I
Die Stille war ein Versprechen, das uns allen gegeben worden war. Frieden durch Ordnung, Sicherheit durch Einheit. Auf den Straße Ruhe, in den Herzen kein Protest. Das Fundament unseres Staates fußte auf den Harmoniegesetzen.
Und doch – als ich an diesem Morgen den Platz der Harmonie überblickte, war da etwas. Ein Schatten, ein Hauch von Lärm, der nicht existieren durfte.
Es begann mit einer Taube. Ihre Flügel breiteten sich aus und sie stieg in den Himmel empor. Ein heller Fleck im eintönigen Grau.
Das familiäre Sirren der Drohne ließ mich jedoch rasch den Blick abwenden. Der Stimmenscanner fuhr heraus, als würde er selbst in Flügelflattern nach verbotenen Worten suchen wollen. Es war doch nur eine Taube. Tauben konnten die Harmoniegesetze nicht brechen, oder etwa doch?
„Demetria.“
Ich fuhr herum. Das Flüstern kam aus einer dunklen Nische zwischen den Häusern. Eine Gestalt trat aus dem Schatten, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, Mein Puls beschleunigte sich, doch dann erkannte ich ihn.
Er zog mich in eine Umarmung, bevor ich etwas sagen konnte. Seine Arme fühlten sich vertraut an und doch war da etwas Fremdes an ihm; etwas, das wie ein Gewicht vieler Erfahrungen auf seiner Berührung lastete. Ich zog ihm die Kapuze herunter, ein Reflex, um ihn zu schützen – oder mich selbst.
„Du weißt, dass es nicht erlaubt ist, Gesichtsbedeckungen zu tragen. Willst du Ärger?“
„Es ist auch schön dich zu sehen.“ Dario lächelte. Für einen Moment fühlte es sich so an, als wären wir nicht mehr hier, sondern an einem Ort, den es nicht mehr gab. „Ist viel zu lange her.“
„Na, wessen Schuld ist das wohl?“, fragte ich ernster als beabsichtigt, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken.
Eine weitere Drohne sirrte heran. Vielleicht hatte das Wort Schuld sie angelockt, vielleicht war es auch nur eine Zufallskontrolle. Das Treffen von zwei Personen stellte schließlich keine Verletzung der Harmoniegesetze dar.
„Meine. Ich weiß.“ Dario klang aufrichtig, wenngleich er wie immer keinen Grund für seine Abwesenheit nannte. Sein Blick zeichnete den Weg der Drohne nach, die sich nun wieder entfernte und eine neue Falte trat auf seine Stirn.
„Verdammte Dinger“, murmelte er kaum hörbar.
Ich runzelte die Stirn. „Komm schon. Sie sind zu unserem Schutz da.“
Darios Augen blieben an einem Punkt in der Ferne hängen, als sähe er etwas, das für mich verborgen war. „Schutz…“ Er ließ das Wort auf der Zunge liegen, als würde er den Geschmack prüfen. Dann zuckte er mit den Schultern und lächelte. „Klar. Natürlich.“
Das Lächeln erreichte seine Augen nicht.
„Du machst Scherze, oder?“ Ich lachte unsicher, versuchte den Witz in seinem Gesicht zu finden.
Er nickte leicht, doch sein Blick wanderte wieder gen Himmel. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Dario, was ist los?“ In meinem Inneren rumorte etwas, als ich in sein Gesicht blickte und wie so oft ihre Züge darin entdeckte. Ich spürte das Lächeln von meinen Lippen tröpfeln wie heißes Kerzenwachs. „Selbst wenn du da bist, bist du es gleichzeitig auch nicht. So wie jetzt. Früher war das anders. Du hast gesagt, du bleibst bei mir, egal was passiert.“
„Das habe ich ernst gemeint. Aber was hätte ich denn tun sollen?“
„Da sein. Einfach da sein.“
Er schwieg und ich rechnete schon fast damit, dass er wütend werden würde. Doch das wurde er nicht. Stattdessen hob er die Stimme und sie klang… bedauernd.
„Du hast recht. Es tut mir leid.“
Ich wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Dario wirkte zerbrechlicher, als ich ihn je gesehen hatte.
