Einander zuhören

von Kristin Dose

Als Lelia erwacht, schwebt ein Gesicht über ihr. Ihre Augen sind wie zugeklebt und noch bevor sie ihn richtig sehen kann, kann sie ihn riechen. Sein Geruch war ihr schon am Abend aufgefallen – irgendwie frisch, aber nicht nach Parfum. Eher so wie frisch geduscht.

Lelia reibt sich die Augen und da sitzt Darius, fix und fertig angezogen, auf ihrer Bettkante. Selbst die Turnschuh hat er schon an.

„Verdammt … Ähm, Sorry … ich meine, ich wollte dich nicht wecken. Tut mir leid.“, stammelt er. Sie drückt sich aus dem Bett hoch und erst als dabei die Bettdecke von ihren Schultern rutscht, fühlt sie sich so komplett nackt, wie sie ist. Schnell rafft sie die Decke wieder nach oben und wickelt sich so gut es geht darin ein. Darius lächelt. Diese kleinen Grübchen, wenn er lächelt, waren Lelia sofort aufgefallen. Dann kratzt er sich am Hinterkopf und sagt: „Hey sorry, ich muss leider los. Ich wollte mich jetzt echt nicht so vom Acker machen. Aber … naja, ich hab einen Job und muss da echt pünktlich sein.“

Lelia kann ihre Gedanken nicht so schnell ordnen. Welchen Job? Hatte er ihr davon erzählt? Müsste sie das wissen? Sie haben so viel geredet. Es war so spät geworden. Wie spät ist es überhaupt? Sie hatten nur kurz geschlafen. Hatte sie mit ihm geschlafen? Naja, das sieht stark danach aus.

Als ob er ihren Gedanken gelesen hat, sagt er: „Ist erst halb acht. Du kannst noch weiter schlafen. Ich wollte dich echt nicht wecken. Nur nochmal kurz schauen … und naja.“

„Nicht so schlimm.“, ihre Stimme versagt und sie räuspert sich. „Willst du noch einen Kaffee?“

„Nee, keine Zeit. Ich muss jetzt wirklich.“

„Okay … hm, na dann …“

„Ja, genau. Hm, danke, wollte ich noch sagen. Also, danke für den schönen Abend gestern. War echt … schön.“, wieder lächelt er. Wunderschönes Lächeln, denkt Lelia.

„Also ich sag mal so Tschüss. Und wir sehen uns ja dann wieder an der Uni.“ Er zögert einen Moment, dann steht er auf und sagt schon in der Tür stehend: „leg dich wieder hin und schlaf noch ein bisschen. Die Nacht war ja kurz. Danke nochmal. Tschüss.“

Lelia hört seine Schritte im Flur, dann die Wohnungstür und immer leiser werdend, wie er schnell die Treppenstufen nach unten läuft. Dann ist alles still. Sie lässt sich rückwärts in ihr Kissen fallen, schließt die Augen, aber schlafen kann sie nun nicht mehr. Ihre Gedanken kreisen um Darius. Sein Geruch hängt noch in der Luft, in ihrem Bett, an ihr.

Lelia kriecht aus dem Bett, wirft sich ein T-Shirt über und schlüpft in die Jogginghose. Sie schlurft zum Bad, an der geöffneten Küchentür vorbei, wo Josie sich gerade einen Kaffee macht. „Ich mach dir gleich einen mit und dann kannst du mir alles erzählen“, ruft sie lachend während Lelia ins Bad tappt.

 

Als Lelia frisch geduscht und umgezogen in die Küche kommt, sitzt ihre Mitbewohnerin schon am gedeckten Frühstückstisch mit Aufbackbrötchen, Marmelade und zwei großen Tassen Kaffee.

„Na, schöne Nacht gehabt?“, fragt Josie lächelnd.

„Hmmm“, bejaht Lelia mit der Kaffeetasse bereits am Mund. Auch wenn Josie oft anstrengend ist, jetzt in diesem Moment freut sich Lelia, nicht allein sein zu müssen.

„Na wie heißt er denn? Und was ist passiert? Ich dachte du musst so viel lernen?

„Muss ich auch. Muss gleich weiter machen. Nur noch 5 Tage bis zum Staatsexamen.“

„Naja, Frühstück wird ja wohl noch drin sein. Und jetzt erzähle mal. Wo hast du den aufgegabelt?“

„In der Bibliothek.“

„Nicht dein Ernst! Dann ist das ganze lernen doch noch zu was gut“, Josie lacht so laut, dass es auch Lelia ansteckt.

