Olena hatte keinen Führerschein. Das bereute sie immer häufiger. Seit Ausbruch des Krieges steigerte sich ihr Bedauern. Sie wollte weg. Unbedingt. Raus aus dem Inferno. Sie wollte nicht – sie musste. Sie konnte nicht länger ertragen, dass die potenzielle Sprengung des AKW Saporischschja, das einen Katzensprung entfernt lag, zur Erpressung benutzt wurde. Sie wollte einem Regime entfliehen, das sich hier eingenistet hatte und eine ständige Bedrohung darstellte – nicht in erster Linie die Bedrohung einer flächendeckenden Verseuchung, sondern vielmehr die Bedrohung ihres Seelenfriedens. Als einziger Ausweg blieb die schnellstmögliche Flucht.
Vom Dachbodenfenster ihres Kinderzimmers aus blickte sie auf das Bahnhofsgelände der südostukrainischen Kleinstadt. Olena dachte unaufhörlich daran, in den Westen abzuwandern. Genauso hartnäckig tat der Vater ihr Vorhaben als Flause ab, als ein Fieber, das man aussitzen konnte, weil es beizeiten vergehen würde. „Kind, willst du uns im Stich lassen?“, lautete die Frage ihres Vaters, die er bei jeder Gelegenheit so eindringlich aufsagte wie ein heilbringendes Gebet.
Doch Olenas Sehnsucht nach Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft verging nicht. Sie hatte sich manifestiert und wuchs wie ein Baum, der sich an seinen Verästelungen nicht beschneiden lassen wollte.
Ich gebe seinem Wunsch nicht nach. In dieser Spirale aus Angriff und Vergeltung kann ich nicht leben, dachte die kluge junge Frau mit den wachsamen Kulleraugen, die sich durch die Gräueltaten zunehmend entwurzelt fühlte. Das Kernproblem meiner Heimat ist die Aussichtslosigkeit, dass in naher Zukunft Frieden herrschen wird.
Sie schloss ihre Augen. Der Wind wehte günstig. Olena hörte einen ausfahrenden Zug und wusste, dass sie selbst im nächsten sitzen würde. Welch eine Motivationsspritze. Die Bahn war ihr Joker. Ausgerechnet das von Olena am konsequentesten vernachlässigte Verkehrsmittel würde als Wunderwaffe auf dem Weg in die neue Freiheit zum Einsatz kommen. Die Schienenstränge würden ihrer Rettung dienen.
Olena öffnete ihre Augen und schaute auf ihre zerkratzte Armbanduhr, als verliefe mit dem Fortgang der Zeiger die Gefangenschaft in einer eingekesselten Ödnis, die für sie ein für alle Mal der Vergangenheit angehören sollte. „Eine Stunde, dann fährt mein Zug in den Westen aus“, flüsterte sie.
Von Berlin hatte sie bisher nur Gutes gehört und noch Besseres gelesen. Seit dem Zusammenbruch der Mauer im Jahr 1989 war die Metropole für sie der Inbegriff eines unbeschnittenen Lebens. In Gedanken an die deutsch-deutsche Hauptstadt packte sie ausreichend Proviant und nahm ihre beharrlich zurückgelegten Münzen aus der Spardose, die auf ihrem Nachttisch stand. Etliche Scheine, die sie vorsichtshalber in einem Strumpf versteckt hatte, zog sie aus dem quietschenden Bettkasten hervor. Ihr Gepäck ergänzte sie um Unterwäsche und Oberbekleidung und schlichtete das Sammelsurium an Überlebensnotwendigem in ihren riesigen Wanderrucksack.
Nachdem sie ihre Habe sorgfältig mit einer Kordel verschnürt hatte, schickte sie ein leise hingesprochenes „Lebewohl“ an ihr Elternhaus. Überraschenderweise machte sich eine ungetrübte Erleichterung in Olena bei dem Gedanken breit, dass sie ihre Wiege, die sie von Geburt an bewohnte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie wieder betreten würde.
