Im Fadenkreuz

von Lea Hartmanns

Sie standen vor ihrem Haus, wie viele es waren, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, dafür war es bereits zu dunkel. Dagegen hob sich das gelbe Licht der Fackeln umso heller von der Dunkelheit ab. Die Schatten standen dicht aneinandergedrängt, blieben jedoch vollkommen stumm. Das Weiß ihrer Gesichter dem Haus zugewandt. Die meisten von ihnen hatten die Kapuze über ihren Kopf gezogen. Andere zeigten mutwillig ihr Gesicht. Das Licht der Fackeln tanzte auf den kahlen Schädeln.

Haut ab!, wollte sie ihnen am liebsten zuschreien. Lasst uns in Ruhe! Wir haben euch nichts getan! Doch sie traute sich nicht einmal, näher an das Fenster zu treten. Mit zitternden Händen wählte sie die Nummer von Amir.

Wo bist du?!, dachte sie voller Verzweiflung, als er auch nach mehrfachem Klingeln nicht an sein Handy ging und sie nur die Mailbox erreichte. In ihrem Magen bildete sich ein Knoten. Ihr Puls schnellte nach oben. War Amir etwas zugestoßen? Er wollte doch schon längst wieder zuhause sein.

Sie presste die Hand vor den Mund, ihr war übel. Erneut rief sie ihn an. 
Geh ran, bitte geh ran! Er durfte jetzt auf gar keinen Fall nach Hause kommen.

Er würde ihnen geradewegs in die Arme laufen und was dann passieren würde, wollte sie sich nicht vorstellen…  
Sie durfte jetzt nicht die Selbstbeherrschung verlieren, musste einen kühlen Kopf bewahren. Doch sie merkte, wie mit jeder weiteren Sekunde ihre Angst stieg und ihr die Kontrolle über ihren Körper entglitt. Ihre Hand bebte, sie hatte das Handy so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Hatten sie ihn
womöglich schon erwischt? Lag er dort unten blutend am Straßenrand?

Sie musste die Polizei rufen, bevor es zu spät war!
In diesem Moment leuchtete das Display ihres Handys auf.

Wir wollen Taten sehen, stand dort. Ihre Beine gaben nach. Sie sackte auf den Boden und klammerte sich mit einer Hand an der Lehne des Sofas fest. Die andere Hand presste sie fest auf den Mund, um die Übelkeit zu bekämpfen. Der Boden unter ihr schien zu schwanken.

 

Wie hatte es nur so weit kommen können? Vor einigen Wochen noch war ihr Leben nahezu perfekt gewesen. Jetzt stand sie kurz vor dem Abgrund. Was würde sie dafür geben, noch einmal diesen Moment der Hoffnung, der Vorfreude und der Leichtigkeit spüren zu können. Diesen Moment, in dem noch alles möglich schien, sie noch vollkommen unbeschwert war. Jetzt lag eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern. Sie wünschte, sie könnte noch einmal anders entscheiden. Wären sie und Amir doch nie hierhergezogen.

Gerade erst hatte sie das Studium der Politikwissenschaften abgeschlossen. Ihr Professor hatte sie im Anschluss von einer Promotion überzeugt. Während sie promovierte schloss Amir sein Ingenieursstudium an der TU Dresden ab.

In dieser Zeit wohnten sie zusammen in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss eines Dreiparteienhauses. Ihr Freund arbeitete halbtags in einem Unternehmen für die Herstellung von Windkraftanlagen und es bestanden gute Chancen, dass er nach seinem Master dort übernommen werden würde.

Dann war plötzlich ihre Tante gestorben. Sie hatte ihrer Familie gegenüber verheimlicht, dass sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war. Zu ihrer großen Überraschung erfuhr sie, dass ihre Tante ihr das Haus vermacht hatte.

Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Nach einigem Überlegen waren sie und Amir zurück in ihre kleine Heimatstadt gezogen. Amir fand die Idee großartig, dass ihre Kinder später nicht zwischen grauem Beton aufwachsen würden, sondern frische Luft atmen und draußen im Wald spielen konnten.