„Darius, er heißt Darius. Er studiert VWL. Ich hab ihn schon paar Mal an der Uni gesehen, oder in der Bib. Also er war mir schon mal aufgefallen. Aber ich hatte halt noch nie mit ihm gesprochen. Naja, ich geh ja auch nicht zu dem hin und spreche den an.“

„Und gestern hat er dich angesprochen?“

„Naja, so ungefähr. Wir haben beide den Bus vor der Bib verpasst. Ich bin noch gerannt und da ist meine Tasche gerissen. Die Bücher überall auf dem Fußweg verteilt. Er war voll süß und hat mir beim eisammeln geholfen. Na und dann war der Bus natürlich weg.

Der nächste kam erst in 15 Minuten und da hat er vorgeschlagen, ob wir nicht zusammen zur nächsten Haltestelle laufen wollen. Auf dem Weg ist da der Dönerladen. Da haben wir dann noch was gegessen. Naja und dann war wieder der nächste Bus weg und dann sind wir weiter gelaufen.“

„Was? Seid ihr etwa von der Uni bis hierher gelaufen?“, Josies Blick ist so entsetzt, als ob es sich um einen Fußmarsch von 20 Kilometer durch die Wüste handeln würde. 

„Hmmm, naja so weit ist es nun auch nicht. Und es war noch so schön warm. Und wir haben die ganze Zeit geredet. Ich glaube ich habe noch nie so lange am Stück mit einem Typen geredet.“

„Worüber denn?“

„Über alles irgendwie. Die Uni, das Leben, die Welt …. “

„Aha. Und weil ihr mal eine Redepause brauchtet, seid ihr miteinander ins Bett gegangen?“

„Naja, es war schon 1:00 Uhr, als wir hier ankamen. Und ich wollt eigentlich Tschüss sagen und dann haben wir uns geküsst. Und dann wollt ich nicht, dass er geht. So kam das halt.“

Josie lächelt süffisant. „Ach so kam das halt. Na, ich denke mal, das es dir ganz gut tut, dass er dich mal hinter den Büchern vorgeholt hat. Du siehst gleich viel frischer aus.“

„Danke. Aber ich muss jetzt unbedingt weiter machen. Ich hänge echt hinterher in meinem Plan. Also ich muss heute voll durchziehen und wegen heut Nachmittag …“

„Nenee, keine Ausreden. Du kommst schön mit. Gerade als angehende Juristin ist das deine staatsbürgerliche Pflicht.“, unterbricht Josie. „Du kannst den ganzen Tag lernen und von mir aus auch die ganze Nacht. Wenn du da nichts Besseres zu tun hast. Haha. Aber du kannst dich mal für zwei Stunden von deinen Büchern loseisen und mit mir zur Demo gehen.“

Da ist sie wieder, die anstrengende Josie, die nicht locker lässt, wenn sie sich in ein Thema verbissen hat. Im Moment kämpft sie gegen Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Rechtsextreme und Corona-Leugner. Als Gegenbewegung zur geplanten Corona Demo hat sie eine Menschenkette mit organisiert. Alle MedizinerInnen und Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, sollen sich um die Uniklinik herum positionieren, als Schutzwall gegen die Corona Leugner.

„Jede Person zählt. Du musst unbedingt mitkommen.“, beendet Josie ihre Rede und damit ist die Sache gegessen. Widerspruch zwecklos.

 

Am Nachmittag zieht Lelia den weißen Kittel, den Josie ihr besorgt hat, über ihre dicke Jacke. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie mit ihrem Lernstoff noch weiter in Verzug geraten ist. Sie ist heute gar nicht gut voran gekommen. Ihre Gedanken wandern immer wieder zu Darius, der letzten Nacht und seinem Lächeln. Und wenn sie es geschafft hat, nicht an ihn zu denken, sind ihre Augen zugefallen, weil sie viel zu wenig Schlaf hatte.

