Eine junge Frau betritt den Vorraum einer Moschee. Sie hält inne, lässt ihren Blick durch diesen stillen Ort wandern. Sie redet leise mit sich selbst, einem Zwiegespräch gleich. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab. Sie wendet sich dem Publikum zu.
Selam-aleyküm. Shalom. Grüß Gott. Salom. Hallo, ich bin … ach …, nennt mich wie ihr wollt. Mein eigener Name tut hier nichts zur Sache. Begleitet mich für geraume Zeit, und ich erzähle euch über eine Schattenexistenz, in der eine Frau ihr Menschsein verloren hatte und sich dieses, Schritt für Schritt neu eroberte.
Die junge Frau hält inne, nimmt ihren Rucksack von den Schultern.
Vor dreißig Jahren wurde eine Mehtap in Deutschland geboren. Somit ist sie eine Deutsche mit türkischen Wurzeln. Durch ihre Religion bekennt sie sich als Muslimin, denn sie glaubt an die Lehren von Mohammed, dem Propheten, und ist demzufolge eine Mohammedanerin.
Die junge Frau zieht am Eingang ihre Schuhe aus, stellt diese ins Regal und betritt durch eine Tür den kleineren von zwei Gebetsräumen, der schlicht eingerichtet ist. Nach alter Tradition sind Männer und Frauen während des Gebetes getrennt.
Ich weiß, nicht selten löst das Wort Islam eher Unbehagen aus. Angst. Unsicherheit. Wir alle erinnern uns doch an Hatun Sürücü aus Berlin, ermordet von ihrem eigenen Bruder, ein sogenannter ‚Ehrenmord‘, haben Mahsa Anunis schönes Gesicht vor Augen, ein junges Dasein – brutal ausgelöscht. Für eine Haaresbreite Freiheit. Frau! Leben! Freiheit – Tod. Alles blickt im Moment nach dem Iran. Gespenstische Bilder einer lebenshungrigen Generation, die ihr Recht auf freie Gedanken mit dem Leben bezahlt. Reingeboren in eine diktatorische Herrschaft wanken sie taumelnd durch eine permanent bedrohte Existenz, die ihnen wie ein paar faulige Brotkrumen hingeworfen wurde. Nichtsdestotrotz, sie alle sind auf der Suche nach ein wenig persönlichem Glück, getrieben von Wut und Bitterkeit, erniedrigt durch permanente Angst, bis nur die Isolation oder der Tod einem winkt. Dort, allerdings auch in Afghanistan, in Afrika – ach, diese lähmende Ohnmacht!
Die junge Frau zieht einen Gebetsteppich aus dem Rucksack hervor und rollt ihn vor sich aus.
Glaubt mir, dieses Gefühl der Ohnmacht trug sie, Mehtap, jahrelang mit sich herum. Verschlossen, verheimlicht. Oft hat sie als Kind gelitten, nächtelang geweint und vieles runtergeschluckt. In ihrer Entwicklung gefangen hinter einer Mauer des Schweigens, einem dicht gewebten Schleier, der eine eigene Identität, eine persönliche Überzeugung nicht zuließ, nicht gewährte. Manches hat sie später im stumpfen Dasein runtergespült. Der verbotene Alkohol der Ungläubigen wurde für geraume Zeit ihr einziger und heimlicher Freund. Und immer wachte als stetige Begleitung diese bohrende Einsamkeit an ihrer Seite, die sie fast verrückt machte. Mutterseelenallein in einem Land mit Millionen von Menschen.
Keinem konnte sie ihre Ängste und Probleme anvertrauen. Bei niemandem traute sie sich offen ins Gesicht zu schauen, um vielleicht einen Hauch Nähe und Halt in verständnisvollen Augen zu finden. So blieben viele Fragen und wirre Gedanken, die Mehtap nicht begriff, in ihr verschlossen.
