Meinungsfreiheit oder das Recht, Dylans Kuchen zu kritisieren

von Janina Lara Makowe

Eine Küche, Osterdekorationen schmücken die Fenster. Davor, die Ehefrau, eine vollständig saubere Theke putzend. Der gesamte Raum glänzt. Neben ihr, ein dampfendes Glas Matcha-Latte, das soll doch beim Einschlafen helfen. Sie tut, als wische sie sich die Schweißperlen von der Stirn. Ein Seufzen entrinnt ihren Lippen. Dann dreht sie sich um, visiert die Kamera an und spricht mit Trillerstimme:
Ich bin schon immer eine Freundin von Kuchen gewesen. Als gute biologische Hausfrau habe ich bereits mehrere Exemplare von Süßgebäck in meinen Ofen geschoben und bis jetzt hat sich noch niemand beschwert.
Doch in den letzten Monaten hat sich einiges getan. Es ist eine neue Nachbarin eingezogen, bei mir in die Straße. Fünfunddreißig. Unverheiratet. Meist knöchelfrei unterwegs. Ich hatte ja nichts dagegen, ich bin ja sozial sehr liberal unterwegs. Meine Schwester hat eine bisexuelle Tochter und, nun ja, wir wissen ja alle, wie die Bisexuellen so drauf sind. Aber ich sage nichts. Ich halte mich bedeckt.
Natürlich hatte ich keine Vorurteile. Ich war wirklich bereit gewesen, sie in der Nachbarschaft willkommen zu heißen. Aber das hat sie sich selbst ruiniert. Vermutlich hat sie es mit Absicht getan.
Wer bringt denn auch gleich am Tag des Einzugs bei den Nachbarn einen Kuchen vorbei? Und dann nur für uns, interessanterweise genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich gerade außer Haus war und mein Mann ihn abnehmen musste. Glücklicherweise bin ich gerade wieder von meinem täglichen Power-Walk zurückgekommen, um es zu sehen. Und was für eine Szene es war.
Sie hat es einen Kuchen genannt. Einen Kuchen. Es war kein Kuchen, es war eine verkappte Torte. Das habe ich auch versucht, ihr zu erklären. Ein Kuchen hat nur eine Lage, eine Torte mehrere. Das ist einfache Definitionssache. Und sie hat es gewagt, mir mit diesem süffisanten Lächeln zu sagen, es sei dann halt ein mehrstöckiger Apfelkuchen. Ein mehrstöckiger Apfelkuchen.
Sie rümpft die Nase.
Ich weiß, was einen richtigen Kuchen ausmacht und sie hat es uns nicht gegeben. Nein,
stattdessen gab sie uns eine…glutenhaltige Abscheulichkeit, eine vollständig falsche Mischung aus sauren Äpfeln und braunem Zucker.
Als starke Feministin habe ich mich natürlich nicht zurückgehalten. Sie hat mich vor meinem Mann lächerlich gemacht. Frauen sollten einander doch unterstützen und sich nicht gegenseitig vorführen. Vor Allem nicht für die Aufmerksamkeit eines Mannes.
Sie schüttelt den Kopf, trocknet sich eine nicht-vorhandene Träne mit einem plötzlich sehr vorhandenen Taschentuch ab. Die freie Hand hat sie auf ihre klinisch bebende Brust gelegt.
Und jetzt kommt sie mit einer Klage an. Einer Klage. Können Sie das glauben? Ich fasse es auch selbst nicht… Die Anstandslosigkeit…
Wissen Sie, ich nehme das Kuchenbacken sehr ernst. Wenn ich es nicht tue, wer dann? Backen hat in den letzten Jahren an seiner Bedeutung verloren, das weiß ich auch. Und wenn nicht jemand für traditionelle Backideale einsteht, dann geht es bald nicht nur mit dem Kuchen, sondern auch mit den Muffins bergab!
Diese Klage…Sie geht klar gegen meine Meinungsfreiheit. Ich habe lediglich gesagt, was ich denke. Und jetzt soll ich vor den Richter treten. Bedeutet der Welt Meinungsfreiheit überhaupt noch etwas?
Letzte Woche bin ich auf einen wundervollen Podcast gestoßen, ich höre die ja immer an, wenn ich zuhause putze. Und die hatten diese Woche einen waschechten Philosophen bei sich zu Gast, einen richtigen Professor! Selbstverständlich geht ihm das Establishment gerade auch an den Kragen. Ob in Nordamerika oder in Europa, es ist überall dasselbe. Eine Schande, aber nicht zu vermeiden.
Auf jeden Fall hat er mir so sehr ins Herz gesprochen, als er dann meinte:
„Was ist überhaupt Meinungsfreiheit? Was bedeutet es frei zu sein, die eigene Meinung zu sagen? Ist es nicht Teil meiner Meinungsfreiheit, meiner Frau zu sagen, dass ihr Kuchen heute Abend ein bisschen zu trocken geworden ist? Und ist es nicht genau das, was der Westen braucht, starke Männer, die den Mut haben, ihre Frauen wegen der Trockenheit ihres Kuchens zu kritisieren, offen und ehrlich?“
Ich für meinen Teil stimme ihm zu. Auch ich wünschte, ich würde in einer Welt leben, in der es erlaubt wäre, den Kuchen meiner Nachbarin Berta von der Heide zu kritisieren.
Denn wer weiß, was sie überhaupt in den Teig gepackt hat? Ist es nicht rechtens, dass ich nachfrage, welche Art von Zucker benutzt wurde, bevor ich ihn in meinen Schlund stopfe? Wurde das Süßungsmittel denn ausreichend von den relevanten Stellen geprüft? Und warum glauben wir Berta gleich, dass sie einen Kuchen und nicht vielleicht doch eine Torte gebacken hat?
Sie rümpft erneut die Nase.
Nun, ich schätze das ist auch nicht weiter wichtig. Jetzt muss ich mich erst einmal auf den Prozess vorbereiten. „Dann wird mein Zorn entbrennen.“

