, die unruhigen Augen, die es nicht wagten, Martin anzusehen. Zwei Menschen, die nur mir Furcht und Scham aneinander vorbei starrten.

Damals wusste Martin, dass er gehen müsse.

Also war er gegangen.

Aber nach sieben Jahren ist er zurück. Es spielt keine Rolle warum, denn jetzt ist er ja hier. Hier, in der alten Gasse, die zu Bernds Kneipe führt. Es scheint, als hätte sich nichts verändert. Vielleicht ist es aber auch nur die Erinnerung, die ihm einen Streich spielt. Vielleicht erinnert er sich nur an wenige Dinge, und die sind halt noch immer da: Die alte Litfaßsäule mit den zerrissenen Plakaten, die schiefe Regenrinne am Laden vom geraden Frank und die vom Sonnenlicht ausgebleichten Zeitungen am alten Kiosk an der Ecke. Martin erscheint zunächst alles grau, wie in einem zu langsam laufenden Schwarz-Weiß-Film, aber wenn er genau hinschaut, dann ist es das natürlich nicht. Auch wenn die Menschen Angst haben, bleibt die Welt bunt. Farben kümmern sich nicht um das Leid.

Er überlegt kurz, ob es sich diesen klugen Satz merken solle, den mit dem Leid und den Farben, aber dann schüttelt er nur den Kopf und fährt sich mit der rechten Hand durch das müde Gesicht.

Viel zu viele Gedanken für einen frühen Morgen.

Er ist froh, dass die alte Frau im Kiosk schläft. Er hat bisher mit niemandem gesprochen. Es war wie ein Schalter, der umgelegt wurde, in dem Moment, da er diesen Ort betrat. Die Angst war wieder da. Er hatte sie doch längst vergessen. Das Lauschen. Das Sich-selbst-zuhören, um sicher zu sein, nichts falsches gesagt zu haben. Also sprach er lieber gar nicht. Nicht mehr als nötig. Und auch jetzt will er nicht reden.

Sein Blick fällt auf die Zeitung. Auf die breite, schwarze Überschrift: “Unser glorreicher Präsident weiht unseren großartigen und einzigartigen Staudamm ein – ein Zeichen für den unbändigen Willen und fortschrittlichen Geist unseres geliebten Landes.”

Martin grinst müde, er kennt diese albernen Geschichten, die Lügen, die Worte, die immer gleichen Floskeln.

Daneben hängt ein glänzendes Plakat mit einem alten Mann im weißen Kittel. Da steht etwas in dünnen Buchstaben: „Wir brauchen diesen Staudamm nicht. Unsere geographischen und seismologischen Obduktionen kamen ohne Zweifel zu der Erkenntnis, dass an dieser Stelle ein derartiges Objekt keinesfalls einer sinnvollen Verwendung zugeführt werden kann, es…“

Der Text scheint endlos. Martin versteht kein Wort. Es passt auch irgendwie nicht. Was ist das? Er schüttelt nur den Kopf, schaut sich dann erschrocken um. Hat ihn jemand gesehen? Nein, niemand hier. Die Frau schläft. Oder tut sie nur so? Beobachtet die Menschen, die an der Zeitung vorbeigehen, notiert ihre Reaktionen, ihre zustimmendes Nicken oder das verräterische Kopfschütteln. Nein, nein, sie schläft ganz sicher.

Unten auf dem sonst so leergefegten Boden sieht er jetzt noch einen kleinen, weißen Zettel. Eine schwache Kopie einer handgeschriebenen Botschaft: „Traut denen da oben nicht! Keine Politik! Keine Wissenschaft! Keine Kirche! Nur wir wissen, was gut für uns ist!“

Martin fasst sich unbewusst an die zugekniffenen Augen, als wolle er einen plötzlichen Gedanken vortäuschen. Das passt alles nicht. Irgendetwas passt nicht. Dann dreht er sich um.

Was? Da drüben! Ganz sicher, am anderen Ende der Straße, im Schatten des flachen Schuhgeschäfts.

Der Magistrat.

Er schaut zu Martin hinüber.

Natürlich ist er kein echter Magistrat, Martin weiß nicht einmal, was das genau sein soll, aber früher haben sie ihn so genannt, es war der einzige Begriff, der ihnen einfiel für jemanden, der alles sah, sich an alles erinnerte und alles meldete, alles verriet, jede Geste, jede Bewegung, jedes Wort.