„Du bist müde“, sagte ich nach einer Weile des Schweigens. „Ich kann es sehen.“
„Es war viel los.“
„Du wolltest die Welt retten, als wir noch Kinder waren, erinnerst du dich? All den Protesten, all dem Chaos ein Ende machen. Aber das musst du nicht mehr. Wir haben doch Frieden.“
Ein Ruck lief durch seinen Körper und er presste die Zähne aufeinander, wie um unausgesprochene Worte davon abzuhalten, sich einen Weg nach außen zu bahnen. Als sie es dann schließlich taten, ätzten sie durch meine Adern wie Säure.
„Frieden? Hör dich doch reden! So eine folgsame Bürgerin der Harmoniegesellschaft. Was würde Mutter dazu sagen?“
Ich wusste, was sie sagen würde und allein der Gedanke daran fühlte sich verboten an. Schnell wischte ich ihr Gesicht aus meinen Erinnerungen fort.
„Was Mutter getan hat, hat uns zerrissen. Sie lag falsch. Du siehst doch, es gibt keine Probleme mehr, keine Aufstände, keine Gewalt. Ich höre an der Uni andauernd, welche Gefahr sie für die Harmoniegesellschaft war. Selbst Vater sagte, dass sie zu weit gegangen ist!“
Darios Augen verengten sich. „Vater hat überlebt, weil er geschwiegen hat. Vielleicht war das seine Art, uns zu schützen. Aber das bedeutet nicht, dass Mutter falsch lag.“
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Er sprach, als hätte sie die Welt zu etwas Besseren verändern wollen. Dabei hatte sie die Protestbewegung angeführt! Eine Bewegung für eine alte Ordnung, die nur Unsicherheit und Leid mit sich gebracht hatte.
„Und du meinst, du hättest es besser verstanden, nur weil –“ Ich hielt inne. Sein Blick veränderte sich, dunkelte ab. Es war ein altes Thema zwischen uns, ein gefährliches. Erst recht auf offener Straße, auch wenn gerade kein Stimmenscanner in der Nähe war.
Dario stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Dann packte er meinen Arm. „Komm mit.“
„Wohin?“ Ich riss mich los, doch ich spürte seine Finger noch wie eingebrannt auf meiner Haut. „Was machst du?“
„Ich zeige dir etwas. Damit du dich endlich erinnerst.“
Ich folgte widerwillig, alte Erinnerungen wie eine Eisenfaust um meine Brust. Wir erreichten eine Stelle, die Dario nur zu gut zu kennen schien. Von hier konnten wir die Zone der Stille direkt vor uns sehen. Menschen bewegten sich dort geordnet, nie mehr als zwei Personen beieinander, alle auf den dafür vorgesehenen Wegen, alle gehorsam schweigend.
„Nach dem Tag der Ordnung wurde der Platz neu gepflastert.“
Ich sah ihn fragend an, aber er schwieg jetzt, den Drohnen mit dem Blick folgend. Auf einmal zog er eine kleine Kapsel hervor, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger verborgen, wartete. Ich wagte nicht zu fragen, was er vorhatte, konnte ihn nur mit einer Mischung aus Misstrauen und Angst beobachten.
Dario drehte die Kapsel zwischen den Fingern und ließ sie dann mit einem beiläufigen Wink zu Boden fallen, trat in einer Millisekunde mit dem Fuß darauf. Ich hörte ein Knacken, dann ein Zischen und dann – nichts mehr. Das vertraute Summen war verstummt.
„Was ist das?“
„Ein Störer.“ Er trat näher an mich heran, seine Stimme nun nicht mehr gedämpft. „Damit können wir für zwei Minuten reden, ohne dass sie es hören.“
„Das ist Wahnsinn!“
„Hör mir zu, Demetria“, zischte er durchdringend. „Diese Harmonie, an die du glaubst, ist eine Lüge. Dieses System beginnt dich zu verschlucken. Es hat dich bereits geformt, aber ich werde nicht zulassen, dass deine wahre Natur sich darin auflöst. Du sagst, sie wollen Frieden?“
„Na— natürlich. Die politische Spaltung, die wirtschaftlichen Probleme, die mangelnde Bildung, die teure Gesundheitsversorgung — all das haben sie beendet. Sie haben Ordnung ins Chaos gebracht, uns zu einer Einheit geformt. Sie haben Harmonie geschaffen! Frieden!“
„Frieden“, spie er aus und es fühlte sich an wie eine Ohrfeige. „Gibt es wirklich Frieden ohne Vielfalt, ohne Meinungsfreiheit? Rechtfertigt Sicherheit den Verzicht auf Grundrechte? Auf Menschlichkeit?“
Ich wich langsam zurück, mein Herz raste. Er sprach wie einer von ihnen – wie das Chaos selbst, vor dem uns die Harmoniegesetze beschützen sollten. Und doch war er immer noch mein Bruder.