INNEN – DUNKELHEIT
Eine Lampe flackert und erhellt das Zentrum des Zimmers. Es riecht nach Öl und verbrannter Kohle. Um einen Tisch versammelt sitzen drei Männer, schweigend in Konversation vertieft. Eine Tür schließt sich. Der Mann auf der rechten Seite, ein knopfiger Kerl mit Halbglatze seufzt, dem Spielen leid. Der Mann zur linken Seite, praktisch noch ein Junge, das Haar wellig, die Lippen rosig, sieht noch munter aus. Und der Mann im Zentrum ist einfach nur froh, hier zu sein.

DER FROHSINNIGE:
Darf ich nur noch einmal sagen, welch eine Ehre es ist, mit so großen Köpfen an einem Tisch sitzen zu dürfen?
In seinen Augen drehen sich die Sterne. Die Nase des Knopfs zuckt und kitzelt.

DER KNOPF:
Dein Geist war doch bereits zu Asche geworden, da hatte ich mich gerade das erste Mal verliebt. Meine Werke hast du nie lesen können. (Er schnaubt) Was sprichst du dann von Ehre und großen Köpfen?
DIE MÄHNE kichert und ihre Locken kringeln mit. Sie lehnt sich nach vorne, tätschelt dem Knopf die Hand. DER KNOPF zieht sie weg, verschränkt seine Arme vor der Brust und kauert sich zusammen, als könnte er in die Matratzenfalten der Realität verschwinden.

DIE MÄHNE
Das Spiel tut dir nicht gut, alter Freund. Wie kannst du noch nicht gelernt haben, es endlich zu genießen?

DER KNOPF
Wie kannst du die Qualen dieser Farce nach so langer Zeit noch immer leugnen?

DIE MÄHNE
Der Herr arbeitet auf mysteriöse Art und Weise.

Nun hat er es geschafft. DER KNOPF rollt mit den Augen. Und dabei ist noch nicht einmal Tee serviert worden. DIE MÄHNE schmunzelt. Das könnte ein interessanter Durchgang werden.
Klatsch!
Feurige Augen brennen DEN FROHSINNIGEN nieder. Doch dieser behält sein freudiges Grinsen, so dünn und lang, dass es an das Maul eines Wiesels erinnert. Er beugt sich nach vorne, die Finger ineinander geschränkt und blinzelt beide Männer an.

DER FROHSINNIGE
Worum soll es denn heute gehen? Kuchen war es?

DER KNOPF
Kuchen… (Er schüttelt seinen Kopf)

DIE MÄHNE
Jetzt sei doch nicht gleich so voreingenommen! Wer sagt denn, dass es nicht wichtig ist, über Kuchen zu diskutieren?

