Tyrannen

von Marco Siebert

Liberty is meaningless where the right to utter one’s thoughts and opinions has ceased to exist. That, of all rights, is the dread of tyrants. It is the right which they first of all strike down

Frederick Douglass

 

Wir sind das Volk! Das Skandieren dieses Satzes ruft inzwischen Unbehagen hervor, Abscheu zuweilen zwischen denen, die sich als Verschwörungstheoretiker, Nazis oder Gutmenschen gegenseitig bespucken möchten. Jeder wirft den anderen eine falsche Auffassung von der Wirklichkeit vor. Doch wir sind ein zivilisiertes Volk. Diesen Anspruch hat der Deutsche an seine Mitmenschen: keine Leute anzuspucken und nicht jeden Unsinn zu glauben — und herauszulassen. Einsicht zu haben. Aber Unsinn hat eine Qualität. So wie Sinn eine hat. Und ist es nicht anmaßend, wenn man behaupten will, man wüßte was unsinnig sei? Wenn ein Fackelumzug durch’s Dorf zieht, gehe ich daraufhin mit ein paar Eimern Wasser los, um zu löschen? Oder ziehe ich mich zurück, schließe die Fenster und überlasse es der Einsicht oder der Polizei, das für mich zu übernehmen?

Wenn Frederick Douglass meint, dass Freiheit sinnlos sei ohne das Recht der Meinungsäußerung, schließt es das Recht zur Versammlung ein. Wozu ist eine Meinung gut, wenn sie nicht gehört wird? Fackelumzüge haben eine einschüchternde Wirkung und die meisten sollen Entsetzen hervorrufen. Sie verlangen eine Reaktion auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung. Fackelumzüge sind eine Form der Versammlung und wer mit einer Fackel marschiert, sieht sich als Freiheitskämpfer: Gegen einen Staat, dessen Reaktion gefordert wird und der ihn in seiner Weltsicht nur zementiert, sobald eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird. Mit anderem als dem Verbot kann der Staat nicht antworten. Aber anti-demokratische Meinung, selbst anti-demokratisches Verhalten, können nicht verboten werden, solange sie friedlich bleiben. Es steht allen Bürgen allerdings ein Widerstandsrecht gegen (anti-demokratische) Inhalte zu (s. Art. 20 IV Grundgesetz), eben nicht dem Staat.

Der Fackelträger strapaziert die Grenzen des Rechtsstaats. Zu behaupten, er täte das mit dem Ziel sich vom Staat befreien zu wollen, ist anmaßend, denn das wäre ein abschließendes Urteil. Ohne Dialog, Diskurs, Streit oder Handgreiflichkeiten — qualitativ in absteigender Reihenfolge — bleibt es Vorurteil. Und Demokraten, die sich aufklärerisch nennen, können sich keine abschließenden Urteile bilden; das widerspricht dem aufklärerischen Prinzip de omnibus dubitandum est — alles muß bezweifelt werden.

Es fällt mir schwer, mit Leugnern von Viren, von Klimawandel, mit Aluhut- oder Fackelträgern und Menschen, die sich irgendwo ankleben, nicht kurzen Prozess zu machen, ihre Ansichten nicht wegzuwischen und Spinner! zu zischen. Doch ich spüre die Spaltung zwischen mir und „denen”, die mit mir zusammen die Gesellschaft bilden. Sie haben ihre Weltanschauungen aus Gründen, die nicht ihre „Schuld” sind — so wie ich meine habe. Sie entstehen aus ähnlichen Lebensumständen aber unterschiedlich wirkender Propaganda. Meine Art von Toleranz ist keine Akzeptanz: Die Macht, um Akzeptanz zu ringen, wie es Hanna Arendt meint, ist eine gemeinsame. Nicht so, wie es Marx, Lenin, die Oligarchen und die Aristokraten sehen, wo sie uns in Klassen spalten. Trotzdem sind wir längst voneinander entfremdet und mittels eines sozial spaltenden Egozentrismus gleichgeschaltet. Erinnern wir uns: wir sind das Volk. Wir bilden die Gesellschaft, welche sich auf den altbackenen Begriff „Staat” herunter reduziert, sobald sie das Gesicht einer zentralen Gewalt annimmt. Anmaßung ist es, Vorurteile zu haben, ohne Absicht sie auf die Probe zu stellen. Vorurteile sind wahrscheinlicher als Zweifel — das zeigen Theorien der kognitiven Dissonanz (Leon Festinger) oder denial of doubt (Sheldon Solomon). Anmaßung ist es, den Staat zum Überbringer der eigenen Nachricht machen zu wollen, statt selbst vor die Tür zu treten.

