Oh Brein

von Juliane Lochner

Das kleine Mädchen schlich sich aus dem Bett an die verglaste Schiebetür, die das Zimmer, in dem sie schlief, vom Wohnzimmer trennte. Die Unterhaltung von nebenan war nicht zu überhören, die angeregten Stimmen ihrer Eltern und eines Ehepaares, das zu Gast war.

Vor zwei Stunden hatten sie gemeinsam am Esstisch gesessen, es gab etwas ganz Feines: den berühmten mit Zwiebeln und Erbsen gemischten Reis ihrer Mutter, den es nur zu besonderen Anlässen gab, und Rinderfilet, eine Kostbarkeit, nach der die Mutter lange hatte anstehen müssen. Nicht oft wurde so festlich getafelt. Manchmal kamen ausländische Kollegen des Vaters zu Besuch, junge Männer, die ihre Facharztausbildung an seiner Klinik machten; sie kamen aus Syrien, dem Irak, dem Sudan, und alle lobten Mutters gute Küche.

Und jedes Mal gab es Gespräche und viele Fragen, die Eltern wollten immer viel über die Heimatländer der Gäste wissen. Sie versuchten sich in Englisch, die Mutter auch in Französisch. Fremdsprachen brauchte man im Alltag kaum, deshalb lagen sie brach, wenn man sie überhaupt gelernt hatte, und wurden nie aufpoliert. Aber besonders die Mutter wendete, wenn es geboten war, ihre Sprachkenntnisse sehr beherzt an; sie schämte sich nie, wenn sie mit weit gereisten Leuten nur lückenhaft mithalten konnte.

Diese Eigenschaft kannte das kleine Mädchen auch von den Urlaubsreisen in den vorangegangenen Sommerferien, einmal in die Tschechoslowakei, das andere Mal nach Polen. Die Mutter hatte immer einen Sprachführer am Wickel, wenn sie mit dem Auto unterwegs waren. Sie schärfte der Familie die wichtigsten Höflichkeitsfloskeln ein. In Polen musste man dziękuje, prosze, dzień dobry, do widzenia sagen – bitte, danke, guten Tag, auf Wiedersehen. Dazu kannte sie lody – schließlich war Eis eines der wichtigsten Wörter auf einer Reise durch Polen.

Das Mädchen war erst in der dritten Klasse und hatte noch gar kein Englisch gelernt. Vaters Englisch war dürftiger als das der Mutter, deshalb blieb ihr der Großteil der Konversation, der Nachfragen und Bestätigungen überlassen; die Mutter schlug sich wacker, wie es typisch für sie war.

Diesmal waren die Gäste von noch viel weiter her als aus Nordafrika oder dem westlichen Asien, sie kamen aus Australien. Das kleine Mädchen hatte schon vor ihrem angekündigten Besuch auf dem abgegriffenen Globus nachgeschaut: Australien lag fast ganz unten auf der anderen Seite der Erde – eine sagenhafte Entfernung! Nie hatte sie Bilder von dort gesehen. Und darum konnte es kaum etwas Spannenderes geben als einen Mann und eine Frau, die von dort hierher gefunden hatten. Sie mussten Australien an sich kleben haben.

„Lottchen, komm rein, steh nicht an der Tür herum!“

Mit hochrotem Kopf zog das Mädchen die Schiebetür ein Stück auf, bis sie hindurchpasste. Der Vater schickte sie ihren Bademantel holen, was so viel hieß wie: „Heute darfst du länger aufbleiben.“ Schließlich hatten die Weihnachtsferien begonnen, morgen musste sie nicht früh aufstehen. Scheu setzte sie sich auf die Sofakante, die beiden Fremden lächelten sie freundlich an. Die Eltern brachten sie auf den Stand ihrer Unterhaltung, auf einer Weltreise seien Mistress und Mister O’Brian gerade. Und jetzt machten sie Station bei ihnen in Rostock. Komischer Name, dachte Lotte. Oh Brein! klang es in ihren Ohren wie die Anrufung eines nordischen Stammesgottes in einem Wikinger-Abenteuerroman.

