Meinungsfreiheit. Das Wort ist groß und unförmig in meinem Mund, wie eine mehlige Kartoffel, die beim kauen immer mehr wird. Es schmeckt unglaublich ernsthaft, nach demokratischer Pflichterfüllung, ein bisschen bitter und ein bisschen angebrannt. Finde ich jedenfalls.
Kognitiv weiß ich natürlich, wie absolut unverzichtbar eine Freiheit dessen ist, was Menschen laut aus-zusprechen, zu fragen und, wenn nötig, auch anzuklagen erlaubt wird, wenn so etwas wie Frieden, oder Gerechtigkeit oder Gleichberechtigung möglich sein soll. Und doch bleibt er da, dieser fade Geschmack. Ich kann das Gefühl der Ermüdung nicht unterdrücken, wenn ich das Wort höre als schwänge darin ein penetrant dröhnendes Echo jedes einzelnen „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen”s mit, das jemals in einem deutschen Bierzelt angesäuert ausgerülpst wurde als Reaktion auf die vorsichtige Bitte, das N-Wort lieber nicht mehr zu verwenden. Wenn ich an Meinungsfreiheit denke, denke ich auch an Abtreibungsgegnerinnen und an Männer, die in endlosen Kommentarspalten darüber referieren, warum die im Post geschilderte Missbrauchserfahrung doch irgendwie auch Schuld des Opfers sei und an Menschen, die eine merkwürdige Berufung darin sehen, aller Welt zu verkünden, warum Homosexualität ihrer Ansicht nach eine schreckliche Unnatürlichkeit sei. Ich kann das nicht abstellen und trotz aller Begeisterung für Demokratie und Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ist er einfach da, dieser kleine, egoistische Wunschtraum, es statt mit Meinungsfreiheit doch lieber mal mit Meinungs-Freiheit (im Sinne von: WENIGER MEINUNG!) zu probieren.
Aus irgendeinem Grund tue ich mich mit dem Wort Freiheit – die Meinung also einmal außenvorgelassen – viel leichter. Es klingt nach Weite in einem räumlichen Sinn, nach einem freundlichen Wind, der in den Haaren raschelt, nach dem Knistern eines Lagerfeuers unter Sternen und Töpfeklappern in einer fremden Küche voller Gerüche wie aus einem Märchenbuch, nach dem Lachen von Menschen, die vielleicht meine Freunde werden, das durch die Gassen einer Stadt weht, die es noch zu entdecken gilt.
Ist es nicht verwunderlich, dass der Klang von Freiheit mir so leicht und klar und fröhlich durch die Gedanken weht, während mir die Meinungsfreiheit, die doch eigentlich nur ein Teil dessen sein sollte, wie ein blechernes Meckern in den Ohren liegt? Was ist los, mit dieser Meinung, dass es mir offenbar so schwerfällt, sie freizulassen? Und überhaupt: wer soll das eigentlich sein, eine Meinung?
Der Duden sagt: „persönliche Ansicht, Überzeugung, Einstellung o. Ä., die jemand in Bezug auf jemanden, etwas hat“. Persönlich also, ich finde, das trifft es ziemlich gut. Die Meinung als eine Persönlichkeit. Mit einer Geschichte und einem Stil und Ängsten und Träumen und was eben sonst noch dazugehört, zu einer Person.
Meinungsfreiheit, wie ich sie bisher verstanden hatte, war eine Freiheit von den anderen. Das Recht, einen Gedanken auch zu denken – oder zu sagen, zu singen, zu schreiben, notfalls zu schreien – wenn andere ihn nicht teilen. Frei von dem, was ein Teil (vielleicht sogar der größte Teil) unserer Gemeinschaft meint, etwas eigenes, unverletzlich ausdrücken zu dürfen. Genau dort liegt dann wohl der Fehler. Denn Meinung ist nicht unverletzlich. So wichtig und gut und wundervoll es auch ist, dass sie, zumindest in einem weiten Rahmen des für alle Erträglichen, in einer Demokratie dazu erklärt wird, so ist es doch irgendwie nicht ganz treffend. Meinungen spiegeln Überzeugungen, Werte, Ideale, das, was Menschen meinen, wenn sie über ihre eigene, höchstpersönliche Interpretation dessen sprechen, was gut, richtig und wertvoll ist. Und wo es persönlich wird, sind wir nun einmal verletzlich.