Ihre Sprache fror allmählich fest, taute wieder auf, verwandelte sich zu Stein und oft glaubte sie, für den Rest ihres Lebens zu verstummen. Mehtap sah die anderen Menschen sehr wohl reden, doch eine Brücke war zerbrochen und deren Worte drangen nicht zu ihr herüber, verloren sich in eisigen Fluten. Ihre stummen Hilferufe fielen ebenfalls ins tiefe Wasser und erreichten nie einen Menschen. Wie ein Fährmann versuchte sie, das Meer der Sprache zu überqueren. Je schneller sie ruderte, umso einsilbiger wurde sie. Der Versuch, in einen Dialog zu treten, endete immer in einen inneren Monolog.
Die junge Frau holt aus dem Rucksack ein farbiges Kopftuch, bedeckt sorgfältig ihre Haare. Sie zieht ein Taschentuch aus der Jeans, wischt sich die letzten Spuren des Lippenstiftes von den Lippen.
Ja, da schaut ihr. Auch sie hat ihn zu spüren bekommen, den täglichen Rassismus. Aber anders als ihr denkt. Sie hat ihn erlebt unter ihresgleichen. Nicht nur ihr Christen und Juden leidet unter der Schreckensherrschaft des Islams, auch viele Muslime selbst. Vor allem die Frauen. Tagtäglich versuchen sie, ihr blutendes Herz zu stillen, bis sie irgendwann keinen Tropfen mehr in sich spüren und innerlich ausgetrocknet ihr Ende erwarten. Es wird wohl noch viele Mahsas und Hatuns geben müssen, damit wir endlich unsere Gedanken frei aussprechen können. Es wird leider auch in Zukunft weiterhin viel Blut fließen, bevor die Meinung von Frauen in einem diktatorisch geführten Land, Gehör finden darf. Aber, ich will nicht das große Ganze anklagen, nein, schauen wir erst einmal dorthin, wo eigentlich Schutz und Liebe die Grundpfeiler eines jeden jungen Lebens sein müssten. Der Nährboden für eine freie wie auch gesunde Entwicklung. Die Familie. Was im Makrokosmos tagtäglich geschieht, das spiegelt sich auch hier wider: Gewalt, Unterdrückung, Ausgrenzung und den Schleier nicht nur vor das Antlitz gezogen, sondern ebenso vor die geschundene Seele.
Die junge Frau verneigt sich im Stehen gen Osten.
Mehtap ist eine der wenigen, die es geschafft hat.
Sie ist ausgebrochen aus einem Käfig, aus einer zerklüfteten Seelenlandschaft, aus einer Welt, die sie als eigenständige Persönlichkeit mit einem freien Willen nicht duldete. Ihr eigene Gedanken nicht zubilligte, eine subjektive Meinung nicht gewährte. Eine Welt, die Mehtap nach Jahren der Unterdrückung nicht mehr aushielt. Es gab Zeiten, da hat sie unseren Glauben gehasst, verflucht. Verzeih mir Allah, wenn ich sündige. Verzeih mir.
ALLAH U AKBAR.
Die junge Frau kniet sich hin, berührt mit der Stirn den Teppich, richtet ihren Oberkörper wieder auf und hebt die Hände zum Gebet.
Ich muss es loswerden. Ein Familiendrama. Eine dieser Geschichten, die sich tagtäglich auf der ganzen Welt abspielen, mit äußerst brutalen Regeln. Viele Episoden werden geduldet, nicht bemerkt, oder die Augen der NachbarInnen und der Familie schauen einfach weg. Die Menschen verschließen sich oft vor dem Unfassbaren. Damit scheint das Unfassbare so angenehm ausgelöscht. Wie, als ob der Tag seine Normalität behält. Wie, als ob die lautlose Nacht im traumlosen Schlaf versinkt. Das Wegsehen allerdings trägt nur eine dünne Maske. Tief im Inneren, in den unendlichen Kammern des Unterbewusstseins können diese Bilder nicht auf ewig verdeckt werden. Werden diese Schreie von Schmerzen und Todesängsten nicht gänzlich verstummen. Nicht immer lassen sich die Sinne täuschen oder überlisten. Die Mauer des Schweigens weist irgendwann erste Risse auf. Und wie die aufbäumende Natur, zwingt sich die Pflanze der Wahrheit durch kleinste Lücken. Und wächst. Bis sie eines Tages nicht mehr zu übersehen ist. Und die Mauer zerbirst in tausend Stücke.
