Toast Hawaii

von Simone Weisenberger

Dass sie uns nicht mehr miteinander reden ließen, war im Grunde ein kluger Schachzug. Ich erwische mich ab und an dabei, wie ich die Eleganz ihrer Operationen bewundere. Es erscheint mir wie ein Ballett – wie einstudierte Figuren und Abläufe, die zunächst zusammenhanglos wirken, jedoch rückblickend eine Choreografie ergeben, die von Anfang an nach Plan ausgeführt wurde. Und wenn so viel auf einmal geschieht, hat man wenig Zeit zurückzublicken. Eigentlich merkt man erst, dass man im Schlamassel steckt, wenn es schon zu spät ist.

Die Telefone werden abgehört, das weiß jeder. Das ist nun seit knapp zwei Monaten so. Aber überarschenderweise gewöhnten wir uns alle schnell daran. Zu Anfang versuchten wir uns in Codierungen, aber das wurde zu unübersichtlich. Die Gefahr zu groß, durcheinander zu kommen. Dann telefonierten wir kaum noch, nur, wenn es um wirklich Belangloses ging: „Kannst du auf dem Heimweg Milch mitbringen?“

„Vergiss nicht, den Glasmüll abzugeben.“

„Komm schnell, er hat seine ersten Schritte gemacht!“

Wenn es Wichtiges zu besprechen gab, trafen wir uns bei Priya. Ihr Wohnzimmer ist am größten. Bei gutem Wetter auch manchmal in Doris‘ Garten. Sie pflegt einen wunderschönen Garten. Ihr Haus ist an einen Hang gebaut, sodass sich ihr Garten in Terrassen stufenartig bis zur Hauptstraße unten erstreckt. ‚Die hängenden Gärten von Dorislon‘, so haben wir sie immer genannt, eigentlich total bescheuert. Aber schön waren sie schon und Platz hatte man dort auch. Ganz, ganz früher in der Innenstadt, einfach so. An einem beliebigen Tag zu einem beliebigen Thema, das uns bewegte.

‚Unter freiem Himmel‘ hätten sie so etwas früher genannt. Ja zugegebenermaßen, eine Anmeldung war dann nötig gewesen. Aber die habe ich liebend gern in Kauf genommen. Selbst bei all dem Bürokratie-Wahnsinn war das eigentlich kein Problem gewesen. Es war mehr ein nettes Ritual. Ich mochte die Anmutung von Offiziosität. Sie verlieh auch mir selbst etwas Amtliches.

Am Fenster bilden sich Eisblumen. Es sind eben alte Fenster. Das Licht habe ich nicht angeschaltet. Die Straßenlaterne auf der anderen Seite ist weit genug weg, dass mein Gesicht im Dunkeln liegt, auch wenn ich so nah wie jetzt an der Scheibe stehe und nach draußen blicke. Das habe ich mir vor einiger Zeit von Jan bestätigen lassen, als er mir Marmeladen vorbeibrachte. Das war erst kürzlich, da durfte er schon nicht mehr nach oben in meine Wohnung kommen, sondern musste sie unten beim Pförtner abgeben.

Ich weiß nicht, was der Pförtner vorher gearbeitet hat. Er hat ein unfreundliches Gesicht. Aber so wurden viele Arbeitsplätze geschaffen.

Also jedenfalls weiß ich, dass ich ungesehen bleibe, während ich auf den kleinen Marktplatz herausschaue. Es ist spät, die Sperrzeit hat längst begonnen. Mich macht nervös, wie lange da schon eine Gestalt unter dem Vordach der geschlossenen Bäckerei steht. Noch acht Minuten und er hat die 15 Minuten voll, die er braucht, um wegen verdächtigen Herumlungerns festgenommen zu werden. Doch es kommt noch schlimmer. Denn er bleibt nicht allein.

Eine weitere Gestalt löst sich auf einmal aus dem Schatten einer Litfaßsäule. Die beiden fallen einander in die Arme und ich muss fast die Augen verdrehen. Da dauert es nicht mehr lange. Ein Pförtner hat sie gesehen. Ich sehe mit an, wie das Paar auseinandergerissen und in Handschellen gelegt wird. Aber ich sage nichts. Ich sage nichts. Wem auch?

