Seit einem Jahr suchte Irina nach einer neuen Wohnung. Hunderte Bewerbungen, hunderte Besichtigungen, unzählige Gesichter – an wolkenvollen wie sonnigen Tagen. Alles drängte sich dicht aneinander, ohne Distanz, ohne Masken. Doch Licht am Ende des Tunnels sah sie keines. Nur Absagen, oft schweigend, ohne jegliche Antwort. Sie rief noch einmal und noch einmal an, doch vergebens. Die Wohnungen waren schon vergeben.
„Vergebens, vergeben,“ flüsterte sie. „Nur ein kleines s trennt beide Wörter voneinander.“
Auch an diesem Tag begab sie sich voller Hoffnung auf die Wohnungsbesichtigung. In den Fenstern des sechsstöckigen Hauses ohne Aufzug erschienen besorgte Gesichter, die ebenso schnell wieder verschwanden. Kein Zirkus, keine Demo, nichts Besonderes – nur eine Schlange. Eine Schlange, länger vielleicht als die vor dem Dönerladen am Mehringdamm.
Irina stellte sich ans Ende der Schlange. Vor ihr standen Mützen, Schals, Strohhüte und Bandanas. Schuhe mit Absätzen und ohne, große Turnschuhe, kleine Kinderfüße und sogar nackte. Eine Hand hielt geschmierte Brote, Biobrötchen oder Döner, die andere ein Handy – oder einfach nichts. Der Geruch von Essen vermischte sich mit Parfüm, Schweiß und Waschmittel.
„Ist das nicht auch eine Art von Freiheit?“ dachte Irina plötzlich. „Das Recht, hier zu stehen, mich zu zeigen, meine Stimme abzugeben – wenn auch nur in Form eines Wohnungsantrags.“
Das Objekt der Begierde war eine Zweizimmerwohnung im sechsten Stock, ohne Aufzug, ohne Balkon. Ohne Tapeten und Bodenbelag – alles zur Selbstverwirklichung.
In der Küche gluckste der Wasserhahn, als wollte er sich für seine einsame Existenz entschuldigen. Das Wohnzimmerfenster zeigte nur die Wand des Nachbarhauses, doch Irina stellte sich vor, wie sie dort ihre Blumenvase platzieren würde.
„in diesem Zimmer können meine acht Kinder schlafen!“, rief ein Mann. „Nein, meine neun!“, widersprach ein anderer. „Ich zahle im Voraus für ein Jahr!“, rief jemand und zog ein dickes Portemonnaie hervor. Irina musste lächeln.
Als sie später aus dem Haus trat, sah sie zurück auf die neu gebildete Schlange. Die Neuankömmlinge warteten noch immer – manche müde, andere entschlossen. Sie dachte an all die anderen Male, an denen sie irgendwo angestanden hatte: bei Demos, in Rathäusern, vor Clubs.
In diesem Moment begriff sie: Es war nicht nur die Wohnung, die sie suchte. Es war das Recht, dabei zu sein, sich zu versammeln und sichtbar zu machen.
Die Versammlungsfreiheit, dachte sie, ist wie diese Schlange. Sie mag chaotisch und anstrengend sein, aber ohne sie wäre alles stumm.