Das Wort in deinen Händen

von Julia Friedrich

Das dünne Stück Holz in seiner Hand fühlte sich vertraut an. Fast beängstigend vertraut. Schmerzhaft. Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit. Einer Vergangenheit, die gerade einmal 3 Jahre zurücklag. Und plötzlich sah er sie wieder: die Farben, Buchstaben, die eckigen und kantigen Formen, die auf dem kühlen weiß ein Eigenleben zu entwickeln schienen. Er glaubte fast, das beruhigende Kratzen des Stifts über das dicke Papier zu hören. Farbe, Leben, Hoffnung, dachte er. Und spürte, wie seine Augenlider aufgeregt zu zittern begannen. Wie hauchdünne Schmetterlingsflügel, die sich treiben lassen wollen im Wind der Unbeschwertheit und kindlichen Naivität. Doch er war kein Kind mehr und der Wind war längst verebbt. Da war nichts mehr. Nichts außer Leere. Ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier. Makellos. Seine abgekauten Nägel krallten sich krampfhaft in das Holz zwischen seinen Fingern. Die normalerweise glatte Oberfläche war übersät von kleinen, braunen Halbmonden. Narben, dachte er. Narben der Seele. Er spürte ein Brennen in seiner Brust, spürte das Pulsieren seiner Adern, das Kribbeln in seinen Fingern und jede Zelle seines zerbrochenen Körpers drängte danach: Er wollte Schreiben. Aber er wusste, wenn er auch nur einen einzigen willkürlichen Strich auf das kühle Weiß setzen würde, wäre er schon verloren. Denn er wusste, er würde die innere Flut nicht stoppen können. Die Worte, der tiefe Schmerz, das Leid würden einfach so aus ihm herausprudeln und sich selbstständig ihren Weg auf das Blatt Papier bahnen. Eine Welle der ungesagten Worte. Alles, was er seit Monaten unterdrückt hatte.

Sie saß auf ihrem Bett in dem kleinen dunklen Zimmer, dass sie sich mit ihren zwei jüngeren Brüdern teilte. Die windschiefen, grauen Wände schienen immer näher zu kommen, schienen sie zu erdrücken. So wie die Last der letzten Wochen. Eine Last, die sie unwissentlich eigentlich schon ihr ganzes Leben lang mit sich herumtrug. Nervös rieb sie ihre Handflächen an dem rauen Fasergeflecht ihrer Unterlage. Ihre Hände wurden wund und fast schon blutig, aber es war ihr egal. Sie spürte nichts mehr. Aber sie konnte sich noch an das Gefühl erinnern. Das Gefühl, einen Willen zu haben. Den Drang, seine Meinung zu äußern. Sie hatte doch Pläne gehabt. Sie wollte weiter zur Schule gehen, studieren, die Welt verändern. Und jetzt war sie in ihrer eigenen Welt gefangen. Die „graue Höhle“, wie sie ihr Zuhause als Kind liebevoll nannte, war von einem sicheren Rückzugsort, zu einem Gefängnis geworden. Sie hatten ihr und den anderen Mädchen und Frauen alles genommen: Zugang zu Bildung, Sicherheit und vor allem eines – Hoffnung und Mut. Zuerst war es nur ein Vorwand – ein angebliches, „technisches Problem“. Doch dann wurden die Frauen auch ohne Vorwand nach Hause geschickt. Die Bücher wurden verbrannt, die Hefte zerrissen und die Frauen in ihren Häusern versteckt. Sie hatte es doch miterlebt, wie sie ihre Cousine schikaniert hatten, wie sie verächtlich auf sie herabsahen und sie diskriminierten, weil sie eine Frau war. Nur weil sie studieren wollte und ein Ziel vor Augen hatte. Eine kühle Träne rollte über ihre Wange. Was war aus diesem Land geworden, dass sie ihre Heimat nannte?

Dunkelheit und ein bläuliches Leuchten in der Finsternis. Die Buchstaben auf dem Display verschwammen vor ihren Augen zu einem leblosen Gemisch aus Schwarz und Weiß. Immer und immer wieder las sie die Worte, hoffte die Buchstaben würden sich neu zusammensetzen, ihre Bedeutung verändern, weniger weh tun. Doch die Buchstaben blieben wo sie waren und die fremden Stimmen hallten weiter durch ihren Kopf, ließen sie nicht los, schienen sie von innen heraus aufzusagen, bis da nichts mehr war. Nur Leere. Eine leere Hülle um einen toten Körper. Und dann wieder der Fall ins schwarze Nichts.