Eine aufkeimende Melancholie musste sie schließlich ersticken, als sie treppab mit bedächtigen Schritten das Erdgeschoss erreicht hatte. Denn zum Aufbruchszeitpunkt mixte ihre Mutter in der Küche die Zutaten für Olenas Lieblingskuchen, die Kiewer Torte, mit einem Rührgerät. Ein zweites, nun ganz stilles Lebewohl …
Die Schaukel neben dem Steinbrunnen im Garten, die auf einem Haufen gestapelten Plüschtiere in ihrem Zimmer, die sie zu Geburtstagen geschenkt bekommen hatte, das Allerlei an leckeren Speisen in den brodelnden Kochtöpfen ihrer Mutter: eine endlose Liste der Dinge, die nicht aufwiegen konnten, dass sie bald schon den Ballast ihrer derzeitigen Situation abstreifen dürfte. Wie von allein erhoben sich Olenas Finger zur Aufzählung jener billigend in Kauf genommenen Verluste. Ihre Zuversicht, all das würde in der neuen Heimat zu vagen Erinnerungen verstauben und allmählich völlig erlöschen, war überwältigend.
Olena stahl sich durch den Hinterausgang hinaus. Sie identifizierte die typischen Geräusche ihres Vaters in der geschlossenen Garage, während er am ausrangierten Dacia herumschraubte, als könne er ihn wie von Zauberhand reanimieren.
Olena erschrak über ihre jähe Erkenntnis, wie oft sie von ihrem Vater geschlagen worden war und wie zahm und gehorsam sie das gemacht hatte. Im zunehmend fließenden Gang, mit dem sie sich vom Elternhaus distanzierte, fiel es ihr leichter, sein Verhalten strikt zu verteufeln.
„Mein Zug, mein Zug“, wiederholte sie und beschleunigte dabei ihren ohnehin recht zügigen Schritt noch einmal beträchtlich. Das Echo von Schritten in Stiefeln mischte sich unter. Olena irritierten sie, denn normalerweise liefen auf dieser Achse kaum Personen. Ihre Blicke kannten nur eine Richtung: starr voraus. Keine Verschwendung an links und rechts oder gar nach hinten. Ohne Schlenker bewegte sie sich zu den Stufen, die zum Damm hinaufführten.
An den Brückenpfeilern erkannte sie bereits Graffitis und die Tags der Sprayer. Für Olenas Schenkel, die jeglichen Sport vermieden, entwickelte sich die Strecke zum Marathon. Trotzig zwang sie über die hohe Frequenz ihrer Arme ihre Beine zur Eile. „Mein Zug, mein Zug“, waren abermals die Worte, die ihre Hast begleiteten. Olenas Rucksack saß zu locker auf den Schultern und erzeugte Scheuerstellen, die anfingen zu brennen.
Jemand keuchte unmittelbar in ihrem Nacken. Sie realisierte nun, wie dicht sich ein Verfolger an ihre Fersen geheftet hatte. In diese akute Bedrohungslage hinein dröhnte die Durchsage durch den Bahnhof: „In einer Minute fährt der Zug auf Gleis 2 nach Berlin ab.“ Olena hechtete, zwei Stufen je Sprung, zum Bahnsteig hinauf. Der Pfiff des Schaffners schrillte. „Bitte zurücktreten! Der Zug nach Berlin fährt ab!“
Olena erfasste hinterrücks eine Hand.
„Hilfe“, schrie sie, „Hilfe!“ Niemand kümmerte sich. Sie mobilisierte ihre knappen Reserven. Nach zwei, drei misslungenen Befreiungsversuchen war ihr das entscheidende Manöver zugunsten ihrer Unabhängigkeit geglückt.
Mit allerletzter Kraft war sie in das Zugabteil hineingekrochen.
Ich habe ihn abgeschüttelt, dachte Olena, während der Zug lospreschte. Der Mann, aus dessen Fängen sie sich losgerissen hatte, war ihr Vater. Es nagte an ihr, dass ausgerechnet er einen so abgrundtiefen Groll gegen sie hegte. Wie er über sie hergefallen war und sie schlussendlich ziehen lassen musste, konnte sie erst jetzt bei der Abfahrt verarbeiten.
„Du miese Verräterin“, meinte sie seinen Lippen bei einem letzten Blick aus dem Fenster ablesen zu können.
Seid mir nicht böse, ich musste mich der Familie entziehen, ergänzte sie lautlos.
Wie hauchdünn sie einem Martyrium entgangen war! Einen Wimpernschlag danach hätte ihr Vater gewiss das Messer gezückt, das er für außergewöhnlich pikante Angelegenheiten mitführte.