So eine Pflanze ist auch Mehtap.
Die junge Frau streicht sich über die Augen, murmelt leise vor sich hin, bevor sie von Neuem die Stimme erhebt.
Ihr Vater schleppte sie und ihre Geschwister jahrelang in eine Moschee, gebaut in einer deutschen Kleinstadt.
Oft beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns hier türkischer geben als in der Türkei. Nicht selten lacht man dort über uns. Die, die es im eigenen Land nicht geschafft haben. So bauen sich die Emigrierten verzweifelt eine neue Existenz auf fremden Boden auf. Dennoch fühlen sie sich wie eine falsch umgetopfte Pflanze; aus ihrem Nährboden herausgerissen und Teile der Wurzeln faulen in der zurückgelassenen alten Heimat.
Die junge Frau richtet sich auf, kommt einige Schritte näher und blickt ins Publikum.
Und plötzlich bist Du hier –
In der neuen Welt,
So anders als die, die Du geliebt hast.
Angst, Zweifel aber auch Depressionen
Zehren an deinem Selbst.
Ich weiß gar nicht,
Ob Du noch lebst,
Oder, nur in einem dunklen Vakuum
Vor Dich dahinvegetierst.
Deine Erinnerungen –
In leuchtenden Farben.
Noch können diese Dich am Leben erhalten.
Etwas von jenem Sonnenschein Dir schenken,
Den jeder von uns doch so sehr braucht.
Hier bist Du also,
Augen voller Träume,
Dir selbst fremd geworden.
So wanderst du durch dunkle Wälder,
Ziellos umherstreifend.
Da keimt es auf.
Ein Glücksmoment.
Allein mit Deinen Träumen.
Und niemand kann diese zerstören.
Bäume schützen Dich
Vor fremden Blicken.
Der Boden unter Deinen Füßen
Weist dir einen neuen Weg.
Du zögerst oft,
Welche Richtung Du wählen sollst.
Wirst Du jemals eine neue Heimat finden,
In der all das,
Was in Deinen Träumen lebt,
Sich erfüllen wird?
Die junge Frau kehrt zu ihrem Gebetsteppich zurück und kniet sich wieder hin.
In der Fremde verengt sich der Blick, alles wird extremer: das Abgrenzen von den Ungläubigen, das Folgen strenger Regeln nach dem Koran, einfach das ganze undurchschaubare Leben mit all seinen kleinen Alltäglichkeiten. Denn laut unseren Geboten ist einer der Elternpflichten, den islamischen Glauben ihren Kindern beizubringen. Weiterzugeben. Wie ein vertrautes Ritual, das sich von Generation zu Generation die Hand reicht.
Weißt du Allah, viele Eltern vergessen, die folgenden Sätze zu lesen, die da heißen: „So beizubringen, dass sie mit Leib und Seele dabei sind.“
Und nicht nur … .
Halt.
Ich greife vorweg. Ich muss mich zwingen, nichts auszulassen. Jetzt zu sprechen. Auch wenn es schmerzt.
Allah, ich glaube, ihre Eltern hatten ein Abkommen mit dir.
„Wir opfern dir die Seelen unserer Kinder und du gibst uns dafür westlichen Wohlstand.“
War es das, was sie dermaßen verblendete?
Die junge Frau springt auf, rennt ziellos umher, nach geraumer Zeit nähert sie sich wieder dem Publikum.
Denn Kinder,
Die sind wie Blumen!
Gibt man ihnen viel Wärme, Kraft und –
Zeit,
So blühen sie auf.
So wunderbare Geschöpfe.
Diese Seelen erfreuen und bereichern uns,
Mit ihrer Schönheit.
Mit ihrer Ausstrahlung.