Nehmen wir an ich rufe die Polizei während unter meinem Fenster der Fackelzug vor sich geht. Ich mache damit den Staat zum Vasallen und akzeptiere sein Urteil und seine Mittel. Der Staat vertritt mich, indem die Polizei die Versammlung gewähren lässt oder mit Tränengas und Knüppeln auflöst. Er sendet in jedem Fall diese Nachricht: Es interessiert mich nicht! Es interessiert die Gesellschaft nicht, was einer denkt, der seine Meinung äußert. Das führt in eine Spirale von Fundamentalismus, der irgendwann die Grenzen der friedlichen Versammlung überschreiten muß, um eine Reaktion auszulösen. Vielleicht wird die Botschaft der Gleichgültigkeit dann zu einer positiven: Du bist im Unrecht und ich zeige dir meine Macht. Bin ich, mit dem Telefon am Ohr, damit nicht einer jener Tyrannen, von denen Frederick Douglass schrieb?

 

Wenn der Staat in eine Versammlung eingreift, fällt er womöglich ein qualitatives Urteil über den Inhalt der Versammlung — auch wenn er sich augenscheinlich nur auf die Sicherheit und Ordnung stützt. Versammlungen sollen ohne „Anmeldung oder Erlaubnis” möglich sein, es sei denn, sie werden nicht friedlich verlaufen. Fackelumzüge erinnern an das Dritte Reich, an Unrecht, Gewalt und Krieg. Bei sogenannten „Mahnwachen”, wie in Pforzheim 2020 beispielsweise, spielte die Frage eine Rolle, ob Gewalt von den Fackelträgern oder Gegendemonstranten ausgehen würde. Einige Rechtsextreme hatten sich zum Gedenktag der Bombardierung der Stadt eingefunden. Der Verwaltungsgerichtshof hob eine Beschwerde der Stadt auf, die wegen einer „sehr hohen Gefährdungslage” diese Versammlung verbieten wollte. Er stellte im Endeffekt klar, dass der Staat keine Möglichkeiten hat, diese Versammlung zu verbieten. Das zeigt, dass ich mich beim Fackelumzug unter meinem Fenster gar nicht auf den Staat verlassen kann. Um sicher zu sein, dass sich überhaupt Widerstand gegen diese Versammlung regt, bin ich auf mich und meine Überzeugungen angewiesen. Gleich, ob meine Meinung von den Versammelten abweicht oder ich nur Sorge um meine brennbaren Gardinen habe.

Jeder, der bei Fackelumzügen mitläuft, mit Treckern Mist auf Straßen kippt oder sich auf Fahrbahnen festklebt, strapaziert mit Recht die Gesellschaft. Fackelträger und Mist-Kipper richten sich an den Staat, Kleber an die Gesellschaft. Die ersteren bewegen sich auf oder jenseits des Randes von Friedfertigkeit, was ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit erweckt. Die anderen erzeugen konkrete Verunsicherung — jeden Tag könnte einer vor oder auf meinem Auto sitzen, mir Farbe an den SUV sprühen oder meinen Weg zur Arbeit oder zum Urlaub blockieren.