„Du klingst wie Mutter.“ Meine Stimme zitterte. „Sie hat auch Dinge gesagt, die keinen Sinn ergaben.“
„Du warst ein Kind, Demetria. Ich nicht. Nicht nach diesem Tag. Ich habe gesehen, wie sie die Bücher verbrannten. Es waren Flammen, die nicht nur Papier zerstörten, sondern auch die Wahrheit. Aber du… Du hast nur das Chaos gesehen, das sie dir gezeigt haben.“
„Ich will nicht darüber reden.“
„Natürlich nicht“, erwiderte Dario spöttisch und sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. „Das ist genau das, was sie wollen. Stille.“ Seine Stimme wurde leiser, doch sie schnitt scharf durch die Luft. „Es war ein schleichender Prozess, nicht wahr? Am Anfang dachten wir nur, es wären leere Worte; dass so etwas nicht geschehen könnte. Wir verpassten den Moment zu reagieren. Und dann? Friedlicher Protest? Erstickt. Für immer.“
Er machte einen Schritt auf mich zu, dann hielt er inne und senkte den Blick. Sein Fuß strich über einen Pflasterstein vor uns, fast sanft. „Siehst du das?“
Ich folgte seinem Blick. Auf dem Pflaster war eine Gravur, so fein, dass ich sie kaum erkennen konnte. Eine Taube.
„Das Symbol der Flüstergruppe.“ Darios Stimme veränderte sich. Sie wurde weicher, erfüllt von Trauer. Doch auch von Stolz.
Mein Herz schlug schneller, während ich auf das Zeichen starrte, meine Stimme zu einem panischen Flüstern verzerrt. „Mutters Bewegung. Was macht das hier?“
Er hob langsam den Kopf, richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Sie lassen es da. Vielleicht als Warnung. Oder weil sie wissen, dass es niemand mehr sieht.“
Er griff in seine Jackentasche und zog ein Stück eines abgegriffenen Fotos hervor.
Ich erkannte sie sogleich. Mutter. Sie stand mit erhobenem Kopf und entschlossener Miene auf diesem Platz.
„Das war am Tag, bevor sie festgenommen wurde. Sie wusste was passieren könnte, aber sie hat es trotzdem getan. Für uns.“
Ich starrte auf das Bild und wünschte, er hätte es mir nie gezeigt. Ich wollte nicht daran erinnert werden. An nichts von alle dem.
„Sie hat uns allein gelassen. Und für was?“ platzte ich heraus.
„Für die Wahrheit.“ Seine Antwort war scharf wie die Klinge eines Messers.
„Bitte, Dario, wiederhole nicht ihre Fehler.“
„Vielleicht waren es keine Fehler. Hast du darüber nie nachgedacht?“
„Ich –“
Natürlich hatte ich. Vor Jahren, als Vater aus der Harmoniegesellschaf umgesiedelt worden war. Er hatte sich angepasst, alle Regeln befolgt. Wollte Frieden, wollte Sicherheit. Hatte geschwiegen – für uns. Aber es hatte nicht gereicht – weil irgendein Teil seiner Herkunft der Harmoniegesellschaft nicht gefallen hatte.
Tränen brannten in meinen Augen und ich versuchte krampfhaft, sie zurückzuhalten. Emotionen gehörten nicht auf die Straßen. Kontrolle zu verlieren war gefährlich.
„Denk nach, Demetria. Ich weiß, dass du es nicht wirklich vergessen hast. Mutter kämpfte für Freiheit. Für demokratische Rechte. Und die sind manchmal chaotisch, ja. Vielfalt ist chaotisch. Freiheit ist chaotisch.“
Ich starrte in seine eisblauen Augen. Mutters Augen. Und während wir uns ansahen, flackerte für einen Moment Hoffnung in seinem Blick auf. Dann spürte ich, wie etwas aus dem Schatten meines Gedächtnisses nach mir griff, dem ich nicht länger entkommen konnte.
