„Wir müssen miteinander reden.“
„Wieso? Spielt er schon wieder verrückt?“
Anne lächelte. Kein Wunder, dass Theo sofort weiß, warum es Gesprächsbedarf gibt.
„Ja, und er hat sich gesteigert. Diesmal hat er die Versammlung selbst angemeldet. Peter sitzt ja in der Versammlungsbehörde und hat mich informiert.“
„Mein Gott, gibt der denn nie Ruhe? Was ist es denn diesmal? Klimawandel? Baumfällen stoppen, Tempolimit oder Vermögenssteuer?“ Theo schüttelt den Kopf.
„Wehrhafte Demokratie, aktiv gegen Faschismus. Ganz großes Kino.“
„Na prima, nicht nur dass er wieder total die Gegebenheiten verleugnet, nein, er begibt er sich darüber hinaus in Gefahr. Bei der Stimmungslage hier bei uns wird er doch spätestens nach fünf Minuten zusammengeschlagen. “
„Du weißt doch, dass ihn so etwas nicht schreckt. Erinnere dich an die aufgerissenen Hände, als er sich letztes Jahr auf der Zufahrt zur Rüstungsfirma festgeklebt hatte.“
Theo atmet tief ein und aus. Immer wieder der gleiche Ärger mit Emil. Fast sehnt er sich nach der Corona-Zeit zurück. Auch wenn sie natürlich die Situation völlig gegensätzlich beurteilt hatten, bremste diese Zeit zumindest seinen Tick zum Protestieren aus. Komischerweise hatten ihn damals die Lügen der Regierung, die korrupte Pharmamafia, der Impfwahnsinn und die eingeschränkten Grundrechte überhaupt nicht interessiert. In der Zeit hatten sogar Anne und er überlegt, auf die Straße zu gehen. Und Emil? Der hatte nur behauptetet, dass zwar nicht alles perfekt laufen würde und es weiß Gott schwierig für viele wäre, aber Krisen nun Mal Einschnitte mit sich brächten. Und wenn Menschen in ihrem Leben nichts Schlimmeres als diese Krise erleben würden, wären sie im Vergleich mit anderen Zeiten und Gegenden immer noch gesegnet.
„Und Bill Gates?“, hatte Theo gefragt.
„Das ist ein US-amerikanischer Unternehmer, Programmierer und Mäzen. Kann man nachlesen“, hatte Emil geantwortet.
Für jeden Mist auf die Straße gehen und die Familie vor Ort in Verruf bringen, aber andererseits sowas von naiv sein. Unglaublich.
Anne unterbricht seine Gedanken. „Vielleicht würde ein psychologisches Gutachten helfen. Ganz normal ist das doch wirklich nicht.“
Entmündigen? Oder gibt es da einen woken Namen für heutzutage? Theo überlegt kurz. Er hatte sich insgeheim auch schon mit dieser Idee beschäftigt, aber bei realistischer Einschätzung wäre das zurzeit nicht durchzusetzen. Vielleicht bestände zukünftig die Chance Exzesse einzuschränken. Vielleicht eine Datei über solche Leute? Noch war die Zeit dafür nicht reif. Heutzutage gilt so ein Verhalten leider als normal.
„Das können wir uns abschminken. Die Szene, die so etwas zu beurteilen hätte, ist doch genauso drauf. Musst dir doch nur mal die Diskussionen in den Öffentlich-Rechtlichen antun. Die halten so etwas für angemessen.“
„Guck ich nicht“, erwidert Anne.
Die beiden sitzen da und schweigen. Die Nachbarn redeten schon länger über die vertrackte Situation und geben Ratschläge: „Was sagt er denn zum Asylrecht und dass täglich Frauen abgestochen werden? Und dass die Klimakatastrophe nur normale Wetterschwankungen sind, ist doch längst Fakt. Nennen sie im doch mal ein paar Quellen auf X und YouTube.“ Verena und Theo lächelten immer nur gequält und sagten, dass sie für Emil ja leider nicht verantwortlich wären. Die Nachbarn schüttelten dann nur den Kopf.
„Wir müssen hin und ihm das ausreden“, sagt Anne.
Obwohl Theo an den Erfolgsaussichten zweifelt, bleibt ihnen gar keine andere Wahl. Auf der Fahrt zu Emil greift Anne das Thema wieder auf: „Man könnte doch eine Altersbeschränkung einführen. Oder eine Themenbeschränkungen. Es wird doch immer behauptet, dass wir eine Demokratie sind. Wir könnten doch abstimmen, wofür man auf die Straße gehen darf.“
Theo knurrt: „Keine Chance. Noch nicht. Andere Länder sind da weiter.“
Emil ist zu Hause, sein Fahrrad steht vor der Tür. Auch so ein Tick von ihm.
