Ich stehe hier nur, weil ich es kann

von Verena Schiffmann

22. Februar 2025 – Lörracher Marktplatz – Verena

Morgen um kurz vor 18 Uhr werde ich den Fernseher einschalten, um die ersten Prognosen zur Bundestagswahl zu hören. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Die Vorhersagen sagen nichts Gutes und ich fürchte, dass es noch schlimmer kommen wird.

Aber heute stehen wir noch einmal hier auf dem Marktplatz und demonstrieren, gegen die AFD, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen rechtsextreme Hetze und Gewalt. Wir sind viele, um die 3000 hier in der Kleinstadt, mehrere Hunderttausende im ganzen Land.

Ich habe „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ auf mein Plakat geschrieben. Mit 12 war ich zum ersten Mal auf einer Demo, 1993 nach den rechtsextremen Morden in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen. Damals gab es hier eine Lichterkette, meine Schulkameradinnen und ich wollten unbedingt dabei sein. Wir trugen T-Shirts, auf denen Artikel eins des Grundgesetzes stand.

Es ist kalt, ich trete von einem Bein aufs andere. Ich könnte mir einen warmen Tee holen, es sind Leute da, die gratis heiße Getränke und Waffeln verteilen. Ich werde zehn Euro in eine Spendenkasse legen, um sie bei der Deckung der Unkosten zu unterstützen. Ich mache ein Foto von den farbigen Schirmen, die wir passend zum Motto „Abschirmen gegen rechts“ mitgebracht und aufgespannt haben. Bunte Schirme vor strahlend blauem Himmel, was für ein unschuldiges Bild. Wenn ich es poste und „Demo gegen rechts“ darunter schreibe, bekomme ich sicher ein paar Likes von meinen Freunden.

 

14. Juli 1851 – Gefängnis im Ludwigsburger Schloss – Julius

Ich muss meiner Verlobten schreiben und ihr Mitteilung machen. Nun bin ich doch gefangen gesetzt worden. Ungewiss, wann sie mir den Prozess machen. Sie muss wissen, dass ich alsbald nicht zurückkehren werde, dass mich mein Entschluss von damals nun doch teuer zu stehen kommt.

An jenem Pfingsttag vor zwei Jahren in Reutlingen haben wir uns mit der Freiheit bekannt gemacht. 20 000 Mann waren wir, 20 000 für das Ende der Knechtschaft, prachtvoll war unsere Erscheinung mit den schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die Soldaten hatten uns versichert, den Befehl zu verweigern, die Waffen nicht gegen das Volk zu erheben und auf unserer Seite zu kämpfen. Unbeirrbar sind wir marschiert, 20 000 Mann, mit demselben Ziel vor Augen, 20 000, bereit zu kämpfen: „Freiheit oder Tod“.

So mancher hat schon mit dem Leben bezahlt. Freilich, wir waren bereit dazu, doch der Gedanke an sie verlässt mich nicht. Mir ist, als müsste ich sie um Vergebung bitten.

Fürwahr es war schwer, mich mit meinen eigenen Wurzeln auszureißen und die Heimat zu verlassen. In der Schweiz habe ich Zuflucht gefunden. In diesem vorzüglichen Land, wo es schon vollbracht ist, wo die Verfassung gilt und ein jeder frei ist. Oft bin ich in Arbon am See gestanden, wo am anderen Ufer die Heimat zu erahnen ist. Und doch habe ich dort auch mein Herz verschenkt. Kaum ein halbes Jahr ist vergangen, seit wir uns verlobt haben.