Ob allgemeine oder konkrete Unsicherheit: Ihr Gefühl ist die größte Gefahr für die Gesellschaft, weil die Garantie der Sicherheit ganz oben auf ihrer Liste steht. Der Staat wird zur Exekutive dieses Anspruchs. Gesellt sich Ordnung hinzu, sind konservierende Werte nicht weit. Der Fackelträger will erreichen, dass die Gesellschaft den Staat als Feind sieht, der Freiheit nimmt, statt sie zu garantieren. Mit jeder auflösenden Aktion einer friedlichen Versammlung träte der Staat als korrumpierte Institution der Macht auf. Jedes Verbot würde zum Beweis unserer Unfreiheit und Ohmacht — quod erat demonstrandum. Der grundlegende Inhalt der Geisteshaltung von Fackelträgern ist damit rübergekommen. Deswegen kann der Fackelträger nie gegen den Staat verlieren: er provoziert den Leviathan mit tausenden Nadelstichen und erschöpft die offene Gesellschaft, die den Leviathan eigentlich zurückhalten muß. 

Klimakleber sind emphatisch eindrücklicher; sie zielen auf Politik ab und provozieren deshalb das Ego des Einzelnen. Unter Autofahrern, Arbeitenden und Urlaubern wirkt staatliche Intervention gegen Klimakleber beruhigend auf den individuellen Punkt: der Schutz meiner Dinge und meiner Interessen. Dieser Aktionismus verunsichert uns in unserem egozentrischen, fundamentalistischen Kern.

 

Wenn von Fundamentalismus die Rede ist, geht es nicht um radikale Weltanschauungen, Religion oder Ideologie. Fundamentalismus beginnt, sobald wir uns einen Begriff von der Welt machen. Das ist notwendig: Die Summe aller Überzeugungen und Gefühle, die eine Person besitzt spiegelt sich in ihrem (Körper und) Gehirn in Form von neuroplastischen Verbindungen wider. Wir sind geprägt von unseren Umständen und den Informationen, die wir in ihrem Kontext bewerten. Aus ihnen entstehen Urteile über die Welt, bei denen die Person im Mittelpunkt steht. Wenn eine Person sich als Urheber ihrer Urteile sieht legt sie den Grundstein des Egozentischen. Wir begreifen uns derart als autonome Entitäten und glauben inzwischen, die Außenwelt herabsetzen zu müssen, damit sie unter Kontrolle bleibt — sonst wäre unser Wille wertlos. Diese Hybris unseres Verstandes macht nicht vor anderen Menschen Halt, die zur Welt außerhalb gehören. Wir sind aufgrund unserer Einstellung zur Welt nicht automatisch im Unrecht. Man muß nur Gegenwind aushalten können. Wie wir unsere Einstellung äußern ist eine andere Frage; Versammlungen sind keine Hetze, sie beginnt, wenn jemand das Mikrofon in die Hand nimmt und die Versammelten überzeugen will, dass Menschen herabgesetzt werden sollen. Politik von oben herab.

Wer mit Fackeln durch die Gegend zieht, hat seine Urteile über die Welt auf die gleiche Weise gebildet, wie alle übrigen Menschen: Durch Integration dessen, was ihn umgibt. Der einzige Unterschied zwischen dem fundamentalistischen Fackelträger und einer offenen Person ist die Tiefe der (neuroplastischen) Verschlossenheit. Eine Person ist nicht mehr offen, wenn sie rote Linien zieht. Und ein Fackelträger, der sich als ohnmächtig gegenüber dem Staat ansieht, sucht immer krassere Wirkung. Er zwingt alle übrigen Mitmenschen eine rote Linie zu ziehen: mit uns oder dagegen. Damit beginnt der Abstieg von Dialog zu Streit. Das Egozentrische wirkt bei denen, die den Staat als stellvertretende Macht zur Antwort bemühen, genauso.

 

Was wäre die Gesellschaft, wenn die Qualität der Meinung vom Staat gemessen würde? Keine offene. Dieser Offenheit steht der Fundamentalismus unserer Weltbilder entgegen. Eine Person besitzt eine neuroplastische Kondition und dass neuronale Verbindungen sich lebenslang ändern, ermöglicht es, fundamentale Weltbilder wieder zu öffnen. Für diejenigen, welche die Fackel halten, haben sich aus ihrer Neuroplastizität Wahrheiten gebildet, die verschlossen fundamentalistisch sind. Jeder staatliche Eingriff konditioniert nur stärker auf Widerstand, während der einsame Gegendemonstrant zeigt, dass man mit anderer Meinung leben kann. Joseph LeDoux schreibt „Ihr seid eure Synapsen!” und Markus Gabriel von der Wirklichkeit, zu der auch die Meinung zählt. Der Staat darf sich hier kein Urteil über die Inhalte der Versammlung erlauben, sofern sie nicht zu Gewalt führt. Dazu sind nur die einzelnen Personen in der Lage.