 

Ich erhasche einen Blick auf Priyas Hinterkopf, als ich einkaufen gehe. Mein Herz pocht mir mit einem Mal bis in den Hals, meine Hände zittern um die Ananaskonserve herum, die ich gerade aus dem Regal gehoben habe. Für Toast Hawaii, das Silvester-Highlight der guten deutschen Hausfrau der 60er Jahre. Manchmal habe ich eben Lust darauf.

Einen Moment später bemerkt sie mich auch. Erst starren wir überfordert, dann winken wir einander zaghaft zu. Aber wir wagen es nicht, einander näher zu kommen. Priya dreht sich wieder zum Gehen, ihr Rücken versetzt mir einen Stich ins Herz. Doch da fällt mein Blick auf ihre Hand, die sie in ihrem Rücken hält und abwechselnd zur Faust ballt und wieder öffnet. Sofort geht mein Puls wieder in die Höhe. Sie will sich mit mir treffen. Ich schaue ihr nach, wie sie ins Getränkelager verschwindet. Ich bin zu gleichen Teilen entsetzt und erleichtert. Ich hasse mich dafür, dass ich zögere. Das hätte ich vor einem halben Jahr nicht von mir gedacht. ‚Scheiß auf sie alle‘, hätte ich mir gedacht, ‚ich mache, was ich will.‘

Aber seitdem ist viel passiert. Ein Gesicht blitzt in meinem Geist auf, ich scheuche es fort. Ich setze die Dose Ananas vorsichtig, fast liebevoll in meinen Einkaufskorb und schlendere in den nächsten Gang, peinlich darauf bedacht, nicht zu nah an die anderen Kunden heranzutreten. Es ist nicht nur gefährlich, es gilt auch als unhöflich, bloß den Verdacht zu erregen, eine Versammlung anzetteln zu wollen. Zu unbescholtenen Mitbürgern hält man einen Mindestabstand von zwei Metern, das lernt mittlerweile jedes Kind.

Ich durchquere den Gang, ohne weitere Artikel in meinen Einkaufskorb zu legen, denn für verdammten Toast Hawaii braucht man ja auch nur vier Zutaten, du Dummnudel.

Ruhigen Schrittes betrete ich mit einiger Verzögerung ebenfalls das Getränkelager. Priya hat gut mitgedacht. Sie hatte hier mal einen Minijob und weiß, dass hier drinnen die Kameras nur Attrappen sind. Bleibt zu hoffen, dass nie nachgerüstet wurde, aber um einmal wieder ein ehrliches Wort mit Priya zu wechseln oder darauf zu hoffen, gehe ich das Risiko ein.

Sie wartet hinter einem bis zur Decke gestapelten Turm aus Cola-Kästen. Sobald sie mich sieht, greift sie nach meinen Händen. Gott, fühlt sich das gut an, dabei trägt sie noch ihre Winterhandschuhe. Es hat heute unter Null.

Sie verschwendet keine Zeit damit, mich danach zu fragen, wie es mir geht. Das wäre auch irgendwie zynisch. Aber ein wenig mehr könnte sie mich auch schonen, denn als Nächstes zischt sie mir „Sie haben Jan“ ins Gesicht.

Erneut schiebt sich ein bekanntes Gesicht vor meine Augen, doch ich schiebe es weiter.

Ich lasse meine Miene antworten, finde im Augenblick nicht die Worte.

„Wie?“, frage ich dann.

„Er konnte es nicht lassen“, schimpft Priya nun. Sie scheint weniger besorgt als fuchsteufelswild. Weniger auf die Pförtner als auf Jan selbst. Wie sie das nur mit uns anstellen. Wieder ertappe ich mich mit einer Spur Bewunderung. Aber es ist auch wirklich ein Meisterstreich, wie sie uns dazu bringen, Wut aufeinander zu empfinden, uns die Schuld dafür zu geben, dass wir nicht vorsichtig genug waren, anstatt den Tätern. Wie schnell wir ihre neuen Spielregeln verinnerlicht haben. Reiner Überlebenswille, nehme ich an.