Sie wiederum erinnerte sich gerne an ihre Kindheit. Damals hatte sie im gleichen Ortsteil wie ihre Tante gewohnt. Zudem pflegte sie noch Kontakt zu Freunden von früher, die weiterhin dort lebten. Es war ihr daher wie Schicksal vorgekommen, als sie von den Wahlen erfuhr. Demnächst würde über die Besetzung des Kreistages entschieden werden. Die Kreisräte wurden für die Dauern von fünf Jahren, direkt von den Bürgern des Landkreises gewählt. Nun hatte sie die Chance, all ihr theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen. Sie brannte vor Energie und Ideen und wollte sich für ihren Heimatkreis einsetzen.

Ihre anfängliche Begeisterung begann jedoch zu wanken, als sie erfuhr, dass sich in der Gegend hauptsächlich ältere Männer um einen Sitz im Kreistag bewarben.

In der letzten Wahlperiode hatte nur eine Frau kandidiert – und diese war zu dem Zeitpunkt bereits über sechzig gewesen. Amir hatte sie jedoch in ihrem Vorhaben bestärkt. Er war von Anfang an von der Idee begeistert.

„Es wird Zeit, dass auch die junge Generation eine Stimme bekommt. Außerdem hast du einen Doktor in Politikwissenschaften! Wer, wenn nicht du, ist für diesen Posten wie geschaffen?“. Sie hatte ihre Kandidatur bekannt gegeben.

Gleichzeitig wusste sie, dass noch eine ganze Menge Arbeit vor ihr stand. Einige der Ortsansässigen kannte sie noch aus ihrer Jugendzeit, auf ihre Stimmen konnte sie daher mit großer Wahrscheinlichkeit zählen. Als parteilose Kandidatin benötigte sie jedoch zunächst Unterschriften von Wahlberechtigten des Kreises, die ihre Kandidatur unterstützen. Zudem musste sie den gesamten Wahlkampf selbst organisieren und finanzieren.

Zu ihrer eigenen Überraschung zahlte sich die Arbeit aus. Umfragen der lokalen Zeitungen zufolge hatte sie gute Chancen gewählt zu werden. Ihr geringes Alter – welches sie zunächst als Nachteil empfunden hatte – verschaffte ihr in Wahrheit einen Vorteil. Anders als die älteren Kandidaten war sie mit Social Media aufgewachsen. Sie konnte daher Plattformen wie Instagram und Facebook in geschickter Weise in ihren Wahlkampf einbinden. Während sie mit vielen der Stammwählern auf Marktplätzen und an Ständen ins Gespräch kam, nutzten vor allem die jungen Erstwähler das Internet als Informationsplattform. Sie baute auf die Unterstützung der jungen Wählerinnen und Wähler. Abends arbeitete sie daher für gewöhnlich von ihrem Laptop aus an ihrem Profil. 

Öffentlichkeitsarbeit war im Wahlkampf besonders wichtig. Jeder konnte ihr folgen. Sie musste für eine möglichst große Anzahl an Personen erreichbar sein. Ihr Ziel war es, die potenziellen Wähler an ihrem Leben weitestgehend teilhaben zu lassen und möglichst transparent zu sein. Sie wollte zeigen, wofür sie stand und wofür sie sich einsetzte. Daher postete sie ein Bild von sich auf einer Demo gegen rechts und fügte dazu einen Link zu einem Zeitungsartikel ein, in dem sie zu ihrer Kandidatur interviewt worden war.

Mit einem Lächeln las sie anschließend einen alten Beitrag, den sie auf Instagram gepostet hatte. Es handelte sich dabei um eine Stellungnahme von ihr in der lokalen Zeitung, in der sie sich zu den Herausforderungen der heutigen Zeit und der Entscheidung von Angela Merkel, im Jahr 2015 hunderttausende Flüchtlinge über die Grenzen nach Deutschland einreisen zu lassen, äußerte. Sie hatte nicht nur alles in einem schönen Licht darstellen wollen, sondern sich auch ernsthaft mit den Herausforderungen von Integration und vor allem der Kritik in der Gesellschaft an der aktuellen Migrationspolitik auseinandergesetzt. Sie hatte gezeigt, dass sich noch vieles ändern müsste, aber dass Immigration und kulturelle Vielfalt eine Chance waren und nicht eine Krise, die es zu bewältigen galt. 