Denn der Staat kann nur reaktionär auf friedliche Versammlungen reagieren, wenn er eingreift. Es ist politische Anmaßung, über die Qualität einer Versammlung zu urteilen. Gerade weil unsere checks and balances in Deutschland bisher gut funktionieren, weil Gerichte unrechtmäßige Versammlungsverbote aufheben, würden jene das erste Ziel undemokratischer politischer Angriffe. Danach folgt der Maulkorb. Anzeichen sind, wenn ein Staat sich immer öfter hinter der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung verstecken will, bevor er offen zur Bewertung von Meinungen übergeht. Bis dahin bleibt jeder Schweigende von uns ein „Tyrann”, was in einer Demokratie nach und nach auf den Staat übergeht.

 

„Wir brauchen gut und verständlich formulierte Regeln, die wenig Interpretationsspielraum lassen. So, dass jeder versteht: Das geht und das geht nicht“ — Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul. Im Januar 2022 trat in NRW ein neues Versammlungsgesetz in Kraft. Gesetze, zur Erinnerung, sind die einzigen Mittel, mit denen Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Dieses Versammlungsgesetz widerspricht in vielen Hinsichten Art. 8 Grundgesetz. Beispielsweise gilt die Störung anderer Versammlungen allein durch kommunikativen Gegenprotest als nicht mehr friedlich, wenn sie sich gegen die Versammlung äußert. Nahezu alle Versammlungen dürfen videoüberwacht werden, was Strafverfolgungsbehörden die nachträgliche Verfolgung ermöglicht. Dass der Inhalt des Gesetzes zumindest von Klimaaktivismus inspiriert war, ist nicht zu übersehen: Ein verschärftes Militanzverbot als Folge von Garzweiler, das generelle Versammlungsverbot auf Autobahnen als Folge der Klimakleber. Das Gesetz versucht, Unsicherheit zu vermeiden, um die Bürgerlichen zu beruhigen. Es konkurriert mit bestehenden Strafgesetzen, denn es ist nicht notwendig, Verbote auszusprechen, sobald Gewalt in’s Spiel kommt. Ein Gesetz vertritt Interessen, nicht Recht; jedes von ihnen ist eine Einschränkung der grundrechtlichen Freiheit. Man muß nur §7 II (Störungsverbot) des VersG NRW lesen, unter dem Verständnis, dass es sich gegen jeden von uns, statt gegen den Staat richtet. Gesetze sind das Kleingedruckte zu den Grundrechten. Oder wie Tom Waits es ausdrückt: The large print giveth, the small print taketh away.

 

Alleine auf Politik in einer Demokratie zu vertrauen ist eine unkritische Haltung, die politischen Akteuren zu viel Spielraum gibt für uns zu sprechen. Insofern unterscheidet sich der aufrichtige Bürger nicht vom Spinner und Anti-Demokraten. Dass Bildung hier ein entscheidender Faktor ist, steht außer Frage; aber für Fackelumzügler ist es zu spät an juvenile Erziehung anzuknüpfen. Es hilft nur die Konfrontation mit anderen Menschen — wie dir und mir, die zeigen, dass man im selben Leben steht und anders handeln kann. Damit das keine leeren Hülsen bleiben — wie die Ansprachen des Bundespräsidenten oder des Kanzlers — fordert es Präsenz. Es fordert, dass sich das Volk gegenübersteht, wo sich zwischen Menschen Gemeinsamkeiten finden werden, die ein abstrakter Staat als Produkt ihres gebündelten Willens nicht zu beschwören hat. „Der Staat” wäre Beschützer eines status quo, wenn wir ihn bemühen, um Versammlungen inhaltlich zu beurteilen — seine Pflicht ist es lediglich, Sicherheit zu gewährleisten. Die „schweigende Mehrheit” macht sich den Staat zum Vasallen und gibt denen recht, die sich als Widerständler begreifen. Aus aus ihrer Sicht schlüge sich der Staat damit auf eine Seite. Das steht ihm nicht zu.