Adrenalin fiel ab und die monotonen Gesänge der Räder geleiteten Olena in den Schlaf. Die gesamte Bürde, die ihren zerbrechlichen Körper zusehends erdrückte, schien postwendend wie weggeblasen. Pünktlich vor ihrer Ankunft erwachte sie: bereit zum Start in ihr neues Leben.
Bis zum Stillstand des Zuges im Berliner Hauptbahnhof hielt sie ihre Fäuste geballt. Das war das Relikt ihrer Habachtstellung, eine Olena nicht mehr belastende Angewohnheit, die sich während des Bombenhagels ringsum eingeschlichen hatte.
Die Anschrift ihrer vorläufigen Unterkunft wusste sie auswendig. In dieser spartanischen Bleibe – das hatte sie während der Planungen ihrer Reise abgeklärt – würde man sie aufnehmen.
Etwas unbeholfen und mit einigen Kurskorrekturen überquerte Olena die Spree, kam am Bundestag und am Brandenburger Tor vorbei und landete nach einer weiteren äußerst marternden Meile jenseits des Potsdamer Platzes in der Peripherie, wo sich ihre Unterkunft befand.
Ein freundlicher Greis mit akkurat gestutztem Oberlippenbart und waschechter Berliner Schnauze händigte ihr an einer notdürftigen Rezeption den Schlüssel aus. In der lichtarmen Kammer warf sie den überladenen Wanderrucksack ins Eck. Olena war von Striemen an den Schultern gezeichnet und von der Erschöpfung auf die durchgelegene Matratze gebannt. Sämtliche Sehenswürdigkeiten und Bauwerke hatten bei ihr einen derart fotografischen Eindruck hinterlassen, dass sie sich imstande gesehen hätte, sie aus dem Gedächtnis abzupausen. Und doch waren die Reize der Millionenstadt für die ursprüngliche Kleinstädterin anfangs erschlagend.
Es dauerte, bis sich Olena mit diesem zweistöckigen, grau gestrichenen Containerbau arrangiert hatte. Noch viel länger dauerte es, bis sie die hinzugewonnene Freiheit nicht nur wahrnehmen, sondern auch für sich beanspruchen konnte.
Monate vergingen, ehe sie sich in den Dimensionen dieses beinahe uneingeschränkten Freiheitsgrades zurechtfand und sich traute, gar unpopuläre Meinungen zu vertreten.
Der Übergriff ihres Vaters glich einem welken Horrorstreifen, dessen Band in ein sonnengeflutetes Regal abgeschoben und verblasst war. Die Lektion, dass sie Episoden des Grauens wieder abschütteln konnte, war lehrreich. Dennoch blieb dieser Vorfall ein Mahnmal in ihrem Hinterkopf, das sie auf Kommando herauskramen und reaktivieren konnte.
Für Olena gehörte es zur Routine, den Hauptbahnhof zu besuchen, an Tagen wie dem heutigen auch mal zu Fuß. An Bars und Boutiquen vorbei, deren durchaus verlockende Angebote sie sich nicht leisten konnte, war sie durch Nebenstraßen gebummelt und hatte sich auf Bänken unter Bäumen erholt, die im ungewöhnlich heißen Herbst kühle Schatten spendeten.
Kurz darauf kam der Bahnhof in Sicht. Der Schaltzentrale des Berliner Schienenverkehrs als stille Teilnehmerin beizuwohnen, imponierte Olena ungemein. An diesem Hauptumschlagsplatz konnte sie den diversen Sprachen und verschiedenen Dialekten Ankommender und Fortfahrender lauschen. Sie inhalierte die Gerüche der Dunstwolken, die scheinbar völlig regellos von dem Gelände in den Himmel stoben.
Den Zügen nahe zu sein, von denen irgendeiner in den nächsten Stunden in ihre Heimat ausfuhr, und dabei sicher zu wissen, dass keiner sie aus diesem sicheren Becken der Demokratie zurückbefördern würde. Dass sie sich keinerlei Sorgen um Leib und Leben, um Recht und Gesetz machen brauchte, all diesen Luxus symbolisierte ihr dieser Bezirk. Zeitweilig hielt Olena in der sie überwältigenden Dankbarkeit inne, in Gedenkminuten an ihr abgestreiftes Zuhause und ihre fernliegende Vergangenheit. War das nicht vollkommenes Glück?