Sein Bruder hatte den Mut gehabt. Er hatte sich getraut zu schreiben und seine Artikel zu veröffentlichen. Aber die Öffentlichkeit akzeptierte seine Meinung nicht. Wörter werden gestrichen, Artikel gesperrt, Apps verboten. Regimekritische Äußerungen werden verworfen und Vorwürfe von außerhalb als scheinheiliger Versuch gesehen, das Land politisch zu schwächen. Die Menschenrechte gehören zu den „inneren Angelegenheiten“. Ein systematischer Überwachungsstaat, dachte er im Stillen und seine Fingerknöchelchen traten weiß hervor. Was im Verborgenen stattfinden soll, bleibt auch geheim. Meinungen, die das System gefährden oder anzweifeln könnten, kommen niemals an die Oberfläche. Die große Mauer stoppt alles.

Sittlich verdorben, dachte sie. Sie hatten ihre Cousine als Prostituierte und Schlampe beschimpft. Hatten sie geschlagen, ihr Elektroschocks verabreicht…an der Schulter, im Gesicht, im Nacken, wo immer sie konnten. Der Mann mit der Pistole, drohte sie umzubringen und sie zu verscharren. Das letzte, was sie von ihrer Cousine sah, war das Zucken ihrer Muskeln. Ein letztes Aufbäumen und dieser gläserne, wässrige Blick in ihren blutunterlaufenen Augen. Alle Stärke, alle Zuversicht war verblasst. Das Einzige, was sich in ihren Augen widerspiegelte war Angst. Pure Hilflosigkeit und Angst. Und dann nahmen sie ihre Cousine fest und schleiften sie weg. Ob sie noch lebt? Sie weiß es nicht.

Wie es seinem Bruder geht? Er weiß es nicht. Aber er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie ihn abgeholt hatten und mit ihm einige andere. Er dachte oft an seinen Bruder, fragte sich, wo er wohl gerade war. In einen von diesen Arbeitslagern? Im Gefängnis? Würde man ihn gerade wohl verhören und vielleicht sogar körperlich oder psychisch unter Druck setzen? Er spürte den Schmerz, der ihn wie eine Welle überrollte. Er wollte schreien, er wollte schreiben, wollte gehört werden. Wollte aufschreiben, was ihm seit Monaten auf der Seele brannte. Wollte in Worte fassen, was mit seinem Bruder geschehen war. Aber er durfte nicht. Seine Stimme interessierte niemanden. Und wenn sie seine Worte gehört hätten, hätten sie auch ihn weggebracht.

Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Und zum ersten Mal seit Wochen glaubte sie wieder wirklich etwas zu spüren. Schmerz, Trauer, Wut. Sie konnte ihre Cousine nicht vergessen. Und sie wollte diesen Mann nicht heiraten, der auch zu diesen Männern gehörte. War er nicht sogar dabeigestanden, als sie ihre Cousine abgeführt hatten? Beißender Ekel überkam sie und plötzlich hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Wie ihr Vater sie gerade angesehen hatte: Mit diesem Blick. Dieses hoffnungsvolle Zunicken und dieses beschwörungsvolle Glänzen in seinen Augen. Aber war es wirklich Stolz? Womöglich war es eher das Vertrauen und die Zuversicht, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde. Aber ist eine Frage, bei der man nur zustimmen kann – zustimmen muss – wirklich eine Entscheidung? Sie fühlte sich wie ein kleines, hilfloses Lämmchen, dass man einer Horde voller Raubkatzen vorgeworfen hatte. Mit Gewehren über den Schultern standen sie im Wohnzimmer ihres Vaters. Ihre Raubtieraugen funkelten gierig und besitzergreifend, als würden sie sich zurückholen, was sowieso schon ihnen gehörte. Und alle nickten sie zustimmend, als ihr Vater mit einem von ihnen über sie verhandelte. Wieviel würde sie ihnen wert sein?

Wieviel war sie denn schon eigentlich wert? Sie war doch ein nichts, ein niemand. Konnte nichts und wusste nichts. Der ganze Hass schien sie innerlich zu zerfressen, sie aufzulösen. Was war eigentlich noch von ihr übrig? Sie hatte keine Kraft mehr, keine Stimme mehr, um sich gegen die Beleidigungen und Hasskommentare zu wehren, keinen Willen, um sich den Anschuldigungen und Gewaltandrohungen zu widersetzen. Vor ihren Augen sah sie die schemenhaften Gesichter derer tanzen, die ihr den Tod wünschten. Bloße schattenhafte Fratzen, die sie verhöhnten und auf sie herabsahen. Eine graue, anonyme Masse. Ohne Gesicht, ohne Namen, aber mit einer Stimme. Nein, nicht mal einer Stimme. Sie kommunizierten nur mit geschriebenen Buchstaben. Sie rollte sich in sich zusammen, zog ihre Knie dicht an ihr Gesicht, versuchte sich zu verstecken, vor sich und der ganzen Welt. Vor der Öffentlichkeit des Internets.