 

Wer die Demokratie nicht als erstrebens- und erhaltenswert betrachtet, wird ihr legitimer Totengräber. Der Staat darf zwar aufgrund dieser Einschätzung anti-demokratische und extremistische Versammlungen nicht verbieten, solange sie friedlich sind. Maßt er es sich häufiger an, werden auch alle übrigen von uns Totengräber, die den Staat im Sinne von „gemeinsamen Werten” handeln lassen. Schutz der Demokratie ist nicht Aufgabe des Staates — er ist ihr Produkt, oder anders ausgedrückt: Der Staat existiert durch, ohne und sogar gegen unseren Willen. Bedenklich ist es, wenn er sich in seinen Urteilen verselbständigt.

Ein Staat, wenn wir ihn auf die Parteien mit demokratischen „Absichten” reduzieren, muß jedes Versammlungsverbot begründen. Hier beginnt die Ratlosigkeit der Demokraten. Denn es bleibt ihnen oftmals nichts das Substanz hat, um eine Verbot friedlicher Versammlungen, die anti-demokratisch scheinen, zu rechtfertigen. Ihre gemeinsamen Werte sind Pluralismus, Freiheit, Toleranz, Gleichheit, usf. Nichts, was man mit Inhalten positiver Bedeutung füllen kann ohne die eigene Offenheit zu verlieren. Deswegen fordert die aufklärerische Gesellschaft Einsicht — aber wenn nicht in positive Werte, worein dann?

Einsicht ist inzwischen szientoid: die Verwissenschaftlichung von Weltanschauungen und Werten, die zunehmend mit denen des Humanismus konkurrieren. Von der Idee der Aufklärung ist nicht viel übrig geblieben, denn die PR-Maschine des neuen Liberalismus behilft sich mit quantifizierbarer Rationalität, die an die Stelle eines kritischen Geistes gerückt wurde. Betagte Zahnpastawerbung zeigt geradezu drollig die Settings des (Zahn)Experten: Eine Autorität, der Herr Doktor s.c.! Weshalb jemandem glauben, der weniger Kompetenz ausstrahlt? Wir erwarten fortan wissenschaftliche Gegenbeweise für die Qualität aller anderen Zahnpasten. Wir erhalten ihren Schein und mit ihnen Absurdität. Auf Studien folgen Gegenstudien, auf Argumente Gegenargumente. Augenscheinlich eine faire wissenschaftliche Auseinandersetzung. Doch mit zwei Problemen: Unsere Leben sind nicht komplett wissenschaftlich konstruiert und die Argumente präsentieren sich als Hülsen der Expertise, der man vertrauen wird. Wenn Studien über Zeiträume von Jahren Argumente zur Suchtwirkung von Technologie und sozialen Medien hervorbringen, argumentieren andere dagegen, dass Korrelation keine Ursächlichkeit bedinge. Wissenschaftlich akkurat, allerdings waren während der Covid-19 Pandemie die Ursachen viel schneller geklärt. Es gibt ein qualitatives Maß hinter den Argumenten der Wissenschaft.

Diese Verwissenschaftlichung trägt Affekte in sich, gut verborgen im trojanischen Pferd der wissenschaftlichen Evidenz, die doch gefühlt werden muß, um begriffen zu werden — nichts weiter. Ewige Wiederholung schafft starke neuroplastische Verbindungen, Vertrautheit und damit Wahrheit. Jede Person ist derart konditioniert; manche mehr, manche weniger. Es scheint fast, als seien die Querdenker und Wutbürger eine demokratische Avantgarde, weil sie ihrem Gefühl der Entfremdung Luft machen.