Mutter strich mir sanft über die Haare. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durch meine Vorhänge und Staubkörner tanzten in ihrem Licht wie Zauberpuder. Ich lachte damals. Die Welt war sicher, weil Mutter da war.
Auch wenn sie an diesem Tag irgendwie anders war als sonst.
Trotzdem entwirrten ihre Finger behutsam mein Haar, sorgsam darauf bedacht, dass es nicht
ziepte. Ich machte sonst einen Mörderaufstand und weigerte mich tagelang, meine Haare zu kämmen.
„Demi“, sagte sie und ich war verwundert, wie ernst sie klang. „Es mag eine Zeit kommen, da wirst du glauben, dass Stille Schutz bedeutet. Sie wird sich anfühlen wie eine warme Decke an kalten Tagen.“
„Aber ich mag auch, wenn es ruhig ist.“
Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Aber manchmal ist Lärm wichtig. Es gibt Dinge, die man laut sagen muss, auch wenn niemand sie hören will.“
Ich verstand nicht, aber ich nickte eifrig, weil ich sie nicht enttäuschen wollte.
Plötzlich riss Dario die Tür auf. Ich wollte ihm sagen, wie unhöflich er mal wieder war, aber dazu kam ich gar nicht.
„Sie kommen!“, rief er keuchend. In diesem Moment lernte ich, wie Angst klang. Lähmend und beißend zu gleich.
Mutter nickte. Dann sah sie auf mich herab, nahm mich in die Arme und wischte meine Tränen fort. Ich erwartete, dass sie etwas Tröstendes sagte. Wie immer, wenn ich traurig war.
Stattdessen flüsterte sie: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.1 Das ist unser Grundrecht. Es bedeutet, dass niemand uns verbieten kann, unsere Meinung friedlich kundzutun.“
„Was soll das, Mama?“
Sie antwortete nicht, sondern winkte Dario heran und zog ihn ebenfalls in eine Umarmung. Normalerweise hasste er das, er war ja schon groß. Aber diesmal ließ sie gewähren. Es fühlte sich schön an, aber auch traurig. Erst Jahre später verstand ich, dass mich in diesem Moment das Gefühl von Abschied überkam.
Aus der Ferne hörte ich das Summen zum ersten Mal.
„Demetria?“
Ich schluckte, während die Erinnerung langsam verblasste. Darios Stimme war leise, fast zaghaft, Mutters Worte jedoch hallten unaufhörlich in meinem Kopf wieder.
„Artikel 8“, flüsterte ich, bevor ich es verhindern konnte.
Er hob eine Augenbraue, wieder dieser Funken Hoffnung in seinem Blick. „Du erinnerst dich also doch.“
„Ich erinnere mich.“ Die Worte kamen brüchig. „Aber das bedeutet nichts.“
„Doch. Es bedeutet alles.“
„Mutter und Vater sind fort. Alte Gesetze konnten sie nicht retten. Ganz im Gegenteil.“
„Sie sind fort, weil die sogenannte Harmoniegesellschaft jede Freiheit unterdrückt.“ Er trat näher an mich heran und umfasste behutsam meine Schultern.
„Freiheit entsteht durch Ordnung,“ sagte ich die Worte, aber es klang nur noch hohl. Ich konnte ihn nicht ansehen, wusste sonst nichts zu sagen.
Plötzlich gab der Störer ein kurzes Warnsignal ab. Sofort griff Dario in seine Tasche und zog ein zerlesen wirkendes Buch heraus. Bevor ich reagieren konnte, stopfte er es unter meinen Mantel.
„Wenn niemand mehr weiß, was Freiheit ist, kann sie auch niemand mehr vermissen.“
Die Worte trafen mich wie ein Stich ins Herz, auch wenn ich nicht sagen konnte, wieso.
Darios Gesicht wirkte immer noch verhärmt, doch etwas hatte sich jetzt verändert, als er meine Hand nahm. War es Triumph? Ich konnte es nicht sagen.
„Es war Mutters Buch. Und es ist an der Zeit, dass du seine Wahrheit erfährst. Sprich mit niemandem darüber. Noch nicht.“
Ich wollte es ihm zurückgeben. Doch meine Finger waren steif, unbeweglich.