DER KNOPF
Ich finde es durchaus wichtig, über Kuchen zu diskutieren. Möglicherweise ist der Diskurs um Kuchen sogar der Wichtigste, den wir führen können. (Er blickt sich um) Nur nicht in diesem Format und erst recht nicht mit diesen Gesprächspartnern.

DIE MÄHNE
Du bist auch eine Diva. Brauchst du etwa Publikum?

DER FROHSINNIGE
Es wäre nur angemessen. Stellt es euch vor, eine aufmerksame Meute, ihre Ohren an jedes Wort gefesselt, dass euch verlässt. Eine Gruppe lernbereiter Laien, ergiebig euch alles nachzuahmen.

DER KNOPF schüttelt seinen Kopf. Die Lampe flackert und es riecht nach Wachs. Das Echo eines ungeduldigen Tappens schleicht durch den Raum.

DIE MÄHNE (lacht)
Oh ja, das wäre köstlich! Ein Gruppen aufmerksamer Tölpel, die ihm jedes Wort von seinen kostbaren, blitzgescheiten Lippen ablesen.

Das Tappen wird lauter.

DER FROHSINNNIGE
Man sollte Häresie in der Wahrheit nicht fördern. Es wäre unverantwortlich, ein Publikum zu unterhalten, das mir alles wort- und klaglos abnimmt. Es ist die Debatte, die den Staat macht.

Das Tappen wird schneller.

DIE MÄHNE (nickend)
Besser hätte ich es nicht sagen können. Staat und Schrift, sie beide werden durch Diskurs belebt. Und beide können ohne Diskurs nicht betrachtet werden.

Das Tappen stoppt.

DER FRUSTRIERTE
Wie wäre es dann mit einem misstrauischen Publikum? Eines, das schönen Druck auf die Herren ausübt?

DER KNOPF (mit geschlossenen Augen)
Gibst du denn nie auf?

DER FRUSTRIERTE
Was meinst du damit? Aufgeben?

DIE MÄHNE
Du weißt, dass er das nicht kann. Es ist nicht Teil des Spiels. Er steht in den Diensten des Kreises.

DER FRUSTRIERTE
Des Kreises?

DER KNOPF (schlägt seine Augen auf)
Des endlosen Kreises, der immer wieder gezogen wird. Du kannst nicht aufhören, mich zu reizen, weil es deine Aufgabe ist, mich zum Reden zu bringen. Du glaubst, du tust es aus Interesse, doch du bist nur Sklave des Kreises. Und auch wenn ich Recht habe, wirst du mir nie glauben und schön entrüstet weiter den Kreis ziehen, immer und immer wieder.

DIE MÄHNE
Aber kann es diesen Kreis wirklich geben, wenn wir ihn mit keinem unserer Sinne spüren können? Selbst wenn dieser Trottel über ihn nachdenken würde, wird er ihn nie verstehen. Und existiert er dann für uns, die Tiere, die nur durch erkennen lernen können, dann wirklich?

DER KNOPF
Die bessere Frage ist nicht, ob der Kreis existiert oder nicht, sondern ob es wichtig ist, ob er existiert oder nicht.

DER VERWIRRTE
Da komme ich jetzt nicht mit.

DER KNOPF
Und du möchtest unserer Diskussion über Kuchen folgen?

DIE MÄHNE
Es könnte witzig werden, dabei zuzusehen, wie sich die Räder in seinem Kopf verhaken.

DER KNOPF
Wenn es die Räder überhaupt gibt.

DIE MÄHNE
Ja. Wenn es sie überhaupt gibt. (Dreht sich zur Finsternis) Wir brauchen ein Publikum für diese Szene. Werdet ihr auch schön kritisch dreinblicken?

Niemand antwortet.

DIE MÄHNE
Nun, wenn ihr schon nichts sagen werdet, dann kann ich wenigstens erwarten, dass ihr schön kritisch die Buchstaben betrachten werdet oder?

Die Leser antworten nicht, doch DER KNOPF spürt die heiße Klinge des Misstrauens in seinem Rücken. Ein einzelner Schweißtropfen rinnt seine Schläfe hinunter. Der Kampf hat begonnen.

DER FROHSINNIGE (die Hände ineinander gefaltet)
Nun. Warum denkt ihr Herren, es sei wichtig, über Kuchen zu diskutieren?