Der Staat kann sich diesem Affentheater der Affekte nur anschließen, wenn er wahrgenommen werden will — Politiker versuchen das, indem sie „gemeinsame Werte” anmahnen oder indem sie das Gemeinsame wieder zum Gegenstand von Politik machen wollen. „Einsicht!” ist Mantra der ersteren, die nicht durchdringen. „Es reicht!” ist das Gebrüll der anderen, die mit Pfeilspitzen der Simplifizierung den Weg aus dem Geflecht dieser szientoiden Verwirrung zeigen wollen. Die Letzteren sind erfolgreich, weil ihr trotziger Reaktionismus simple Urteile über die Wirklichkeit fällt: der Asylant, der Russe, der Kommunist, der Grüne, die Eliten. Ihre Urteile sind affizierend in „gerechter” Wut als Mittel gegen Angst, die verbreitet wird. Das „Gemeinsame” ist simple Identität, welche die Brust schwellen läßt, denn eine Person fühlt sich wahrgenommen, wenn ihr ein Wert zugesprochen wird. Dieses „Zusprechen” ist heute Demagogie, Führerschaft, die Versammlung von Aufgehetzten, Verbogenen, Unterwürfigen. Eine Gemeinschaft von versammelten Menschen braucht keinen Führer; sie entsteht durch einen gemeinsamen Zweck. Es ist schwieriger, sich zusammenzufinden, als zusammengeführt zu werden. Deswegen stehen die Humanisten nun in der Schußlinie; weil ökonomische Misere zum Nachdenken über Sinn und Soziales zwingt und weil Menschenwürde ein Wert ist, den niemand begreifen kann. Menschenwürde ist abstrakter als das, was wir augenscheinlich gemeinsam haben, wie Herkunft, Hautfarbe oder Opferrolle. Traditionalismus und Ultra-Konservatismus sind deswegen modern. Der wirtschaftliche Liberalismus wiederum versteckt sich hinter der Wertfreiheit seiner Verwissenschaftlichungen und bleibt (noch) politisch unangreifbar.

Können substantielle „gemeinsame Werte” existieren, wenn sie zumindest Respekt, Toleranz und die Akzeptanz aller Mitmenschen umfassen? Die Humanisten haben keine Möglichkeit außer der positiven Diskriminierung: Menschengruppen, die ungleich behandelt werden, müssen sich zu ihrer Wahrnehmbarkeit abgrenzen. Gerade das, was Gleichheit vermeiden will. Ein unmöglich scheinender Kampf der offenen Gesellschaften zeigt sich im beginnenden 21. Jahrhundert. Die Bevölkerung fühlt sich bevormundet, wenn für Pluralismus und Toleranz geworben wird. Auch wenn diese Bevormundung propagierte Einbildung ist: die Gesellschaft lastet auf uns, vielerorts unbequem und verwirrend wird sie als Erzeuger unserer Erschöpfung angesehen. Humanistische Werte konkurrieren inzwischen mit allen anderen, als müssten sie sich beweisen. Oder wie es bei Bob Moses klingt: Our humanity is tearing at the seams.

 

Dieser Staat hat keine Mittel des Affekts, um Verbote zu begründen. Politiker, die man zur institutionell-demokratischen Fraktion zählen kann, wissen sich inzwischen nicht anders zur Wehr zu setzen, als Werte in die Diskussion einzubringen. Politik, die Offenheit propagiert kann nicht auf positive Diskriminierung verzichten. Das wird inzwischen als Wokeness bezeichnet: alles, was das Pluralistische fördern will wird zum aufdringlichen Ethos. Etwas, was die Freiheit der eigenen Meinung bedroht. Fackelträger und fundamentale Widerständler sind Exemplare, die meinen, sich von den Mauern dieser Wokeness befreien müssen. Ein emotionales, auslösendes Wort, dass jede langwierige Einstimmung, jedes geistige Priming übernimmt, wenn man zur Hetze ansetzen will. Der Rahmen ist sofort gesetzt: Jetzt kommt was, worüber ihr euch aufregen könnt! Und es kommt etwas, das sich harmonisch in die klassische Parabel von Furchterzeugung bis zur Kanalisation der Wut einfügen wird. Wer so aufgeladen ist und Menschen sieht, die für Toleranz und Pluralismus werben, reagiert folgerichtig mit Wut, die irgendwann in Hass übergeht, um handgreiflich zu werden. Appelle, die beispielsweise auf Asylanten, Schwule und Lesben oder Transsexuelle aufmerksam machen, werden mit dem Gefühl verbunden, dass da jemand „besser dasteht” oder „gleicher” als gleich behandelt werden soll. Dass man andere auf dieses positive diskriminierende Podest heben solle und dabei selbst ignoriert werde. Wer sich darüber beschwert, ist aktiviert, weil er an jeder Ecke die „—innen”, „—ierenden” und „—enten” sieht, die ihm vorschreiben wollen, wie er zu reden, denken und schreiben habe. Widerstand gegen diese „Zumutung” wird Ziel; ein kleiner Lebenssinn. Widerstand wird zum gerechten Akt der Befreiung. Steht nicht etwas vom „Widerstandsrecht” im Grundgesetz? Wieviele Menschen kennen du und ich, die immer unpolitisch waren und nun argumentieren? Welche plötzlich zu einer Meinung motiviert sind, wo sie immer öfter Mauern beschreiben, wegen derer man nichts mehr sagen darf, wo alle anderen mehr (Aufmerksamkeit, Geld oder Macht) bekommen usf. Diese (Gegen-)Positivierung durch Angst und Sorge funktioniert effektiv als emotionale Aufladung, die sich zu Fundamentalismus verschließt. Das gilt für alle Seiten.