Die Vorbereitung auf ihre Flucht seit Kriegsbeginn 2022 bestand im Wesentlichen im Studium der deutschen Grammatik. Wie viel Abstand ich zu meiner alten Heimat inzwischen habe, dachte Olena, die im laufenden Zugewinn ihrer Sprachkenntnisse sogar manchmal auf Deutsch träumte. Ihr kyrillischer Einschlag war inzwischen geringfügig und das Vertauschen der Artikel oder dass sie Nummern verkehrt herum nannte, geschah nur noch sehr vereinzelt. Nichts sollte sie davon abhalten, eine starke Frau zu werden. Was waren ein paar eigentümliche Betonungen verglichen mit ihrem errungenen Selbstbewusstsein? Über die Meilensteine ihrer Entwicklung hierzulande konnte sie selbst nur ungläubig den Kopf schütteln.
Ermattet von ihren inneren Bewegungen saß sie am Bordstein, eine beträchtliche Reihe von Taxis vor sich. Einer der Fahrer, Fjodor, war seit frühester Kindheit in Berlin ansässig. Er kurbelte das Fenster herunter und störte Olena aus ihrer Versunkenheit auf.
„Gnädige Dame, bei mir wäre noch ein Platz für Sie frei. Steigen Sie ein, ich bitte darum“, forderte Fjodor.
Er öffnete Olena zwar die Beifahrertür, hielt es jedoch für überflüssig, seine selbstgedrehte Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. Mit einem verschmitzten Lächeln gab er die unsteten Zähne in seinem bärtigen Gesicht preis.
„Ich möchte zum Breitscheidplatz!“, sagte Olena in einem resoluten und nicht minder befehlenden Ton. Sie richtete sich gemütlich auf dem Beifahrersitz ein und richtete mithilfe ihres Schminkspiegels ihr von teils heftigen Windstößen zerzaustes Haar. Ihr entging nicht, wie sich der Taxifahrer bemühte, lediglich beiläufig auf ihre Bluse zu schielen.
Olena kam es vor, als wolle er durch einen nun wilden Fahrstil von seiner Neugier ablenken. „Sie würden gerne mitbremsen, das merke ich“, behauptete Fjodor, nachdem er sich mehr als knapp an etlichen Radfahrern und Cityrollern vorbeigeschlängelt hatte. Er mogelte sich gleich wieder bei Dunkelorange über die nächste Ampel. Nervös schätzte Olena die Zahl der Straßen, die sie noch bewältigen mussten.
„Noch wenige Abbiegungen, dann sind wir da“, beruhigte sie Fjodor und erhielt umgehend einen Klaps auf seine Finger, die er frech über die Mittelkonsole zu Olenas Schoß führte. Unentwegt dabei seine verunsicherten Blicke, die sich in ihre Bluse verbissen.
Olena musterte Fjodor nun ihrerseits, so offensiv, als sei sie eine Diebin auf Beutezug nach auslesbaren Gesichtszügen.
„Ich kann Ihnen das Kompliment nicht ersparen“, schmeichelte er ihr. „Sie haben die wirklich seltene Gabe, Ihre Augen im gefälligen Maß zu schminken. Und Ihre Lippen! Ich bin mittlerweile jeder Frau dankbar, die sie belässt, wie sie von der Natur geschaffen wurden. Aber was mir am besten an Ihnen gefällt, falls mir die Feststellung nach so kurzer Zeit erlaubt ist: Sie sagen, was Ihnen nicht passt, und verteidigen Ihre Interessen.“
Olena ärgerte sich, dass sie spürbar errötete und sich in ihrer Verlegenheit räusperte.
Für Sekundenbruchteile fürchtete Olena, dieser unbekannte Mann hätte sie in ihre Rolle zurückgeworfen, in der jemand anderes über sie verfügen und ihr erworbenes Selbstbewusstsein schmälern konnte, und sei es eben durch Komplimente – eine Rolle, der sie sich mit der Abfahrt aus ihrer Heimat endgültig entledigt zu haben glaubte. „Humbug, absoluter Humbug“, wetterte sie zornig.