Wie damals bemerkt Martin, wie er verzweifelt versucht, sich an das zu erinnern, was er in den letzten Sekunden getan hat. War er verdächtig? Er tastet unsicher über seinen Anzug, seine Hose. Ist da irgendetwas, das falsch sein könnte? Nein, nein, Unsinn. Als ob ein Kleidungsstück falsch sein könnte. Kann es nicht. Oder? Oder? Aber Martin hat zu lange geschaut, hat er gestarrt? Er wusste, dass der Magistrat es gar nicht mochte, wenn man ihn anstarrte, er sagte einmal, dass Menschen etwas zu verbergen hätte, die starren.

Nur unauffällig. Er greift in seine Innentasche, als würde er etwas suchen. Dann schlendert er zur Bernds Kneipe hinüber. Er weiß gar nicht, ob er dorthin möchte, aber warum nicht? Nur nicht auffallen. Menschen, die nicht wissen, wohin sie möchten, fallen auf. So einfach ist das. Also zur Kneipe. Früher war er dort fast jeden Tag, also kein Problem.

Die schwarze Holztür steht halb offen. Martin tritt hindurch und muss sich kurz an dem Zigarettenautomaten festhalten, der hier am Eingang steht. Er kann nicht glauben, dass sich hier nichts verändert hat.

Die Kneipe ist ein eckiges Quadrat, was immer das auch sein soll, so nannte es Bernd zumindest immer: ‘Mein eckiges Quadrat’. An der Rückseite steht die Theke wie ein Strich vor einer Wand aus Flaschen und Gläsern. Davor exakt drei runde Tische mit jeweils exakt vier runden, furchtbar unbequemen Stühlen. An der Decke hängen gelbe Lampen in grünen Fassungen, deren Licht noch immer auf die verstörend bunten Kopien alter Gemälde fallen. In der Ecke liegen immer noch die Apfelkisten.

Apfelkisten.

Apfelkisten.

“Martin?”

Erst jetzt sieht er Bernd hinter der Theke. Er scheint nun doch tatsächlich sieben Jahre älter zu sein. Das Haar noch weißer, die Falten noch tiefer und das Grinsen noch schräger.

Zum ersten Mal muss Martin lächeln. Er geht hinüber.

Er nickt Bernd zu: “Ja, ich bin zurück. Nur kurz, aber… zurück.”

Es befreit, zu sprechen, wenn auch nur ein paar belanglose Worte. Es fühlt sich an, als hätte er bis jetzt die Luft angehalten.

Greta und Heinz sind auch hier. Auch sie sind älter. Greta scheint jedoch immer noch dasselbe grelle Kleid zu tragen, ein einziger runder, kleiner Farbflecks mit grünen Blumen auf gelbem Grund unter langen, roten Haaren. Heinz hockt am hintersten Ende der Theke. Immer. Auch jetzt. Martin hat nie verstanden, warum er hier ist. Er sitzt in seinem grauen Anzug auf einem der viel zu hohen Barhocker, liest in einem furchtbar dicken Buch und schlürft hin und wieder an einem einzigen Glas Bier. Martin würde es nicht wundern, wenn es immer noch das gleiche Buch ist wie damals vor sieben Jahren.

Beide lächeln Martin flach und unsicher an, als würden sie verzweifelt versuchen, sich an seinen Namen zu erinnern.

“Wer ist das?”

Erst jetzt sieht Martin das kleine Mädchen, das sich hinter Gretas buntem Kleid versteckt.

Greta streicht ihr beiläufig über den Kopf: “Das ist Martin…” Sie kennt seinen Namen also doch noch. “…er war… früher hier.”

“Früher?”

Greta antwortet nicht weiter.

Bernd schlägt plötzlich begeistert auf den Tresen. Der Knall lässt alle zusammenfahren.

“Ganz großartig, dass du wieder hier bist, Martin. Etwas zu trinken?”

Martin stellt sich ein wenig abseits an die Theke. Er nickt freundlich. “Ja, gerne, vielleicht ein Wasser.”

“Ein Wasser?”

“Ja, bitte.”

Bernd kramt eine Flasche hervor, füllt ein hohes, dünnes Glas und reicht es Martin.

“Was bringt dich wieder hierher?”