Emil strahlt, als er die beiden sieht. „Na so was? Kommt rein. Das letzte Mal habt ihr mich bei meinem runden Geburtstag besucht. Das mit dem Abnabeln klappt ja gut bei uns.“
„Du brauchst gar so zynisch zu ein. Telefon funktioniert in beide Richtungen. Hättest uns ja anrufen können. Wir wissen überhaupt nicht, wie es dir geht“, jammert Anne
„Mal abgesehen davon, dass ich es die letzten Male immer gewesen bin, der sich gemeldet hatte, wüsste ich leider nicht, was wir zu bereden hätten. Aber nun kommt rein.“
Im Wohnzimmer sieht es aus wie immer: „Kannst du nicht irgendwann das Bild von Che Guevara abnehmen? Du machst dich lächerlich“, legt Theo los, kaum dass er sitzt.
„Weißt du was? Ich finde den eigentlich gar nicht so toll. Den habe ich nur hängen, um Leute wie euch zu ärgern.“
Theo regt sich auf: „Leute wie uns? Leute mit Grips im Kopf? Leute die sich nicht veräppeln lassen?“
„Ja, genau. Solche Leute. Aber ihr hattet ja noch nicht einmal den Arsch in der Hose für eure Haltung einzustehen. Als die Idioten hier durch die Straßen gelaufen sind, war ich zumindest zur Gegendemo da. Das ist doch das Tolle, dass sogar ihr hier für eure Sache auf die Straße gehen dürft. Euch habe ich dort allerdings nicht gesehen. Ich weiß nicht, was bei euch falsch gelaufen ist.“. Theo schüttelt den Kopf und seufzt als er sich setzt.
„Hätte ich mir denken können, dass du da auf der anderen Seite gebrüllt hast. Und jetzt organisierst du sogar solche Demos. Für die sogenannte Demokratie,“, faucht Verena.
„Woher wisst ihr das denn schon wieder? Der liebe Peter? Keine Ahnung wie es mir geht, aber dass ich eine Demo angemeldet habe wisst ihr. Ich glaube ich ruf mal seine Chefin an.“
„Versuche es doch. Da kommst du auch nicht weiter,“ kommentiert Theo.
Emil schüttelt den Kopf: „Ach ja, ich vergaß. Ihr seid ja ganz dicke zusammen im Schützenverein.“
„Auf jeden Fall geht das alles nicht. Du musst doch mal zur Ruhe kommen. Wenn ich an die Fotos in der Zeitung denke von dieser Schwulendemo. Du im Regenbogenshirt. Das ist doch peinlich. Dabei bist nicht mal schwul. Immerhin!“, sagt Theo.
„Wenn ich mir euch so ansehe, wäre das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Ich weiß nicht, was ich bei euch falsch gemacht habe. Und glaubt mir, dass werden mit die ersten sein, die über die Klinge springen müssen, wenn es so weiter geht.“
„Wir sind trotz dir vernünftige Menschen geworden. Was ist nun? Sagst du diese dämliche Veranstaltung ab?“, fragt Anne. „Wenn du wenigstens für die richtigen Dinge auf die Straße gehen würdest.“
„Die richtigen Dinge? Ich demonstriere für das, was mir richtig erscheint, für das, was mir wichtig ist und gegen das, was aus meiner Sicht falsch läuft. Das konnte euer Großvater nicht. Der ist irgendwo im Osten verreckt. Da war Großmutter schwanger mit mir. Und dann waren da Aufrüstung, weißgewaschene Nazirichter und Professoren, Schweinebucht, Gleichberechtigung, Radikalenerlass, § 218, Notstandsgesetze, RAF-Terror, Kultur- und Schulpolitik, Umweltschutz, und so weiter. Keine Sorge, ich habe immer das für mich Richtige gefunden, um auf die Straße zu gehen. Und jetzt will ich zumindest meinen Teil dazu beitragen, dass ihr das zukünftig auch noch könnt.“
„Für mich musst du nicht auf die Straße alter Mann“, sagt Theo.
„Vielleicht hätte ich es mit euch anders machen sollen. Mehr Zeit mit euch verbringen? Auf jeden Fall werde ich nie so alt sein, wie du es schon bist Theo. Ein wenig verstehe ich euch sogar. Die „goldene Generation“, aufgewachsen mit dem Glauben, dass alles immer nur besser werden kann. Hatten wir euch sogar gepredigt. Und dann hat euch die Realität irgendwann eingeholt. Na ja, und es ist wohl das Los der Eltern. Entweder dienen sie den Kindern als Vorbild, oder Abschreckung. Das mit dem Vorbild habe ich leider nicht hinbekommen,“ stellt Theo resigniert fest.
„Komm Anne. Mit dem Alt-68´er ist nicht zu reden. Wir lassen prüfen, ob wir die Demo nicht auf anderem Weg verhindern können.“
Mit unterschiedlichen Hoffnungen gehen alle auseinander.
Emil hofft, dass auch ein paar Enkel mitlaufen werden und Anne und Theo hoffen, dass die Problemfälle wegsterben. Man wird sehen.