Ihr Ziel war es, Optimismus zu verbreiten und gleichzeitig nicht die gegenwärtigen Probleme zu leugnen. Ihr war bewusst, dass die Gesellschaft gespalten und immer mehr Menschen für rechte Botschaften empfänglich waren. Sie wollte die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen und sie nicht gleich in die rechte Ecke stellen, wenn sie Zweifel äußerten. Ihrer Ansicht nach war die fehlende Kommunikation, der fehlende Diskurs zwischen links und rechts eines der Hauptgründe, weshalb sich die Gesellschaft immer mehr entzweite. Wo es keinen Dialog mehr gab, konnte auch keine gemeinsame Lösung gefunden werden. 

Sie las den Artikel zu Ende und schaute sich anschließend die Kommentierungen an.

Endlich eine Frau, die kandidiert!, hatte eine Userin geschrieben.

Ich stimme nicht mit allem überein, was sie sagt, schrieb ein anderer. Aber im Großen und Ganzen hat sie mich überzeugt. Werde ihr meine Stimme geben.

Der nächste Kommentar ließ sie zusammenzucken. Dieser kleinen Hure sollte man das Maul stopfen! Ekelhaft. Wenn es nach ihr ginge, leben hier bald mehr Flüchtlinge als Deutsche. Merkel 2.0. sag ich nur.

Obwohl sie mit solcher Kritik gerechnet hatte, verletzte es sie dennoch. Zudem stellte sie erschrocken fest, dass weitaus mehr Personen dieselbe Meinung vertraten. Dort, wo die User Kritik äußerten, aber ansonsten sachlich blieben, verfasste sie eine Antwort. Den Dialog zu suchen, war schließlich ihr oberstes Ziel. 

Den ganzen Abend saß sie dort, las und beantwortete Kommentare, bis Amir ihr einen Kuss auf die Wange drückte und „Schlafenszeit“ in ihr Ohr flüsterte. „Genug gearbeitet“, sagte er, woraufhin sie den Laptop zugeklappte.

Als sie an dem Abend ins Bett gegangen war, hatte sie nicht ahnen können, was sie am nächsten Tag erwartete.

Noch am Frühstückstisch war ein wahrer Shitstorm über sie hereingebrochen. Die Flut der Nachrichten nahm keinen Abbruch. Eine hasserfüllte Nachricht folgte der anderen. Gegen Mittag hatte jemand ihre E-Mail-Adresse entdeckt und veröffentlicht. Ihr Postfach zeigte zu dem Zeitpunkt bereits 103 neue E-Mails an.

Der Appetit war ihr längst vergangen. Den ganzen Tag verbrachte sie damit, Nutzer zu melden und auf den Social Media Kanälen zu blockieren. Gegen Abend war sie den Tränen nahe.

„Schalt es ab“, sagte Amir. „Am besten, du stellst dein Profil auf privat.“

„Aber wie soll ich dann weiterhin die Wählerinnen und Wähler erreichen?“, entgegnete sie. Sie beschloss, fürs Erste das Handy ausgeschaltet zu lassen und zunächst einmal abzuwarten.

Am nächsten Tag versuchte sie, sich von dem Schock zu erholen. Es war Sonntag und sie verbrachte den Vormittag damit, die Fenster zu putzen und die alte Abstellkammer zu entrümpeln. Amir ging seine übliche Runde laufen und abends machten sie es sich auf dem Sofa gemütlich. Amir legte den Arm um sie und ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Ihr Handy blieb weiterhin ausgeschaltet. Mit halb geschlossenen Lidern verfolgte sie die Bilder auf dem flimmernden Bildschirm und versuchte, sich zu entspannen. Dann leuchtete Amirs Handydisplay auf.

Sie bemerkte, wie er das Handy leicht zur Seite drehte, damit sie die Nachricht nicht lesen konnte. Gleichzeitig schien sich sein Körper kaum merklich anzuspannen. Sie hatte es befürchtet. Auch ihn hatten sie ins Visier genommen.

„Zeig sie mir“, sagte sie leise. Widerwillig reichte er ihr sein Handy, damit sie die Nachrichten lesen konnte. Eine schlimmer als die andere.

„Schau mal“, sagte er, in einem Versuch, sie aufzumuntern. „Die können noch nicht einmal Klein- von Großschreibung unterscheiden. Und hier!“, Amir lachte und zeigte auf die Nachricht. „Hurenson ohne H!“

Sie konnte nicht mitlachen. „Mir macht das Angst“, sagte sie schließlich und seine Miene wurde schlagartig wieder ernst.

