Die Bereitschaft zu radikaler Meinungsfreiheit hängt davon ab, wie sehr wir uns selbst zu etwas in unserem Leben verpflichtet fühlen.
Die Freiheit, die eigene Meinung ohne Furcht vor Repressionen kundtun zu können, ist zweifelsohne ein Privileg, das global betrachtet nur den wenigsten Menschen zu Gute kommt. Wer in autoritären Systemen die Stimme erhebt, lebt gefährlich.
Aber auch in Demokratien nimmt die Bereitschaft zu radikaler Meinungsfreiheit ab. Was einst als Grundvoraussetzung für ein streitbares, aber friedliches und partizipatives Miteinander galt, wurde erst als Selbstverständlichkeit verkannt und schließlich immer wieder in Frage gestellt.
Die Ursachen dafür sind vielfältig und werden seit Längerem hinlänglich diskutiert. Insbesondere die – spätestens mit Aufkommen der Sozialen Medien – zunehmende Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft gilt als Wurzel allen Übels: Wo sich Lebenswirklichkeiten fundamental voneinander unterscheiden, spricht Person A Person B das Recht auf ihre – in A’s Augen falsche – Meinung ab.
Doch gibt es meiner Auffassung nach noch einen weiteren Grund dafür, warum ein Mensch einem anderen dieses, für unsere Demokratie so fundamentale Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt: Mangel an commitment.
Commitment, das heißt “Verpflichtung, Einsatz, Engagement”. Im Deutschen klingt es groß, sperrig, etwas angestaubt. Jemand ist einer Sache verpflichtet, setzt sich für etwas ein, ist engagiert.
Im angelsächsischen Kulturraum geht die Bedeutung von commitment darüber hinaus. To be committed to someone or something: sich bekennen, zu etwas oder jemandem. Um bekennen zu können, muss zunächst eine Kenntnis erlangt werden, die dann zu einer bewussten Entscheidung führt.
Unsere moderne Gesellschaft ist nicht nur eine fragmentierte, sondern auch eine in Weiten Teile un-bekennende. Während die Welt um uns herum komplexer wird und sich viele verschiedene Krisen überlagern, zieht sich das Gros der Menschen ins Private zurück.
In der Öffentlichkeit bleiben nur jene, die (sich)bekennen. Es sind Menschen, die angesichts der Komplexität der Herausforderungen nicht resignieren, sondern gerade darin Orientierung finden; die mit sich selbst auf Tuchfühlung gehen und sich schließlich zu einer Sache oder einem Menschen bekennen, sich dadurch verletzlich zeigen und angreifbar machen.
Dieser deliberative Prozess stärkt die Meinungsfreiheit: indem wir uns nach gründlicher Auseinandersetzung mit uns selbst und unseren Überzeugungen jemandem oder etwas widmen, fühlen wir uns weniger von anderen Meinungen – dem Fremden – bedroht. Im Gegenteil: Wir sind in der Lage, konträre Ansichten besser auszuhalten, weil wir unseren Ankerpunkt identifiziert haben.
Zugegebenermaßen: Dieser Logik folgend kann sich jemand freilich auch zum “Falschen” bekennen und dadurch wiederum die Meinungspluralität gefährden.
Damit die liberalen, progressiven Kräfte auf lange Sicht die Oberhand behalten, braucht es deshalb Zukunftsnarrationen, die alle Teile der Gesellschaft einschließen und für jede und jeden Anknüpfungspunkte bieten.
Denn: der Mangel an Meinungsfreiheit bzw. die Obstruktion derselbigen fußt immer auf einer großen – persönlichen wie kollektiven – Orientierungslosigkeit. Wer sich nirgends verorten kann und für nichts brennt, wird leicht zum Mitschwimmer – oder gleich zum Täter, der ohne Überzeugung neidvoll gegen jene wettert, die voller Überzeugungen sind.
Für Außenstehende beinhaltet dieses commitment folglich ein zutiefst polarisierendes Element – und zwar unabhängig davon, ob sich der/die Betrachtende mit den
Zielen und Überzeugungen des sich Bekennenden übereinstimmt. Entscheidend ist vielmehr der Akt des Bekennens an sich, der beim Empfangenden eine Reaktion hervorruft. Denn die Botschaft der Person, die commitment zeigt, fordert zwangsläufig heraus: “Sieh her, ich bekenne mich! Und du?”
Ein Beispiel: Seit einigen Monaten werden in Deutschland wieder hitzige Debatten über den Klimaschutz geführt. Oder besser gesagt: über die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen. Politiker_innen, Jurist_innen und Geschäftstreibende aller Couleur, aber auch Bürger_innen echauffieren sich über die sogenannten Klimakleber, die für ihre Überzeugungen und Forderungen (9-Euro-Ticket und Tempolimit) auf die Straße gehen und damit für Verkehrsbehinderungen sorgen. Umfragen zeigen, dass sie dabei die Mehrheit der Deutschen auf ihrer Seite haben, die wahlweise von der extremen Protestform (oder Akten zivilen Ungehorsams generell) abgeschreckt werden, sich grundsätzlich nicht für Klimaschutzthemen interessieren oder Sorge davor haben, selbst einer Straßenblockade zum Opfer zu fallen.
Entsprechend energisch werden gesellschaftliche Debatten geführt, die interessanterweise überwiegend juristischer Natur sind (ohne dass es dafür allem Anschein nach besonderer juristischer Expertise bedarf) und häufig von eben jenen angefacht werden, die jede Form des Bekennens fürchten.
Unbestritten ist: Diese Debatten müssen geführt und Urteile zeitnah gefällt werden, insbesondere in Fällen, in denen Straftaten verübt worden sind. Der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Von den vier Gewalten (Legislative, Judikative, Exekutive und die Medien) ist die Rechtsprechung für die Meinungsfreiheit womöglich die wichtigste. Sie legt Gesetzgebung aus und schafft Präzedenzfälle, auf die sich folgende Urteile berufen können.
Aber wir müssen auch fragen, inwieweit solche Formen der kollektiven Erzürnung der Meinungsfreiheit nicht auch schaden können. Und dafür müssen wir die Mechanismen verstehen, die dahinter stecken: wann sich Teile der Gesellschaft auf welche Weise und wieso empören – und wie sich das auf die Bereitschaft von Minderheiten auswirkt, die für ihre Überzeugungen einstehen.
Warum haben große Teile der Gesellschaft ein Problem mit zivilem Ungehorsam, wie die jüngste Klimakleber-Debatte gezeigt hat? Weil sie sich davor fürchten, zugeben zu müssen, nicht commited genug zu sein; keine Überzeugungen zu haben, für die sie bereit wären, auf die Straße zu gehen.
Auch diese Debatte müssen wir führen, wertfrei und ergebnisoffen.