Hernach ist mein Vater erkrankt, die Geschäfte gingen schlecht, meine Geschwister waren verzweifelt. Ich bin zu meiner Familie zurückgekehrt, um ihnen beizustehen. Nun muss ich den Preis dafür bezahlen. Sie werden mich bis zum Prozess hierbehalten. Die Anklage wird auf Hochverrat lauten, Festungshaft wird die Strafe sein. Ich werde die Reise auf den Hohenasperg antreten und die Redensart, über die wir manches Mal gespottet haben, wird sich an mir bewahrheiten: „Der Hohenasperg ist der höchste Berg Württembergs, es dauert nur fünf Minuten, um hinaufzukommen, aber Jahre um wieder hinunter zu gelangen.“

Ich will nicht bitter werden, ich werde es überdauern. Manchen Freund werde ich dort oben wiedersehen. Falls sie uns das Gespräch verbieten, werden wir schon einen Weg finden, uns zu verstehen. Mit dem Rhythmus unserer Schritte werden wir „Versammlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit“ rufen. Falls wir den Himmel nicht zu Gesicht bekommen, werden wir des blauen Himmels über Reutlingen gedenken und der schwarz-rot-goldenen Fahnen.

Morgen muss ich um Papier bitten und um die Erlaubnis ersuchen, meiner Verlobten zu schreiben. Nur weiss ich nicht, wie ich es beginnen soll. Diese Nacht, die erste, die ich auf einem Strohsack zubringe, werde ich darüber obsinnen. Soll ich ihr sagen „Harre aus und warte auf mich“ oder „Mein Schatz, es wird lange dauern, warte nicht“.

 

19. Januar 1919 – Vor einem Schulhaus in Stuttgart- Conrad, Julius‘ Sohn

Es ist bitterkalt, aber das soll uns nicht stören. Vielleicht wird es noch schneien. Schnee brauchen wir wohl nicht mehr. Die zahllosen weissen Flugblätter, die so weit das Auge reicht, vom Himmel zu fallen scheinen und auf der Strasse liegen, kontrastieren ebenso gut mit dem blauen Himmel. An den Häuserwänden sind bunte Plakate angeklebt. Die Menschen sind zahlreich gekommen, hunderte Frauen und Männer harren vor dem Wahllokal oft stundenlang aus, bis sie an der Reihe sind. Ihre Stimme zur Wahl der verfassungsgebenden Nationalversammlung wird zählen.

Eines der Flugblätter mahnt die Leute, nicht stehen zu bleiben, keine Ansammlungen zu bilden, gleich nach der Wahl nach Hause zu gehen. Wer Waffen mit sich führt, werde verhaftet. Sicherheitsleute sind vor Ort. Bis jetzt ist es allenthalben friedlich geblieben. 

Wir werden wohl den ganzen Tag hier zubringen. Mein Sohn hilft mir dabei, unsere Stimmzettel an die Wähler auszuteilen. Es soll ihm den Zorn darüber nehmen, dass er fünfzehnjährig noch zu jung ist, um an die Urne zu gehen.  Er macht seine Sache gut, spricht die Leute höflich an und bittet um eine Stimme für die Deutsche Demokratische Partei.

Eben habe ich einen Mann sagen höre, er nehme heute das erste Mal in seinem Leben an einer Wahl teil. Den bisherigen Parlamenten habe er seine Stimme verweigert, der Reichstag sei doch nur eine Rednertribüne gewesen.

Dieser Rednertribüne habe ich 20 Jahre lang angehört. Noch vor wenigen Wochen, als alles auf Messers Schneide stand, war ich in Berlin. Mit dem Willen der Wähler werde ich bald wieder aufbrechen, man hat den Tagungsort nach Weimar verlegt. Dort werden wir gleich die Arbeit an der neuen Verfassung aufnehmen.

Ich bin versucht mit dem toten Vater zu sprechen: «Siehst du, Vater, diesmal wird es gelingen.» Doch ehe ich seine Stimme vernehme, welche mir gratuliert, sehe ich die Gesichter meiner beiden Neffen vor mir und höre sie schreien. So jung haben sie unter fremdem Himmel ihr Leben verloren, niemand weiss, wo sie verscharrt wurden. Wir haben wahrlich um den Frieden gerungen, für sie kommt er auf immer zu spät.

Die Stimme meines Sohnes reisst mich aus den Gedanken: «Vater, willst du nicht einmal ausrechnen, wie viele Jahre deines Lebens du im Zug nach Weimar und Berlin verbracht haben wirst?» Ich schmunzle, doch ich werde es sein lassen. Ist dies doch die einzige Zeit, die mir zum Lieder machen bleibt.