Von draußen hörte er den Lärm protestierender Menschen. Sie werden die nächsten sein, die sie wegsperren, dachte er. Noch immer saß er auf dem Boden in seinem Zimmer. Langsam spürte er die kühle Schwere, die langsam seinen hageren Körper hinaufkroch und jedes Glied seines Körpers erfasste. Kühle, schwere Regungslosigkeit.

Wollte man sie mundtot machen? Weswegen? Wegen diesem einen Post? Weil sie ihre Meinung gesagt hatte? Weil sie eine Frau war?
Und jetzt durfte man sie klein machen. Sie zum Schweigen bringen. Und alle schauten sie zu, verkrochen sich hinter den Tastauren ihrer übergroßen Bildschirme.

Ein Schauder überkam sie, als der fremde Mann mit seiner groben Hand über ihren Oberschenkel striff. Die anderen Männer im Wohnzimmer lachten höhnisch und ihre Gesichter verzogen sich zu hämischen Grimassen. Und ihr Vater schaute sie einfach nur an. Er sagte nichts. Sie spürte den Drang etwas zu sagen, zu schreien, zu fluchen, aufzuspringen und diese Männer einfach stehen zu lassen. Aber sie konnte nicht. Sie fühlte sich wie im Taumel. Eine eisige Klammer aus Angst und Beklommenheit, die sie gefangen hielt und ihr die Kehle zuschnürte. Sie spürte ihren Atem nicht mehr, nahm nur von weitem das mechanische Heben und Senken ihres Brustkorbs war. Ihre Ohren waren taub geworden, genauso wie ihr Herz?

Aber da war noch etwas anderes außer Regungslosigkeit. Ein Wille? Ein menschliches Bedürfnis? Der Stolz und die Bewunderung gegenüber seinem Bruder? Er hatte das Gefühl, er musste etwas sagen. Er konnte nicht länger schweigen. Langsam drückte er sich vom Boden, spürte, wie wieder Blut durch seine Adern floss. Das Papier und den Stift ließ er hinter sich auf den Boden fallen. Und er rannte. Rannte hinaus durch seine Kinderzimmertür, die steilen Stufen im Treppenhaus hinab und auf die Straße. Er spürte den groben Asphalt unter seinen nackten Füßen und zum ersten Mal seit Wochen spürte er wieder dieses Etwas in sich. Leben? Einen Willen? Den Mut, seine Meinung zu sagen?

Sie wollte nicht mehr. Wollte kein Opfer mehr sein. Sich nicht mehr von der grauen Masse der Namenslosen unterkriegen lassen. Sie wollte damit aufhören, sich von der Meinung fremder Menschen dominieren zu lassen. Menschen, die sie nicht einmal kannten, nicht einmal wussten, wer sie war.
Sie wollte leben. 

Sie legte ihr Handy neben sich auf den Boden, stützte sich langsam vom Boden auf und öffnete das Fenster. Gierig sog sie die kühle Luft in sich auf, verdrängte die Stimmen aus ihrem Kopf. Atmete ein.

Eine Träne ran über ihre Wange. Die letzte, dachte sie und ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie wusste, sie würde einen Preis zahlen. Einen hohen Preis sogar. Aber war es das wert? War ein kurzer Ausspruch – ein kleines Wort – ein ganzes Leben wert? Ja, dachte sie. Ein letztes Mal blickte sie ihrem Vater in die Augen, betrachtete das bernsteinfarbene Funkeln, die kleinen goldfarbenen Sprenkel in seiner Iris. Augen, die sie seit ihrer Kindheit kannte, die immer auf sie aufgepasst hatten, sie beschützt hatten. Doch jetzt lag noch etwas darin. Entschlossenheit? Entschlossenheit gepaart mit Angst. „Nein“, sagte sie mit betont fester Stimme. „Ich werde diesen Mann nicht heiraten.“ Im Augenwinkel sah sie noch die schockierten Blicke der bewaffneten Männer im Raum. Doch dann rannte sie schon, ohne sich noch einmal nach ihnen umzudrehen. Im Laufen zog sie die Kopfbedeckung von ihren Haaren und spürte zum ersten Mal seit Monaten wieder, wie ihre dunklen Haare unkontrolliert vom Wind zerzaust wurden. Dann hörte sie Schüsse. 

Sie spürten den festen Boden unter ihren Füßen. Asphalt, Staub oder Parkett. 
Und noch etwas anderes. Mut. Hoffnung.
Endlich hatten sie wieder eine Stimme bekommen und sie schrien.
„Und ich meine –“