Auch wenn Lelia keine Medizinerin ist, hält sie es für sehr sinnvoll, die Sache zu unterstützen. Nicht zuletzt wegen ihrer Oma, die im letzten Winter Corona hatte und der es seitdem immer noch schlecht geht. Sie war lange im Krankenhaus und die Genesung ging sehr langsam voran. Lelia befürchtet, dass ihre Omi nie wieder die wird, die sie vor der Krankheit war. Klar, so ein alter Körper steckt das nicht mehr so leicht weg. Und Covid ist eben nicht nur ein Schnupfen, wie diese Spinner behaupten. Lelia kann einfach nicht verstehen, wie man so dumm sein kann und entgegen jeglicher wissenschaftlicher Evidenz und entgegen allen Fakten, Behauptungen aufstellen und verbreiten kann, und dass Menschen das auch noch glauben und dafür auf die Straße gehen. In ihren Augen sind es rücksichtslose Egoisten und manchmal wünscht sie, dass sie sich infizieren und selbst erleben, wie schlimm es sein kann. Aber das würde sie natürlich nie aussprechen.

Lelia zieht ihren Mundschutz über und stellt sich neben Josie, hinter ihnen der Westeingang des Uniklinikums. Josie hat ihr sogar ein Pappschild in die Hand gedrückt: IMPFEN = SOLIDARITÄT! Mit Trillerpfeifen, Trommeln und Sprechgesängen nähert sich der Demonstrationszug der Coronaleugner. Sie sind lange zu hören, bevor sie zu sehen sind.

Es sind mehr Menschen da, als Lelia erwartet hätte – auf der Demo aber auch in der Menschenkette. Und auch das Polizeiaufgebot ist beachtlich. Die Polizisten haben quasi eine zweite Kette gebildet, um die beiden Gruppierungen voneinander abzuschirmen.

Lelia beobachtet den Zug und liest immer wieder die gleichen Parolen über Impfzwang, Maulkorb, Gehirnwäsche …. Einige sind so verworren, dass Lelia nur den Kopf schütteln kann: es sind eben Spinner, denkt sie sich. Sie tragen Masken, die zerschnitten sind und einer tatsächlich einen Aluhut. Es gibt sogar Kinder auf der Demo, Familien und ältere Menschen. Wie verantwortungslos, denkt sich Lelia, haben die sich denn gar nicht informiert? Wie können sie nur diese Lügen, Märchen und Verschwörungsgedanken glauben? Lelia wird richtig wütend.

Da knufft Josie ihr in die Seite. Aus ihren Gedanken gerissen dreht Lelia sich zu ihrer Freundin. „Was ist los?“, fragt sie. „Hast du das schon gesehen? Schau mal wer da ist?“, sagt Josie und deutet mit ihrem Kopf in Richtung der Demonstranten.

Wer soll da sein? Ich kenne keine Corona Leugner, denkt Lelia. Sie scannt die Menge ab. Der Typ mit der olivgrünen Jacke, braune Haare, kommt der mir irgendwie bekannt vor, überlegt sie. Da trifft es sie, wie ein Blitzschlag. Darius! Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund unter der Maske starrt sie ihn an. Alles um sie herum verschwimmt, der Lärm wird leiser, die vielen Menschen sieht sie nicht mehr. Sie sieht nur Darius, der Darius mit dem Darius-Lächeln.

Und er sieht sie. Ihre Blicke treffen sich. In dem Moment löst sich Lelias Schockstarre und sie blickt betroffen zu Boden. So als ob sie etwas falsches gemacht hätte, wenn sie ihn anstarrt. Dabei ist er doch auf der falschen Seite. Sie blickt wieder nach oben. Er ist schon ein paar Schritte weiter gegangen oder eben vom Demonstrationszug weiter geschoben worden. Er dreht um und will auf sie zugehen, kommt aber nur wenige Schritte weit und wird von einem Polizisten ermahnt: „Weitergehen bitteschön. Immer schön in diese Richtung weiter laufen.“

Darius fuchtelt mit den Händen, so als ob er ihr Zeichen geben möchte, aber diese versteht Lelia nicht. Was gibt es da auch zu verstehen. Darius ist ein Querdenker, ein Coronaleugner, einer von den Spinnern, vielleicht auch noch rechts. Lelia kann es nicht verstehen: Wie konnte ich mich so in ihm täuschen? Wir haben doch über so vieles gesprochen? Wie konnte mir das nicht auffallen? Hat er mich belogen? Enttäuscht und zugleich wütend blickt sie ihm hinterher. Die Demonstration zieht weiter und irgendwann verschwindet er in der Masse.