Eine Anwaltskanzlei. Hinter einem klobigen Schreibtisch sitzt ein Mann. Seine Schultern sind breit, seine Arme überraschend muskulös für einen Mann von seinem Alter. Doch seine überraschende Statur kann seine jämmerliche Haltung nicht verbergen. Vor ihm, auf einem quietschenden Hocker, die Hausfrau.
„Sie sind hier wegen einer Klage auf Rufschädigung?“
Die Hausfrau nickt. Sie hat viel von ihm gehört. Der beste Anwalt, den sie sich mit dem Gehalt ihres Mannes leisten kann. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass der gute Mann in keiner Weise mental anwesend ist. Vor einem Jahr ist er von seiner Frau verlassen worden und nun fühlt er jeden Tag die Beziehung zu seinen Kindern bröckeln wie die blätternden Wände seines Notfallappartements.
„Könnten sie mir die genauen Umstände der Anklage erneut schildern? Keine Sorge, das gehört zum Protokoll.“ Es gehört nicht zum Protokoll. Er hat sie einfach vergessen.
Seinen Sohn hat er bereits aufgegeben, der hat angefangen Männern im Internet beim Debattieren zuzusehen und streitet nun regelmäßig selbst mit Feministinnen über die höhere Sterbezahlen von Männern im Militär. Aber seine Tochter, seine Tochter kann er noch retten!
„Natürlich, natürlich.“ Er nickt. „Fahren sie fort.“
Die Hausfrau zieht ihre Augenbrauen zusammen, doch binnen weniger Sekunden ist die Verwirrung überwunden und sie schwingt sich in den nächsten Wortschwall. Irgendetwas über die Langzeitnebenwirkungen von Alternativen zu glutenhaltigem Mehl. Und ja, Kichererbsenmehl schmeckt wirklich scheußlich.
„Ich denke, dass ich Ihnen gut weiterhelfen kann. Keine Sorge, ich werde alles daransetzen, diesen Fall für sie zu gewinnen.“ Versichert er ihr.
Gedanklich sitzt er schon im nächsten Flieger nachhause. Er hatte geplant, seine Tochter mit Tickets für eine BTS-Welttournee zu überraschen. Nur ein Fall steht zwischen ihm, diesen sieben koreanischen Musikwundertüten und der Liebe seiner Tochter.
Was er nicht weiß, ist, dass die Herren gerade getrennt sind und keine Konzerte spielen. Seine Tochter wird die nächsten drei Jahre nicht mehr mit ihm reden.
„Danke, danke, von ganzem Herzen!“ Sie schüttelt seine Hand. Ein bisschen zu fest.
Das wird Flecken geben.
„Halten sie das nicht auch für unglaublich wichtig? Eine Frau wie mich verfolgen zu wollen, wegen einem kleinen Kommentar über Kuchen?“
„M-hm.“ Gerade in diesem Moment erkundigt er sich im Internet über mögliche Tickets.
„Ich sollte eigentlich an die Presse gehen. Mir meinen Mund verbieten zu wollen, weil ich ein paar Gefühle verletzt habe, unerhört, finden Sie nicht?“
„Mmmm-hm.“ Er klickt auf „Suche“ und…
„Verfluchte Scheiße!“ Schreit er und schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch. Die Hausfrau grinst ihn an, strahlt von einer freiheitsliebenden Backe zur anderen. „Es tut mir leid. Das war unprofessionell von mir.“
„Ach was, wenn Sie diese Energie in den Gerichtssaal bringen, dann ist es mir auch Recht.“ Sie blinzelt ihn mit großen Augen an.
„Seien Sie gewiss, ich werde Sie verteidigen.“ Er richtet seine Krawatte. „Und dass eine Frau wegen einer einfachen Kritik vor Gericht gezogen wird, ist unerhört. Wer die Grenzen der Meinungsfreiheit einhält, sollte auch nicht bestrafen. Alles andere öffnet Willkür der Tür.“
„Hah. Ja. Genau.“ Sie kichert. „Nur aus reinem Interesse… Was wären denn beispielsweise Grenzen?“
„Nun, wenn Sie sehr einfach anfangen wollen, wäre da Artikel 5, Absatz 2 des Grundgesetzes. Aber das muss ich Ihnen nicht erklären, das haben Sie ja sicherlich gelesen.“
„Das Grundgesetz ist meine liebste Bettlektüre.“ Sie knabbert an ihrer Unterlippe. „Aber es würde mir sehr viel bedeuten, mein Wissen von einem Profi bestätigt zu kriegen.“
Schon wieder lächelt sie und irgendwo in der hohlen kalten Brust des Mannes, dem Ort, an dem vor dem Staatsexamen 95 noch sein Herz geschlagen hat, wird es warm.
„Nun, wenn Sie darauf bestehen…Für Sie ist vermutlich das ‚Recht der persönlichen Ehre‘ relevant. Beleidigungen, Verleumdungen und dergleichen fallen nicht unter Meinungsfreiheit. Aber da Sie den Kuchen der Dame ja nur höflich kritisiert haben, dürften Sie keine Angst davor haben.“
„Ja. Natürlich nicht.“
Die Hausfrau verabschiedet sich von ihrem Anwalt und drückt ihm erneut die Hand. Dieses Mal ist ihre Berührung zart, fast wie eine Entschuldigung oder ein Streicheln.
Kaum hat sie die Tür der Kanzlei hinter sich geschlossen, fängt sie schon an zu denken. Und es ist meistens eine absolut grässliche Idee, nachzudenken. Es ist bereits in der Antike wissenschaftlich bewiesen worden, dass tiefes und zielgerichtetes Nachdenken noch nie zu guten Ergebnissen geführt hat, insbesondere, wenn Frauen des oberen Mittelstandes mit viel Freizeit es tun.
Doch meine Güte, wenn sich das gute Hannele erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wird sie es auch durchsetzen! Also greift sie nach ihrem Telefon und beginnt auf die Tasten einzuhämmern, zumindest würde sie das tun, wenn ihr Telefon noch Tasten hätte!
Ein Wind zieht auf, Blätter fegen durch die Luft, sein Reißen und ihr Rascheln hören sich an wie die Instrumente hinter einem Kriegszug. Es ist als würde die Welt selbst sich tosend hinter diese Frau und dem kuchenförmigen Hügel, auf dem sie sterben möchte, stellen und mit ihr schreien!
Oder es ist einfach April und das Wetter spielt mal wieder verrückt. Wer weiß.
Endlich schafft es die Hausfrau die richtige Zahlenkombination einzugeben. Ein eintöniges Klingeln und dann ein Klicken. Kurze Zeit später eine Stimme, die so tief und voller Schmalz ist, dass sämtliche Frauen einen Keuschheitsgürtel umgeschnallt bekommen, wenn sie diese nur hören. Nicht aber das Hannele.
„Ich denke, ich habe eine Geschichte, über die du unbedingt schreiben solltest.“, flüstert sie, „Oh ja. Es ist definitiv Walpurgisnacht.“