Kaum wagt einer, sie zu pflücken.
Diese kostbare Reinheit könnte sehr wohl zerstört werden.
Die zarten Farben und wiegenden Bewegungen.
Sie sind so rar,
Vom Aussterben bedroht.
Dennoch,
Einige werden gepflückt,
Gebrochen,
Zertreten.
Die aufkeimende Knospe der Seele,
Zerstört.
Für immer.
Meistens ziehen dunkle Wolken vorbei,
Die Wärme erlischt.
Die Kälte des Todes gefriert alles.
Diese so einst wunderbare Blüte
Verwelkt,
Stirbt ab,
Bekam nie die Chance in ihrer vollen Pracht
Sich zu zeigen.
Zu viel Kälte ließ alles Leben erstarren.
Sie dursteten nach dem Sonnenschein
Und gingen zugrunde.
Für immer.
Und,
Was macht ihr?
Schaut zu,
Bemerkt nicht einmal die Qualen.
Die junge Frau dreht sich abrupt um, geht ein paar Schritte hin und her, hält inne und blickt über die Schulter.
Ach, irgendwie besitzen alle Religionen doch etwas Gemeinsames.
Ab einem gewissen Zeitpunkt, bei dem nur noch Dogmatismus und religiöser Fanatismus vorherrscht, ist der Glaube auch gleichbedeutend mit Macht.
Mit Macht über Leben und Tod.
Und der Mensch an sich verschwindet hinter steinernen Gesetzen. Das Recht, ein Mensch sein zu dürfen, wird vergraben unter der Last von Drohungen und Irrglauben. Einen freien Gedanken zu äußern, seine Ansichten kundzutun – ach, schon im Keim erstickt. Und zurück bleibt eine erschöpfte Seele, die ein Selbst, ein Ich, tief in den Kammern des Unbewussten verloren hat.
Aber wenden wir uns wieder Mehtaps Kindheit zu.
Die junge Frau kehrt zu ihrem Gebetsteppich zurück, kniet sich hin.
Mehtap lief komplett verschleiert herum, nie durfte sie eine Jeans ihr Eigen nennen, natürlich trug sie kein Make-up, sie besaß nichts. Nicht einmal einen persönlichen Glauben. Sie wurde reduziert auf verhüllte Haut, die gleichsam ihren Wundschmerz verdeckte, ihre Identität nicht preisgab. Darüber diesen entsetzlich sackartigen Mantel, der sie zu verschlucken drohte. Sie durfte nicht mit Männern sprechen, diese nicht einmal ansehen.
Das galt auch für westliche Freundinnen. Diese stellten ebenso eine vermeintliche Bedrohung für ihr Leben und das ihrer Familie dar. Andere TürkInnen, die modern, selbstbewusst und aufgeschlossen sich gaben, sich selbstverständlich integriert hatten und in Frieden mit ihren deutschen NachbarInnen lebten, beide Kulturen wunderbar miteinander verbanden, wurden genauso geächtet. Mehtaps Familie führte ein unscheinbares, enges und abgekapseltes Dasein. Ein fremdartiger Kokon inmitten globaler Expansion. Dabei hatte sie sich bitte nur mit ihren Geschwistern abzugeben. Und – ach ja …, immer schön die Jungfräulichkeit hüten und schützen.
Hier verstummt die junge Frau, senkt den Blick und hält ihre Hände schamhaft vors Gesicht. Sie unterdrückt ein Schluchzen. Mit der Zeit beruhigt sie sich, starrt auf die Innenfläche der Hände, die auf den Knien ruhen. Leichte Spuren von verwischter Wimperntusche bilden ein abstraktes Muster auf heller Haut.
Leider war, als sie die verlor, keiner da sie zu beschützen. Zu behüten. Mehtap hat es nie verstanden.
Aber der Reihe nach. Ich greife wieder in den Lauf der Geschichte ein. Wie gern würde ich manche Etappen überspringen.
Die junge Frau verschließt die Augen und schweigt für einen Moment.