„Dario, ich wollte nicht–“ Ich biss mir auf die Lippen, denn diesem Moment hörte ich die Drohnen wieder deutlich.
„Ich weiß.“ Er strich mir liebevoll über die Wange und ich erlaubte mir für eine Sekunde in die Berührung zu sinken. „Ich muss jetzt gehen, kleine Schwester. Wenn du soweit bist, finde ich dich.“
Und dann war er fort.
II
Die Dunkelheit meiner Wohnung umfing mich, als ich endlich auf meine Matratze sank. Draußen war wie immer alles still, aber in meinem Kopf dröhnte es.
Ich zog das Buch heraus. Es war klein und doch wog es mehr, als ich erwartet hatte. Das Leder fühlte sich seltsam warm an, als hätte es all die Jahre über Mutters Berührung bewahrt.
Ich sollte es nicht öffnen.
Und doch schlug ich die erste Seite auf. Sofort erkannte ich ihre Handschrift – leicht krakelig, doch immer in Entschlossenheit getaucht.
Meine geliebten Kinder,
ich hoffe, ihr könnt eines Tages verstehen, warum ich nicht zusehen kann, wie die Demokratie stirbt und was ich tun muss. Frieden ohne Freiheit ist nichts als eine schön bemalte Fassade, die beim ersten Windstoß einbricht. In diesem Buch findet ihr die Stimmen all derer, die nicht geschwiegen haben. Bewahrt sie gut. Für euch. Für alle.
Es tut mir leid.
Ich liebe euch.
Mama
Ich schluckte hart, als schon wieder Tränen in meine Augen stiegen. Ich wollte die Seite zuschlagen, das Buch zurück in die Tasche werfen und nie wieder daran denken. Aber meine Finger rührten sich nicht.
Ein Fetzen Papier war zwischen die ersten Seiten gelegt – vergilbt, brüchig an den Rändern. Es war eine halb zerrissene Zeitungsseite, deren Überschrift mich augenblicklich erstarren ließ:
Demonstrationen gegen die neuen Harmoniegesetze am Platz der Republik.
Mein Atem stockte. Der Platz der Republik. Heute der Platz der Harmonie.
Ich starrte auf das unvollständige Foto unter der Überschrift und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Es war die andere Hälfe zu dem, was Dario zuvor von Mutter gezeigt hatte. Darauf waren eine Menge Menschen, die Fahnen schwenkten, Schilder hielten. Kein Ort in der Harmoniegesellschaft sah so aus, so voller Menschen, voller Leben. Keine Drohnen, keine Zone der Stille. Und dieses Wort – Demonstrationen?
Mutter hatte eine Notiz auf die Seite daneben geschrieben:
Diese neue Partei spricht von Sicherheit. Doch was ist Sicherheit wert, wenn sie nur auf Angst gegründet ist? Sie benutzen Lügen, sie schüren Hass. Sie wollen uns unser Mitgefühl nehmen, wollen uns einreden, dass nur ihr Konzept von Frieden Sicherheit bedeutet. Dabei sind sie diejenigen, die das Ende der Freiheit wollen.
Das waren Worte, die ich nicht lesen sollte, verbotene Worte. Die nächste Seite begann mit Berichten über geschichtliche Ereignisse, die ich nicht kannte. Die Worte schienen von den Seiten zu mir aufzuschreien.
1832: Hambacher Fest
Eine der ersten großen Demonstrationen für Demokratie und Freiheit in Deutschland2
1848: Deutsche Revolution
Für Freiheit und Einheit: Versammlungen erschüttern das Deutsche Reich2
1918: Novemberrevolution in Deutschland
Die Straßen der Freiheit: Arbeiter und Soldaten fordern Demokratie2
Die Weiße Rose
Der Widerstand junger Menschen im Nationalsozialismus2
1953: Ein Tag der Hoffnung
Der Aufstand des 17. Juni: Wir wollen freie Menschen sein2
1989: Leipziger Montagsdemonstration
Wir sind ein Volk, war der Ruf, der die Straßen erfüllte2
Ich starrte aus dem Fenster. Die Straßen waren leer. Niemand rief.
