Das Plädoyer des Hamster Raskolnikows vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

von Zena Kießner

Der Hamster Raskolnikow tritt ans Rednerpult:
„Ich möchte – mein sehr verehrter Richter Herr von Danwitz, wenn Sie es meiner haarigen Wenigkeit gestatten, gerne die wichtigsten Punkte der Zeuginnen und Zeugen des heutigen Tages noch einmal zusammenfassen. Sie wissen jetzt, dass selbst die faulsten, unsportlichsten Hamster unter uns mindestens fünf Kilometer am Tag zurücklegen. Sie haben außerdem gehört, dass selbst die faulsten, unsportlichsten Menschen an der Quarantäne während der Coronapandemie verzweifelt sind. Selbst wenn sie an einem Tag ohne jegliche Quarantäne im Regelfall maximal einen Kilometer laufen und ihre Wohnungen liebevoll eingerichtet waren als unsere Käfige, fühlten sie sich gefangen und wurden depressiv. Und das, obwohl sie nur ein Bruchteil, nämlich ein Fünftel von dem laufen, was meine Spezies in Freiheit benötigt.

Bitte vergessen sie das bei ihrer Entscheidung nicht.

Sie haben betont, dass ihnen Hamster am Herzen liegen. Dass sie mehr in uns sehen als ein flauschiges Dekoobjekt.

Und doch gibt es noch immer Kritiker unter ihren Kolleginnen und Kollegen, die unserer Klage nicht stattgeben wollen und die Wichtigkeit bezweifeln. Das spüre ich hinter meinen Öhrchen.“

„Mein sehr geehrter Herr Rask- ich meine Hamster Raskolnikow – bitte verstehen sie mich nicht falsch. Sie haben ihre Beweggründe überzeugend dargelegt.“

„Darf ich annehmen, dass Sie nun Einwände erheben?“

„Ja. Das dürfen sie. Wir sind bei der Beurteilung ihres Falls nach wie vor erstaunt, was sie erstreiten möchten. Sie hätten sich dafür einsetzen können, dass ihre Art mehr Auslauf erhält. Kleine Hamsterkäfige EU-Weit verboten werden und sich die Situation der Hamster generell verbessert. Aber sie -„

„Herr Richter von Danwitz, gerade dass sie die Wichtigkeit und Richtigkeit meiner Forderungen anzweifeln bestärkt mich noch mehr darin, sie vehement zu betonen und einzufordern.“

Die im Gerichtssaal aufgereihten Hamster nicken einstimmig. Graue, rötliche, goldene und weiße Härchen wippen dabei auf und ab. Einige von Ihnen tragen das eigens gestaltete Kampagnenshirt „Freiheit und Ehre des Rads“.

„Dass ich sie richtig verstehe – all ihre Bemühungen, sich vor diesem Gericht Gehör zu verschaffen. Die vielen Formalien und Akten. Ihre weite Anreise nach Straßburg. All das, weil Sie es als Grundrecht der Hamster verstehen, dass das so bezeichnete Hamsterrad nicht länger in der Populärpresse als etwas Negatives diffamiert wird? Sie fordern positive Berichterstattung und darüber hinaus Subventionen für die Hersteller?“

„Genau das ist mein Anliegen Sir, bei meinem letzten Sonnenblumenkern.

Sie müssen es begreifen. Auch ich habe viele Jahre verzweifelt versucht mit meinen Zähnen die Gitterstäbe meines Käfigs zu durchbeißen. Das knatternde Metall war mehr als ein Hilferuf. Es war ein Schrei nach Leben. Und die einzige Antwort, die ich in all diesen Jahre in meiner Gefangenschaft finden konnte, war, dass Gott gütig ist. Dass Gott mir ein Rad geschenkt hat, damit ich die Gefangenschaft ertragen kann. Und dass Sie, verehrte Menschen, dieses letzte Symbol der Hoffnung auf freie Bewegung, diesen glücklichsten aller Zeitvertreibe, den Ausgleich für meine Gefangenschaft und den meiner Mithamster in ihren Medien verunglimpfen – als etwas nahezu Bösartiges, dem man ein Ende bereiten sollte, ist eine Schandtat zu viel. Deswegen – heute und für alle Zeiten – soll das Hamsterrad als der Segen wahrgenommen werden, der es ist. Wir fordern Freiheit! Die Freiheit, die ich meine, gilt der Ehre des Rads. Ab heute und für alle Zukunft. Wir wollen nie wieder hören müssen, wie unangenehme Menschenarbeit mit einem Hamsterrad gleichgesetzt wird, um die Zumutungen zu unterstreichen. Suchen Sie sich dafür ein anderes Symbol! Denn wenn wir Hamster schon nicht das Gefühl beim Rennen durch das knisternde Unterholz in den Wäldern genießen dürfen, dann soll wenigstens unser Symbol der Hoffnung Anerkennung finden. Wir können bei aller Mühe, die wir uns geben, nicht jeden Hamster sofort befreien. Aber das Rad schenkt Leben. Eine Chance nicht einzugehen an einem ansonsten trostlosen Ort, von dem man nicht weggehen kann.“

 

Diese Ansprache bewegte nicht nur Richter von Danwitz. Schon bald titelten die größten Medien weltweit

„Das Rad wurde neu erfunden.“

Und Raskolnikow wurde zu einem gefeierten Held für Hamsterrechtsverletzungen. Niemand wusste von seiner stillen Beteiligung an der Wheel AG. So verdiente sich der graue Hamster eine goldene Nase an den gestiegenen Absatzzahlen für Hamsterräder. Fortan wurden sie als Dekoobjekt auch in Haushalten ohne Haustier zur Mode. Es war aus Raskolnikows Sicht nichts verwerflich daran, Geld mit etwas zu verdienen, von dem er überzeugt war, dass es die Welt besser machte. In Straßburg selbst wurde ab dem Richterspruch für 2027 die feste Installation eines Hamsterrads in Größe eines Hauses geplant. Das neu gewonnene Freiheitssymbol erfreute sich als Touristenmagnet direkt nach seiner Fertigstellung größerer Beliebtheit als die von den Franzosen an New York gestiftete Freiheitsstatue.