Martin trinkt und hofft, so der Frage aus dem Weg gehen zu können.

Greta legt den Kopf schief: “Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal hier zu sehen.”

Martin beginnt, sich unwohl zu fühlen. Vielleicht hätte er nicht hierher kommen sollen. Er versucht, das Mädchen anzulächeln: “Wie heißt du?”

Das Kind versteckt sich wieder hinter dem Rock ihrer Mutter und Greta streichelt ihr wieder über den Kopf. “Sie heißt Elli.”

Elli lugt hinter ihrer Mutter hervor.

“Wie alt bist du, Elli?”

Diesmal grinst das Kind: “Schon sieben.”

Greta kneift skeptisch die Augen zusammen: “Sie ist hier aufgewachsen, seit dem du dich aus dem Staub gemacht hast.”

“Ich habe mich nicht aus… ich…”

Martin sollte gehen.

Bernd legt seine dürre Hand auf Gretas Schulter: “Jetzt ist doch alles gut.”

„Ha! Ganz richtig, jetzt bekommen wir sogar einen schicken Staudamm.“ Heinz schaut nicht auf.

Bernd seufzt deutlich: „Was hat das jetzt damit zu tun?“

„Nichts, nichts, du sagtest nur, dass alles gut sei.“

„Jawohl, was wohl sonst? “

Greta schüttelt nachdenklich den Kopf: „Vielleicht ist es auch nur unnütz.“

„Unnütz?“

„Was die Politik sagt, ist alles Unsinn.“

„Unsinn? Welchen Grund gäbe es noch, uns anzulügen!“

„Ja, welchen wohl?“

„So viele Berichte, Artikel, Geschichten in Zeitungen und auf Plakaten.“

„Als ob die es wüssten.“

„So viele Lügen kann es gar nicht geben.“

„Es gibt immer genug Lügen.“

„Das ist doch…“

Etwas zerspringt auf dem Boden.

Elli hat ein Glas umgeworfen. Greta seufzt und Bernd beginnt, die Scherben aufzusammeln.

Greta zuckt nur mit den Schultern und trinkt etwas aus einem breiten Weinglas. Heinz hat wieder begonnen, sein Buch zu lesen.

Bernd lässt die Scherben in einen blauen Eimer fallen, dann stellt er sich wieder hinter die Theke und beugt sich zu Martin hinüber.

„Also, was bringt dich zurück?“

„Dinge.“ Etwas besseres fällt ihm nicht ein. „Es spielt auch keine Rolle. Jetzt bin ich ja hier.“

Bernd grinst breit und Martin sieht, dass ihm noch immer der rechte Schneidezahn fehlt.

„Richtig, jetzt bist du hier.“

Martin zeigt auf die Apfelkisten: “Die Kisten sind immer noch da.”

Bernd lacht laut: “Ja, sicher. Äpfel kommen in Kisten.”

Er greift nach einem nassen Tuch und beginnt, die Theke abzuwischen, obwohl sie bereits vollkommen sauber ist.

Martin trinkt wieder. Dann seufzt er: „Erinnerst du dich an damals? Die Kisten?“

„Ja sicher, du wolltest auf die Kiste steigen. Du sagtest, eines Tages, eines Tages, wenn es zu viel wäre, dann würdest du eine dieser Kisten nehmen, würdest sie einfach umdrehen, würdest dich drauf stellen und endlich alles sagen… einfach alles.“

Jetzt grinst auch Martin: „Ja, genau. Ich wollte von dort oben endlich alles aus mir heraus brüllen. Alles was sich in den vielen Jahren aufgestaut hat, wie in einem verrosteten, verstopfen Kessel.“

„Jawohl!“ Bernd grinst bei dieser Vorstellung wieder sein Lächeln ohne Schneidezahn.

„Aber ich war einfach zu feige.“

„Zu feige? Damals? Nein, nein.“ Bernd betrachtet das Tuch, schüttelt kurz den Kopf und wirft es in den Eimer zu den Scherben.

„Martin. Wenn ich sage, dass alles gut ist, dann ist alles gut. Heute wäre es kein Problem. Also das mit der Meinung sagen.“

Martin ist nicht sicher, ob er ihn verstanden hat. Oder doch? Was war das gerade? Die Sache mit dem Staudamm.