Ich blätterte weiter, las von Protesten gegen Krieg, vom Christopher Street Day, von Frauenmärschen, vom March for Science, von Klimastreiks. Die Geschichte, die hier stand, war nicht die Geschichte, die ich gelernt hatte.
Die letzte Seite dieses Kapitels endete mit einer Jahreszahl, die mir seltsam vertraut vorkam:
2024: Massenproteste gegen Rechtsextremismus
Hunderttausende versammeln sich, um gegen die Bedrohung demokratischer Werte zu demonstrieren.3
Ich atmete tief durch. Bald danach hatte die Stille begonnen.
Jetzt mit dem Buch in der Hand, fühlte sich meine gesamte Welt an wie eine Lüge, die schwerer wog als alles andere. Mit zitternden Fingern blätterte ich weiter.
Die Versammlungsfreiheit sichert das Recht, öffentlich zu protestieren – ein Grundpfeiler der Demokratie. 2
Ich las die Zeilen zweimal. Versammlungsfreiheit.
Noch ein Wort, das sich falsch anfühlte. In der Harmoniegesellschaft gab es keine Versammlungen. Zu viele unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Personen brachten Chaos, Uneinigkeit. Oder?
Eine weitere von Mutters Notizen:
Vergesst nie: Schweigen hilft nur denen, die Unrecht tun.
Und darunter:
Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.4
Vater, den die Harmoniegesellschaft umgesiedelt hatte, „zurück“ in ein Land verwiesen, das er nie zuvor betreten hatte.
Mit jedem neuen Wort wuchs etwas in mir – eine Mischung aus Zorn und Unverständnis.
Sicherheit entsteht durch Schweigen. Frieden durch Einheit. Freiheit durch Ordnung.
So hatten wir es gelernt, so hatte die Partei die Harmoniegesellschaft gegründet und die Probleme der Vorherzeit beseitigt.
Aber das Buch sagte etwas anderes.
Im nächsten Moment stürzte ich zum Waschbecken und spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, presste die Handflächen gegen den Mund, um mich nicht zu übergeben. Worte sickerten durch mich Gift, gegen das ich keine Abwehr hatte. Ich atmete flach, versuchte den Sturm in mir zu bändigen. Fortwerfen, flüsterte eine Stimme. Verbrennen. Vergessen. Noch war es nicht zu spät, ich konnte entrinnen, alles konnte so sein wie gestern. Geordnet, ruhig, sicher. Meine Harmonie, mein Frieden –
NEIN.
Es war zu spät. Die Wahrheit lebte in diesem Buch – und sie lebte nun auch in mir.
Ich schloss die Augen und sah sie vor mir, wie sie sie von uns fortrissen. Sah Darios Augen. Sah Vater, wie er ausgewiesen wurde. Sah die Partei ihre Reden am Tag der Ordnung halten.
Und dann – hörte ich Stille. Eine Stille, die lauter war als jeder Schrei. Vielleicht war es an der Zeit, sie zu brechen.
III
Der Tag der Ordnung war ein offizieller Feiertag der Harmoniegesellschaft. Der Platz der Harmonie war festlich geschmückt, die Banner der Partei ein trügerisches Symbol für Einheit und Frieden.
Meine Handflächen waren schweißnass, während ich das Gewicht des Buches spürte. Die Universität hatte mich für die Eröffnungsrede auserwählt. Eine Ehre, hatten sie gesagt.
Menschen betraten jetzt den Platz der Harmonie, bewegten sich in der gewohnten Präzision. Keine Grüppchen, kein Flüstern. Nur geordnete Einzelpersonen auf den vorgesehenen Wegen. Die Drohnen summten über uns, mehr als sonst, Scanner wachsam. Mein Herz pochte unkontrolliert. Noch konnte ich still sein.
Vor meinem inneren Auge blitzte jedoch ein Bild auf: Mutter, wie sie vor mir saß, ein Blatt Papier in der Hand. Sie schrieb meinen Namen, einen Buchstaben nach dem anderen: DEMETRIA KO.
„Siehst du?“ hatte sie gefragt und ein weiteres Wort hinzugefügt, geformt aus den Buchstaben meines Namens „Das ist, wofür ich kämpfe. Das bist du.“
Ich blickte zur Seite – und da war er. Darios Blick durchdrang mich wie Feuer.