Als Lotte mit den Eltern im Sommer an den Fuß der Hohen Tatra gefahren war, wohnten sie im Haus eines Försters, in einer Blockhütte, die ebenso exotisch wirkte wie das Künstlerehepaar, das sich gleichzeitig dort aufhielt – er mit wallender weißer Mähne und sie mit langen offenen Haaren und einer Zigarette an einer langen Spitze. Nie zuvor hatte Lotte solche Menschen gesehen, sie mussten geradewegs aus einem Märchen kommen. Das war schon eine Reise in eine fremde Welt. Aber Australien war noch viel, viel weiter weg. Wenn sie das bedachte, sahen die beiden Gäste eher landläufig und gar nicht so fremd aus. Aber wer eine Weltreise machte …

Gehörte denn Rostock auch zur Welt? Hier gab es zwar Schiffe auf der Reede, aber niemand, den Lotte oder ihre Eltern kannten, stieg auf ein Schiff, um in die Welt hinaus zu fahren, nicht einmal nach Dänemark, das gar nicht so weit weg sein dürfte; denn im Sommer am Warnemünder Strand, wo die Familie bei schönem Wetter ihre Sonntage verbrachte, stand Lotte immer mit dem Fernglas auf dem Strandkorbsitz und verfolgte die Schiffe, die mit Containern oder Reisenden, die nicht an der hiesigen Küste und im hiesigen Hinterland, sondern ganz woanders zu Hause waren, hin- und herfuhren, als wäre es ein Katzensprung. Das hatte sie bereits verinnerlicht: Die Welt war das, wohin man nicht konnte, wohin sie nie fahren würde. Die Welt gehörte denen, die hinter der Ostsee wohnten. Flugzeuge kannte sie nur vom Hörensagen und hatte keine Vorstellung davon, wohin sie die Menschen brachten.

Die zwei Gäste kamen aus Melbourne, einer großen Stadt im Süden von Australien. Diese Stadt hatte Lotte mit Vaters Hilfe im dicken Lexikon nachgeschlagen, auch auf dem Globus konnte sie sie verorten. Mister Oh Brein war Chirurg wie Lottes Eltern. Er verbrachte ein halbes Jahr unterwegs, Sebettikel nannten sie das, mit scharfem „s“ am Anfang – das merkte sich Lotte, weil die Mutter nach ausgiebigen Nachfragen verstanden zu haben glaubte, was gemeint war, und die niemandem geläufige Bedeutung, so gut es ging, der restlichen Familie zu erklären versuchte. Den Sebettikel verbrachte der Australier damit, Chirurgen in anderen Ländern auf die Finger zu schauen und von ihnen zu lernen. Aber auch für Besuche hier und da schienen die beiden Australier, wie man sah, Zeit übrig zu haben.

Lottes Eltern rissen verwundert die Augen auf; dass man einfach so frei herumreisen konnte, um nichts zu tun, als anderen bei der Arbeit zuzugucken … Das wirkte auch auf Lotte ungeheuerlich. Die Oh Breins waren zuvor in Malaysia, in Schweden und in Großbritannien gewesen – diese Aufzählung ließ Lotte glattweg die Ohren schlackern! – und nach diesen zwei Tagen in Rostock, wo sie in einem schönen Hotel wohnten, sollte es zuerst nach Frankreich und dann wieder nach Südafrika gehen, wo sie bereits Station gemacht hatten.

Südafrika war das zweite Zauberwort neben Australien, darum rankte sich die Hauptgeschichte des Abends. Dort hatte nämlich Mister Oh Brein etwas Epochales miterlebt: die erste Herztransplantation der Welt, bei der um die dreißig Leute dem federführenden Chirurgen assistierten. Und das war erst kürzlich geschehen, Anfang Dezember! Das kleine Mädchen dachte sofort an den gruseligen Film vom kalten Herz, den sie erst vor wenigen Tagen gesehen hatte und der ihr seitdem in den Knochen steckte – nicht weil der Holländer-Michel dem Peter Munk in den Leib hineingriff, wie es ja auch ihr Vater bei seinen Patienten tat, sondern weil das eingesetzte Herz aus Stein und so eiskalt war. Eingeschüchtert fragte Lotte, woraus das Herz war, das in Südafrika transplantiert wurde. Es sei ein menschliches von einem Verunglückten, bekam sie zur Antwort. Solche hatte der Holländer-Michel auch zu bieten, an einer Wand hatte er die aus den Menschen herausgenommenen pulsierenden Herzen aufgehängt. So eines also hatten die Ärzte in Südafrika jemandem eingepflanzt. Lotte stellte sich lebhaft den Austausch vor. Das Einnähen und Zunähen war ihr plausibel, schließlich war sie ein Chirurgenkind und hatte oft genug von den Reparaturen am und im menschlichen Körper gehört. Doktor Bernhard hieß der große Arzt, der mit zig Mitarbeitern gemeinsam das bahnbrechende Werk vollbracht hatte. Dieser Name brannte sich ihr ins Gedächtnis.