 

13. Januar 1943- ein Wohnhaus in Stuttgart – Wolfgang, Julius’ Enkel

Gleich kommt mein Vetter, er wird an der Seite zur Küche hereinschleichen. An den Freitagabenden treffen wir uns und ziehen uns zum heimlichen Radiohören zurück, es ist uns gelungen, Radio Beromünster aus der Schweiz zu empfangen. Gleich wird das Pausenzeichen wieder ertönen, der Westminsterschlag. «Freiheit, Freiheit, Freiheit, Freiheit» singe ich im Stillen, wenn ich sie höre.

Mein Vater hat schon an diesem Schreibtisch gesessen und gearbeitet. Früher hing ein Bild vom Hohenasperg hier. «Die Burg der Väter» hatte jemand darübergeschrieben. Vorsicht ist geboten, daher habe ich ihn wie so vieles andere entfernt. nur die Miniaturschreinereien, die mein Grossvater während der Haft angefertigt hat, stehen im Regal.

Der Vater ist nicht mehr am Leben, wie gut, dass er zu einer Zeit sterben durfte, als das Ziel erreicht schien. Damala, als die Verfassung in Weimar verabschiedet wurde, haben die Zeitungen es schneller gedruckt, als der Vater es uns in Briefen berichten konnte.

Seinen Füllfederhalter habe ich noch, ich nehme ein Blatt Papier zur Hand und tränke die Feder in Tinte: «Versammlungsfreiheit», schreibe ich. «Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln». Rasch zerknülle ich das Papier und werfe es in den Papierkorb.

Ich stehe auf und werfe einen Blick hinaus auf den Kastanienbaum und die Strasse. Obwohl ich täglich das Haus verlasse, kommt es mir so vor, als habe ich schon lange den Himmel nicht gesehen, nur ein fahlgraues Rechteck hinter einem Fensterrahmen.

 

18. September 1945 – dasselbe Wohnhaus in Stuttgart – Lotte, Wolfgangs Frau

Ich stehe am Fenster. Bald wird hier neben mir eine Wiege stehen und in einem Jahr wird mein Kind schon groß genug sein, um im Vorgarten Kastanien aufzuheben. Ich hoffe, dass es diesmal ein Mädchen ist.

Die Stadt liegt in Trümmern, doch von hier aus sehe ich es nicht. Bald werden die Freunde eintreffen. Sie werden das Gartentor öffnen, den Kiesweg im Vorgarten entlanggehen, Wolfgang wird sie unten an der Tür erwarten und sie einlassen. Jeder, der auf der Strasse vorbeigeht, kann sie sehen.

Nur einen Tag hat es gedauert. Erst gestern ist Wolfgang mit dem Antrag zu den Amerikanern gegangen, heute haben sie ihm die Bewilligung erteilt. Die Gründung von Parteien ist wieder gestattet. Schon heute werden sie sich also hier versammeln, um die Demokratische Volkspartei wieder aus der Taufe zu heben, ein kleiner Kreis wird es heute sein, bald schon werden sich andere anschliessen. Hier am Fenster will ich stehen und sie kommen sehen.

Ich werde mir das Bild für immer einprägen, wie blau der Himmel heute war und wie prächtig der Kastanienbaum.

Ich habe Wolfgang nie verraten, dass, wenn er freitagabends mit seinem Vetter am Radio sass, unsere grossen Söhne und ich zwei Zimmer weiter dieselbe Sendung hörten. Die Buben waren findig und wussten, es zu bewerkstelligen, den ausländischen Sender zu bekommen. Ich weiss nicht, ob er schmunzeln oder mir grollen würde, wenn er es wüsste. Seit Kriegsende bin ich nicht mehr in der Lage, beim Westminsterschlag zucke ich zusammen. Die Angst all der Jahre wird niemals mehr völlig aus meinem Körper weichen.