Es gab kein Zurück mehr.
„Es muss von dir kommen“, hatte er gesagt, nach dem Tag, an dem alles anders geworden war. „Du bist ein Teil ihrer Harmoniegesellschaft. Du bist der Beweis, dass sie uns nicht vollständig zum Schweigen bringen können.“
„Was, wenn ich scheitere?“, hatte ich geflüstert, die Angst wie ein Stein in meiner Magengrube.
„Du kannst nicht scheitern, Demi. Das Buch, die Wahrheit, du selbst – das ist genug.“
Eine Drohne kam heran, ihr Summen wurde lauter. Mein Zeichen.
Ich stieg die Stufen zur Bühne hinauf und es empfing mich tosende Stille. Auf einer großen Leinwand erschien das Symbol der Partei, mit der alles angefangen hatte: Harmonie für Deutschland.
Ein Name, der mir nun bitter auf der Zunge lag wie die Lüge, die er war.
„Liebe Mitbürger:innen“, begann ich zögernd, doch meine Stimme wurde rasch kräftiger. „Es ist ein besonderer Tag, an dem wir hier zusammenkommen. Ein Tag, an dem wir uns an die Werte erinnern, die uns allen Frieden gebracht haben.“
So weit, so gut.
„Doch ist es wirklich Frieden, den wir feiern? Es gab eine Zeit, in der Menschen wie wir hier sprachen, auch wenn niemand sie hören wollte. Sie verteidigten die Freiheit sich zu versammeln und gegen Unrecht zu protestieren, weil sie wussten, dass ohne Freiheit kein Frieden wahrhaftig ist.“
Die Drohnen fiepten bedrohlich, ihre Scanner blitzten rot. Mir blieb nicht viel Zeit.
„Wir leben in einer Stille, die uns schützen soll. Aber diese Stille erstickt uns. Sie nimmt uns die Möglichkeit, zu denken, zu hinterfragen. Die Harmoniegesellschaft verspricht Frieden – aber für welchen Preis und für wen?“
Ein Raunen ging durch die Menge, wie ein erster Atemzug an frischer Luft. Ich zog das Buch hervor, Mutters Buch.
„Das ist die Wahrheit! Unsere Geschichte, unsere Stimmen. Einst hatten wir das Recht, friedlich zu protestieren. Doch sie haben es uns genommen – aus Angst vor der Freiheit, die sie nicht ertragen!“
Ich sah jetzt, wie Darios Leute aus dem Schatten traten. Sie bewegten sich geordnet, ruhig auf die Lücken in der Menge zu, aber ihre Präsenz war wie eine Welle, die die starre Ordnung durchbrach.
„Harmonie, wie sie uns gelehrt wurde, ist eine Fassade. Sie meinen Stille. Aber wahre Harmonie entsteht nicht, wenn Stimmen erstickt werden.“
Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich ließ sie zu. Sie waren jetzt keine Schwäche mehr, sie waren ein Zeichen des Protests. Die Wahrheit war laut geworden.
Ich schlug das Buch auf und las: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.1“
Die Worte hallten über den Platz, trafen wie ein Stein auf ruhiges Wasser. Inmitten der Masse erspähte ich wie Ordnungsdrohnen auf mich zukamen. Doch sie waren ungeordnete Bewegungen nicht gewohnt und jede Ordnung war durch die Versammlung der Flüstergruppe gebrochen. Sie summten unentschlossen, ihre Scanner von ungewohnter Freiheit verwirrt, die sie nicht erfassen konnten.
Mein Blick suchte Darios, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann nickte er.
„Mein Name“, sagte ich jetzt, meine Stimme fester als je zuvor. „Mein Name ist Demokratie. Und Demokratie ist vielstimmig.“
Ich sah sie wieder. Die Taube stieg in den Himmel, ein heller Fleck in der bunten Menge. Mutter.
Die Drohnen fanden nun langsam ihren Weg – doch der Platz war erwacht. Die Stille war gebrochen und niemand konnte es ungeschehen machen.
Quellenangaben
1Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 8 Absatz 1.
2Informationen zu historischen Ereignissen und Informationen zur Versammlungsfreiheit: Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de).
3Tagesschau.de (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/demonstrationen-gegen-rechts-106.html)
4 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3 Absatz 3.