Der Patient lebe noch, so betonten die Oh Breins begeistert. Hier wiederum dachte Lottchen schulterzuckend, warum denn nicht – mit einem Ersatzteil konnte ein Mensch eben länger leben als ohne. Aber ihre Eltern schienen sehr beeindruckt zu sein, und auch die Oh Breins ließen von dem Thema nicht ab. Dass der Patient noch lebte, lag vielleicht gerade an der Anwesenheit von Mister Oh Brein bei der denkwürdigen Operation, deren Gelingen womöglich unmittelbar mit ihm zu tun hatte, schloss Lotte aus seiner begeisterten Schilderung. Sie malte sich aus, wie sich die dreißig herbeigerufenen Weißkittel mehrfach huldvoll um den Operationstisch herum verbeugten, während eine beschwörende Stimme „Oh Brein! Oh Brein!“ deklamierte, um sie auf die Verrichtung ihres großen Werkes an einem menschlichen Herzen einzustimmen. Der Namensträger selbst stand würdevoll dabei und gab sodann durch einen hoheitsvollen Wink das Signal zum Beginn der epochalen Transplantation.

Die südafrikanische Herzgeschichte und der Besuch der nun wieder abgereisten Australier hielten Lottes Gedanken beschäftigt und beflügelten ihre unbestimmte Sehnsucht nach der Ferne, vielleicht gaben sie ihr erstmals eine Richtung: nach dem ungeahnten Süden der Erde.

Ein paar Tage später war Heiligabend, in heller Aufregung bestaunte Lottchen die Geschenke unterm Tannenbaum, sie war glücklich über das Abenteuerbuch „Orinoko“, die Buntstifte und das rote Schreibetui, das wunderbar nach Leder roch. Dann fiel ihr Blick auf ein großformatiges quadratisches Mitbringsel der Oh Breins, das für die ganze Familie gedacht war und deshalb etwas abseits lag. Die Vorderseite war ausgefüllt von dem Bild einer Großstadtlandschaft mit Wolkenkratzern und einem stahlblauen Himmel dahinter. Australia 1968 stand groß am unteren Rand. Es war ein Wandkalender, wie Lotte ihn noch nie gesehen hatte: Wenn ein neuer Monat dran war, riss man keine Seite ab, sondern klappte die mit dem neuen Monat über die mit dem vorherigen. Auf der oberen Hälfte des Kalenders, an deren Kante sich ein Loch zum Aufhängen befand, war das Kalendarium gedruckt; auf der unteren prangte ein riesiges buntes Foto. Lotte kannte eigentlich nur schwarz-weiße Kalender zum Abreißen. Das höchste der Gefühle war der Brockhaus-Weltkalender, der ganz wenige bunte Seiten enthielt; im vergangenen Jahr gehörte dazu eine unscharfe Abbildung vom Titicacasee, dessen Name allein schon Sehnsüchte weckte. Und dann das hier: gestochen scharfe Farbfotos, so als stünde man direkt vor der abgebildeten Szene!