„Das sind Idioten, lass dich von denen nicht beeindrucken. Die haben einfach nichts Besseres zu tun, als im Netz schlechte Stimmung zu verbreiten. Die wollen sich selbst groß machen, indem sie andere klein machen.“

Doch seine Worte halfen nicht. In der folgenden Nacht träumte sie unruhig.

Um drei Uhr nachts schreckte sie hoch. Ihr T-Shirt war ganz verschwitzt und die Haare klebten ihr seitlich an der Stirn. Anschließend dauerte es Stunden, bis sie wieder in den Schlaf fand.

Als sie nach vier Tagen ihre Social Media Accounts erneut geöffnet hatte, war ihr klar geworden, dass Hassnachrichten jetzt einen Teil ihres alltäglichen Lebens ausmachen würden. Es machte sie wütend, doch gegen die Flut an Nachrichten hatte sie keine Chance. Sie zu ignorieren, war die einzige Möglichkeit.

Sie versuchte, sich abzulenken und nahm den Kontakt zu alten Freunden aus ihrer Schulzeit wieder auf. Susanne, die damals mit ihr in eine Klasse gegangen war, zeigte sich erfreut, nach so langer Zeit wieder von ihr zu hören.

„Lad sie doch zu einem Abendessen bei uns ein“, schlug Amir vor. Susanne war von dem Vorschlag begeistert und versprach am darauffolgenden Freitag zusammen mit ihrem Freund vorbeizukommen. Amir, mit dem Kochtalent seiner Mutter ausgestattet, beschloss, eine Vielzahl an türkischen Spezialitäten zu servieren. Es sollte Köfte mit Bulgursalat, Lahmacun und Sigara böreği geben. Und zum Nachtisch ihr persönliches Highlight: Baklava.

Um 19.00 Uhr, pünktlich auf die Minute, klingelte es an der Haustür. Susanne hatte sich kein bisschen verändert, stellte sie erleichtert fest. Sie war immer noch herzlich und lachte viel. Ihr Freund Timo war ihr ebenfalls auf Anhieb sympathisch. Es gab keine unangenehmen Gesprächspausen und es versprach ein guter Abend zu werden. Gemeinsam mit Amir trug sie die dampfenden Speisen in das Wohnzimmer, als es plötzlich erneut klingelte.

Obwohl sie nicht ahnen konnte, was sie erwartete, hatte sie bereits zu diesem Zeitpunkt ein ungutes Gefühl gehabt. Vorsichtshalber spähte sie daher zuerst durch den Spion, bevor sie die Tür öffnete. Draußen war es dunkel, weit und breit keine Person zu sehen. Obwohl ihr dabei mulmig war, rief sie in die Dunkelheit hinein: „Hallo, ist da jemand?“

Sie erhielt keine Antwort und wollte gerade die Tür schließen, als ihr Blick auf einen hellen Gegenstand am Boden fiel. Auf ihrer Türschwelle lag ein Brief. Ein Absender war nicht zu erkennen. Auch ein Poststempel fehlte. Einzig und allein ihr Name stand auf dem Brief. Sie zögerte kurz, dann öffnete sie ihn.

Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Hände zitterten. Kalte Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Die drei schauten ihr erwartungsvoll entgegen, auf den Tellern dampfte das heiße Essen.

„Ich, ähm …“, sie räusperte sich und versuchte, ihre zittrige Stimme unter Kontrolle zu bekommen. „Ich würde gerne einmal kurz mit Amir sprechen“, sagte sie und versuchte ihm mit Blicken zu vermitteln, dass es ernst war. Unter keinen Umständen wollte sie ihren Gästen Angst einjagen, schließlich trafen sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie versuchte zu lächeln, doch ihr Gesicht war wie versteinert. Amir folgte ihr in die Küche. Wortlos reichte sie ihm den Umschlag.

„Das geht zu weit, wir informieren sofort die Polizei“, war seine erste Reaktion.

Sie konnte nur nicken und starrte hinunter auf das weiße Papier. Man hatte ihr eine Todesanzeige zukommen lassen. Nicht irgendeine, sondern ihre eigene.

Dazu hatten die Täter ein Bild von ihr geheftet, auf dem ein Fadenkreuz auf ihre Stirn gemalt war. Tränen schossen ihr in die Augen.

„Ich hätte niemals kandidieren sollen“, brach es aus ihr hervor.

Zum ersten Mal hatte sie in Gänze realisiert, dass sie eine Zielscheibe war, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Sie war weiblich und besaß eine politische Meinung. Außerdem hatte sie einen Freund mit ausländischen Wurzeln. Damit war sie für rechte Kreise ein gefundenes Fressen.