Einsichtig wäre es, sich gegen die (bayerische) Verordnung zu wenden, welche Ausdrucksformen der Sprache in Ämtern und Schulen verbietet. Aber das ist nebensächlich geworden, denn wer mit der Fackel umherzieht, zieht gegen jene Mauern zu Felde, die ihm gerade vorschweben — alleine die Befreiung davon wird zum sinnstiftenden Ziel, als einsamer Don Quixote, der Moscheen stürmt oder als einer im Heer von anderen. Wer sich von Offenheit in seiner Freiheit einmal bedroht fühlt, findet immer einfacher Gründe für seinen Fundamentalismus.

Recht ist „geronnene Politik”; wo sie nicht wertfrei bleibt, wird Freiheit eingeschränkt. Und das beginnt, so Douglass, eben beim Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit. Gegen die verunsichernde, pluralistische Wokeness ist ein „Heimatministerium” ein Monument eines beruhigenden, heimeligen Konsens und ein weiterer Schritt in Richtung Traditionalismus und Verschließung. Konservativismus ist greifbarer als progressive Utopie und scheint harmloser, weil er rückwärtsgewandt auf zivilisierte Werte schaut. „Damals war (so einiges / alles) besser”, weil wir das damals ja überlebt haben, weil es vertraut ist. Das ist die Ansicht der Depressiven, die in der Vergangenheit leben und denen Angst als Bestätigung dieser Weltsicht willkommen ist. Hier wirkt inzwischen ein Konservativismus, der sich zu viel herausnimmt, indem er Ängste schürt und andererseits Sinn und Substanz in Werten zu vermitteln sucht, um die Angst zu mindern. Die „guten Absichten” sind bei genauem Hinsehen schleichende Indoktrination. Der Staat ist nicht mehr gemeinschaftlicher Konsens, sondern macht sich eigenständig, wenn er (durch Politiker) von Werten redet. Etwas dieser Art hat schon in den späten 1960ern ausgehend von Herbert Marcuse Widerstand erfahren, als der (US-Amerikanische) Staat Demokraten erziehen wollte. Wer eine „Leitkultur” ausruft, erklärt damit, dass der Rahmen geltenden Rechts nicht ausreichend sei. In diesem Rahmen haben sich deutsche Staatsbürger jahrzehntelang bewegt und es herrschte weitgehend Rechtsfriede. Wozu eine Freiheitsbeschränkung jeder Person im Staat durch mehr Überwachung, Datensammlung und drakonische Strafen etc.? Wozu ist „Leitkultur” gut, außer Sitte und Unsitte für alle und jeden straff zu ziehen? Indem man mit dem Finger auf den Nachbarn zeigen darf, um den Abweichler zu identifizieren, fordern positive Werte verschlossene Personen in verschlossenen Gesellschaften. Sie geben zumindest eine simple Werteordnung vor, an der man sich orientieren kann. Wer sich keinen Eimer nimmt, um die Fackeln zu löschen, überläßt diese Aufgabe einer Politik, die alles andere als offen ist.