Fasziniert blätterte sie die ungewöhnlich großen Bilder durch, wieder und wieder, und konnte sich nicht sattsehen: Es gab eine rote Wüste mit spärlichem graugrünen Bewuchs; es gab einen überdimensionalen roten Felsen, der wie ein Buckel in der flachen, ebenfalls roten Landschaft lag; es gab putzige Reihenhäuser, davor weiß angestrichene, filigran verschnörkelte Metallzäune; es gab grellweiße Sandstrände; einen kleinen Zug, der durch einen dichten Dschungel fuhr; und drei kohleschwarze Männer mit kleinen Schurzen, deren Arme, Beine und Oberkörper mit ockerfarbenen, roten und braunen Tupfen bemalt waren, als wären sie Kunstwerke. So schwarze Menschen hatte Lotte noch nie erblickt. Sie kannte nur die im Vergleich mit anderen aus dem Nahen Osten und Nordafrika stammenden Kollegen ihres Vaters um einiges dunklere braune Haut von Doktor Zaki aus Khartoum. Auf dem Dezemberfoto sah man einen Palmenstrand mit Lichterketten und einem Aufsteller vor einem Kiosk mit dem Bild von einem merkwürdigen Hirsch, der wie ein menschliches Wesen grinste und einen Schlitten durch den Schnee zog, was so gar nicht zu der sommerlichen Szenerie ringsherum passte; auf dem Julifoto dagegen waren Skifahrer auf schneebedeckten Bergen abgebildet. Nach und nach las sie die Bildlegenden, sie las sie immer wieder und lernte dadurch allerhand über Australien. Natürlich zuallererst, dass Sommer und Winter für ihr Verständnis vertauscht waren, dass es auch in einem Land mit trockenen Wüsten Schnee gab und dass in Australien Ureinwohner lebten, die ganz schwarz aussahen und beeindruckende Malereien auf ihren Leibern trugen.

 

Jahre später, als junge Frau, entdeckte Lotte eines Tages im Schaufenster einer Buchhandlung einen aufgeschlagenen großen Bildband. Bildbände waren begehrt, sie ließen Blicke in die Welt hinter dem Eisernen Vorhang zu und heizten das Fernweh an, das nie gestillt werden konnte. Mehrere Passanten waren davor stehen geblieben, so wie Lotte verzückt von dem traumhaften Panoramafoto. Sie standen da und betrachteten eine türkisblaue Meeresbucht mit feinem weißem Sand am Ufer, gesäumt von Palmen mit leuchtend grünen Blättern. Das Foto nahm die gesamte Doppelseite ein. Neben dem aufgeschlagenen Buch lag ein zweites geschlossenes Exemplar des raren Bildbandes. Auf dem Umschlag – auch er von einem schönen Panoramafoto geziert – stand Australien. Was hatte die Belegschaft der Buchhandlung dazu veranlasst, ausgerechnet dieses verlockende Buch auszustellen, das doch nur ein unerfüllbares Verlangen weckte? Vielleicht war es ein solidarisches Gefühl, von der Erkundung der Welt ausgeschlossen zu sein, das sie mit den Vorübergehenden teilen wollte.

Eine Woge der Wehmut erfasste Lotte, sie fühlte sich an den Australienkalender erinnert, an ihr Staunen und ihr Fernweh, beides war bis zu diesem Tag immer weiter gewachsen und zu einem durch nichts zu kurierenden Schmerz geworden, der ihre Seele bedrückte. Den Kalender hatte sie damals von ihren Eltern erbettelt, Jahr um Jahr hatte sie ihn aufgehängt, umgeblättert, seine Details verinnerlicht. Irgendwann war er so zerfleddert, dass sie ihn wegwarf. Wenn auch mit Traurigkeit im Herzen. Jetzt bereute sie, dass sie den Kalender nicht aufgehoben hatte als letzten Hinweis auf eine Welt jenseits ihres tristen Alltags in einem schmutzigen Meer maroder, baufälliger Häuser mit leutseligen Nachbarn, die einen heißen Draht zum Sicherheitsdienst hatten.

„Oh Brein“, seufzte sie. Ob das australische Ehepaar wohl manchmal an seine Stippvisite in Ostdeutschland zurückdachte? Post war von ihnen nie mehr hierher gelangt; aber wer wusste schon, ob sie abgefangen worden war oder ob die Australier tatsächlich nie eine Karte oder einen Brief geschickt hatten. Was mochten diese beiden jetzt wohl machen? Und wo? Ihnen stand bestimmt immer noch die ganze Welt offen. „Oh Brein!“, hallte es in ihr wie eine Klage.