Natürlich bemerkte Mehtap den Unterschied zu den NachbarInnen, LehrerInnen sowie den MitschülerInnen. Sie hat diskutiert, gefragt, gelesen, bildete sich ein eigenes Urteil. Von ihrem Vater allerdings gab es nur Schläge, darauf folgten: Lügen, Streit, Ausreden. Bis – tja, bis der Tag kam. Er brannte sich in ihr Innerstes ein; einem Feuermal gleich. Mehtap war gerade sechzehn, da hieß es: Ab mit dir in die Türkei.
Wohin?
In die Türkei.
Ein Schweigen beherrschte den Raum.
Die Türkei kannte sie nicht.
Da wartet dein Mann. Du heiratest. Es ist alles – arrangiert. Er heißt … .
Auch ihn kannte sie nicht.
Nie gehört.
Wieder ein Abkommen? Eine türkische Heirat für deutschen Wohlstand. Das kostete sie ihre bis dahin so behütete Jungfräulichkeit. Sie wird es nie vergessen. Die Hochzeitsnacht. Ihr Leben lang nicht.
Das Fest ist nicht selten der Ort, an dem unliebsame Wahrheiten zutage treten. Ihre schmeckte recht bitter. Danach gab es keine Therapie, keine Gesprächsgruppen, in denen sie sich hätte, neu finden können. Neu schützen. Neu hüten. Das gibt es für uns nicht. Wir waschen uns am nächsten Morgen, sind um ein paar dreckige Erfahrungen reicher, und – schweigen.
„Die Frau hat dem Mann untertan zu sein.“
So wird der Koran oft ausgelegt. Aber es stimmt nicht!
Ich habe ihn gelesen, regelrecht studiert, das Buch meiner Ahnen, meines Volkes. Jahrelang. Es ist eine reine, menschliche und soziale Religion, der man aber immer wieder die Fratze des Bösen überstülpt.
Leider auch von vielen Eltern.
Die Suren des Korans sind suggestiv, auf verschiedene Art und Weise zu deuten. Und ja, auch unterschiedliche Auffassungen sind durchaus möglich und legitim!
Aber Fehler und religiöser Fanatismus lassen sich wohl nie ganz vermeiden.
Die junge Frau hält inne, seufzt auf, wischt mit der Hand über ihre Augen, als würde sie einen schlechten Traum beiseiteschieben.
Verzeiht. Ich muss noch lernen, meine Rede in geordnete Bahnen zu lenken. Den Fluss nicht pausenlos zum Stocken zu bringen. Nur so ist es mir möglich, Mehtap eine Stimme zu leihen, damit sie zu euch sprechen kann. Denn die Worte haben letztendlich ihren Weg gefunden, einem jungen Bach gleich, der sich sprudelnd in die Natur ergießt. So klares Wasser, welches das Spiegelbild hell zurückwirft. Dieses Licht musste sich aber erst quälend durch die Dunkelheit hindurchkämpfen, sich Bahn brechen in einer zerklüfteten Seelenlandschaft, denn unser aller Leben wird vorwärts bestimmt, jedoch rückwärts erst verstanden.
Mehtaps Ehe in dem abgelegenen Dorf, fern jeder Zivilisation, gestaltete sich von Anfang an als unerträglich. Fremde Menschen bestimmten gnadenlos über sie. Nur sie nicht über sich selbst. Mehtap fühlte sich wie eine ausgestopfte Puppe, die man aus einer Laune heraus abwechselnd in alle vier Ecken schleuderte, sobald die Lust zum Spielen nachließ. Oft hoffte sie, auf dem Boden liegen bleiben zu dürfen. Diese Gnade erwies ihr keiner. Körper und Psyche wurden missbraucht. Immer wieder. Wie ein Stück Vieh, das kurz vor der Schlachtbank noch einmal über den Hof gejagt wird. Langsam stumpfte ihr „Ich“ ab. Willenlos gefügig, dämmerte sie Tage und Nächte dahin.
Sie hatte ihr Recht verloren.