„Kein Problem?“

Bernd nickt und breitet die Arme aus – wie ein Priester: „Martin, es hat sich alles verändert. Wir können sagen, was wir wollen, immer und jederzeit. Eben kein Problem. Hast du es denn nicht gehört? Geh auf die Kiste und schreie heraus, was du willst.“

Martin lächelt und trinkt noch etwas. Er glaubt kein Wort. Oder?

Für einen Moment fragt er sich, ob er deshalb hier ist. Um endlich, endlich auf diese verdammte Kiste zu steigen. Aber das ist natürlich auch Unsinn.

Vermutlich zumindest.

Und eigentlich ist es auch egal, nicht wahr?

Martin rutscht von seinem Hocker und schleicht zu den Apfelkisten. Er greift unsicher die oberste, dreht sie herum und stellt sie auf den glatten Boden. Dann steigt er hinauf.

Er muss kurz die Augen schließen. Nur dreißig Zentimeter höher, aber alles ist kleiner. Die Menschen da unten. Die nach oben schauen. Zu ihm hier hinauf. Die Kiste ist etwas wackelig. Alle schweigen jetzt und warten auf seine Worte.

Was wollte sagen? Ja, richtig. Er hasst den Präsidenten und er hasst die Angst. Er hasst den Präsidenten. Aber vor allem die Angst. Und er hasst den Magistrat. Er hasst sie alle so sehr, weil sie ihm Angst machen. Menschen sollten einander keine Angst machen. Darum hasst er alle, den Präsidenten, den Magistrat. Man sollte sie abschaffen, wegbringen und jeder sollte sagen können, was er will oder sie will, und es sollte sich alles ändern, er wisse zwar nicht wie genau, aber es solle sich ändern, denn alles sei besser als diese Angst, als das Schweigen, als das Herumtasten an der eigenen Jacke, ob nicht etwas falsch sei, deswegen müssen sich alle zusammenschließen, einfach alle, sie müssten sagen, dass sie nicht an das glauben, was der Präsident sage, die Lügen, die Versprechen, dass sie es alle satt hätten, bewacht, beobachtet, kontrolliert und aufgezeichnet zu werden, dass das alles ein Ende haben, dass es egal sein müsse, was ein jeder denkt, fühlt, sagt, ausspricht, redet, schwafelt oder auch laut aus sich heraus brüllt, wenn er auf einer albernen Apfelkiste steht, dass sie ihn auslachen sollten, den da oben auf der Kiste, denn Auslachen ist besser als Angst, alles ist besser als Angst, einfach alles…

Das sollte er sagen, nicht wahr?

Viel ist das nicht.

Eher erbärmlich.

Irgendwie einfallslos.

Aber das will er doch sagen. Soviel ist klar.

Warum sollte er eigentlich?

Nur weil er auf der Kiste steht und die anderen da unten? Reicht so eine Kiste? Muss jemand auf einer Kiste stehen, damit man ihm zuhört? Sollten nicht alle auf einer Kiste stehen? Aber wenn alle auf Kisten stehen, bräuchte man ja keine Kisten mehr.

Kiste.

Kiste.

Noch so ein albernes Wort.

Als Martin die Augen wieder öffnet, sieht er eine Gestalt am anderen Ende der Kneipe.

Natürlich.

Es ist der Magistrat.

Er steht hinten im Schatten, aber Martin erkennt ihn sofort.

Der Magistrat hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schreitet langsam nach vorne.

Martin spürt nur noch sein Herz. Poch. Sein Herz glaubt in diesem Moment Bernd kein Wort mehr. Alles ist gut? Er steigt vorsichtig von der Kiste hinab, als würde er glauben, dass der Magistrat vielleicht gar nicht gesehen hätte, dass er da oben stand.

Darf man auf Apfelkisten stehen? Welchen Grund gibt es für das Stehen auf einer Kiste? Welchen Grund, außer der Welt seine Meinung entgegen zu brüllen?

Der Magistrat aber schüttelt nur kurz den Kopf, dann geht er hinüber zu einem der Tische und setzt sich umständlich. Bernd grinst und zwinkert Martin zu.

Was jetzt? Martin steht immer noch vor der Kiste. Wie ein Idiot.

Greta kämpft mit Elli um einen alten Aschenbecher und Heinz liest in seinem Buch.