INNEN- IM LICHTKEGEL
Noch immer sitzen die drei Männer im Raum und diskutieren darüber, ob sie demnächst anfangen sollten, zu diskutieren. DER FROHSINNIGE blickt die Beiden wieder mit Welpenaugen an, während der KNO-

DER KNOPF (unterbrechend)
Die Frau ist wahnsinnig.

DIE MÄHNE
Tz-Tz-Tz. (schüttelt den Kopf) Also wirklich, Knöpfchen, was würde deine Jugendliebe zu dieser entfesselten Frauenfeindlichkeit sagen?

DER KNOPF
Sie würde mich unterstützen, da diese Wahnsinnige offensichtlich Rufmord gegen ihre Nachbarin betreibt.

DER FROHSINNIGE
Ich sehe nichts Falsches an ihrem Verhalten. Sie verteidigt lediglich ihr natürliches Recht, ihre Meinung frei zu äußern. Der Anwalt sollte ihr helfen. Eigentlich ist es eine Schande, dass sie überhaupt angeklagt werden konnte.

DER KNOPF
Reden als natürliches Recht?

DER FROHSINNIGE
Selbstverständlich. Betrachtet es doch so: Früher, gerade nachdem Prometheus uns das Feuer gegeben hatte, aber noch bevor in Mykene Mauern und Gräber gebaut worden waren, da aßen die Menschen. Vielleicht nicht Kuchen, aber definitiv Beeren.

DIE MÄHNE (in Gedanken versunken)
Was ist die beste Beere?

DER FROHSINNIGE Was, jedoch, wenn der Frieden der Gemeinschaft bedroht war? Wenn eine der Frauen den Häuptling ausschalten wollte und giftige Exemplare unter die Menge gemischt hätte?

DIE MÄHNE
Erdbeeren? Nein, das ist zu einfach…Heidelbeeren? Wem mache ich etwas vor, ich hasse Heidelbeeren? Bananen? Nein, jetzt möchte ich auffallen.