 

Es sind humanistische Imperative, die uns allen klar sein sollten: dass man niemandem Unrecht tut ist ihr Grundsatz. Doch die „Kulturindustrie” (im Sinne Adornos), zu welcher schon immer Politik zählt, wendet sich mit brachialer Liberalität gegen das Offene, sobald sie Werte in den Mund nimmt. Aus dem Humanismus der Offenheit, welcher kein Gesicht hat, konstruiert sie Hindernisse — Mauern —, die der Freiheit entgegen stehen, ob sie will oder nicht. Politiker werden zu „Beamten der Freiheit”, welche sie zu ernst nehmen, wie Albert Camus schrieb. Jeder Versuch der Seenotrettung ist humane Verpflichtung mit welcher die Sorge mitschwingt, dass Asylanten vor den Toren stehen, welche die Kommunen und das Sozialsystem überlasten werden. Es ist eine plausible Rechtfertigung, nichts für Ertrinkende zu tun, indem man ihnen Verantwortung zuschiebt: Sie hätten ja entscheiden können, diese Gefahr der Flucht nicht einzugehen. Diese Einsicht verlangt man ihnen ab. Das passt in das egozentrische Weltbild dieser „schweigenden Mehrheit” die sich schon Richard Nixon für seine Zwecke einspannte; im modernen Slang: Jeder für sich, dann ist für jeden gesorgt. Diese Verantwortlichkeit ist das grundlegende, asoziale Paradigma des freien egozentrischen Menschen.

Moderne Liberalität hat lähmenden Individualismus zur Folge, der den Staat zum Dienstleister macht. Sie wird zu Aktivismus, sobald dieser Dienstleister nichts taugt — und Befreiung von seinen einschränkenden Mauern zum Ziel wird. Politik, die Werte proklamiert, biedert sich als Problemlöser an. Sie rechtfertigt sich mit den Entscheidungen der Wähler, die zuvor mittels Affekten weichgeklopft wurden. Man ringt in Wirtschaft wie Politik um unsere Aufmerksamkeit mit allen Mitteln. Diese Hysterie erschöpft uns. Weil es in der Flut von Information immer die eine gibt, die uns trotz ihrer Absurdität noch aufregt. Dem Algorithmus sei dank. Jeder von uns sucht Gelassenheit und der Weg zu ihr steckt immer schon in der Information: Aufreger & Lösung. Vertraue dieser Zahnpaste, vertraue dieser Politik… Wer es dem Staat aufbürdet für „Ordnung und Sicherheit” zu sorgen, macht sich zum Tyrann der Gleichgültigkeit, die mit Macht durchgesetzt wird. Nur wer sich versammelt, kann sich und andere von dieser Fremdsteuerung der Affekte befreien.

Wir sollten mal wieder Steine werfen. Die Gesellschaft scheint dermaßen verroht, dass wir kaum mehr über Inhalte diskutieren können. Die Fronten sind verhärtet, weil sich fundamentalistische Muster in Köpfen gebildet haben. Das Vertrauen in Wahrheit ist wichtiger als Faktizität und der Streit über letzteres inzwischen zwecklos. Unser Egozentrismus, dessen Ursprung in der Privatautonomie liegt, läßt uns Individualismus falsch verstehen: Wir sehen nicht nur unsere Überzeugungen angegriffen, wenn wir kritisiert werden, sondern unsere Identität. Außer mit Steinen, die spürbare Fakten schaffen, scheinen sich fundamentale Weltbilder nicht mehr auflösen zu lassen. Ist das kein verzweifelter Aufruf zur Gewalt durch jemanden der tolerant sein will und dessen Toleranz am Ende ist? Zeigt sich hier nicht die Zwickmühle dieses offenen Toleranzbegriffs? „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” kann sich nur dann verteidigen, indem sie selbst intolerant wird. So meint es ihr Autor Karl Popper. Diese herrliche Paradoxie macht uns gerade ernsthaft zu schaffen. Das Versammlungsrecht aus Artikel 8 des Grundgesetzes ist weniger Recht als Verpflichtung für alle, die sich nicht bevormunden lassen wollen.