Fjodor, der mit seinem Glimmstängel eine untrennbare Beziehung zu führen schien, überhörte das geflissentlich und hauchte Olena hin: „Da vorne am Taxistand endet unsere Fahrt. Wenn ich sie Ihnen schenke, würden Sie annehmen? Und würden Sie zustimmen, wenn ich möchte, dass Sie mich Fjodor nennen?“
Olena wies auch seinen angedeuteten Kuss zurück, streckte ihm ihre Hand mit den laut Taxameter abgezählten Münzen hin. Und weil er sich zierte, sie anzunehmen, klimperte sie diese ins Mittelfach. Wortlos nahm Olena Abschied von Fjodor und stieg aus dem Wagen. Getrennt durch die Scheibe des Fahrerfensters, warf ihr Fjodor einen abermaligen Handkuss zu. Er winkte ein letztes Mal und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Sein Mercedes röhrte. Olena stand wie festgemauert und sah ihm hinterher, bis der Wagen um die erste Ecke bog und verschwand.
„Nie wieder Krieg“, sagte sie sich vor und zog dann los. Im Rhythmus ihrer Schritte wiederholte sie dieses Mantra. Wenige Minuten später erreichte sie die Veranstaltung. Fahnen, Banner, Absperrgitter, Friedenstauben – allüberall Botschaften und Signale in riesigen Lettern, die einhellig Verhandlungsbereitschaft fördern und Waffenlieferungen stoppen wollten. So viel deeskalierender Wille beeindruckte Olena.
Unmerklich wurde sie aufgesogen vom Meer der Demonstranten an diesem dritten Oktober. Sie dachte ehrfürchtig an den Mauerfall und erkannte in der Protestveranstaltung eine Parallele zu dem von den Scorpions mit „Wind of Change“ besungenen Sturz der anhaltenden Barriere zwischen Ost von West. Ein Ereignis, das Olena lediglich randständig aus Geschichtsbüchern vertraut war. Dennoch spekulierte sie eifrig, ob sich nicht einige jener Urgesteine auch heute unter den Widerständlern tummeln würden.
Als unvermittelt ein Mann auf die Bühne trat, sich dicht neben das Mikrofon eines passionierten Redners stellte und ihn mittendrin unterbrach, während er gerade ein flammendes Plädoyer für den Frieden abhielt, entstand zwangsläufig der Eindruck einer Drohkulisse. Würde jetzt Panik losbrechen, als der Eindringling unberechenbar herumhampelte und sich ungefragt das Mikro schnappte?
„Verzeihen Sie, dass ich mich in die Diskussion einmische. Ich bin mir sicher, ich kann einen ausschlaggebenden Teil zum Frieden beitragen. Die Dame, die vorhin bei mir im Taxi saß, möchte ich zur Bühne bitten. Ihr ukrainisches Wappen auf der Bluse erweckte in mir den Wunsch nach Völkerverständigung, nach Versöhnung. Unsere Nationen verhalten sich untereinander wie zornige Kinder, die sich angiften und auf Rache schwören. Ich habe versäumt, mich vorzustellen. Ich heiße Fjodor und bin Russe. Jedoch möchte ich es nicht versäumen, ein Gegenbeispiel aufzuzeigen.“
Und nach einer durch Rührung beklommenen Stille, als säße den Demonstranten ein kollektiver, sie allesamt in ihrer Angelegenheit vereinender Kloß im Hals, setzte er wieder ein. Er zwinkerte ins Publikum hinunter, wo sich manch anfängliche Skepsis in Sympathie und manch reservierte in informationsgierige Blicke verwandelt hatten.
„Wer an dieser Stelle die traditionellen weißen Lilien erwartet, den muss ich enttäuschen, die habe ich nicht dabei. Doch solche Gesten zählen ohnehin nichts, wenn keine Taten folgen. Mir ist es lieber, ein winziges, doch ernstgemeintes Zeichen zu setzen.“
Durch den Schleier seiner feuchten Augen sah er, wie die bunt gemischten Aktivisten der Kundgebung seine Gänseblümchen beklatschten. „Sie sind vom Wegesrand, doch sie kommen von Herzen.“
Die Menge johlte und grölte, hob und senkte ihre Myriade an Armen zu einer La Ola. Sie sangen eine Hymne des Friedens, inspiriert von den Klängen ihrer Lieblingsband Die Ärzte, die militärische Abrüstung und Pazifismus propagierte.