Deshalb trifft es mich so, wenn eine Schaar aufgeregter alter weißer Menschen im Fernsehen darüber schwadronieren, warum Rassismus ihrer Ansicht nach überbewertet und sei und sie selbst es schließlich auch nicht immer leicht hätten; wenn SUV-Fahrerinnen über „die Jugend von heute mit ihren unrealistisch-dreisten Vorstellungen“ schimpfen, während sie einen Fahrradweg in der Innenstadt zuparken und wenn mein Nachbar von gegenüber mir mit verschwörerischer Mine mitteilt, er fände es gar nicht so schlecht, dass die Hausverwaltung keine Wohnungsinteressierten mit arabischen Namen mehr einlade. Deshalb wünsche ich mir manchmal Meinungs-Freiheit, eine meinungsbefreite, stille Welt, in der die Leute sich einfach in Ruhe lassen, sich nichts weißmachen wollen, nichts mansplainen, niemanden zu überreden versuchen, sondern einfach nur leise sind. Andersherum geht es denen, an die ich hier denke, vielleicht genauso. Wer sein Talent, Witze darzubieten, in denen Frauen blöd dastehen und seine Leidenschaft für Bratwürste als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität betrachtet, empfindet die Forderung nach gendergerechter Sprache und zweimal pro Woche einem vegetarischen Tag in der Kantine womöglich tatsächlich als persönliche Kränkung. Wobei ich mein Recht, bei Bedarf eine freundliche, wohlgemeinte Petition für die Vegetarisierung des Kantinenspeiseplans zu starten, natürlich auch in meiner meinungs-freien, leisen Traumwelt ungern hergeben würde.
Und ja, ich sehe die Unwucht, die sich in meine schöne Idee da eingerüttelt hat.
Eine Meinung sei eine persönliche Ansicht, sagt der Duden. Es geht also um das, was gesehen wird und um die Person, die sieht.
Ich stelle sie mir vor, diese Meinung, eine kleine runzelige Gestalt, die an ihrem wachstuchbedeckten Küchentisch sitzt, Mettbrötchen schnabuliert, im Hintergrund baumelt eine dieser Fliegenfangspiralen von der Decke und alles, was die Meinung je gesehen hat, ist diese Küche, mit einem Kühlschrank voller Mett und Gürkchen und einem alten Röhrenfernseher, der in der Ecke steht und in alarmierenden Bildern präsentiert, was es über die Welt zu wissen gibt: Panzer auf einem Zug und kaputte Panzer auf einem Feld; Zu viele Menschen, die in Italien gestrandet sind, zu wenige von ihnen, die noch leben und Frau Meloni, die etwas empörtes dazu zu sagen hat; Ein Verkehrsunfall und irgendwas mit Rettungsgasse, Heidi Klums Frühstück; Weichspülerwerbung; ein Erdbeben; ein Nachbeben; Die neuen Let´s Dance Kandidaten. Wenn die Meinung ihren Kopf ein wenig dreht, sieht sie das Fenster und dadurch einen vorsichtigen kleinen Ausschnitt des Draußen, der zwischen den Gardinen hervorblinkt und schon dabei höchstbedrohlich wirkt. Die Meinung sieht nur selten und auch dann nur widerwillig dorthin, denn da draußen –allein das Wort ist für die Meinung ungeheuerlich, ihre Stirn legt sich dramatisch in Falten, die Stimme wird zu einem mysteriösen Raunen gesenkt – da draußen gibt es noch andere. Allein die Vorstellung ist ein Schock für die Meinung. Schließlich kennt sie nur ihre Küche, sie KANN überhaupt nur Küche. Nicht auszumalen, in welch einer Todesgefahr die Begegnung mit etwas anderem – mit einer anderen Meinung oder gar: mit der Welt – enden würde.
Und meine Meinung? Kennt sie natürlich auch, diese Küche, vielleicht ohne Wachstuch und eher mit Käsesemmel, aber doch Küche, in der sie lange und behaglich saß und immer noch lieber sitzt, als sie sich selbst eingesteht. Hat mutiger und mit mehr Neugier aus dem Fenster geschaut, sich über das misstrauische Äugen der Dame von vis-a-vis gewundert und sogar schon einige Schritte nach draußen gewagt. Fühlt sich gern ein bisschen überlegen deswegen, gibt das aber nicht zu. Ist meistens freundlich, fragt gern, erlebt gern, ist auf ihre Weise trotzdem fürchterlich verklemmt.