„Wir dürfen jetzt auf keinen Fall nachgeben“, sagte Amir. „Dann haben die doch gewonnen! Du stehst für so vieles. Du bist jung, weiblich, gebildet und schlagfertig. Du trittst für Weltoffenheit ein. Und es ist wichtig, dass jemand solche Ziele verfolgt, gerade hier in Sachsen.“ Die Sache lag ihm wirklich am Herzen, er konnte seine Wut kaum unterdrücken.

„Wir leben in Deutschland, verdammt noch mal! Einer Demokratie! Die Meinungsfreiheit ist eines unserer grundlegendsten Rechte! Wir lassen uns nicht mundtot machen!“ Er holte tief Luft und entschuldigte sich dann.

„Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht anschreien.“

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und lächelte ihr beruhigend zu.

„Das ist alles nur ein Bluff“, sagte er in sanftem Ton. „Die wollen dir Angst machen, dich kleinmachen.“ Sie nickte und konnte doch nicht verhindern, dass ihr eine Träne die Wange hinunterlief.

„Und was, wenn nicht? Wenn du dich irrst?“

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und zog sie an sich. „Wir schaffen das schon“, murmelte er in ihr Haar und in diesem Moment hatte sie tatsächlich noch dran glauben können.

Nachdem ihre Gäste das Haus verlassen hatten, riefen sie die Polizei. Unerwarteterweise war daraufhin Ruhe eingekehrt.

Es waren zwei Wochen vergangen, und sie wog sich beinahe in Sicherheit. Das schlimmste schien überstanden. Die Flut an Hassnachrichten ließ sie mittlerweile kalt. Nach einem weiteren ruhigen Wochenende startete sie mit neu gefundener Energie in die Woche. Sie war von einer der größten lokalen Nachrichtenagenturen zu einem Interview eingeladen worden. Sie hatte sich vorab gut vorbereitet, sich Notizen gemacht und einige überzeugende Argumente zurechtgelegt. Amir war zusammen mit einem Arbeitskollegen zur Arbeit gefahren, damit sie ihr Auto benutzen konnte. Sie öffnete die Tür und blieb noch auf der Türschwelle wie angewurzelt stehen. Über Nacht musste jemand auf ihr Grundstück eingedrungen sein und ihr Auto beschmutzt haben.

In gelber Farbe hatte jemand das Wort „Schlampe“ auf die Heckscheibe gesprüht. Als sie um das Auto herumging, erblickte sie den Schriftzug auf der Frontscheibe. „Türkenfickerin“, stand dort.

Der Polizist am Telefon hatte sie kaum verstanden. Es dauerte einen Moment, bis sie sich gesammelt hatte und in ruhigerem Ton ihre Lage schildern konnte.

Nun waren es bereits zwei Anzeigen, die sie in den letzten Wochen erstattet hatte. „Gibt es schon Neuigkeiten bezüglich der Todesanzeige, die man mir geschickt hat?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Wir arbeiten dran“, erwiderte der Polizeibeamte. „Solche Angelegenheiten sind teils nur schwer zurückverfolgbar, aber wir geben unser Bestes.“

Sie rief Amir auf der Arbeit an und er nahm sich den Nachmittag frei. Als er zuhause ankam, hatte er zwei Einkaufstaschen dabei. In der ersten befanden sich Lebensmittel, welche sie zusammen in den Kühlschrank einräumten. Die andere ließ er unberührt. Sie musterte die Tasche.

„Und was hast du noch mitgebracht?“, fragte sie.

„Nur ein paar Sachen“, sagte er wage und in einem bewusst ruhigen Ton. Sie ließ sich von so etwas nicht täuschen. Es war offensichtlich, dass er ihrer Frage auswich. Mit verschränkten Armen forderte sie ihn auf, ihr den Inhalt der Tasche zu zeigen. Amir griff in die Tasche und zog eine Schusswaffe hervor.