Olenas Zurückhaltungsbereitschaft war gänzlich versiegt. In Sturzbächen der Rührung rannen ihre Tränen. Erfasst von einem Schauer vollkommener Glückseligkeit, wurde sie vom Rückenwind des Mutes vorangetrieben, bis sie vor der Bühne stand. Nun war sie diejenige, die Fjodor zu sich heranwinkte. „Soldaten müssen Befehle ausführen, die ihre Kinder vaterlos und ihre Frauen zu Witwen machen. Gefallene Krieger, verzweifelte Hinterbliebene, menschliche Tragödien – diesen Wahnsinn müssen wir stoppen.“
Fjodor kniete nun und hielt Olena das Mikro nach unten. Sie wiederholte mit vor Aufregung bebender Stimme und fast schreiend ihren Appell. Eine Welle des Zuspruchs brandete ihr entgegen. Daraufhin nahm Fjodor Olena an der Hand und sie ließ es sich diesmal widerstandslos gefallen.
Der zunächst perplexe Redner ergriff das Mikrofon und akzentuierte jedes einzelne seiner Worte: „Wir dürfen den Staatsmännern niemals die Macht geben, uns nach Belieben auszurotten. Ich zitiere Carl Sandburg: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“
Fjodor räumte das Feld. Er sprang von der Bühne und sagte von der Euphorie des gemeinsamen Sinnes beflügelt: „Flanieren wir nun durch einen der umliegenden Parks. Besuchen wir eine der urigen Berliner Kneipen. Stoßen wir an. Auf uns. Auf die Freiheit in diesem Land. Komm, wir gehen, der Abend ist noch jung.“
„Klingt fabelhaft … Fjodor“, entgegnete Olena, die sich trotz der Zusage in ihrer Körpersprache noch ein wenig verschlossen zeigte. Mit verschränkten Armen vor der Brust fügte sie hinzu: „Übrigens, mein Name ist Olena.“
„Wunderschön, O-l-e-n-a. Ein Name wie Musik. So etwas Melodisches passt zu dir.“
Zahlreiche Passanten in den sich lichtenden Reihen zeigten dem abziehenden Paar ihre Daumen nach oben. „Hab Dank für die gelungene, unbeschwerte Völkerverständigung“, rief einer von Weitem und eilte zu Fjodor, um ihn per Handschlag zu beglückwünschen. „Große Geste. Sie zeigt, dass sich harmonische Beziehungen ausbreiten können, vielleicht sogar schneller als die Brutalität des Krieges.“
„Du wirst ja überschüttet von Komplimenten“, flüsterte sie Fjodor ins Ohr, stolz auf sein galantes Auftreten.
„Das sind Nebensächlichkeiten. Lass uns gehen“, bestand er, während Banner zusammengerollt wurden und die letzte Rednerin die Bühne geräumt hatte, doch der Puls des Anliegens noch über die Veranstaltung hinaus weiterpochte. „Ich bin gespannt, was heute Nacht geschieht.“
„Du bist ein Vogel“, ulkte Olena im Überschwang.
„Du aber auch!“, gab Fjodor das fragwürdige Kompliment zurück.
„Das bin ich wohl. Ein Vogel, der in Berlin fliegen gelernt hat. Zuvor habe ich lange übersehen, dass ich Flügel habe. Und jetzt tragen sie mich jeden Tag noch ein Stückchen höher.“
Diese Demonstration war eine Art der Krönung der freien Meinungsäußerung, wofür andernorts hinterrücks Handschellen klickten, dachte Fjodor mit Blick auf den Mond, der über den Häuserschluchten aufleuchtete. „Unsere Freiräume müssen wir heut Nacht dringend in den Clubs der Stadt betanzen, Olena“, sagte er aufgepeitscht.
Sie wussten beide, dass sich Demokratie im realen Leben bewähren musste, faktisch in den Alltag integriert, nicht in der Theorie erschöpfen durfte.
„Bist du immer so schnell unterwegs, wenn du gerade nicht rauchst?“, fragte Olena.
Fjodor stockte. Sein Gang kam zum Erliegen. Olena stellte sich frontal vor den Mann, über dessen Charakter sie in den vergangenen Stunden so viel erfahren hatte. Im vagen Schwebezustand zwischen freundschaftlichem Interesse und leidenschaftlichem Begehren schloss sie ihn in die Arme. Ein Bekenntnis, dass sie eine gemeinsame Zukunft, vorerst unausgesprochen, keineswegs mehr für unmöglich hielt.