DER FROHSINNIGE
Diese Frau würde dann doch den Männern des Stammes davon erzählen, um den Häuptling und den Rest der Gruppe vor dieser Ausreißerin zu schützen. Und diese Männer würden dann wiederrum dafür sorgen, dass niemand sich mehr fürchten müsste und jeder seinen Verdacht äußern könnte. Und so war die Polizei geboren.

DIE MÄHNE
Waren nicht Sklavenfänger die ersten inoffiziellen Polizisten in den Vereinigten Staaten?

DER UNINFORMIERTE (aufgebracht)
Es waren die Beerenbeschützer!

DIE MÄHNE
Ach ja, ich vergesse ständig, dass du Amerikaner bist.

DER UNIFORMIERTE weint leise in sein Jersey.

DER KNOPF
Ich bin jedenfalls der Meinung, dass es der werten Frau guttun würde, verböte man ihr den Mund.

DIE MÄHNE
Du übertreibst. Die Frau hatte eine Meinung zum Kuchen ihrer neuen Nachbarin. Diese hat sie kundgetan und jetzt wird vor Gericht darüber debattiert werden. Wie ich das sehe, gibt es drei Optionen: Die Frau hat Unrecht, weswegen der werte Herr Anwalt ihren Irrtum schnell entlarven wird. Sie und alle, die davon hören, werden daraus lernen. Es könnte natürlich auch sein, dass die Dame Recht hatte, unwahrscheinlich, aber möglich. In diesem Fall würde die tatsächliche Wahrheit gesprochen, sowie das gängige Narrativ hinterfragt und angepasst werden. Sollte die Wahrheit jedoch zwischen beiden Positionen liegen, so ist es die Sache des Gerichtes, die Nuancen herauszuarbeiten.

DER KNOPF
Das hört sich so einfach an, wenn du es sagst.

DIE MÄHNE
Es ist auch einfach. Wir brauchen Hinterfragende, Herausforderer. Blicke doch einfach auf die Menschheitsgeschichte und sieh, wie viele schrecklichen Taten fälschlicherweise im Namen des Herrn begangen wurden. Es ist schädlich, den Worten eines jeden Pastors zu glauben, nur weil man denkt, er hätte Autorität. Das Schlimmste, was ein Staat tun kann, ist Diskurs einzuschränken und zu zensieren, denn diese Zensur ist es, die das selbstständige Denken und somit die Entwicklung der Menschheit einschränkt.

DER KNOPF
Wie oft haben wir diese verfluchte Debatte bereits geführt? Denkst du, ich habe deine Position immer noch nicht verstanden? Ich verstehe, sie, nein nicht nur das, ich lebe und atme sie sogar! Jede Zelle in meinem Körper möchte dir schreiend und jauchzend zustimmen, vor dir auf die Knie fallen und rufen: „Ja! Es ist wie du sagst und so soll es sein und so werden wir am besten leben und nur so wird sich die Menschheit zur kostbarsten, schönsten Blüte entwickeln, die Früchte tragen wird, so groß und plump und saftig, dass es einem Jeden den Speichel im Mund zusammentreiben wird!“

DIE MÄHNE
Aber du stimmst mir nicht zu.

DER KNOPF
Du siehst die Gefahren nicht.

DIE MÄHNE
Weil jede Gefahr, die aus Meinungsaustausch entsteht, durch dessen Ergebnisse ihre Bedeutung verliert.

DER KNOPF
So einfach ist es nicht. So einfach wird es nie sein. Und an guten Tagen werde ich dich deswegen idealistisch schimpfen, an Schlechten hingegen naiv. Du verschließt die Augen vor der Realität der Welt, der Welt wie sie jetzt ist, nicht wie sie vor hunderten Jahren war, als du noch Wein trinken und spüren konntest, wie das Sonnenlicht auf deiner nackten Haut kitzelte. Diese Zeiten sind vorbei und ich frage mich, wie sehr sie überhaupt dem Bild entsprechen, das du von ihnen hast.

DIE MÄHNE
Nein, du verstehst nicht. Vielleicht glaubst du, du würdest die Menschen vorm Sündenfall retten, doch du bist es, der sie durch deine Verschlossenheit in diese Tiefen stürzt.