 

Wieder zu Hause stürzt sich Lelia in die Prüfungsvorbereitung. Nur noch fünf Tage bis zum ersten Staatsexamen, da ist wirklich keine Zeit an diesen Querdenker Typen zu denken, ermahnt sie sich selbst. Auch Josie hat kein Wort mehr über ihn verloren und dafür ist Lelia ihr sehr dankbar. Es ist ungewöhnlich für ihre Mitbewohnerin so taktvoll zu sein. Wahrscheinlich hat selbst Josie bemerkt, dass diese Art von Wiedersehen mit Darius, Lelia sehr mitgenommen hat.

Lelia lernt Tag und Nacht. In die Bibliothek geht sie nicht mehr, sondern verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Sie zwingt sich, nur an ihren Prüfungsstoff zu denken. Sie muss ranklotzen, es liegt noch so viel Lernstoff vor ihr. Aber bei jedem Zucken ihres Handys wird sie nervös. Darius meldet sich nicht. Gut so, redet sie sich ein, ich will nichts mehr von ihm hören und sowieso mit so einem nichts zu tun haben.

 

Völlig ausgelaugt, wie eine leere Hülle steht Lelia vor dem Jura Bau. Sie hat es tatsächlich hinter sich gebracht. Monatelang hat sie gelernt für dieses Hammerexamen. Sie hat auf diesen Moment hingearbeitet. Und nun hat sie es hinter sich. Ob es gut war oder nicht, weiß sie nicht. Es ist ihr in diesem Moment komplett egal. Sie will nur noch nach Hause und schlafen. Die Sonne blendet, Lelia kneift die Augen zusammen. Sie fühlt sich wie ein Zombie.

Lelia macht sich auf den Weg zur Bushaltestelle. „Hey!“, hört sie jemanden rufen, sie dreht sich um und ein paar Schritte hinter ihr kommt Darius auf sie zu. Er hebt die Hand und lächelt. Lelia erstarrt, ihre Hände werden schwitzig und die Müdigkeit ist plötzlich wie weggeblasen.

„Hey, wie geht’s dir? Hast du‘s geschafft?“, fragt er.

Neben der anstrengenden Prüfungsvorbereitung hat sie in den letzten Tagen alles versucht, um ihn aus dem Kopf zu bekommen. Er hat sich seit der gemeinsamen Nacht nicht wieder gemeldet. Und jetzt steht er hier, als ob nichts gewesen wäre. Fast zweifelt sie daran, ob er es wirklich war, auf der Corona Demo oder ob sie ihn verwechselt haben könnte.

„Äh, hi.“, mehr kriegt sie nicht raus.

„Ähm, ja sorry, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Ich wollte dich erst deine Prüfung machen lassen. Naja und jetzt hast du es geschafft. Und deswegen hab ich hier auf dich gewartet.“

„Du hast auf mich gewartet?“, stammelt sie.

„Ähm ja, hab ich. Also ich wollte dich jetzt nicht stalken oder so. Ich dachte halt, ich stör dich nicht beim lernen. Und jetzt hast du wieder einen freien Kopf und wir können reden.“

„Reden?“, Lelias Gedanken sortieren sich langsam und sie sagt: „ Also ich bin eigentlich nur müde und will nach Hause. Ehrlich gesagt, hab ich grad nicht so viel Lust zu reden.“ Und in Gedanken fügt sie hinzu: mit dir hab ich sowieso nichts mehr zu reden.

Als ob Darius schon wieder ihre Gedanken gelesen hätte, nickt er und sagt: „Verstehe. Aber vielleicht zuhören? Ich will wenigstens das wegen Samstag klarstellen. Also, ich meine das mit der Demo, nicht das andere“ und dabei lächelt er wieder sein Darius Lächeln, das Lelias Herz ein paar Takte schneller schlagen lässt. „Wollen wir ein paar Schritte gehen?“

Lelia blickt ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Naja, da fährt gerade dein Bus weg. Du musst eh 10 Minuten auf den nächsten warten. Oder wir laufen schon mal zur nächsten Haltestelle.“, fragend blickt er sie an.