Ihr Recht, ein Mensch zu sein. Das stillgestellte Weibliche, das unter dem männlichen Blick konsumierbar gemacht und einverleibt wurde.
Eines Tages stand sie am Brunnen, sah hinunter auf die glatte Wasseroberfläche, auf der ihr ein fremdes Gesicht entgegenstarrte; ähnlich das einer Totenmaske. Die zwei Seelenfenster erloschen, der Mund weit geöffnet, wie zu einem Schrei – doch es blieb seltsam still. Kein Ton war zu vernehmen; der Mund riss weiter auf, tote Augen verzerrten sich, aber – nur eine sonderbare Lautlosigkeit hielt sie fest umklammert; der Schrei nach Erlösung in einem unsichtbaren Kerker eingemauert. Da erwachte Mehtap und spürte einen Funken Lebenswillen. Sie zog die verhasste Hochzeitskette vom Hals und warf diese in den dunklen Brunnen. Sie versank sofort. Bis auf den Grund.
Sie flüchtete heimlich aus der Türkei, zurück nach Deutschland. Mit nichts kam Mehtap hier an. Außer all diesen Erfahrungen, die sie im Gepäck ihrer Erinnerungen bei sich trug. Sie hatte gehofft, die Hölle hinter sich gelassen zu haben. Bis dahin wusste sie nur nicht, dass das Martyrium so grenzenlos schmerzhaft sein kann.
Die junge Frau verstummt, streicht gedankenverloren über den Teppich. Sie sieht auf, versucht zu sprechen, aber ihre Stimme versagt. Sie räuspert sich, bevor sie weiterspricht.
Mehtap wurde geächtet, gebrandmarkt, war die Schande der ganzen Familie. Die Tochter hatte die Familienehre aufs Tiefste beleidigt und beschmutzt. Eine islamische Frau verlässt ihren Mann nicht. Er bestimmt über sie, und damit auch über ihr Leben, ihr Sein, ihr Herz, ihre Gedankenwelt. So die Meinung ihrer Eltern. Diese galt es zu folgen, nicht zu hinterfragen.
Die eigene Mutter ekelte sich derart vor ihr, so dass diese in die Türkei zog, um den Anblick, ja die unaussprechliche Schande der Tochter nicht tagtäglich zu ertragen. Die Mutter, die Stütze der Familie, blieb für ein ganzes Jahr verschwunden.
Mehtap versorgte den Haushalt, die kleinen Geschwister und versuchte, bei all dem auch noch ihre Ausbildung abzuschließen. Eine westlich Orientierte. Mit mehr Menschenrechten.
Der Druck innerhalb der eigenen vier Wände wuchs. Die Schläge brannten in ihrem Gesicht. Der religiöse Wahnsinn loderte auf. Der tägliche Rassismus wütete hinter modernen Türen. Angezündet von ihrer eigenen Familie. Bis, tja …, bis Mehtap sich nicht mehr zurückhalten wollte. Sie wurde ungehalten.
Sie brach aus. Erneut zerriss sie eine Kette, die sie an ein Leben binden wollte, welches nicht das ihrige war. Mehtap verließ ihre Herkunft, ihre Religion, die Anschauungen anderer Menschen, ihr altes Leben.
Verzeih mir Allah! Verzeih mir!
Plötzlich war sie wie ein Vogel, denn nun konnte sie zum ersten Mal etwas spüren: die ersehnte Freiheit!
Und doch, nicht selten glich auch diese Freiheit einer Verbannung, einer Ächtung.
Die junge Frau steht auf, rollt ihren Teppich zusammen.
Denn wohin sollte dieser junge Vogel jetzt fliegen? Ein Teil der Seele war noch dort in der alten Welt gefangen. So leicht kommt man dann doch nicht davon. Es ist in ihr versiegelt, diese uralte Tradition. Wie ein heißer Stempel auf rohem Fleisch. Lange spürte Mehtap nur Hass. Hass auf den Islam. Hass auf bärtige Männer. Hass auf Kopftücher. Hass auf willensschwache Menschen, die ihre Gedanken, ihre persönliche Meinung untergraben, aus Angst vor unangenehmen Konsequenzen.