DER KNOPF
Bitte, mein Freund. Sieh mich an. Sieh mich einmal richtig an. Atme tief durch und versuche, mich zu verstehen. Das bist nicht du. Einst warst du voller Neugierde, bereit den Menschen zuzuhören. Diese Verbissenheit, diese Kampflust, du musst sie nicht füttern. Sieh mich an. (DER KNOPF nimmt die Hand seines Freundes) Bitte, sieh mich an.

DIE MÄHNE entzieht dem Knopf seine Hand.

DER FROHSINNIGE
Nun, ich denke, dann einigen wir uns darauf, dass wir uneinig sind.

DER KNOPF legt seinen Kopf in seine Hände. Die Lampen verdunkeln sich, das Publikum raschelt mit dem Programm. Jemand trinkt einen Schluck Wasser. Das Licht geht aus und man hört ein Schluchzen. Doch es ist nicht stark, kaum präsent im Raum. Ein Echo, das ohnehin niemand mehr hört.

INNEN- DUNKELHEIT
Eine Lampe flackert und erhellt das Zentrum des Zimmers. Es riecht nach Öl und verbrannter Kohle. Um einen Tisch versammelt sitzen drei Männer, schweigend in Konversation vertieft. Eine Tür schließt sich. Der Mann, auf der re-