Ich sehe mich schon Abend für Abend hier am Fenster sitzen und warten, bis Wolfgang das Gartentor öffnet und nach Hause kommt, jetzt wo er die politische Arbeit wiederaufnehmen wird. Ein langer Weg liegt vor ihm, er wird ihn entschlossenen Schrittes gehen, und ich werde hinter ihm stehen.

Heute Abend, wenn die Versammlung vorbei ist, habe ich noch ein Geschenk für ihn. Ich habe einmal aus seinem Papierkorb ein zerknülltes Blatt Papier genommen, um zu schauen, ob die Rückseite noch zu gebrauchen wäre. Er hatte den Paragraphen zur Versammlungsfreiheit darauf notiert. Ich habe es glattgestrichen, aufbewahrt und eingerahmt.

 

22. Februar 2025 –Lörracher Marktplatz – Verena, Julius’ Ururenkelin

Als mein Großvater Wolfgang starb, war ich acht Jahre alt. Während seiner politischen Laufbahn hat er sich der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen angenommen. Ob er den ersten Schritt gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, dass nur ein Bruchteil des Zieles zu erreichen war? 

Statt um Vasen, Silberbesteck, Bilder und Schmuck ist unter meiner Mutter und ihren Brüdern nach seinem Tod ein Streit entbrannt. Die Miniaturschreinereien, mit denen sich mein Ururgrossvater Julius während seiner Haft auf dem Hohenasperg die Zeit vertrieb, waren bereits dem dortigen Museum vermacht worden. Aber alle wollten das zerknüllte und dann gerahmte Blatt Papier haben, das unsere Grossmutter für ihn aufbewahrt hatte und das bis zu seinem Tod über seinem Schreibtisch hing. Am Ende entschied das Los und meine Mutter hat es bekommen.

Ungefähr zur gleichen Zeit wollte ich zum ersten Mal auf eine Demo gehen. Die Republikaner waren in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen, aus diesem Anlass gab es Kundgebungen. Unsere Lehrerin hat mit uns über Fremdenfeindlichkeit gesprochen, davor hätte ich nicht gewusst, was das ist. In meiner Grundschulklasse in einem Stuttgarter Vorort waren wir Kinder mit mindestens zehn verschiedenen Nationalitäten, das war nichts Bemerkenswertes für mich. Ein Junge hat damals das Wort ergriffen, und gesagt, wenn die Ausländer gingen, würde er mitgehen, sonst hätte er ja keine Freunde mehr.

Nach diesem Gespräch wollte ich dringend an der Demonstration teilnehmen, aber meine Mutter, die hinging, erlaubte es nicht. Zum Trost hat sie mir den Bilderrahmen mit der Handschrift meines Grossvaters geschenkt und ich habe das Wort «Versammlungsfreiheit» gelernt.

Manchmal denke ich an meine Ururgrossmutter, die sich dreieinhalb Jahre geduldet hat, bis ihr Verlobter aus der Haft entlassen wurde. Zwei Jahre später ist sie nach der Geburt von Zwillingen gestorben. Wenn sie nicht gewartet hätte, könnte ich jetzt nicht hier unter dem blauen Himmel in der Kälte stehen und mir die Hände einer Teetasse wärmen. Sie war 30 als sie starb, ich bin jetzt anderthalbmal so alt wie sie. Weder in der Schweiz, noch in Württemberg hat sie jemals das Wahlrecht besessen.

So wie hier und heute bin ich gegen den Irak-Krieg auf die Strasse gegangen, gegen Studiengebühren, für Frieden in der Ukraine, für die Gleichstellung der Frau und für die Rechte von Sans-Papiers. Vielleicht stehe ich in absehbarer Zeit wieder hier, weil die Brandmauer gegen die AFD gefallen ist. Ich sollte mir wieder ein T-Shirt drucken zu lassen, auf dem «Die Würde des Menschen ist unantastbar» steht, das könnte ich in Zukunft immer anziehen, zumindest wenn es wärmer ist.

Dass ich hier stehe, erfordert keinen Mut und kein Opfer, ich nehme kein Risiko auf mich, es ist ganz leicht, es kostet mich nichts.  Ich stehe hier nur, weil ich es kann.