Haus des Lehrers

von Michael Johannes B. Lange

„Was machst du da noch?“, fragte sie und blickte vom Fernseher zu ihm.

„Ich habe noch die Korrekturen“, erwiderte er unsicher. Sie klingt so ungeduldig wie immer, dachte er. Und ich verliere auch immer mehr die Geduld. Wahrscheinlich werde ich…

„Ich dachte, damit wärst du schon längst durch“, bemerkte sie überrascht.

„Bin ich auch“, gestand er.

„Was hast du denn da noch zu tun?“, fragte sie und strich vorsichtig über ihren Bauch.  

Gleich ist sie bei mir, dachte er alarmiert. Er blickte aus den Papieren hoch und sah auf die leere Straße, wo der Abschnittsbevollmächtigte sonst immer seine Runde drehte. Über dem Schreibtischlicht erkannte er in dem Fenster ihre beiden Spiegelbilder und dahinter die Wohnung, auf die sie so lange hatten warten müssen. Auch der Fernseher, von dem sie sich nun losriss, war neu. Der Bildschirm zeigte eine Pressekonferenz. Flüchtig dachte er an Den Schwarzen Kanal. Wann habe ich ihn zuletzt gesehen? Letzte Woche? Andere Gedanken drängten sich in sein Bewusstsein. Das ist nun der Augenblick, den ich so sehr gefürchtet habe, dachte er. So musste es ja kommen.

„Zeig mal her“, befahl sie knapp.

Er lehnte sich in dem alten Holzstuhl zurück, so dass sie einen ungehinderten Blick auf die Schülerarbeit werfen konnte, die sie nun ungeduldig ergriff.

„Das ist doch gut, sehr gut, was hast du denn?“, fragte sie Stirn runzelnd.

Er deutete bloß auf den Namen des Schülers und verbarg die Hände in seinem Gesicht.

„Ist das etwa…? Haben die Eltern nicht den Antrag gestellt?“

Er nickte bloß. Sie atmete schwer aus.

„Ich muss dir ja wohl nicht erzählen, wozu wir in solchen Fällen angehalten wurden.“

Er nickte wieder.

„Wir können politisch Unzuverlässigen unmöglich eine gute und schon gar keine sehr gute Note geben“,  dozierte sie.

„Ich weiß“, quetschte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

 Sie schwieg.

„Du bist in letzter Zeit sowieso auf dünnem Eis gegangen“, erinnerte sie ihn bitter.

 Er schloss die Augen und sah sich wieder im Büro des Schulleiters. In den letzten Monaten hatten sich Dinge ereignet, die er nie…

„Gib ihm doch einfach die Note, die er verdient“, empfahl sie tonlos.

„Wie darf ich das verstehen?“, fragte er und blickte ihr direkt in die Augen.

„Das weißt du ganz genau“, erklärte sie mit unbewegtem Gesicht.

Er senkte den Blick. „Ich bin zu alt“, sagte er matt und sah in die Spiegelbilder von Gegenwart und Vergangenheit.

„Blödsinn“, sagte sie und versuchte ein Lachen. Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Du schaffst das schon.“

 Er schwieg.

„Wir schaffen das“, sagte sie.

 Er schwieg.

„Was guckst du?“, fragte sie wachsam, als sie sah, dass er aus dem Fenster blickte.

„Jetzt dreht er wieder seine Runde“, antwortete er. So wie immer, dachte er, aber um die Zeit noch nie.  Außerdem….

„Ja, weil er unser Abschnittsbevollmächtigter ist“, erklärte sie und musterte ihn von der Seite.

„Aber diesmal ist er nicht alleine“, gab er zu bedenken.

„Ist doch egal. Wir müssen noch die Bescheinigungen bei ihm abgeben. Das ist nicht egal.“

„Ja, das dürfen wir nicht vergessen“, bestätigte er, während andere Erinnerungen und Mahnungen auf ihn einstürmten.

Plötzlich stand er auf und zog seine Schuhe an.

„Wohin gehst du?“, fragte sie überrascht und versuchte ein weiteres Lachen. „Jetzt brauchst du ihm doch nicht die Bescheinigungen zu geben.“

„Bloß eine Runde drehen“, sagte er.

Schweigend strich sie über ihren Bauch. Schließlich sagte sie, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden: „Gut, aber ich werde schon schlafen, wenn du wiederkommst.“

***

Auf der Straße war plötzlich niemand mehr zu sehen. Unsicher blickte er sich nach dem Abschnittsbevollmächtigten um. Die Straße war still. Gleichzeitig glaubte er, Geräusche zu hören, die er noch nie zuvor gehört hatte. Er sah zu den Fassaden empor. Brannten da mehr Lichter als sonst? Er sah auf die Uhr. Es war nicht seine übliche Zeit. Es waren nicht seine üblichen Gedanken. Er betrachtete die Trabanten. Schlafen, dachte er. Nicht von Schülern träumen und auch nicht von Kollegen, schon gar nicht von denen, denen Unrecht zu tun ich wieder gezwungen werde. Schlafen, nur noch schlafen. Ich gehe unter, dachte er. Ich gehe nach oben, dachte er dann und ging ins Treppenhaus.

Oben schloss er die Tür auf. Entgegen ihrer Ankündigung schlief sie nicht, sondern saß vor dem eingeschalteten Fernseher. Vor der Mauer hatten sich immer mehr unzählige Menschen versammelt.