„Bist du wahnsinnig?“, war ihre erste Reaktion. „Eine Waffe, hier im Haus?! Ist das überhaupt erlaubt? Du hast doch gar keinen Waffenschein!“

„Diese hier fällt nicht unter das Waffengesetz“, entgegnete er. „Das ist nur eine Schreckschusspistole, deren Besitz ist erlaubnisfrei.“

„Du glaubst also, es könnte jemand in das Haus eindringen, stimmt’s?“

„Dazu wird es nicht kommen“, erwiderte er, doch zum ersten Mal konnte sie leichte Zweifel in seiner Stimme entdecken. Sie wollte nicht schon wieder mit ihm streiten. Nachdenklich strich sie mit dem Finger über die Tischkante und wich seinem Blick aus.

„Ich könnte die Kandidatur zurückziehen“, sagte sie dann leise. „Ich bin mir sicher, dann hören sie damit auf.“ Seine Reaktion war wie erwartet.

„Auf gar keinen Fall! Ich hab dir doch bereits gesagt, wie wichtig es ist, dass wir jetzt nicht aufgeben!“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Auch mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Diese Leute sind weiter gegangen, als ich es gedacht hätte. Aber die Polizei ist am Ermitteln. Wir werden das weitere Vorgehen mit ihnen absprechen. Möglicherweise gibt es noch andere Optionen, uns besser zu schützen.“

„Ich möchte keinen Personenschutz vor unserem Haus!“, erwiderte sie. „Ich fühle mich jetzt bereits gefangen hier. In meinem eigenen Haus!“

Er nahm ihr Hand. „Wir müssen nur bis zu den Wahlen durchhalten. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Ihr Ziel ist es, dich von der Kandidatur abzuhalten. Wenn du es erst einmal geschafft hast, wird es mit der Zeit bestimmt ruhiger werden. Außerdem können wir uns währenddessen eine Strategie für die Zukunft überlegen. Bis dahin hat die Polizei sicherlich einige der Täter gefasst. Das wird die anderen abschrecken. Bitte fass jetzt keine vorschnelle Entscheidung!“

Sie holte tief Luft. „Wir sprechen noch einmal mit der Polizei“, gab sie sich dann geschlagen. Damit war das Thema zunächst vom Tisch gewesen und sie hatten den restlichen Abend lang bewusst über andere Dinge gesprochen. Doch die Anspannung hatte sie nicht losgelassen. Sie war den ganzen Abend lang greifbar gewesen. Erneut hatte sie kaum Schlaf gefunden. Schon seit Wochen stand sie nun unter Strom.

Das war gestern. Jetzt hielten Rechtsradikale eine Mahnwache mit Fackeln vor ihrem Haus ab und sie konnte Amir nicht erreichen. Sie realisierte wage, dass sie eine Panikattacke bekam. Ihre Atmung war viel zu schnell, sie hatte Herzrasen und ein Engegefühl in der Brust. Noch immer kauerte sie auf dem Boden. Sie hielt es nicht mehr länger aus. Mit aller Kraft zog sie sich am Sofa hoch. Ihr Blick durchstreifte den Raum. Dort, wenn sie das Handy senkrecht auf die Anrichte stellte … ja, das würde gehen. Sie schaltete die Kamera ein, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und versuchte, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Erschrocken blickte sie auf das Bild, dass ihr die Innenkamera anzeigte. 

Sie erkannte sich selbst kaum wieder. In den letzten Wochen hatte sie stark abgenommen. Der mangelnde Schlaf und die Appetitlosigkeit hatten ihr zugesetzt. Wo soll das alles noch hinführen?, fragte sie sich. Amir hatte eine Waffe gekauft, sie traute sich abends nicht mehr allein aus dem Haus, hatte Angst vor dem Einkaufen. Angst davor, das sichere Auto zu verlassen oder länger als nötig in der Stadt zu verweilen. Sie fühlte sich verfolgt und beobachtet.

Joggen ging sie schon seit Wochen nicht mehr. Nicht einmal ihre Freunde wollte sie erneut einladen, aus Furcht, sie könnten ebenfalls ins Visier geraten. Vor wenigen Wochen noch war sie voller Energie und Ideen gewesen. Hatte etwas bewegen wollen. Nun fühlte sie sich leer und ausgelaugt. Alles kostete unends viel Mühe und ständig hatte sie Angst. So gerne sie sich für die Allgemeinheit einsetzen wollte, sie musste auch an ihre eigene Zukunft denken. Wie würden sie künftig leben? Unter dauerhafter Beobachtung, mit Polizeischutz?

„Es tut mir Leid, Amir“, sagte sie leise und drückte auf Aufnahme.

Dann erklärte sie vor laufender Kamera den Rückzug ihrer Kandidatur.