10-9-8-7-6-5-4-3-2-1-0…
Guten Abend, meine Damen und Herren, wir sind der fünfzehnte Kanal und begrüßen Sie mit den heutigen Nachrichten um Punkt achtzehn Uhr.
Der Rechtsstreit um Hanna P. geht in die letzte Runde. Die Influencerin, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen „Tradwife87“ wurde im vergangenen Jahr angeklagt, Rufschändung an ihrer Nachbarin, Dylan F., begangen zu haben. Frau P. hatte Frau F. in einem nun gelöschten Video beschuldigt, ihren Mann vergiftet mit einer Torte zu haben. Der Teig von Frau F.s Gebäck soll Erdnussbutter enthalten haben, wogegen Herr P. allergisch war.
Wir freuen uns, Frau F. heute bei uns im Studio begrüßen zu können, wo sie sich zu ihrer Klage äußern wird.
Die Nachrichtensprecherin dreht sich zur Seite. Ihr Lächeln ist so gebügelt und faltenlos wie ihr Jackett. Ihr gegenüber sitzt eine junge Frau, zitternd, an ihrer Unterlippe knabbernd und definitiv hier entgegen der Anweisungen ihres Anwalts.
„Nun, Frau F., ich darf Sie doch Dylan nennen oder?“ Sie wartet nicht auf die Antwort. „Wir sind uns bewusst, dass Sie nur sehr wenige über den Prozess selbst sagen können. Frau P. beschuldigt Sie der Vergiftung ihres Mannes durch eine Torte-“
„Es war ein Kuchen. Ein Apfelkuchen. Und der Teig hatte keine Erdnussbutter darin.“ Korrigiert sie.
Die Nachrichtensprecherin hebt eine einzelne Augenbraue. Nun, sie versucht es zumindest.
„Aber die Torte hatte mehrere Schichten, nicht wahr?“ fragt sie.
„Ja, aber… Entschuldigung, aber ist das wichtig?“ fragt Dylan zurück.
Sie lächelt. Schon wieder dieses kalte, unehrliche Grinsen.
„Nun, ich war einfach verwirrt.“ Sie lacht leicht. „Kuchen, Torten, man weiß heutzutage ja nie, woran man ist. Soll das dieses umweltfreundlichere Backen sein, von dem man heute so viel liest? Und ist eine solche Backform überhaupt vom Ministerium von Backwaren und Törtchenkunst zugelassen?“
In diesem Moment fragt sich Dylan das erste Mal, warum sie diesen Termin überhaupt wahrgenommen hat. Doch es ist zu spät. Sie ist bereits in die Falle getappt.
„Es gibt keine Regeln gegen das Backen von zweistöckigen Kuchen, nein. Tatsächlich experimentiere Konditoreien seit Jahren mit dem Konzept.“; sie lächelt, „Ich kann Ihnen versichern, sie sind sehr lecker und überhaupt nicht gefährlich.“
„Es sei denn natürlich, man verseht den Teig mit Stoffen, gegen die der Konsument allergisch ist.“
„Der Kuchen hatte keine Erdnüsse. Nicht einmal Spurenelemente, darauf habe ich genau geachtet. Ihr Mann hat vor Gericht nicht einmal beweisen können, dass er gegen Erdnüsse allergisch ist.“ Sie kämpft mit den Tränen. „Hanna lügt. Seit einem Jahr nutzt sie ihre Plattform, um Menschen gegen mich aufzuhetzen. Ich kann nicht einmal mehr aus dem Haus gehen, ohne schief angesehen zu werden. Jeden Tag hagelt es Hasskommentare. Wissen sie, wie oft ich in diesem Jahr umgezogen bin, weil jemand meine Adresse ins Netz gestellt hat?“
„Das ist natürlich grauenvoll. Niemand sollte seine Adresse gegen seinen Willen an die Öffentlichkeit gebracht kriegen.“ Die Nachrichtensprecherin legt den Kopf schief. „Aber können wir sagen, dass sie wirklich nur Hasskommentare gekriegt haben? Sicherlich waren auch besorgte Bürger darunter, die valide Probleme mit ihren Ideen von Kuchen haben.“
Dylan blinzelt. Ihr Anwalt hatte Recht. Sie hätte dieses Interview nicht geben sollen.
Ihre Hände fangen an zu schwitzen. Ihr Auge zuckt. Warum fühlen sich ihre Lippen gerade so trocken an? Lass es dir nicht anmerken. Nichts anmerken lassen. Auf keinen Fall. Konzentrier dich, konzentrier dich, konzentrier dich.
„Brauchen sie ein Taschentuch? Sie haben etwas Schweiß auf der Stirn.“
Verflucht.
Dylan nickt, doch niemand bringt ihr wirklich ein Tuch. Tatsächlich scheint das Licht der Studiolampen nur noch greller und heißer zu werden. Wie ein Hähnchen auf dem Drehspieß, genau so fühlt sie sich gerade.
„Ist es wirklich Frau Ps Schuld, dass sie Angst davor hatte, dem Körper ihres Mannes, ein ungetestetes und neues Produkt auszusetzen?“
„Das ist doch nicht wichtig. Sie hat kein festes Standbein, das ist jedem klar. Man wird sie schuldigsprechen.“ Ein letzter Angriffsversuch. „Es gibt Regeln, wie wir
miteinander umgehen sollen. Und das ist doch gut so. Es ist gut, dass man nicht lügen darf, um sein eigenes Produkt besser zu verkaufen. Es ist gut, dass man vor Gericht die Wahrheit sprechen muss. Und es ist gut, dass man normalerweise nicht den Attacken einer übergriffigen Nachbarin und ihrer Meute an geisteskranken Fans ausgesetzt ist, weil sie über einen Kuchen gelogen hat!“
„Geisteskrank? Das ist schon etwas ableistisch von ihnen, finden Sie nicht?“
Dylan legt den Kopf in die Hände. Es hat keinen Zweck. Sie kann diese Frau nicht überzeugen. Sie will gar nicht überzeugt werden.
„Sie sollten sich vielleicht an die eigene Nase fassen. Ist es wirklich produktiv, eine gesamte Gruppe als geisteskrank zu bezeichnen, nur weil sie Dinge sagt, die Ihnen nicht passen? Wo würden wir als Land hinkommen, wenn wir Worte verbieten würden, weil sie Ihre Gefühle verletzen? Doppeldenk? Ich denke wir sollten wirklich darüber nachdenken, wer hier der wahre Extremist ist, die Frau, die nur ihre Meinung sprechen wollte oder die Person, welche diese Meinung verbieten will. Ich meine, ist es nicht auch so, dass wir…“
Die Stimme der Nachrichtensprecherin verblasst. Eine plötzliche Kälte zieht in Dylans Knochen hinein und sie weiß, dass sie nie wieder sicher sein wird. Sie werden sie immer wieder verfolgen. Sie werden sie immer wieder finden.
Die Frau hebt ihren Kopf und blickt auf ein Gruppe Männer, die weit, weit entfernt von ihr, in einem abgedunkelten Raum sitzen. Nur der Mann im Zentrum scheint sie wirklich zu sehen. Sein Mund ist nach unten gezogen, er ist in sich zusammengefallen, ein Ausdruck der Traurigkeit, der seine Augen jedoch nicht erreicht.
Da ist nichts mehr in ihm. Nur zwei ausdruckslose Knopfaugen, die darum betteln, mit ihr sprechen zu können. Und plötzlich wird die Stimme der Nachrichtensprecherin wieder lauter.