Wenn ich sie so ansehe, tun sie mir ein wenig leid, diese beiden, und alle anderen Meinungen, die verschreckt hinter ihren Fenstern hocken oder sich wackelig über die Gehwege tasten. Ihr seid doch frei, möchte ich ihnen sagen. Freiheit, Baby! Das ist Wind in den Haaren und Lagerfeuer unter Sternen, fremde Küchen mit Gerüchen wie aus einem Märchenbuch und Lachen! So viel Lachen und so viele Geschichten von Menschen, die vielleicht eure Freunde werden, die so vieles durch ihre Fenster gesehen haben und die ganz bestimmt wissen, wie es ist, sich vor dem Draußen zu fürchten, bevor man es kennengelernt hat.
So gesehen wäre Meinungsfreiheit nicht nur das Recht, am eigenen Esstisch sitzen zu bleiben (denn auch das ist natürlich möglich), am Fenster zu verharren, mit einem ganz kleinen Ausschnitt der Welt,
den man dann für immer und ewig meinen muss, wenn man über sie redet – sondern vor allem die Chance, nach draußen zu gehen, den Blick zu erweitern und frei zu sein.
Meinungsfreiheit wäre nicht nur das Recht, zu denken und sagen und zu singen und notfalls zu schreien, was man meint und schon immer gemeint hat. Es wäre auch die Freiheit, seine Meinung zu ändern. Sich selbst zu ändern. Und daran zu glauben, dass auch andere das können.
So gesehen wird mir mein Wunsch nach einem meinungs-freien Raum auf einmal obsolet. Er würde ja nur bedeuten, in einer einsamen Küche eingesperrt zu sein, jeder in seiner eigenen und so gern ich auch in meiner sitze, Käffchen schlürfe und vor mich hindenke, es wäre doch kümmerlich im Vergleich zu dem, was möglich ist: Freiheit, Baby! Und so gedacht, als unsicheres kleines Figürchen, das beißt und knurrt Zähne fletscht, weil es vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben woanders ist als am eigenen Tisch und von allem, was nicht nach Mett und Gurke riecht, nur erschrocken sein kann, verliert mir selbst die bissigste Meinung ein wenig von ihrer Bedrohlichkeit.
Sicher, ich muss das noch üben: Meine Meinung freizulassen, ihr zuzutrauen, ihren Weg zu finden – über die Schotterhügel aus white fragility und ungecheckten Privilegien zu klettern und von oben eine klarere Sicht zu haben. Den Flüsterstimmen, die an den Straßenecken verdrehte Fakten und nur scheinbar Einfaches wie gebrannte Mandeln verkaufen nicht zu viel Beachtung zu schenken, sie nicht zu übersehen und doch nicht in ihren zuckerklebrigen Wimpelketten hängen zu bleiben. Auszuhalten, dass ich mit meiner Meinung ins Straucheln gerate, stolpern und Fehltritte inklusive, dass ich mich hinter jeder neuen Ecke, um die ich spähe, wieder orientieren muss. Hinzunehmen, dass einige doch hinter den Fensterscheiben bleiben, oder in eine ganz andere Richtung steuern, auszuloten, wie weit ich bereit bin, ihnen zu folgen, um vielleicht doch einen gemeinsamen Weg zu finden. Milde zu sein, wenn einige Meinungen einfach nicht zu begreifen scheinen, so wie andere milde sind, wenn ich nur langsam verstehe. Und auch entscheiden lernen, wie viel Milde erträglich ist, an welchem Punkt das Nicht-Verstehen als Nicht-Verstehenwollen enttarnt und es nötig ist, sich zu trennen.
Ich stell mir vor, wie nett das von oben aussehen würde. Die Welt: ein Labyrinth von Wegen und Kreuzungen und aus den verschiedensten Winkeln heraus Meinungen im Wandel, die ihren Standpunkt verlassen und unerschrocken frei sind, die sich annähern und kreuzen, vielleicht anfreunden oder vielleicht streiten und sich ein wenig besser verstehen, weil sie sehen, wo die andere herkommt.
Also doch Meinungsfreiheit, statt Meinungs-Freiheit. Ich schmunzle über mich und darüber, wie schnell ich mich mit dieser neuen Utopie angefreundet habe. Mir gefallen die wandelnden Meinungen besser als die einsamen hinter ihren Gardinen. Vielleicht wird es ja irgendwann so – ich meine: warum nicht?