Die junge Frau steckt den Teppich in den Rucksack und geht langsam zur Tür. Hier dreht sie sich um und schaut zu uns zurück. Sie wechselt zwischen Weinen und Lachen.
Noch immer der verzweifelte Versuch,
Mein Ich zu finden!
Oft glaubt es zu wissen,
Wer Ich bin.
Und doch …,
So ganz gehör ich nicht in diese Welt.
Sekunden, ach … schon verflogen,
Dies bisschen Glück.
Schnell zerflossen,
Aufgelöst zu Staub,
Der mich betrügt.
Zweifel kriechen empor,
Bis tief ins Innere,
Und betrachten mein neues Ich.
Fremd,
Unheimlich.
Hört sie mich?
Meine Klage?
Meine Rede?
Sieht sie die Tränen?
All die Menschen um mich herum
Betrachten nur die Maske,
Die Beschützerin der wahren Seele.
Wie können sie mich verstehen,
Oft selbst nur Phantome ihres eigenen
Ichs.
Schnell sich verschließen.
Wenn ein Jeder
Nur den wahren Mut besäße,
Sein wirkliches Ich zu offenbaren,
So würde die Welt allmählich begreifen,
Was Liebe wirklich zählt.
Die junge Frau geht durch die Tür in den Vorraum.
Mehtap hat lange gebraucht, eine neue Frau in sich entstehen zu lassen.
Heute wohnt und arbeitet sie unter einem anderen Namen in einer Stadt, weit weg von der Vergangenheit. Sie lebt in einem Land, welches ihr die Freiheit gibt, ihre wahre Identität zeigen zu dürfen.
Mit der Zeit gelang es ihr auch, ihren Glauben wieder anzunehmen, erlernte eine neue Liebe zu Dir, mein Gott, der ohne Angst und Macht ihr Herz erfüllt. Ich habe bemerkt, wie viele Teile aus der jüdischen und christlichen Tradition im Koran übernommen wurden, ja, wie verwandt die Religionen doch miteinander sind. Und damit sind wir alle Schwestern und Brüder.
Die Thora, die Bibel und der Koran, sie sollten Bücher der Menschheit sein. Uns schützen, Mut machen und durch schwere Zeiten tragen. Dennoch auch aushalten, wenn jemand einem anderen oder auch gar keinem Gott folgt.
Hier endet meine Rede.
Mehtap hat ein Kapitel in ihrem Leben umgeblättert. Mit Neugier und Hoffnung wird sie nun weiterlesen und sich im Laufe ihres Lebens ein eigenes Menschsein erschaffen. Es werden noch viele wunderbare Momente folgen, daran glaube ich. Was also bleibt, ist die Idee einer Vision, eines Bildes, eines Traumes.
Viele jedoch, konnten nicht ausbrechen. Für viele Frauen endete ihr Leben in einem viel zu frühen Tod. Und viele harren, in diesem Moment, in Angst und Schrecken hinter Türen und Fenstern aus, die keinen Blick ins Innere dulden. Wendet nicht eure Augen ab, wenn ihr Leid seht. Verschließt nicht euer Ohr, hört ihr leises Klagen. Redet miteinander, gewährt eine andere Meinung, die vielleicht nicht die Eurige ist. Nur so kann es uns gelingen, gemeinsam ein menschenwürdiges Dasein auf dieser Welt zu ermöglichen. Denn erst als ich zur Freiheit kam, war ein freies Leben möglich.
Jin! Jizan! Azadi!
Die junge Frau zieht das Kopftuch ab, schüttelt ihre langen Haare und holt aus dem Rucksack einen Lippenstift. In einem kleinen Spiegel betrachtet sie kurz ihr Gesicht, lächelt sich an, zeichnet ihre Lippen nach, nimmt ihre Schuhe aus dem Regal und verlässt barfuß die Moschee.