Der Magistrat hebt einen Finger: „Ein dunkles. Und…“, er dreht sich um, „Martin… das ist doch dein Name. Setz dich zu mir.“

War das ein Befehl? Muss Martin gehorchen? Könnte er einfach weglaufen?

Er sieht sich, wie er zu dem Tisch hinübergeht und sich dem Magistrat gegenüber setzt. So nah war er ihm noch nie. Der Magistrat ist alt, älter sogar als Bernd. Sein Gesicht sieht aus, als wäre es früher einmal gesund und dick gewesen, jetzt aber ist es nur noch dürr und eingefallen. Die wenigen, grauen Haare sind kurz und nur der dünne Schnurrbart hat noch etwas Würde. Aber die Augen sind müde. Waren sie das schon immer? Vor diesen Augen hatte doch jeder Angst.

Martin spürt Schweiß auf der Stirn. Sein Körper ist ganz sicher noch nicht überzeugt, dass jetzt alles gut ist. Was hat er auch hier verloren? Warum ist er nur zurückgekommen? Er ist ja selbst schuld.

Diese verdammte Apfelkiste.

Der Magistrat sagt nichts, sondern sein Blick hängt an dem hohen Glas mit schwarzem Bier, das Bernd bringt. Er nimmt es ihm direkt aus der Hand und trinkt lang.

Dann zum ersten Mal ein Lächeln auf den blassen Lippen.

Er stellt das Glas zurück auf den Tisch, faltet die Hände und blickt Martin an.

Was?

„Martin, ich bin so froh, dich noch zu treffen. Ich habe dich auf dem Markt gesehen. Ich weiß, dass du lange fort warst, und als ich dich sah, da überkam es mich, da wurde mir klar: Du bist der einzige, der verstehen kann, mit dem ich reden kann, ich muss einfach reden, ich…“

Er schweigt plötzlich und starrt nur auf seine gefalteten Hände.

Martin ist sprachlos. Was soll das? Ist das ein Witz?

„Was haben Sie dir erzählt, Martin?“

„Erzählt?“

„Die Leute hier, Bernd und Gabi und…“

„Greta.“

„Greta, was auch immer. Was haben sie erzählt? Über die Stadt, das Land, was sich verändert hat.“

Martin blickt zu Bernd, Greta und Heinz, als stände er kurz davor, er ein wertvolles Geheimnis zu offenbaren.

„Sie… sie sagten, es wäre jetzt gut. Alles wäre gut, es hätte sich alles geändert.“

„Ha!“ Der Magistrat nimmt noch einen Schluck und faltet die Hände neu.

„Siehst du, Martin, du erinnerst dich noch an früher, nicht wahr, ich habe deine Angst gesehen, so wie früher, daher wollte ich mir dir sprechen, ich wollte mich mit dir erinnern, an die bessere Zeit. Darum bin ich hier.“

„Die bessere…“ Martin spricht nicht weiter.

Der Magistrat seufzt: „Ich hatte gehofft, du würdest verstehen.“

„Verstehen? Die Zeit war nicht gut, sie war nicht besser, sie war voller Angst, wir durften nicht denken, nicht reden, nicht unsere Meinung sagen, wir…“

Hat er das wirklich alles gesagt? Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Jetzt würde der Magistrat grinsen, sich erheben und ihn abführen. So einfach ist das. Alles nur eine alberne, kleine Falle.

Er sieht, wie Bernd umständlich auf die Kiste steigt, sich schwerfällig auf dem rechten Knie abstützt, um nach oben zu klettern. Er grinst breit und hebt die rechte Hand, den Zeigefinger ausgestreckt: “Auch wenn es manch’ Ungläubige nicht wahrhaben wollen, werden wir einen großartigen und einzigartigen Staudamm bauen. Mit fortschrittlichem Willen und unbändigem Geist. Jawohl!”

Er nickt sich selbst begeistert zu.