„Er hat eine Gruppe von 30 Leuten in seinen Keller gelassen. 28 haben sie festgenommen, 2 konnten anscheinend durchs Fenster fliehen.“

Ich klappe den Mund auf, dann wieder zu.

30 Leute. Und da es sein Keller war, gilt er als Versammlungsleiter. Das ist ein Todesurteil. Tränen schießen mir in die Augen. Ich frage Priya nicht, was sie in diesem Keller getan, worüber sie geredet haben. Ich kann es mir denken. Aber es spielt schlicht und einfach keine Rolle. Es ist egal, dass sie Systemgegner waren, sich wahrscheinlich gegenseitig daran erinnerten, dass es nicht immer so war, dass sie Politik debattieren und auch öffentlich mitteilen durften. Sie hätten auch über die Rettung der Wale reden, den Renteneintritt der Schwiegermutter feiern oder einen Buchclub über Schmonzetten abhalten können. Was zählt, ist dass sie sich illegal versammelten.

Sie haben von Anfang an erkannt, dass wir nur gemeinsam stark sind. Deswegen haben sie uns zerpflügt, bis nur noch einzelne, duldbare Ähren auf dem Feld übrig waren. Der Mensch, ein soziales Wesen. Plötzlich, und es ist vollkommen fehl am Platz anhand der Tatsache, dass Priya und ich schon viel zu lange zu zweit in dieser Bierpfütze im Lager stehen, denke ich zurück an eine Uni-Vorlesung. Gesellschaft in Großbritannien im 18. Jahrhundert. Frauen der oberen Schichten, die damals wirklich nicht so viel zu tun hatten, treffen sich in Teehäusern, dem feminin-gesitteten Pendant zu den männlichen Pubs. Sie ‚tratschen‘, tauschen Gerüchte aus, was nichts anderes bedeutet, als dass sie einander mit Neuigkeiten versorgten in einem Kreis, aus dem sie konsequent ausgeschlossen wurden. So hielt man sich auf dem Laufenden, wusste Bescheid über aktuelle Ereignisse, konnte sich im Bilde und über Wasser halten. Sich Meinungen bilden. Informierte, vielleicht lebenswichtige Entscheidungen treffen.

Die Tränen in meinen Augen quellen über, diesmal aus Zorn. Sie halten uns klein und dumm. Was sind Menschen, wenn sie sich nicht treffen, ihr Wissen nicht austauschen und nicht kundgeben dürfen? Nichts mehr. Der ganze Erfolg dieser Spezies beruht doch auf nichts anderem. Sonst hätten wir es nie weiter geschafft als unsere haarigen Verwandten, nichts für ungut. Wir kommen mit Menschen aus allen Ecken der Welt zusammen, treffen Fremde, knüpfen Kontakte, teilen Informationen. So halten wir uns schon seit Jahrtausenden am Leben. Und es war ein Leben, das sich lohnte. Priya entzieht sich meinen Händen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie zu fest gedrückt habe.

Sie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn, denn man kann nicht die Fassung verlieren so wie ich gerade und gleichzeitig vorsichtig bleiben. Und wir müssen immer vorsichtig bleiben.

Schritte dringen plötzlich ins Lager ein. Priya und ich reagieren zeitgleich und drücken uns mucksmäuschenstill gegen den Turm aus Getränkekästen. Es ist unheimlich, wie zwei lebendige Wesen nicht den geringsten Laut von sich geben können, obwohl ihr Blut rauscht und sie doch atmen müssen.

Ein geliebtes Gesicht taucht wieder vor meinem inneren Auge auf und diesmal lasse ich es zu. Meine Gedanken rasen, doch als ich meinen Entschluss fasse, wird mein Kopf ganz klar. Die Schritte treten immer näher an uns heran. Wir sind noch nicht zu sehen. Wenn wer auch immer auf uns zukommt in drei Schritten stehenbleibt, sind wir gerettet. Beim vierten Schritt werde ich allein hervortreten und mich für Herumlungern im besten Fall, unbefugten Zutritt im nächstbesten und Konspiration im schlechtesten Fall verhaften lassen. Aber sie werden Priya nicht zu sehen bekommen.

Die Schritte nähern sich.

1…

2…

3…