Lelia atmet hörbar aus und sagt schließlich: „Na gut. Was soll‘s. Gehen wir ein Stück.“

Darius legt sofort los: „Ich will halt nur sagen, dass ich weder ein Querdenker, oder Coronaleugner oder sowas bin. Und rechts bin ich übrigens auch nicht. Also das war mir halt wichtig, dass du nicht schlecht von mir denkst.“

Doch genau das tue ich, denkt Lelia, sagt aber: „Aha, und warum läufst du dann mit denen auf der Demo?“

„Ich bin echt kein Fan von einigen dort. Aber ich bin halt auch kein Fan von all dem, was hier gerade passiert. Masken, Impfen, 3G und sowas. Ich finde, das ist nicht zulässig, die Grundrechte so einzuschneiden und es ist auch nicht richtig. Und irgendwie muss das auch gesagt werden. Dass da auch einige Spinner dabei sind, find ich auch kacke. Aber für mich ist so eine Demo eine der wenigen Möglichkeiten zu zeigen, dass es so nicht geht. Was soll man denn sonst machen?“

Lelia beobachtet Darius von der Seite, wie er immer energischer wird, wenn er über dieses Thema redet. Auch in ihrem Bauch grummelt es und sie spürt wie in ihrem Kopf seine Worte abgeblockt werden. Diese Sprüche über Grundrechte hat sie schon so oft gehört. „Und was ist so schlimm daran eine Maske zu tragen oder Abstand zu halten? Daran stirbt man nicht. An Covid schon. Also mir fehlt da das Verständnis. Es gibt einfach viele Menschen, die unsere Solidarität brauchen. Und ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der alle nur an sich und ihre persönlichen Rechte denken. Ich finde es ist nicht zu viel verlangt auch an andere zu denken. Denn es bedarf nicht viel. Meine Oma zum Beispiel …“

Darius fiel ihr ins Wort: „Ich weiß, das hast du mir schon erzählt. Und ehrlich, die Geschichte hat mich auch echt nachdenklich gemacht.“

„Ach, hab ich erzählt? Naja, schön dass du darüber nachgedacht hast, aber hat ja scheinbar deine Meinung nicht geändert.“, sagt Lelia.

„Naja, irgendwie geb‘ ich dir auch Recht. Aber gleichzeitig finde ich, dass die aktuellen Regeln zu sehr bevormunden. Es muss irgendwie anders gehen, irgendwie besser. Also irgendwas dazwischen.“

„Achso, und an was hast du gedacht?“

„Ich weiß es nicht. Ich bin da auch kein Experte. Aber ich kann dir ein Beispiel geben.“ Er stockt und Lelia ist sich nicht sicher ob er nachdenkt, abgelenkt ist oder es sich doch anders überlegt hat. Als er weiterspricht klingt seine Stimme anders, weicher, fast zerbrechlich.

„Mein Vater war krank. Er hatte Krebs, also Bauspeicheldrüsenkrebs und es war schon ziemlich schlimm. Naja, er … er ist gestorben. Und niemand war bei ihm. Niemand. Die ganzen letzten Wochen durften wir ihn nicht besuchen. Es gab keine richtige Beerdigung. Nichts. Er hatte diese beschissene Krankheit und war einfach nur ganz, ganz allein.“ Darius Stimme zittert. Lelia starrt vor sich auf den Boden, sie traut sich nicht ihn anzuschauen und muss selbst auch einen großen Kloß im Hals runter schlucken.

Darius knetet mit einer Hand seine Stirn und wischt sich dann übers Gesicht. Seine Stimme fängt sich wieder und er sagt: „Das meine ich halt. Wenn einer sowieso sterben wird, wieso darf er dann nicht selbst darüber bestimmen, ob er sich dem Risiko von Corona aussetzt? Sowas ist doch nicht richtig.“

Lelia hat das Gefühl, etwa sagen zu müssen, doch ihre Zunge klebt trocken am Gaumen. Sie muss sich räuspern. „Das mit deinem Vater tut mir leid.“ Mehr bringt sie nicht raus, denn jetzt noch vor ihm die Corona Regeln zu verteidigen, fühlt sich sehr falsch an.

Nach einer Pause ergreift Darius wieder das Wort. „Also eigentlich wollte ich dir das nicht erzählen. Ich wollt halt nur, dass du nicht denkst, dass ich ein Spinner bin.“

Inzwischen sind die beiden an der Haltestelle angekommen und die Anzeige zeigt noch 2 Minuten bis Lelias Bus kommt. „Hast du Hunger?“, fragt Lelia. „Wollen wir noch Mittagessen in der Mensa? Ich habe seit Tagen nichts ordentliches mehr gegessen.“

„Sehr gute Idee.“, sagt Darius und lächelt sein schönstes Darius Lächeln. Sie gehen weiter und hinter ihnen rauscht der Bus an die Haltestelle.