Der Magistrat schaut Martin nur aus seinen müden Augen an: „Weißt du, was ein Orchester ist?“

„Ein…? Natürlich weiß ich, was ein… was soll das?“

„Die Menschen, dieses Land, Martin, sie sind wie ein Orchester. Oder besser… sie waren wie eines. Wir können die wunderbarste Musik erschaffen, aber wir müssen zusammen spielen und ganz vorne, da muss jemand stehen, da muss ich stehen, der euch sagt, wie ihr spielen sollt. Wenn nur einer sich nicht an die Noten, an die Regeln, die Vorgaben und Gesetze hält, dann zerfällt die gesamte Musik. Dann ist da nur Lärm und Chaos. Eine eigene Meinung hat in einem Orchester nichts verloren.“

Martin versucht einen Gedanken zu fassen und zu begreifen, warum das alles Unsinn sein muss, aber er hat Kopfschmerzen: „Die Menschen sind doch kein Orchester. Wir sind einzelne Wesen. Jeder hat eine Meinung. Jeder sollte sie sagen dürfen!“

„Ha!“ Der Magistrat lacht so laut, dass Elli vor einen kurz Moment erschrocken zu ihnen herüberschaut.

Heinz hat Bernd von der Kiste geschoben und klettert nun selbst hinauf. Er lächelt nicht, sondern schaut ernst von oben in die Runde und hebt ebenfalls beschwörend den rechten Zeigefinger: “Ungläubige? Wir glauben an uns selbst. Nur wir wissen, was gut für uns ist! Wie trauen niemandem da oben! Vergesst die Politik! Vergesst die Wissenschaft! Und die…” Er stutzt kurz, als er nicht weiter weiß.

„Sieh es dir doch an!“ Der Magistrat zeigt mit einer weiten Bewegung durch den ganzen Raum: „Ja, so ist es jetzt. Jeder darf sagen, was er möchte, oder sie möchte, oder es möchte, oder was auch immer. Es stört niemanden. Und dann braucht man auch einen alten Mann wie mich nicht mehr.“

Darum geht es also.

„Sie sind verärgert, weil sie nicht mehr beobachten und verraten können?“

Greta ist erst unsicher, aber als Heinz sich wieder hinter sein Buch verkrochen hat, steigt auch sie hinauf, hebt auch sie den Arm: “Ich glaube, also ich bin der Meinung, dass wir den Staudamm nicht brauchen. Ich glaube, also ich weiß, dass es nicht sinnvoll ist, das kann man beweisen, mit Obduktionen am Objekt und das ist es, was wichtig ist, also das, was man wirklich messen kann.”

Der Magistrat sieht Martin wieder direkt ins Gesicht. Seine Augen sind feucht: „Siehst du es denn nicht? Hörst du es denn nicht? Martin! Du! Bitte! Hör’ die Leute auf deiner Apfelkiste an!“

Er trinkt noch einen letzten Schluck und schiebt das leere Glas dann langsam zur Seite.

„Früher dachten sie, dass jeder Mensch in diesem Land eine Meinung, unsere Meinung haben muss. Wie in einem Orchester.“

Er lächelt kurz und leise.

„…wie in meinem Orchester. Aber dann wurde ihnen klar, dass es viel einfacher geht. Viel, viel einfacher. Damals brauchte es Regeln und Gesetze und Menschen, die diese Regeln und Gesetzte einfordern und überwachen. Alles furchtbar kompliziert. Sie mussten Menschen in Gefängnisse stecken. Alles ein lästiger Aufwand. Aber jetzt?“

Martins Kopf beruhigt sich langsam und er fürchtet, zu verstehen.

Der Magistrat winkt Bernd herbei und zeigt auf sein leeres Bierglas. Dann schaut er wieder zu Martin: „Es ist viel einfacher, wenn jeder Mensch seine Meinung sagen kann, aber niemand eine Meinung hat!“

Er nickt, aber es scheint, als nicke er sich nur selbst zu.

„Es ist so viel einfacher. Und für mich nichts mehr zu tun.“

Er flüstert jetzt fast nur noch.

Martin spürt einen Knoten im Magen und ihm gefällt die Vorstellung nicht, woher der Knoten kommt.

Er sieht, wie die kleine Elli auf die Kiste steigt.

Sie schaut stolz von oben herab und hebt ebenfalls bedeutsam den rechten Arm. Sie öffnet den Mund, um zu sprechen, aber dann hält sie plötzlich inne. Martin sieht, wie sich ihre Stirn in Falten legt. Sie senkt den Arm und kratzt sich nachdenklich an der Nase.

Martin lächelt.

Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.

Dann dreht er sich um und sieht den Magistrat, der auch das Kind beobachtet. Der alte Mann lächelt ebenfalls.

Diabolisch.

„Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.“