Weiter vergingen die Jahre, zogen sich klebrig und glücklos dahin. Die schier endlose Gegenwart war öde, Lottes Arbeit ein erniedrigendes Zeittotschlagen, die Stelle hatte sie akzeptieren müssen, sonst hätte sie ihr Diplom nicht ausgehändigt bekommen. Eine Zukunft war nicht in Sicht. Irgendwelche zaghaften Wunschvorstellungen von einem erfüllten Leben, in dem sie ihren Neigungen und Talenten gemäß tätig sein oder sich gar über Grenzen hinweg frei bewegen könnte, hatten sich fast schon gänzlich verflüchtigt. Von so etwas Fabelhaftem wie einem Sebettikel ganz zu schweigen, bei dem sie sich vieles von Kollegen in anderen Ländern hätten abgucken können. Lotte blieb in einem lächerlichen, schlimmen Land eingesperrt.

Irgendwann jedoch, an einem Tag, den sie zuvor als Sankt-Nimmerleins-Tag bezeichnet hätte, öffneten sich die Tore. Als Erstes fuhr sie mit dem Schiff nach Dänemark, heulend stand sie an der Reling und schaute auf das ehedem verwunschene Ufer zurück, von wo aus sie einst mit dem Fernglas ihren neugierigen Blick über die See gerichtet hatte.

Das war der Auftakt zu einem bewegten Dasein, in dem sie all die verlorenen Jahre nachzuholen versuchte. Nun war möglich, was ihr zuvor verwehrt gewesen war: Mit Feuereifer stürzte sie sich in eine wissenschaftliche Arbeit. Sogar ein Sabbatical, dessen Schreibweise ihr inzwischen geläufig war, stand in Form eines Forschungsstipendiums in Australien auf ihrem Programm. Damit erfüllte sich ihr Traum, in das Land zu reisen, von dem einst zwei Fremde aus Melbourne die erste Botschaft von Freiheit in ihre Familie gebracht hatten. Zur Krönung ihres Glücks war es ausgerechnet die Universität von Melbourne, wo sie ein halbes Jahr forschen durfte.

Es kostete Lotte nicht allzu viel, ihre Eltern zu überreden, sie unten am anderen Ende der Welt zu besuchen und mit ihr die neue Reisefreiheit zu feiern. Als sie kamen, klapperten sie zusammen die Sehenswürdigkeiten der Stadt ab, vom Queen-Victoria-Markt bis hin zum Pentridge Prison. Und dort erfuhren sie, dass 1967 in diesem Gefängnis der letzte Mann in Australien am Galgen gehängt wurde. Im selben Jahr, dachte Lotte, als das australische Ehepaar zu Besuch in die vom Kalten Krieg gelähmte ostdeutsche Provinz kam.

„Wisst ihr noch? Das Ehepaar aus Melbourne, das bei uns in Rostock war? Dieser Arzt und seine Frau?“

Die Eltern horchten auf: „Ja – wie hießen sie noch?“

„O’Brian“, erinnerte sich der Vater nach kurzem Überlegen, und beide nickten bedächtig, als Lotte ihr Gedächtnis mit der Jahreszahl des Besuchs auffrischte, die sie über all die Zeit besser als ihre Eltern im Hinterkopf behalten hatte.

In einer Ausstellung des Koorie Heritage Trust, der erst ein paar Jahre zuvor gegründet worden war, erfuhren sie, dass die Aborigines, von denen Lotte als Kind durch das Gastgeschenk jener Besucher erfahren hatte, auch in eben jenem Jahr auf ein Referendum hin erstmals in der Volkszählung als australische Staatsbürger anerkannt wurden. Viel, viel gab es zu lernen und zu bestaunen, und Lotte war selig, dieses Erlebnis mit ihren Eltern teilen zu können. Später kamen sie noch einmal auf die O’Brians zu sprechen. Es sei schade, dass man unter den damaligen Umständen keine Verbindung habe halten können.

„Wer weiß, ob sie noch leben“, meinte Lottes Vater nachdenklich und ein wenig wehmütig. „Das wäre natürlich wunderbar gewesen, sie heute und hier wiederzusehen.“

Später erfuhr Lotte auch, dass jener erste Mensch, dem am 3. Dezember 1967 im Groote Schuur Hospital in Kapstadt ein fremdes Herz implantiert wurde, am 21. Dezember starb – ein Tag, nachdem das australische Ehepaar Lottes Familie von dem epochalen Ereignis berichtet hatte. Oh Brein … War also die Götteranrufung umsonst gewesen?